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Pädagogische Sektion am Goetheanum Themenheft Schulreife

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Pädagogische Sektionam Goetheanum

T h e m e n h e f t S c h u l r e i f e

Themenheft „Schulreife – heute“

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EinleitungDie Frage des Einschulungsalters gehört heute weltweit zu den virulentesten pädagogischen Herausforderun-gen der Gegenwart. Grund dafür ist das Zusammenströmen verschiedener Entwicklungs-Ebenen und -Faktorenzu einem Knotenpunkt, der eine entscheidende Rolle für das weitere Leben spielt: Ob und bis zu welcher Reifeein junger Mensch seine Wachstums- und Lebenskräfte in der Kindheit ausbilden kann, davon hängt ab, welcheGesundheits- und Lernkräfte ihm für die ganze weitere Biographie zur Verfügung stehen.

Um den gegenwärtigen Stand der Erfahrungen und Forschungen zur Frage des Einschulungsalters wahrzunehmenund ins Gespräch zu bringen, fand auf Einladung der Pädagogischen Sektion und der IASWECE (International As-sociation of Steiner/Waldorf Early Childhood Education)1 Ende Februar 2013 ein Internationales Kolloquium statt:

Schulreife und Übergang vom Kindergarten in die Schule22. – 24. Februar 2013 am Goetheanum in Dornach, Schweiz

Teilnehmer waren neben den Mitgliedern der „International Older Child Working Group“2 der IASWECE Lehrer, Kin-dergärtner, Ärzte und Fachleute aus 10 Ländern. Die Darstellungen umfassten die Themenbereiche

• der pädagogischen und medizinischen Menschenkunde,

• der Physiologie des Lernreifwerdens,

• der Individualisierung der kindlichen Ätherkräfte,

• der heutigen Kultur- und Gesellschaftsentwicklung,

• der Entwicklung des Kindes im heutigen Zeitgeschehen,

• der Zusammenarbeit von Lehrern, Kindergärtnern, Ärzten und Eltern.

Im vorliegenden Themenheft kommen die Kernpunkte des Forschungskolloquiums zur Darstellung. Allen Beitra-genden, Teilnehmern und Helfern möchten wir für die geleistete Arbeit ebenso danken, wie den Assoziationen undSponsoren für die Unterstützung und Ermöglichung.

Claus-Peter Röh

1 Internationale Vereinigung der Waldorf-Kindergärten2 Internationale Arbeitsgruppe für das ältere Kind im Kindergarten

2 Inhalt

Inhalt

3 Die Früheinschulungskampagne im Kontext der Bildungsdebattein Deutschland Rainer Patzlaff

12 Einschulungsalter und GesundheitsentwicklungEin Forschungsprojekt des IPSUM Instituts Stuttgart Martina Schmidt

19 Schulreife Edmond Schoorel

32 Schulreife und Übergang vom Kindergarten in die Schule Claudia McKeen

38 Perspektiven der Menschenkunde zum Einschulungsalter Claus-Peter Röh

44 Die Entwicklung der Kreativität vom Kindergartenalter bis indas Schulalter Geseke Lundgren

48 Schulreife und frühe Schulzeit am Beispiel von Kinderzeichnungen Barbara Ostheimer

Die Früheinschulungskampagne im Kontext der Bildungsdebatte in Deutschland 3

Seit mehr als einem Jahrzehnt steht in Deutschland dasBildungssystem im Fokus der öffentlichen Aufmerk-samkeit. Begleitet von teilweise erregten Debattenwurden in dieser Zeit zahlreiche Reformen auf denWeg gebracht, auch im Bereich der frühkindlichen Bil-dung. Eine der Maßnahmen war die flächendeckendeEinführung eines früheren Beginns der Schulpflicht.Der Gesetzgeber machte von seinem Recht Gebrauch,den Zeitpunkt festzulegen, und da die SchulpflichtVorrang hat vor dem Elternrecht, haben die Elternkaum eine Handhabe, sich gegen die Vorverlegung zuwehren.

Die Begründungen für diese tief in das Leben der Kin-der eingreifende Maßnahme von Seiten der Politikwaren nicht nur dürftig, sondern blendeten vor allemvollständig die Tatsache aus, dass in den 60er und 70erJahren des letzten Jahrhunderts die Früheinschulungpolitisch schon einmal intensiv erwogen, erprobt undnach gründlicher wissenschaftlicher Prüfung verwor-fen worden war. Unklar ist, ob die Politiker bei ihremneuerlichen Anlauf mit der Vergesslichkeit der Öffent-lichkeit rechneten oder es selbst nicht mehr wussten;jedenfalls nahmen sie keine Notiz davon, dass ältereWissenschaftler wie z.B. Rainer Dollase, die in die da-maligen Prozesse involviert waren, energisch gegen dienutzlose Wiederholung des Experiments protestierten,das wissenschaftlich längst mit klaren Ergebnissen ab-geschlossen war.

Zur Erinnerung: In den 60er Jahren hatte der einfluss-reiche Kritiker Georg Picht die deutsche Bildungskata-strophe ausgerufen (Picht 1964)1 und damit dieSchleusen für eine Welle von Reformbemühungen ge-öffnet. In diesem Zuge sprach der Deutsche Bildungsrat1970 die Empfehlung aus, schon die Fünfjährigen ein-zuschulen. Das wurde in zahlreichen Modellprojektenumgesetzt und wissenschaftlich evaluiert. In Nord-rhein-Westfalen, dem Bundesland mit der höchstenAnzahl von Modellprojekten, kamen nach einigen Jah-ren vier Forschungsteams unabhängig voneinander zudem Ergebnis, dass die frühere Einschulung den Kin-dern schulisch nicht den geringsten Nutzen brachteund im sozial-emotionalen Bereich sogar eher Nach-

teile (Dollase 2009). Die traditionelle Kindergartener-ziehung erwies sich immer noch als die beste Schulvor-bereitung – ein für viele Reformer verblüffendes Resul-tat.

Dreißig Jahre später schien das alles vergessen. Als2000 die erste PISA-Studie durchgeführt wurde, beider Deutschland im internationalen Vergleich nur sehrmäßige Mittelfeldplätze erreichte, sprach man inDeutschland vom PISA-Schock und setzte alles daran,bei den zahlreichen nachfolgenden Studien auf natio-naler und internationaler Ebene besser abzuschneiden.Spätestens mit der sogenannten Baby-PISA-Studie von2004 wurde deutlich, dass erfolgversprechende Refor-men schon in den Kindertageseinrichtungen ansetzenmüssten, und so kam es hier im Laufe der folgendenJahre zu einer bemerkenswerten Fülle von Reformen,in denen sich eine durchaus fortschrittliche Tendenzzeigte:

• Kindertagesstätten, so wurde propagiert, dürfennicht mehr als bloße Betreuungs- und Aufbewah-rungsstätten betrieben werden. Sie haben einenhöchst wichtigen Bildungsauftrag in einer für dasKind fundamentalen Phase seiner Entwicklung, sindalso Bildungseinrichtungen, gleichrangig mit denSchulen.

• Es muss darum gehen, Kinder schon frühzeitig best-möglich zu fördern. Dazu müssen auch die notwen-digen Mittel bereitgestellt werden.

• Auch die Ausbildung der Erzieherinnen und Erziehermuss verbessert und auf ein deutlich höheres Ni-veau gebracht werden.

• Kindergarten und Schule müssen durch institutio-nelle Kooperationen miteinander verzahnt werden,um den Kindern eine bruchlose Bildungsbiografiezu ermöglichen.

• Um der individuellen Situation des einzelnen Kindesgerecht werden zu können, müssen die Schulein-gangsstufen neugestaltet werden.

Die Früheinschulungskampagne im Kontext der Bildungsdebattein Deutschland

Dr. Rainer Patzlaff

1 Die Literaturangaben in Klammern beziehen sich auf die Literaturliste am Ende des Aufsatzes

„Pädagogik vom Kinde aus“?In den neu entwickelten Bildungsplänen und anderenprogrammatischen Äußerungen erhoben Pädagogen undPolitiker im Zuge der Reformwelle den Slogan „Pädago-gik vom Kinde aus denken“ zum alles überwölbendenMantra der modernen Pädagogik. Obwohl keineswegsneu – man denke nur an Pestalozzi und Fröbel, oder auchan Rudolf Steiner –, wurde diese Sichtweise der Öffent-lichkeit als eine kopernikanische Wende präsentiert, alsSignal für eine neue Ära des Bildungswesens.

Der Anspruch war in einer gewissen Weise berechtigt:Im deutschen Bildungswesen trat tatsächlich eine tief-greifende, historisch zu nennende Wende ein. Aber wares wirklich die versprochene Wende hin zu einer Päda-gogik, die ausschließlich vom Kinde aus konzipiert ist?

Ein Urteil darüber fällt zunächst schwer. Denn bei allerSkepsis ist nicht zu verkennen, dass viele pädagogischTätige im Lande die (vermeintlich) neue Maxime seit-dem sehr wohl ernst nehmen und tatsächlich bemühtsind, sich in ihrem pädagogischen Handeln am Kind zuorientieren. Man trifft in dieser Hinsicht in der Praxisauf sehr viel guten Willen.

Fakt ist aber, dass die PISA-Studien, die zum Auslöserund zum treibenden Element der Reformwelle wurden,nicht der Sorge um das Wohlergehen der Kinder ent-sprungen sind. Es waren keineswegs besorgte Eltern,Pädagogen oder Erziehungswissenschaftler, die denStein ins Rollen brachten, sondern die OECD, die inter-nationale „Organisation für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung“ mit Sitz in Paris. Vertretereines einflussreichen Wirtschaftsverbandes also warendie Initiatoren, und ihr Interesse richtete sich naturge-mäß weniger auf das Wohlergehen der Kinder, sondernauf das Wohlergehen der Wirtschaft. Sie knüpften ihreÜberlegungen an das schon von Picht formulierte Dik-tum „Bildungsnotstand ist wirtschaftlicher Notstand“(Picht 1964) und sahen dringenden Handlungsbedarf.

Durch eine geschickte, aus dem Hintergrund agierendeBeeinflussung der öffentlichen Meinung, die der Bil-dungswissenschaftler Jochen Krautz in jüngster Zeit inaufsehenerregenden Recherchen aufgedeckt hat(Krautz 2007, 2011, 2013), gelang es ohne äußerenDruck, die Bildungsdebatte in Deutschland fast aus-schließlich auf Argumentationsschienen zu lenken, diebis in die sprachliche Diktion hinein nur zu deutlichihre Herkunft aus einem rein ökonomischen Denkenverrieten, trotz der pädagogischen Attitude, mit der siedaherkamen. Etwaigen Bedenken gegen den massiven

Übergriff der Ökonomie auf die Pädagogik begegneteman von Anfang an mit der bewusst geschürten Angst,der Wirtschaftsstandort Deutschland sei bedroht, wennin der Bildung nicht gegengesteuert werde. So konntees geschehen, dass Politiker unwidersprochen verkün-deten, eine Anpassung des Bildungswesens „an diewirtschaftlichen Erfordernisse“ sei notwendig. (Manerinnere sich, mit welcher Vehemenz Rudolf Steinersich gegen das Diktat wirtschaftlicher, politischer undgesellschaftlicher Forderungen an die Pädagogik ge-wehrt hat! Sein Ziel war ein freies Bildungswesen, dasdiesen Namen wirklich verdient.)

In Wahrheit war also nicht die Pädagogik vom Kindeaus das Ziel, sondern eine Pädagogik von der Wirt-schaft aus. Und dementsprechend orientierte sich derreformerische Eifer der Bildungspolitiker immer wiederan wirtschaftlichen Kriterien, wie die folgenden Bei-spiele belegen.

Pädagogik von der Wirtschaft ausEin Wirtschaftsunternehmen, das auf dem Weltmarktdauerhaft bestehen will, kann sich nicht dem Zwangentziehen, ständig an der Erhöhung seiner Effizienzbzw. Produktivität zu arbeiten. Dieser in der Wirtschaftvöllig berechtigte Grundsatz wurde unreflektiert aufdie Pädagogik übertragen: Bereits mit der ersten PISA-Studie kam das deutsche Bildungswesen auf den Prüf-stand der Effizienz und wurde für mittelmäßig befun-den. Der angeblich viel zu späte Schulbeginn, der hoheAnteil an kaum des Lesens und Schreibens mächtigenSchulabgängern und die fragwürdige Qualität der Ab-schlussprüfungen wurden als höchst ineffizient ange-prangert. Desgleichen beim Hochschulwesen: Der(wegen der Wehrpflicht) viel zu späte Studienbeginn,die exorbitante Länge des Studiums, die hohe Zahl derStudienabbrecher, die häufige Praxisferne der Ausbil-dungen galten als gravierende Mängel und wurdenzum Standortnachteil erklärt.

Durch die Presse geisterte schon bald das StichwortRessourcenverschwendung (man beachte die Wort-wahl!) Wer nachfragte, an welche Ressourcen hier ge-dacht sei, erhielt zur Antwort: Humankapital – einAusdruck, der aus dem Wörterbuch des Unmenschenstammen könnte und tatsächlich bei manchen Beob-achtern Erschrecken auslöste. Die Gesellschaft insge-samt aber beruhigte sich damit, dass es sich lediglichum eine sprachliche Entgleisung handele, und ließ sichnicht in dem einmal eingeschlagenen Weg hin zueinem effizienteren Bildungswesen beirren.

4 Die Früheinschulungskampagne im Kontext der Bildungsdebatte in Deutschland

An die durchaus nachvollziehbare Feststellung man-gelnder Effizienz des deutschen Bildungswesensschloss sich folgerichtig die Frage, wie man sie steigernkönnte. Um eine Steigerung nachzuweisen, brauchtman einen Maßstab, an dem der Outcome gemessenund mit vorherigen Werten verglichen werden kann.Bildung muss messbar gemacht werden. Intranatio-nale und internationale Vergleiche sind jedoch nurmöglich, wenn überall die gleichen genormten Mess-systeme verwendet werden. Dieser Logik folgendwurde und wird derzeit viel Geld in die Entwicklungvon Bildungsnormen und standardisierten Testverfah-ren gesteckt. Ein Teil davon hat bereits Einzug in denSchulalltag und sogar in die Kindergärten gehalten,ohne nennenswerten Widerstand von pädagogischerSeite. An einer weiteren Vereinheitlichung (um nicht zusagen Normierung) des deutschen Bildungswesenswird von der Kultusministerkonferenz intensiv gearbei-tet. Die Teilnahme deutscher Bildungseinrichtungen aninternationalen Vergleichsstudien gilt bereits alsSelbstverständlichkeit.

Der BeschleunigungswahnEin weiterer Zwang, dem sich die moderne, global ope-rierende Wirtschaft nicht entziehen kann, ist die stän-dige Beschleunigung der Produktion. Ein Muster dafürist die Autoindustrie, die hochwertige Ware in immerkürzerer Zeit produzieren muss, um ihre Chancen aufdem Weltmarkt zu wahren. Übertragen auf die Päda-gogik wurde unter diesem Gesichtspunkt in den meis-ten westdeutschen Bundesländern ohne langes Fackelndie traditionelle neunjährige Dauer des Gymnasiumsauf acht Jahre reduziert (Modell G 8). Jedoch geschahdas in der Regel ohne eine angemessene Kürzung derLehrplaninhalte, so dass der Leistungsdruck für Zehn-tausende von Schülern unerträglich stieg und damitganz nebenbei ein weiteres Prinzip moderner Wirt-schaft in die Schule getragen wurde: der Konkurrenz-kampf und die aus ihm resultierende „Auslese“ bzw. Eli-tebildung.

Da sich der eminent gestiegene Leistungsdruck nacheiniger Zeit für die Schüler als gesundheitsschädigendund psychisch belastend herausstellte, wuchs der Wi-derstand der Eltern in vielen Bundesländern in einemsolchen Maße, dass die Politik inzwischen zur alten G-9-Form zurückkehrt oder sie alternativ zum G-8-Mo-dell anbietet.

Weit weniger spektakulär verlief die parallel zur Ein-führung des achtjährigen Gymnasiums eingeführte

Vorverlegung des gesetzlich festgelegten Einschu-lungszeitpunktes. Damit wurde erstmals auch die vor-schulische Bildung in den Sog der Beschleunigung ge-rissen. Am radikalsten ging das Land Berlin vor, wo dasEinschulungsalter ohne Übergangsfrist und ohneRückstellungsmöglichkeiten von 6 auf 51⁄2 Jahre herun-tergesetzt wurde. Andere Bundesländer gingen dieSache vorsichtiger an, indem sie den Zeitpunkt jedesJahr um einen weiteren Monat vorverlegten.

Erstaunlich an diesem Vorgang ist nicht nur, dass dievorhandenen Vorerfahrungen aus den 70er Jahrenvollständig unberücksichtigt blieben oder möglicher-weise sogar absichtlich verschwiegen wurden, sondernauch die Tatsache, dass es nach einhelliger Meinungführender Pädagogen und Wissenschaftler nicht diegeringste pädagogische oder entwicklungspsychologi-sche Begründung gibt, die einen solchen Schritt recht-fertigen könnte. Wer in jenen Jahren in der Presse nachstichhaltigen Gründen suchte, fand buchstäblichnichts, nur die fadenscheinige Behauptung, die reichenRessourcen kleiner Kinder seien bisher viel zu lange un-genutzt geblieben. Niemand konnte indessen wissen-schaftliche Beweise vorlegen, dass die heutigen Kinderihre Schulreife flächendeckend schon ein Vierteljahroder sogar ein halbes Jahr früher als bislang erreichen.

Selbst der Koordinator der PISA-Studien, AndreasSchleicher (übrigens ein ehemaliger Waldorfschüler),erklärte 2006 die Vorverlegung des Schuleintritts für„puren Blödsinn“, weil sie in keiner Weise aus den Er-gebnissen der PISA-Studie zu begründen sei. Das viel-bewunderte Spitzenergebnis von Finnland sei vielmehrdarauf zurückzuführen, dass dort die Kinder bis zurVollendung des 7. Lebensjahres (!) spielen dürfen – einAspekt, der von deutschen Bildungspolitikern pein-lichst ausgeblendet wurde, weil er ihren eigenen Vor-stellungen diametral entgegenstand.

Schulreife abgeschafftWer damals das direkte Gespräch mit den Protagonis-ten der Früheinschulung suchte und sie nach ihrenGründen fragte, wurde mit der überraschenden Be-hauptung konfrontiert, die Vorverlegung des Einschu-lungsalters sei doch überhaupt kein Problem, da diemoderne Transitionsforschung hinreichend bewiesenhabe, dass die „Schulreife“ ein überkommenes Kon-strukt sei, das wissenschaftlich nicht mehr zu haltenund deshalb längst ad acta gelegt sei. Was im Klartextheißen sollte: Wer heute noch von Schulreife spricht,ist wissenschaftlich nicht ernst zu nehmen.

Die Früheinschulungskampagne im Kontext der Bildungsdebatte in Deutschland 5

Die gewissenhafte Arbeit unzähliger Ärzte in den Ge-sundheitsämtern, die durch Jahrzehnte die Schulreifesechsjähriger Kinder prüften und gegebenenfalls Rück-stellungen aussprachen, wird damit als unmaßgeblichbeiseite gewischt, und meiner Kenntnis nach war beimGesetzgebungsverfahren ihre Expertise auch nicht ge-fragt. Aber davon abgesehen erweist sich die genanntePosition auch inhaltlich als nicht schlüssig:

Richtig ist, dass die Transitionsforschung allenfallsnoch von „Schulfähigkeit“ spricht, nicht aber mehr vonSchulreife, weil sie den Übergang vom Kindergarten indie Schule als einen fließenden und pädagogisch zugestaltenden Prozess ansieht, bei dem es nicht daraufankommt, dass das Kind der Schule gewachsen ist, son-dern die Schule dem Kind, indem sie seine individuellenBedürfnisse und Fähigkeiten wertschätzend wahr-nimmt und schrittweise so fördert, dass das Kind mitguter Aussicht auf Erfolg den schulischen Weg durch-laufen kann. Das Ziel sei eine „bruchlose Bildungsbio-grafie“.

Man muss dieser Auffassung gar nicht widersprechen,um festzustellen, dass sie keine Begründung für eineFrüheinschulung hergibt: Wenn es nämlich ernstlichdarum geht, jedes Kind individuell zu behandeln und eserst dann den schulischen Anforderungen auszusetzen,wenn es auf seinem ganz eigenen Wege die Fähigkeitdazu erlangt hat, dann müsste konsequenterweise derEinschulungszeitpunkt individuell am Kinde abgelesenwerden (und tatsächlich gibt es dazu auch schon Ver-suche und Modelle). Eine zwangsweise Einschulungaller Kinder zum selben Zeitpunkt würde dem völligwidersprechen.

Kritisch anzumerken bleibt allerdings: Folgt man dieserAuffassung, kommt es sehr darauf an, welche Kriterienzur Beurteilung der Schulfähigkeit zugrunde gelegtwerden: Sind es rein intellektuell-kognitive Fähigkei-ten, die den Ausschlag geben, oder werden auch so-ziale, körperliche und entwicklungspsychologischeFaktoren herangezogen? Solange das nicht geklärt ist,bleibt der Willkür Tür und Tor geöffnet, Kinder gegebe-nenfalls auch schon mit drei oder vier Jahren für schul-fähig zu erklären (was z.B. das baden-württembergi-sche Schulgesetz in Einzelfällen ausdrücklich erlaubt).

Warum nicht Schulbeginn mit drei Jahren– oder noch früher?Die Protagonisten der Früheinschulung führen noch einanderes Argument für ihre Auffassung ins Feld, dieses

Mal aus der Hirnforschung: Dort sei ja in den letzten Jah-ren herausgearbeitet worden, dass im Gehirn der Kinderbereits mit drei Jahren das komplette Arsenal der Neuro-nen entwickelt sei und es ab da entscheidend darauf an-komme, welche neuronalen Strukturen tatsächlich ge-nutzt und weiter entwickelt werden, weil ungenutzteNeuronen sich wieder abbauen. Zu der notwendigenNutzung des Gehirnpotentials trügen die Kindergärtenviel zu wenig bei, und so seien die Jahre, die Kinder dortverbringen, nutzlos verschwendete Zeit, oder modernerausgedrückt: Ressourcenverschwendung.

Dazu ist zunächst zu bemerken: Die These, dass das Ge-hirn des Kindes seine Bildbarkeit für intellektuelle Leis-tungen einbüßen würde, wenn es nicht ab dem Altervon drei Jahren intellektuell beansprucht wird, ent-spricht nicht dem Stand der Forschung. NamhafteHirnforscher der Gegenwart würden sich keineswegsmit der These einer nutzlosen Kindergartenzeit identi-fizieren.

Aber davon ganz abgesehen ist die Argumentation derFrüheinschulungs-Befürworter auch in sich selbstnicht schlüssig: Sie bestätigt nur, dass der derzeit ge-setzlich festgelegte Einschulungszeitpunkt mit 51⁄2 oder53⁄4 Jahren völlig willkürlich gewählt ist und nichts mitder wirklichen Entwicklung des Kindes und seines Ge-hirns zu tun hat. Wenn, wie behauptet, mit drei Jahrendas Lernpotential des Kindes bereitsteht, bisher abernicht genutzt wird, dann wäre die logische Konse-quenz, bereits die Dreijährigen in die Schule zu schi-cken.

Die Unstimmigkeit besteht freilich nur vordergründig.Insgeheim nämlich wurde in gewissen Kreisen längstdarüber nachgedacht, ob man die Einschulung nichttatsächlich mit drei Jahren vollziehen sollte. Freilichwagte man das nicht der deutschen Öffentlichkeit ge-radeheraus zu sagen – zu ungeheuerlich würde denmeisten die komplette Abschaffung des traditionellenKindergartens erscheinen, und man müsste einenSturm der Entrüstung befürchten, den kein Politikerauf sich ziehen möchte. Aber steter Tropfen höhlt denStein, und so wurden in gewissen Abständen in der Ta-gespresse gezielt „Arbeitsergebnisse“ von hochrangi-gen „Expertengremien“ publiziert, die das zunächstUndenkbare als eigentlich doch sehr sinnvoll heraus-stellen sollten:

• Am 13. November 2003 war in der SüddeutschenZeitung ein solcher Expertenbericht zu lesen, derüberschrieben war: „Mit vier Jahren in die Schule“.

6 Die Früheinschulungskampagne im Kontext der Bildungsdebatte in Deutschland

• Am 30. Juli 2004 lautete in der TAZ der Titel zueinem längeren Bericht über ein weiteres Experten-gremium: „Schulpflicht schon für Dreijährige“. Hierwie auch im vorigen Bericht stammten die Experten– wen wundert es – aus wirtschaftsnahen Kreisen.

• Am 11. November 2005 berichtete die Westdeut-sche Allgemeine Zeitung, dass in England ein Curri-culum für Kinder von 0 bis 3 Jahren eingeführtworden sei, dessen Einhaltung in den Kinderkrippenvon staatlichen Inspektoren genau geprüft werde.Die Kinder müssten „unter anderem nachweisen,dass sie Symbole erkennen und Zusammenhängebegreifen können … Meistern sie Aufgaben wie Ver-gleichen und Kategorisieren, erhalten sie das Prädi-kat Competent Learner. Krippen mit wenigen Kom-petenten Lernern müssen mit verstärkten Besuchenrechnen.“

Weltweiter Angriff auf die KindheitDer zuletzt zitierte Zeitungsbericht aus Großbritanniendemonstriert, dass die von mir skizzierten Tendenzender Bildungspolitik nicht auf Deutschland beschränktblieben; sie finden sich – in teilweise noch viel drasti-scherer Form – in den meisten hochtechnisierten Län-dern der Erde. Zugleich legt der Artikel schonungslosoffen, womit wir es in Wahrheit zu tun haben: Hinterder Maske der wohlmeinenden Reform, die nur dasBeste für das Kind zu wollen vorgibt, verbirgt sich (obbewusst oder unbewusst, ändert nichts am Ergebnis)ein geradezu generalstabsmäßig geplanter Angriff aufdie Kindheit, parallel zu der Kindesmisshandlung durchextensiven Gebrauch elektronischer Medien, dessenFolgeschäden inzwischen weltweit ein beängstigendesAusmaß erreicht haben (Patzlaff 2013). Beide zusam-men beeinflussen die Gesundheit und Entwicklungschon der allerkleinsten Kinder mit einer Massivität,die in der Menschheitsgeschichte ohne Beispiel ist.

Was die durch Bildschirmmedien verursachten Lang-zeitschäden angeht, beginnt derzeit in der Öffentlich-keit ein langsames Erwachen, und es sind schon längstnicht mehr allein die Waldorfpädagogen, die ihre war-nende Stimme erheben. Leider ist bei den Wirkungender frühkindlichen Intellektualisierung das Problembe-wusstsein noch nicht im gleichen Maße gewachsen.Die Reizwörter frühkindliche Bildung und Förderungbetören noch immer die Öffentlichkeit und es lässt sichmit ihnen trefflich Politik machen. Ihr wahrer Inhaltzeigt sich erst, wenn man fragt, was unter dieser Bil-dung verstanden wird.

Zwar sprechen sich nicht wenige namhafte Pädagogenund Wissenschaftler dezidiert gegen die Verschulungdes Kindergartens aus. Doch sind sie in der Minderheit.Der allgemeine Trend geht noch immer dahin, Bildunggleichzusetzen mit schulischer Bildung, also mit einerBeanspruchung der kognitiven Kräfte und des Intel-lekts. Diskret aus dem Hintergrund agierende Kreise,deren Tätigkeit der schon erwähnte WissenschaftlerJochen Krautz detailliert nachgewiesen hat, sorgendafür, dass diese Auffassung in der Öffentlichkeit nichtwirklich in Frage gestellt wird, denn auf ihr basiert dasgesamte Beschleunigungskonzept.

Allerdings scheinen diese Kreise inzwischen eine etwasandere Strategie zu verfolgen als in den ersten Jahrennach dem PISA-Schock: Bei realistischer Einschätzungder Lage mussten sie erkennen, dass der Schulbeginnmit drei Jahren oder noch früher politisch nicht auf dieSchnelle durchsetzbar wäre. Folglich gehen die Bemü-hungen dahin, den öffentlichen Widerstand still-schweigend zu unterlaufen, indem die Kinder ebenschon im Kindergarten zum schulischen Lernen ange-halten werden – auf „spielerische Weise“ natürlich, wieimmer wieder betont wird. Die Floskel „spielerisch“ ver-hüllt nur notdürftig den eigentlichen Zweck der Ak-tion, nämlich den Kindergarten umzufunktionieren zueinem Zulieferer für die Schule.

Noch ist der Kampf nicht entschieden, weil sich vielemaßgebliche Pädagogen und Wissenschaftler dagegenzur Wehr setzen; die Auseinandersetzung zwischen denAnhängern der Intellektualisierung auf der einen Seite(wissenschaftlich vor allem vertreten durch Prof. Was-silios Fthenakis, Herausgeber des Bayerischen Bil-dungs- und Erziehungsplans für Kindertagesstätten)und den Anhängern der „Selbstbildung des Kindes“ aufder anderen Seite (wissenschaftlich vor allem vertretendurch Prof. Gerd Schäfer, Autor eines KiTa-Bildungs-plans für Nordrhein-Westfalen) schwelt weiter (Fthe-nakis 2006, Schäfer 2005). Fest steht aber: An derFrage, ob sich die intellektorientierte Strömung durch-setzt oder nicht, wird sich – das dämmert inzwischeneiner wachsenden Zahl von besonnenen Beobachtern –das Schicksal der nachwachsenden Generationen ent-scheiden. Wir stehen an einer zukunftsbestimmendenWegscheide.

Der Einschulungszeitpunkt als GesundheitsfrageWorin besteht aber die Gefahr? Den wenigsten Kriti-kern, selbst wenn sie sich ausdrücklich gegen die Ver-schulung des Kindergartens aussprechen, ist bewusst,

Die Früheinschulungskampagne im Kontext der Bildungsdebatte in Deutschland 7

dass es dabei um nichts Geringeres als die gesundheit-lichen Grundlagen des Kindes für sein weiteres Lebengeht. Die Begründung dafür hat am klarsten RudolfSteiner gegeben, ausgehend von seiner fundamentalenEntdeckung, dass die Kräfte, die das Kind zum schuli-schen Lernen braucht, dieselben Kräfte sind, die zuvorseinen Leib aufgebaut, strukturiert und gestaltethaben. Formelhaft verkürzt lautet die entscheidendeErkenntnis: Lernkräfte sind metamorphosierte Wachs-tumskräfte.

Diese sowohl im materiellen wie auch im geistigenSinne „bildenden“ Kräfte im Kind lassen sich durchausschon vor dem Schuleintritt zu intellektuellen Leis-tungen gebrauchen, wenn der Erwachsene das for-ciert. In ihrer bedingungslosen Lernbereitschaft sindKinder so offen auch für kognitive Lernprozesse, dasssie nicht selten den Anschein erwecken, bereits reiffür die Schule zu sein. Doch ist dabei zu bedenken, soRudolf Steiners dringende Warnung, dass man durcheine vorzeitige Forcierung der intellektuellen Anfor-derungen dem Körper Bildekräfte entzieht, die er ei-gentlich noch für die endgültige Konsolidierung sei-ner Strukturen und Prozesse benötigt, um eineGesundheitsgrundlage zu schaffen, die ein ganzesLeben lang tragfähig bleibt.

Möglich ist dieser Entzug; das Kind in seiner grenzenlo-sen Offenheit wehrt sich nicht dagegen, so dass der Er-wachsene sogar den Eindruck haben kann, er tue demKind damit einen Gefallen und fördere seine Entwick-lung. Werden diese Kräfte aber beansprucht, bevor dieleibliche Ausgestaltung den notwendigen Reifegrad er-langt hat, dann – und das ist der Kern von Steiners Bot-schaft – führt das zu einer nachhaltigen Schwächungder Konstitution, die sich erst im Laufe der folgendenJahre als ein gesundheitliches Problem manifestiert.

Diese Aussage ist bisher nirgends mit den wissen-schaftlichen Instrumentarien unserer Zeit überprüftworden. Das IPSUM-Institut in Stuttgart hat deshalbim Blick auf die heraufziehende Früheinschulungswelle2005 eine wissenschaftliche Langzeitstudie begonnen,an der rund die Hälfte aller deutschen Waldorfschulensich beteiligte (Patzlaff 2006). Nach einer dreijährigenPilotphase konnte 2008 mit dem damaligen Einschu-lungsjahrgang die eigentliche Untersuchung der Fragebeginnen, ob eine frühere Einschulung die Gesund-heitsentwicklung des Kindes tatsächlich beeinflusst.Näheres hierzu und zu der geplanten Vergleichsstudiemit Schülern staatlicher Schulen berichtet in diesemHeft Dr. med. Martina Schmidt.

Mythos Früheinschulung – eine SackgasseOb sich die von Steiner prognostizierte Langzeitwir-kung schon in der 4. Klasse manifestiert, lässt sich ge-genwärtig noch nicht beantworten, weil die Auswer-tung der IPSUM-Daten noch aussteht. Doch sprechenmehrere Indizien dafür, dass eine frühere Einschulungauch nur um wenige Monate dem Kinde langfristignicht nur nicht hilft, sondern sogar negative Wirkun-gen haben kann. Bellenberg z.B. stellte bei früh einge-schulten Kindern statt eines Leistungsvorsprungs einsignifikant erhöhtes Risiko des Sitzenbleibens fest (Bel-lenberg 1999). Puhani wies anhand der IGLU-Grund-schul-Leseuntersuchung an 6.600 Viertklässlern nach,dass sich ein höheres Einschulungsalter signifikant po-sitiv auf den späteren schulischen Erfolg auswirkt:Später eingeschulte Schüler erzielten deutlich bessereTestergebnisse als früher eingeschulte. Außerdemergab die Auswertung von 182.676 Datensätzen hessi-scher Schüler der Einschulungsjahrgänge 1997-1999,dass die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besu-chen, für die älter eingeschulten Kinder um etwa 12Prozentpunkte stieg (Puhani 2006).

Wenn aber schon bei den schulischen Leistungen dieFrüheinschulung eher negative Wirkungen hat, dannist die Frage berechtigt, ob nicht auch in gesundheitli-cher Hinsicht schon in der 4. Klasse oder spätestens inder Pubertät mit Schwierigkeiten zu rechnen ist. Eben-das soll in der IPSUM-Studie erstmals geklärt werden.

Dass der von Steiner behauptete Zusammenhang zwi-schen Früheinschulung und Gesundheitsentwicklungnicht aus der Luft gegriffen ist, darauf deuten auchdie Ergebnisse der jüngst veröffentlichten Langzeit-studie, die 1921 von dem amerikanischen Psycholo-gen Lewis Terman begonnen und über mehrere For-schergenerationen fortgeführt wurde. Terman hatte1.528 überdurchschnittlich intelligente, 1910 gebo-rene Jungen und Mädchen ausgesucht, die von 1921an (über Termans Tod 1956 hinaus) acht Jahrzehntelang in regelmäßigen Abständen detailliert zu ihrerGesundheit, zu ihrer Familiengeschichte und ihremalltäglichen Leben befragt wurden. Es war dies einweltweit einzigartiges Projekt, bei dem Menschendurch ihr gesamtes Leben hindurch beobachtet wur-den, zuletzt von den Forschern Howard Friedman undLeslie Martin. Diese machten die Ergebnisse publik;auf deutsch erschien ihr Buch 2012 unter dem TitelDie Longlife-Formel.

Das Kapitel 6 dieses Buches ist dem Thema „Kindheitund Schule“ gewidmet. Darin heißt es u.a.:

8 Die Früheinschulungskampagne im Kontext der Bildungsdebatte in Deutschland

Wir kamen zu dem Ergebnis, dass die Terman-Teil-nehmer, die sehr früh zur Schule kamen, in ihremgesamten Leben mit Problemen zu kämpfen hatten.Zum Beispiel hatten Frühstarter wie Philipp als Er-wachsene eher Anpassungsschwierigkeiten, undfrüh startende Mädchen neigten später eher zu Al-koholmissbrauch.

Und überraschenderweise ließ ihr Schuleintritts-alter zugleich eine Prognose für die Länge ihresLebens zu. Die Kinder, die mit fünf Jahren in dieerste Klasse kamen, hatten ein höheres Risiko,früh zu sterben, und diejenigen, die im Regelaltervon sechs Jahren mit der Schule begannen, lebtenlänger. (…) Der frühe Start – seinen Alterskollegenvorauszueilen – ist ein Mythos, der in die Sack-gasse führt. (S. 113)

Faszination und Furcht– Wegbegleiter der modernen WirtschaftDie vorangegangenen Abschnitte versuchten einenEindruck zu vermitteln von den widerstreitenden Ten-denzen in der heutigen Elementarpädagogik. Man wirdsich angesichts der Befunde fragen müssen, wie es seinkann, dass selbst in einem Land wie Deutschland, dassich stets als Hort von Bildung und Kultur verstand, dieRattenfängertöne einer wirtschaftsorientierten Politikderartig starke Wirkung zeitigten und erst allmählich,nachdem die Konsequenzen in zunehmender Schärfesichtbar geworden sind, die Fehlentwicklung erkanntwird. Warum wacht das Bewusstsein selbst bei denen,die von Anfang an am wirksamsten hätten Widerstandleisten können, nämlich Eltern und Pädagogen, so späterst auf und hat in der öffentlichen Meinung noch kei-neswegs die Oberhand gewonnen? Dazu möchte ichabschließend noch einige Gedanken skizzieren.

Die sozialdarwinistische These, der Mensch befinde sichin einem permanenten Kampf ums Dasein, in welchemer sich behaupten müsse (survival of the fittest), istkeine Theorie mehr; sie hat sich in unserem gegenwär-tigen, kapitalistisch strukturierten Wirtschafts- und Fi-nanzsystem so durchgreifend verwirklicht, dass sie wieeine Art Grundgefühl heutigen Lebens weite Teile derMenschheit ergriffen hat und ihr Denken, Fühlen undHandeln bestimmt, unhinterfragt, als handele es sichum ein unumstößliches Naturgesetz.

Der Alltag scheint dieses Empfinden immer wieder zubestätigen. Doch ist den wenigsten bewusst, dass imHintergrund zwei gewaltige Mächte am Werk sind, die

uns immer weiter auf dem Weg vorantreiben und sichgegenseitig die Bälle zuspielen. Sie vereinnahmen denMenschen nicht auf der Verstandesebene, sondern inseinem seelischen Befinden, indem sie bestimmte Emp-findungen befördern, die sich einer rationalen Beherr-schung hartnäckig entziehen und eben dadurch einenhintergründigen Einfluss ausüben: Faszination undFurcht.

Zahllose Menschen begeistern sich, ja berauschen sichgeradezu an der Rasanz des technischen Fortschrittsmit seinen phantastischen Erfindungen und Entwick-lungen, die noch vor 50 Jahren undenkbar gewesenwären. Der Rausch ist durchaus begründet: Wer ermes-sen kann, welch ungeheure, wahrhaft staunenswerteLeistungen von Ingenieuren und Wissenschaftlernimmer wieder in kürzester Zeit erbracht werden, derwird unwillkürlich von der Faszination ergriffen, dievon dem Glanz moderner Technik ausgeht. Aber derRausch fördert auch die Begierde nach den neuestenHightech-Gütern und -Angeboten, und das befeuertden Konsum, der die Verbraucher immer mehr in eineAbhängigkeit führt, bis hin zur Sucht. Die Wirtschaft„brummt“, wie es volkstümlich heißt; der Konkurrenz-kampf unter den Anbietern steigert sich und erzwingtganz selbstverständlich eine fortwährende Steigerungdes Tempos und der Effizienz. Wirtschaftlich überlebenkann nur der, der bei diesem Wettlauf mithält.

Die Geschichte lehrt indessen, dass jedes kapitalistischeSystem den Grundsatz der Nachhaltigkeit missachtetund dadurch immer wieder aufs Neue in schwere Kri-sen gerät. Wenn eine solche Krise – wie wir es gegen-wärtig erleben – international wird und die gesamteWelt zu bedrohen beginnt, dann zeigt die andere un-tergründige Macht ihr hässliches Gesicht: die Furcht.Sie ergreift so heftig Besitz von den Gemütern, dass siesogar die natürliche Elternliebe korrumpiert und einfieberhaftes Bemühen auslöst, die eigenen Kinderbestmöglich auszurüsten für die erwarteten, immerheftiger werdenden Krisen der Zukunft, und das sofrüh und so schnell wie nur möglich, nach dem Motto:Je früher, desto besser. Und an diesem Bestreben weißdie Wirtschaft wiederum trefflich zu verdienen.

Pädagogik im BeschleunigungswahnHier macht sich eine Denkweise geltend, die mit demtechnisch-naturwissenschaftlichen Zeitalter heraufge-kommen ist: das lineare Denken, das sich vor allem inder Leittechnik unserer Zeit, der Computertechnologie,bewährt hat. Ein Beleg dafür ist das von Moore (Mitbe-

Die Früheinschulungskampagne im Kontext der Bildungsdebatte in Deutschland 9

gründer des Chipherstellers INTEL) 1965 aufgestellte„Gesetz“, dass sich alle 18 bis 24 Monate die Anzahl derTransistoren auf einem Chip verdoppeln werde. DiePrognose hat sich bestätigt und gilt noch immer. Siehat zu grandiosen Fortschritten geführt. Ein Beispiel:1971 umfasste ein Chip der Firma Intel 2.300 Transisto-ren, 2012 waren es bereits 2,5 Milliarden, und ein Endeder Steigerungen ist noch nicht abzusehen.

Der grandiose, faszinierende Erfolg technischer Ent-wicklungen verführt zahllose Menschen und leiderauch manch einen Wissenschaftler dazu, die wieder-holte Multiplikation des immer selben Prinzips für einallgemeingültiges Gesetz jeder Entwicklung zu halten.Angewendet auf die Kindesentwicklung führt das zuder simplen, aber tief wurzelnden Überzeugung: DieFähigkeiten, die am Ende des Erziehungs- und Bil-dungsprozesses erreicht sein sollen, müssen schon amAnfang gefordert werden. Soll der erwachsen gewor-dene junge Mensch z.B. über Medienkompetenz verfü-gen, dann muss schon das Kleinkind mit den Medienvertraut gemacht werden. Soll es später über einenausgefeilten Intellekt verfügen, der ihm im Konkur-renzkampf eine herausragende Stellung sichert, dannmuss der Intellekt schon im Kindergarten (oder sogarin der Krippe, siehe das englische Beispiel) bereits tüch-tig trainiert werden. Soll der Mensch Autonomie erlan-gen, muss schon das Baby an Autonomie gewöhntwerden usw.

Dieses Prinzip geht nachweislich am realen Leben vor-bei, weil bei allen Lebensprozessen nicht das linearePrinzip, sondern das Prinzip der polarisch sich steigern-den Metamorphosen gilt (Näheres dazu bei Patzlaff2007): Die Pflanze beispielsweise beginnt nicht gleichnach dem Keimen mit der Blütenbildung, sondern be-treibt erst einmal etwas ganz Anderes, nämlich Wurzel-,Stengel- und Blattbildung, und schafft dadurch dieGrundlage für ein gesundes Wachstum, aus dem dannin einer späteren Phase die Blüte hervorgehen kann.Jede Phase dieser Entwicklung braucht ihre Zeit zumReifen, damit sie eine tragfähige Basis für die nächst-höhere Phase bilden kann. Wer aber glaubt, bei Kin-dern das Ziel des Bildungsganges viel schneller und ef-fizienter durch ein linear von Anfang bis Endegleichbleibendes Prinzip zu erreichen, der praktiziertden diametral entgegengesetzten Ansatz in der Päda-gogik. Den unvermeidlich auftretenden, für viele Kin-der mörderischen Leistungsdruck wird er möglicher-weise nicht nur für eine tolerable Begleiterscheinunghalten, sondern sogar für das entscheidende Agenseiner erfolgreichen Ausbildung.

Das Resultat: eine krankmachende PädagogikWas aber ist das Ergebnis, wenn dieser Ansatz konse-quent durchgeführt wird (was heute ja schon weithinder Fall ist)? Die Ergebnisse der erwähnten IPSUM-Stu-die stehen derzeit zwar noch nicht fest; doch kannman sich schon jetzt unschwer davon überzeugen, dasses um die Gesundheit der nachwachsenden Generation(zumindest in Deutschland) erschreckend schlecht be-stellt ist. Seit Jahren enthalten die Berichte der staatli-chen Gesundheitsämter zu den regelmäßigen medizi-nischen Untersuchungen in Sekundarstufe 1 und 2alarmierende Nachrichten über den Gesundheitszu-stand von Kindern und Jugendlichen.

Sicherlich ist das nicht allein die Folge einer intellek-tualisierenden Früherziehung. Es gibt auch andere Fak-toren wie den übermäßigen Medienkonsum, Bewe-gungsmangel, problematische Ernährungsgewohnhei-ten, geringen Sozialstatus und andere. Indes kann derEinfluss der Erziehungs- und Bildungsmethoden, demdie Kinder und Jugendlichen fast jeden Tag viele Stun-den ausgesetzt sind, nicht gering eingeschätzt werden,und spätestens beim Übergang ins Gymnasium undbeim Durchlaufen des G-8-Modells sind die Ursachender psychosomatischen Beschwerden, die dort massivgehäuft auftreten, eindeutig dem Leistungsdruck undder Überforderung in der Schule zuzuordnen.

Da aber kein flächendeckender Aufstand aller Pädago-gen und Eltern in Sicht ist, der auf eine grundlegendeÄnderung des ganzen Systems drängen würde, be-kämpfen die ratlosen Eltern die Symptome bei ihrenKindern mit entsprechenden Therapien oder sogar Psy-chopharmaka, die wiederum der Wirtschaft neue Ge-schäftszweige eröffnen. Die Pharmaindustrie erklärtdie pädagogikgenerierten Symptome einfach für gene-tisch bedingte Defizite, will sagen: für naturgegebeneTatsachen, denen man als Betroffener nicht entkom-men kann, und verdient unglaubliche Summen an denPräparaten (wie z.B. Ritalin), die sie den besorgten El-tern andient. Die Furcht der Eltern vor Nachteilen, dieihr Kind in Zukunft erleiden könnte, wenn sie untätigbleiben, übertönt meistens alle Bedenken.

Was ist also das Fazit? Die gutgemeinte Zielsetzung, dieKinder für den Lebenskampf zu stärken durch eine for-cierte, linear zielgerichtete Bildung schon vom Babyal-ter an, erreicht ihr Gegenteil: Sie schwächt die Kindervorzeitig und macht sie krank. Eine ehrliche, nüchternevolkswirtschaftliche Rechnung, die den Effekt des ein-geschlagenen Weges auf seine Nachhaltigkeit überprü-fen würde, müsste zu dem Ergebnis kommen:

10 Die Früheinschulungskampagne im Kontext der Bildungsdebatte in Deutschland

Die Früheinschulungskampagne im Kontext der Bildungsdebatte in Deutschland 11

Die angestrebte Effizienzsteigerung erweist sich alshöchst ineffizient; sie ist kontraproduktiv. Mit ihr ent-zieht sich die Wirtschaft auf Dauer selbst die Grund-lage, auf der allein sie gedeihen kann: nämlich die Ge-sundheit und Leistungsfähigkeit, den Ideenreichtumund die Lebensfreude der arbeitenden Bevölkerung. Esmüsste daher eigentlich im wohlverstandenen Inte-resse der Wirtschaft liegen, den eingeschlagenen sozi-

aldarwinistischen Weg zu verlassen und die wirklichenEntwicklungsnotwendigkeiten eines Kindes zur Grund-lage einer salutogenetischen Pädagogik zu machen, dieGesundheit entwickelt und fördert, statt sie zu zerstö-ren.

Aber wann wird diese Einsicht in unserer GesellschaftPlatz greifen?

Literatur

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BELLENBERG, GABRIELE (1999): Individuelle Schullaufbahnen: Eine empirische Untersuchung über Bildungsverläufe von der Ein-schulung bis zum Abschluß. Weinheim und München

DOLLASE, RAINER (2009): Frühkindliche Bildung zwischen Verschulung und offener Arbeit. www.kinder-sind-mehr-wert.de/downloads/dollase.pdf Weitere Titel zum Thema: www.uni-bielefeld.de/psychologie/ae/AE13/HOMEPAGE/DOLLASE/

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KRAUTZ, JOCHEN (2013a): Auf dem Niveau eines Heizungsthermostaten. Österreichs Bildungsministerium lässt sich die Unwirk-samkeit von Bildungsstandards und Tests durch ein Gutachten attestieren. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung,30.8.2013, Nr. 201, S. 7

KRAUTZ, JOCHEN (2013b): Bildungsreform und Propaganda. Strategien der Durchsetzung eines ökonomistischen Menschenbildesin Bildung und Bildungswesen. Internet: forum-kritische-paedagogik.de/start/wp-content/uploads/downloads/2013/01/krautz.pdf

PATZLAFF, RAINER / DORIS BOEDDECKER / MARTINA SCHMIDT (2006): Einschulungsalter und Gesundheitsentwicklung. Ein Forschungs-projekt des IPSUM-Instituts. In: Erziehungskunst 5 / 2006, S. 531-542

PATZLAFF, RAINER / SAßMANNSHAUSEN, WOLFGANG (2007): Kindheit – Bildung – Gesundheit: Leitlinien der Waldorfpädagogik für dieKindheit von drei bis neun Jahren. Stuttgart, zweite, überarbeitete Auflage

PATZLAFF, RAINER (2013): Der gefrorene Blick. Bildschirmmedien und die Entwicklung des Kindes. Aktualisierte Neuausgabe. Ver-lag Freies Geistesleben, Stuttgart

PICHT, GEORG (1964): Die deutsche Bildungskatastrophe. Walter-Verlag Olten

PUHANI, PATRICK A. / WEBER, ANDREA M. (2006): Fängt der frühe Vogel den Wurm? Eine empirische Analyse des kausalen Effektsdes Einschulungsalters auf den schulischen Erfolg in Deutschland. Diskussionspapiere der Wirtschaftswissenschaftli-chen Fakultät der Leibniz-Universität Hannover

SCHÄFER, GERD E. (Hrsg.) (2005): Bildung beginnt mit der Geburt: Ein offener Bildungsplan für Kindertageseinrichtungen inNordrhein-Westfalen. Beltz-Verlag, Weinheim und Basel

EinleitungNach mehreren Berichten zum Fortgang des Projekts inden Zeitschriften „Erziehungskunst“ und „Medizinisch-Pädagogische Konferenz“ möchten wir jetzt einen ers-ten Bericht geben zu den Ergebnissen der von uns vor-genommenen Zwischenbefragung der Kinder (2008eingeschulte Hauptkohorte) in der 2. Klasse. Diese warzunächst nicht geplant. Sie ermöglichte uns jedoch an-fängliche Wahrnehmungen zur gesundheitlichen Ent-wicklung der Kinder und diente zugleich der Kontakt-pflege und Motivations-Förderung unserer Ansprech-partner in den teilnehmenden Schulen; denn nachdemwir zu Beginn der Studie vor allem mit den Aufnahme-kollegien zusammen gearbeitet hatten, musste jetztder Kontakt zu den Klassenlehrern der Kinder aufge-baut werden.

HintergrundIm Gefolge der PISA-Studien wurde das Einschulungs-alter in den Bundesländern der BRD um bis zu einemhalben Jahr herabgesetzt, ohne Berücksichtigung desindividuellen Entwicklungsstandes der Kinder. Damitstellt sich die Frage, welches Gefährdungspotential fürdie gesundheitliche Entwicklung der Kinder durch diestaatlich verordnete Vorverlegung der Einschulungentsteht.

ZieleDas Forschungsprojekt untersucht, wie das Einschu-lungsalter, die Schulreife und der individuelle Entwick-lungsstand bei Einschulung mit der gesundheitlichenEntwicklung in den ersten Schuljahren zusammenhän-gen.

MethodenNach einer dreijährigen Pilotphase wurde im Jahre2008 eine klassische Kohortenstudie im Dynamic Co-hort Design an 103 deutschen Waldorfschulen begon-nen. Die Kinder wurden im Rahmen einer neu konzi-pierten standardisierten Schuleingangsuntersuchungauf ihren Entwicklungsstand hin untersucht und dieSchulreife durch die Aufnahmegremien beurteilt; derGesundheitsstand wurde durch Befragung der Elternerfasst. Im Jahr 2010 – die Kinder besuchten mittler-

weile die 2. Klasse – wurde der Gesundheitsstand durcheine Befragung der Eltern und der Lehrer nachunter-sucht. Die Befragung wurde dieses Mal an 107 Wal-dorfschulen in Deutschland durchgeführt, es nahmeninsgesamt 1990 Kinder daran teil.

AuswertungenFür die Auswertungen haben wir bei den Kindern zweiunterschiedliche Einteilungen vorgenommen, um denEinfluss von Einschulungsalter und Schulreife zu erfas-sen:

A.) Schulreife definiert durch das Geburtsdatum„schulreif“: Geburtsdatum zwischen dem 1.7.2001und 1.4.2002 „fraglich schulreif“: Geburtsdatum zwischen dem1.4.2002 und 1.7.2002 „nicht schulreif“: Geburtsdatum nach dem 1.7.2002.

B.) Schulreifeurteil der Mitarbeiter des Aufnahme-gremiums bei Schuleingangsuntersuchung

Gesundheitsentwicklung (Zielvariable bzw. Outco-mes)Bislang wurden folgende Merkmale bzw. Gesundheits-indikatoren ausgewertet (Fragebogeninstrumente inrunden Klammern): • Asthma, Allergie, Neurodermitis, Infektionen (PAR-

SIFAL) • Lebensqualität (KINDL) • Schlafprobleme (SDSC) • Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssymptome

[ADHS] (SDQ) • Blässe, kalte Hände, Infektanfälligkeit, Fehltage

(IPSUM)• Inanspruchnahme medizinischer Leistungen (CSHCN).

Deskriptive AnalyseInsgesamt haben im Jahr 2008 2114 Kinder, im Jahr2010 1983 Kinder und in beiden Jahren 1184 Kinder anden Befragungen teilgenommen.

A.) Ergebnisse auf Basis des GeburtsdatumsTabelle 2 bietet den Vergleich der 2008 bei der Ein-

12 Einschulungsalter und Gesundheitsentwicklung – Ein Forschungsprojekt des IPSUM Instituts Stuttgart

Einschulungsalter und GesundheitsentwicklungEin Forschungsprojekt des IPSUM Instituts StuttgartErgebnisse der Zwischenbefragung von Lehrern und Eltern in der 2. Klasse

Martina Schmidt, Michael S. Urschitz, Rainer Patzlaff

schulung erhobenen Daten mit den 2010 erhobenenDaten getrennt nach dem Geburtsdatum. Jüngere Kin-der zeigten immer wieder ein leicht erhöhtes Risiko fürdie jeweiligen Merkmalsausprägungen (OR >1). Die Ri-sikoerhöhung ist jedoch meist nur schwach ausgeprägt(OR nahe 1), sodass für die Untersuchung allein auf derBasis des relativen Einschulungsalters 2 Jahre nach Ein-

schulung keine statistische Relevanz erreicht wird.Ausnahmen davon waren ADHS-Symptome und vonden Eltern wahrgenommene Blässe. Hier zeigte sicheine ausgeprägte Zunahme der Symptome bei jünge-ren Kindern. Die sog. „Kann-Kinder“ hatten sogar eindeutlich erhöhtes Risiko für pathologisch hohe Frage-bogenwerte im Bereich ADHS-Symptome.

Einschulungsalter und Gesundheitsentwicklung – Ein Forschungsprojekt des IPSUM Instituts Stuttgart 13

Tabelle 1: Teilnehmer in den Jahren 2008, 2010 und in beiden Jahren.

DeskriptiveVariable Ausprägung Statistik

Teilnahmejahr

2008 2010 2008/2010

Anzahl Alle N 2114 1983 1184

Geschlecht

Jungen N (%) 1128 (53,4) 1026 (51,7) 645 (54,5)

Mädchen N (%) 981 (46,4) 927 (46,7) 539 (45,5)

fehlend N (%) 5 (0,2) 30 (1,5) 0 (0,0)

Alteralle MW ± SA 6,4 ± 0,7 8,4 ± 0,4 8,4 ± 0,4

fehlend N (%) 24 (1,1) 29 (1,5) 0 (0,0)

Geburtsdatum

1.7.2001 –30.3.2002

N (%) 1331(63,0) 1257 (63,4) 786(66,4)

1.4.2002 –30.6.2002

N (%) 384 (18,2) 342 (17,2) 199(16,8)

nach dem1.7.2002

N (%) 192 (9,1) 133 (6,7) 77 (6,5)

fehlend /ausgeschlossen

N (%) 207 (9,8) 251 (12,7) 122 (10,3)

Schulreifeurteil

schulreif N (%) 1685 (79,7) 1321 (66,6) 1059 (89,4)

fraglich /nicht schulreif

N (%) 262 (12,4) 114 (5,7) 88 (7,4)

fehlend N (%) 167 (7,9) 548 (27,6) 37 (3,1)

14 Einschulungsalter und Gesundheitsentwicklung – Ein Forschungsprojekt des IPSUM Instituts Stuttgart

Tabelle 2: Kohorte 2008 – Veränderung von 2008 (Einschulung) zu 2010 (Ende der zweiten Klasse).

Zielvariable Frage-bogen Statistik Jahr N

Geburtsdatum

1.7.2001 –30.3.2002

1.4.2002 –30.6.2002

nach dem1.7.2002

> 3 Infekte imletzten Jahr

IPSUM

N (%) 2008 1885 346 (26,3) 105 (28,0) 40 (20,8)

N (%) 2010 1725 260 (20,8) 83 (24,4) 22 (16,7)

OR (95% KI) 08/10 1047 1 1,5 (0,98-2,2) 1,1 (0,6-2,1)

> 14 krankheits-bedingte Fehltage

im letzten JahrIPSUM

N (%) 2008 1857 159 (12,2) 48 (12,9) 20 (10,7)

N (%) 2010 1716 83 (6,7) 31 (9,1) 10 (7,5)

OR (95% KI) 08/10 1024 1 1,4 (0,8-2,5) 0,6 (0,2-1,9)

Kind wird leichtblass

IPSUM

N (%) 2008 1887 284 (21,6) 78 (20,5) 31 (16,1)

N (%) 2010 1718 271 (21,7) 85 (25,1) 27 (20,3)

OR (95% KI) 08/10 1045 1 1,5 (1,003-2,3) 1,0 (0,5-2,0)

Kind neigt zukalten Händen

IPSUM

N (%) 2008 1888 232 (17,6) 59 (15,6) 19 (9,9)

N (%) 2010 1723 226 (18,1) 67 (19,8) 25 (18,8)

OR (95% KI) 08/10 1048 1 0,9 (0,6-1,4) 1,2 (0,6-2,3)

JuckenderHautausschlag, der

stärker oderschwächer über mind.

6 Monate auftrat

PARSIFAL

N (%) 2008 1887 192 (14,6) 45 (11,8) 25 (13,2)

N (%) 2010 1723 198 (15,8) 52 (15,3) 20 (15,2)

OR (95% KI) 08/10 1045 1 1,1 (0,6-1,8) 1,5 (0,7-3,3)

Vom ArztdiagnostizierterHeuschnupfen

PARSIFAL

N (%) 2008 1779 52 (4,2) 11 (3,1) 4 (2,2)

N (%) 2010 1631 64 (5,4) 16 (5,0) 8 (6,1)

OR (95% KI) 08/10 943 1 1,1 (0,4-2,8) 2,7 (0,9-8,0)

Vom ArztdiagnostizierteNeurodermitis

PARSIFAL

N (%) 2008 1818 204 (16,1) 50 (13,7) 21 (11,6)

N (%) 2010 1670 194 (16,0) 45 (13,8) 16 (12,3)

OR (95% KI) 08/10 982 1 1,0 (0,5-2,0) 1,3 (0,5-3,8)

Vom Arztdiagnostiziertes

AsthmaPARSIFAL

N (%) 2008 1611 33 (2,9) 5 (1,5) 6 (3,9)

N (%) 2010 1497 45 (4,2) 11 (3,7) 8 (6,8)

OR (95% KI) 08/10 808 1 1,3 (0,4-4,3) 0,2 (0,01-2,2)

Vom Arztdiagnostizierte

BronchitisPARSIFAL

N (%) 2008 1834 434 (33,9) 143 (38,8) 55 (30,1)

N (%) 2010 1660 392 (32,7) 138 (41,9) 40 (30,5)

OR (95% KI) 08/10 997 1 1,3 (0,9-1,9) 0,8 (0,4-1,5)

Lebensqualität– Gesamtskala

KINDL

MW ± SA 2008 1896 78,2 ± 8,2 78,8 ± 8,4 78,8 ± 7,7

MW ± SA 2010 1728 77, 3 ± 8,5 76,8 ± 8,1 78,3 ± 8,1

Differenz(95% KI)

08/10 1054-0,9

(-1,4/-0,4)-1,6

(-2,7/-0,6)-1,1

(-2,7/+0,5)

B.) Ergebnisse auf Basis des Schulreifeurteils durch die Mitarbeiter des AufnahmegremiumsTabelle 3 bietet den Vergleich der 2008 bei der Ein-schulung erhobenen Daten mit den 2010 erhobenenDaten getrennt nach dem Schulreifeurteil. Auch hierzeigen fraglich schulreife und nicht-schulreife Kinderwiederholt höhere Risiken für die jeweiligen Merkmals-ausprägungen (Odds-Ratios > 1; Ausnahme Asthma).Die Risiken sind aber wiederum großteils nur leicht er-höht und erreichen meist keine relevant hohen Werte.

Ausnahmen davon bilden die Doktor-diagnostizierteNeurodermitis und die Einschränkungen Dinge zu tun,die gleichaltrige Kinder tun können. In diesen beidenGesundheitsmerkmalen zeigten die fraglich/nicht-schulreifen Kinder erhöhte Risiken im Vergleich zuschulreifen Kinder. Bei den ADHS-Symptomen zeigtenfraglich/nicht-schulreife Kinder ebenfalls eine deutli-che Zunahme, diese war aber in dieser Auswertung sta-tistisch nicht signifikant.

Einschulungsalter und Gesundheitsentwicklung – Ein Forschungsprojekt des IPSUM Instituts Stuttgart 15

Schlafprobleme –Gesamtskala

SDSC

MW ± SA 2008 1902 38,7 ± 7,2 38,6 ± 7,3 38,5 ± 8,1

MW ± SA 2010 1727 38,4 ± 7,1 38,8 ± 7,3 38,2 ± 7,6

Differenz(95% KI)

08/10 1055-0,3

(-0,7/+0,1)-0,3

(-1,2/+0,7)+0,3

(-1,1/+1,7)

Schlafprobleme –Skala Ein-/Durch-schlafstörungen

SDSC

MW ± SA 2008 1903 11,1 ± 3,0 11,0 ± 2,9 11,0 ± 3,3

MW ± SA 2010 1726 11,0 ± 2,8 11,3 ± 3,1 11,1 ± 3,0

Differenz(95% KI)

08/10 1055-0,1

(-0,2/+0,1)+0,02

(-0,4/+0,4)+0,3

(-0,3/+0,9)

ADHS Symptome SDQ

MW ± SA 2008 1860 2,0 ± 1,8 2,0 ± 1,7 1,9 ± 1,7

MW ± SA 2010 1693 2,3 ± 1,9 2,3 ± 2,0 2,5 ± 2,0

Differenz(95% KI)

08/10 1017+0,3

(0,2/0,4)+0,6

(+0,3/+0,8)+0,7

(+0,4/+1,1)

Verdacht auf ADHS SDQ

N (%) 2008 1863 55 (4,2) 10 (2,7) 8 (4,3)

N (%) 2010 1693 63 (5,1) 19 (5,7) 10 (7,7)

OR (95% KI) 08/10 1017 1 1,3 (0,6-2,7) 2,7 (1,1-6,7)

EinschränkungDinge zu tun, die

gleichaltrige Kindertun können

CSHCN

N (%) 2008 1883 43 (3,3) 11 (2,9) 7 (3,8)

N (%) 2010 1723 53 (4,2) 14 (4,1) 5 (3,8)

OR (95% KI) 08/10 1046 1 1,2 (0,5-2,9) 0,8 (0,2-3,1)

Abkürzungen: OR, Odds Ratio (Risikoverhältnis); KI, Konfidenzintervall (Vertrauensintervall); MW, Mittelwert;SA, Standardabweichung.

16 Einschulungsalter und Gesundheitsentwicklung – Ein Forschungsprojekt des IPSUM Instituts Stuttgart

Tabelle 3: Kohorte 2008 – Veränderung von 2008 (Einschulung) zu 2010 (Ende der zweiten Klasse).

Zielvariable Frage-bogen Statistik Jahr N

Schulreife definiert durchdas Aufnahmegremium

vollständigschulreif

fraglich/nichtschulreif

> 3 Infekteim letzten Jahr

IPSUM

N (%) 2008 1926 413 (24,7) 71 (27,6)

N (%) 2010 1747 330 (20,5) 32 (23,5)

OR (95% KI) 08/10 1130 1 1,4 (0,8-2,4)

> 14 krankheitsbedingteFehltage im letzten Jahr

IPSUM

N (%) 2008 1888 188 (11,5) 38 (15,2)

N (%) 2010 1740 113 (7,0) 14 (10,4)

OR (95% KI) 08/10 1101 1 1,7 (0,8-3,5)

Kind wird leicht blass IPSUM

N (%) 2008 1927 342 (20,5) 58 (22,5)

N (%) 2010 1739 346 (21,6) 30 (22,1)

OR (95% KI) 08/10 1127 1 1,3 (0,7-2,3)

Kind neigt zukalten Händen

IPSUM

N (%) 2008 1928 280 (16,8) 43 (16,5)

N (%) 2010 1745 300 (18,6) 29 (21,3)

OR (95% KI) 08/10 1131 1 1,1 (0,6-2,1)

Juckender Hautausschlag,der stärker oder schwächer

über mind.6 Monate auftrat

PARSIFAL

N (%) 2008 1928 233 (14,0) 28 (10,9)

N (%) 2010 1747 257 (15,9) 21 (15,6)

OR (95% KI) 08/10 1129 1 1,1 (0,5-2,3)

Vom Arzt diagnostizierterHeuschnupfen

PARSIFAL

N (%) 2008 1816 61 (3,9) 7 (2,8)

N (%) 2010 1656 90 (5,9) 3 (2,4)

OR (95% KI) 08/10 1020 1 0,4 (0,1-2,3)

Vom Arzt diagnostizierteNeurodermitis

PARSIFAL

N (%) 2008 1852 239 (14,9) 28 (11,2)

N (%) 2010 1690 233 (14,9) 22 (16,8)

OR (95% KI) 08/10 1059 1 2,4 (1,1-5,2)

Vom Arztdiagnostiziertes

AsthmaPARSIFAL

N (%) 2008 1648 38 (2,7) 6 (2,7)

N (%) 2010 1526 71 (5,0) 1 (0,9)

OR (95% KI) 08/10 873 1 nicht berechenbar

Vom Arztdiagnostizierte

BronchitisPARSIFAL

N (%) 2008 1868 548 (34,0) 94 (37,0)

N (%) 2010 1685 515 (33,1) 48 (36,9)

OR (95% KI) 08/10 1073 1 0,9 (0,5-1,5)

Lebensqualität– Gesamtskala

KINDL

MW ± SA 2008 1863 78,5 ± 8,2 77,5 ± 8,8

MW ± SA 2010 1358 77,4 ± 8,5 76,6 ± 8,7

Differenz(95% KI)

08/10 1069 -0,9 (-1,4/-0,5) -1,4 (-3,3/+0,4)

DiskussionDie Zwischenbefragung in der 2. Klasse zeigt altersab-hängige gesundheitliche Risiken vor allem bei ADHS-Symptomen. Das entspricht den Untersuchungsergeb-nissen von Elder1(USA) und Morrow2 (Kanada), dieADHS assoziierte Symptome bei den jüngsten Kindernin den Schulklassen beobachteten.

Das Auftreten von Blässe im Verlauf des Unterrichts-tags bei jungen und durch den Schultag überanstreng-ten Kindern ist ein von Lehrern häufig beschriebenesvegetatives Symptom, das in dieser Studie erstmaligsystematisch untersucht wurde.

Kinder, die trotz Schulreifeurteil „fraglich bzw. nichtschulreif“ in die Schule aufgenommen werden, zeigenein erhöhtes gesundheitliches Risiko bei Neurodermitisund Einschränkung Dinge zu tun, die gleichaltrige Kin-der tun können.

Nicht berechenbar ist die Risikozunahme bei Asthmabronchiale. Hier zeigt sich eine besondere Selektiondurch das Aufnahmegremium, sodass nur ein einzigesKind mit der Diagnose Asthma bronchiale und demSchulreifeurteil „fraglich bzw. nicht schulreif“ in den 2.

Klassen der 107 Schulen angetroffen wurde (gegen-über 72 schulreifen Kindern mit Asthma bronchiale).

AusblickDie Nachbefragung der Kinder in der 4. Klasse in 2012wird zeigen, ob sich die bei der Zwischenbefragung an-deutenden Tendenzen eines erhöhten Gesundheitsrisi-kos der jungen und nicht schulreifen Kinder verstärkenwerden. Diese Nachbefragung ist weitgehend abge-schlossen und die Eingabe der Fragebögen in die Da-tenbank wird derzeit vorbereitet.

Statistische MethodenBei der vorliegenden Auswertung wurden Kinder, dievor dem 1.7.2001 geboren waren (d.h. zurückgestellteKinder), ausgeschlossen. Die Auswertungsstrategierichtete sich nach der Skalierung der Gesundheitsindi-katoren:

(1) Kategoriale Merkmale wurden dichotomisiert, umklinisch relevante Outcomes abzubilden. Die Häufig-keiten der dichotomen Outcomes wurden getrenntnach Erhebungsjahr (2008 oder 2010) und Alter bzw.Schulreife mit Kreuztabellen dargestellt. Zusammen-hänge zwischen der Schulreife und dichotomen Out-

Einschulungsalter und Gesundheitsentwicklung – Ein Forschungsprojekt des IPSUM Instituts Stuttgart 17

Schlafprobleme– Gesamtskala

SDSC

MW ± SA 2008 1871 38,3 ± 7,3 38,5 ± 8,1

MW ± SA 2010 1358 38,1 ± 7,3 37,6 ± 6,7

Differenz(95% KI)

08/10 1071 -0,4 (-0,8/-0,04) +0,6 (-0,7/+1,9)

Schlafprobleme – SkalaEin-/Durchschlafstörungen

SDSC

MW ± SA 2008 1969 11,0 ± 3,1 11,0 ± 3,1

MW ± SA 2010 1860 11,0 ± 2,8 11,2 ± 3,1

Differenz(95% KI)

08/10 1030 -0,2 (-0,3/+0,03) +0,4 (-0,4/+1,1)

ADHS Symptome SDQ

MW ± SA 2008 2055 1,9 ± 1,8 2,4 ± 1,9

MW ± SA 2010 1939 2,3 ± 1,9 3,1 ± 2,4

Differenz(95% KI)

08/10 1094 +0,3 (+0,2/+0,4) +0,7 (+0,3/+1,1)

Verdacht auf ADHS SDQ

N (%) 2008 1898 67 (4,1) 17 (6,6)

N (%) 2010 1719 88 (5,5) 17 (13,6)

OR (95% KI) 08/10 1095 1 1,6 (0,6-3,9)

Einschränkung Dingezu tun, die gleichaltrige

Kinder tun könnenCSHCN

N (%) 2008 1914 55 (3,3) 18 (7,0)

N (%) 2010 1748 67 (4,2) 11 (8,1)

OR (95% KI) 08/10 1124 1 2,5 (1,02-6,2)

comes wurden mit Hilfe der binär-logistischen Re-gression untersucht. Das Risikoverhältnis (genauer:Chancenverhältnis oder Odds-Ratio [OR]) und sein95%-Vertrauensintervall (sog. Konfidenzintervall)wurde für das Auftreten einer gesundheitlich negati-ven Merkmalsausprägung (z.B. > 3 Infekte/Jahr) imJahr 2010 unter Berücksichtigung der Ausgangslageim Jahr 2008 und des Geschlechts berechnet. Dabeiist eine OR von > 1 mit einem erhöhten, eine OR von< 1 mit einem erniedrigten Risiko für das Auftretender jeweiligen Merkmalsausprägung verbunden. DieVergleichsgruppe (sog. Referenzgruppe) ist die je-weils älteste bzw. reifste Gruppe (ohne die zurückge-stellten Kinder). Die Referenzgruppe hat per Defini-tion immer eine OR von 1.

(2) Für stetig (metrisch) skalierte Merkmale wurdendie Ergebnisse getrennt nach Erhebungsjahr (2008oder 2010) und Alter bzw. Schulreife mittels Mit-telwert und Standardabweichung dargestellt. Dannwurden individuelle Differenzen berechnet (ent-spricht der Veränderung über die Zeit) und als Mit-telwert und 95%-Vertrauensintervalle dargestellt.Unterschiede in diesen Differenzen zwischen deneinzelnen Gruppen wurden dann mit Varianzana-lyse analysiert. Diese Auswertung wurde ebenfallsfür den Einfluss des Geschlechts adjustiert. Allestatistischen Tests mit einem p-Wert < 0,05 wur-den mit Fettdruck hervorgehoben.

18 Einschulungsalter und Gesundheitsentwicklung – Ein Forschungsprojekt des IPSUM Instituts Stuttgart

Literatur

1. ELDER, TODD E.: The Importance of Relative Standards in ADHD Diagnoses: Evidence Based on Exact Birth Dates. In: J HealthEcon. 2010 September; 29(5): 641-656.

2. MORROW, R.L. et al.: Influence of relative age on diagnosis and treatment of attention-deficit/hyperactivity disorder in chil-dren. In: Canadian Medical Association Journal 10.1503/cmaj.111619, 2012.

Schulreife 19

In vielen Ländern ist der Begriff „Kindergartenkind“mehr oder weniger abgeschafft worden. Nach der Ein-schulung macht das Kind eine Lernentwicklung durch.Den Zahnwechsel als einen wichtigen Schritt zu sehen,einen Schritt den wir mit „Schulreife“ bezeichnen, istnicht mehr selbstverständlich.

Dennoch möchten wir Ihnen mit Hilfe dieses Beitragesdie Gelegenheit geben, etwas über Schulreife zu lesen,denn in Wirklichkeit hat sich das Kindergartenkindebenso wenig abschaffen lassen wie die Tatsache derSchulreife.

Anhand der Einsichten, die zur Waldorfschulpädagogik(Steiner-Pädagogik) geführt haben, beschreiben wir indiesem Text die zwei Prozesse, die zur Schulreife führen.

In diesem Heft haben wir die Bezeichnung „ersteKlasse“ gewählt für die Klasse nach der Kindergarten-periode.

Dieser Text richtet sich also auf die Schulzeit, die aufdie Kindergartenperiode folgt.

Vom Kindergartenkind zum SchulkindIn diesem Beitrag wollen wir hinweisen auf den wichti-gen Übergang, der sich beim Schuleintritt in einemKind vollzieht, was seine Reifung und Entwicklung be-trifft.

Es wird sich zeigen, dass es sich nicht um einen, son-dern um zwei Prozesse handelt.

Am Ende des einen Prozesses ist die Denkreife erreicht,am Ende des anderen Prozesses die Schulreife.

Manchmal erreicht das Kind beide Endpunkte zur glei-chen Zeit, dann ist das Urteil relativ einfach.

Oft kommt es am einen Endpunkt schneller an als beimanderen. Dann ist es weniger einfach.

Außer der relativ nüchternen Feststellung, dass Denk-und Schulreife erreicht sind, ergibt sich auch die Frage,ob das Kind in sozialer Hinsicht reif ist für den Schrittin die erste Klasse.

Das hängt auch von Umgebungsfaktoren ab. Diesemüssen in die Überlegungen einbezogen werden. EinKind, das sich im Sozialen geschickt bewegen kann,kann im Zweifelsfalle noch in die erste Klasse mitge-nommen werden. Ein solches Kind hat Reserven, kannvielleicht gut um Hilfe bitten, wenn es sie braucht.

Wenn in einer Gruppe gut befreundeter ältester Kin-dergartenkinder eines dabei ist, an dessen Reife mannoch Zweifel hegt, neigt man eher dazu, es trotzdemmit in die erste Klasse zu nehmen, in der Hoffnung,dass es in der ersten Klasse genug Unterstützung beiseinen Freunden findet um innerlich nachreifen zukönnen.

Allerdings kann das auch schief gehen, wenn dieFreunde sich in der ersten Klasse von ihm abwenden.Natürlich ist das nicht vorauszusehen, aber die Kinder-gärtnerin kann meistens ein sicheres Urteil über einesolche Gruppe Kinder fällen und die Art der Freund-schaften beschreiben: Gehen sie durch dick und dünnmiteinander? Machen sie sich zusammen stark gegenetwas? Gleichen sie sich aus? Sind sie unabhängig von-einander? Für manche Kinder ist es eine Befreiung, diealten Bindungen hinter sich zu lassen.

Natürlich muss dies alles nicht bestimmend sein in derFrage nach Denk- und Schulreife, aber es macht deut-lich, dass auch die Umgebungsfaktoren sorgfältig be-trachtet und mit einbezogen werden müssen.

Die soziale Schulreife wird im Abschnitt über die Ge-fühlsentwicklung besprochen.

Kurze ÜbersichtIn diesem Abschnitt werden wir den Rahmen bespre-chen, innerhalb dessen die Begriffe „denkreif“ und„schulreif“ ihren Platz bekommen. Danach sollen diebeiden Entwicklungsaspekte ausgearbeitet werden. EinKind entwickelt sich nicht linear, sondern diskontinu-ierlich, d.h. mit großen und kleinen Sprüngen.

Es kann sich z.B. ganz plötzlich in der Trotzphase befin-den oder mit einem Mal in der Lage sein, mit anderenKinder zusammen zu spielen. Plötzlich wackelt dererste Zahn, oder es kommt eine Periode der Langweile

Schulreife

Edmond Schoorel, anthroposophischer Kinderarzt

auf. Sowie die körperliche Entwicklung als auch dieVeränderungen im Verhalten treten in Phasen auf.

Man kann die Seelenfähigkeiten, die sich im Verhalteneines Kindes äußern, in drei Gebiete einteilen: das Den-ken, das Fühlen und das Wollen. In diesem Text be-schreiben wir diese drei „Provinzen“ der Seele, wie siesich in der ersten Entwicklungsperiode zeigen.

• Die Fähigkeit des Denkens ist für das Lernen unent-behrlich. Wir nennen es hier: Denkreife.

• Das Vermögen zu handeln (und vor allem das derZurückhaltung des Handelns) braucht das Kind, umin der Schule gut zu funktionieren. Das nennen wirhier: Schulreife.

• Die Fähigkeit des Fühlens, z.B. was man sagen undwas man besser nicht sagen sollte, hilft dem Kind,seinen Platz in der Klasse einzunehmen. Wie nenntman es, wenn diese Reife genügend vorhanden ist?„Sozial geschickt“ vielleicht oder „Reif für dieGruppe“. Vorläufig nennen wir es: „Reif zum Lernenin der Klasse“.

Der Weg zu den Stadien dieser Reife, denkreif, schulreifund sozial reif, vollzieht sich natürlich auch in Phasen.Und, um es kompliziert zu machen, diese Phasen habenetwas miteinander zu tun, bedingen einander, beeinflus-sen einander, laufen aber nicht unbedingt synchron.

Die Entwicklung des Denkens beginnt in den Gliedma-ßen und endet im Kopf, und andersherum beginnt die

20 Schulreife

Figur 1 Die Entwicklung des Denkens ist durch einen Pfeil von untennach oben angegeben, die Entwicklung des Handelns (des Wol-lens) mit einem Pfeil von oben nach unten. Es wird sich zeigen,dass die Richtungen der beiden Pfeile nicht zufällig gewähltsind. Neben den Pfeilen stehen die Altersangaben, die global zuden drei Phasen der zwei Entwicklungsrichtungen gehören.

Figur 2Der Ausgangspunkt ist dabei, dass ein menschlicher Organis-mus aus drei Provinzen besteht. „Oberer Pol“ bezeichnet denKopf mit allen dazu gehörigen Funktionen. „Unterer Pol“ gibtden Stoffwechsel an, die Energie und die Gliedmaßen. „Mittle-res Gebiet“ bedeutet die Atmung, die Zirkulation und alle ande-ren rhythmischen Prozesse. Das gilt nicht nur für die seelischeEbene, sondern für die ganze menschliche Gestalt.Die Pfeile können auch in eine schematische Menschengestalteingezeichnet werden:

Entwicklung des Wollens im Kopf und endet im Stoff-wechsel. Natürlich spielen sich all diese Prozessegleichzeitig in einem Kind ab, die zwei Entwicklungs-prozesse beeinflussen einander gegenseitig. Dennochkann man sie unabhängig voneinander beschreiben.Der Endpunkt der Denkentwicklung ist die Denkreife,die wir in diesem Heft Lernreife nennen. Der Endpunktder Willensentwicklung ist die Willensreife, die wir alsSchulreife bezeichnen.

Durch die Tatsache, dass das Denken sich im Laufe derersten sieben Jahre zunehmend auf den Kopf konzen-triert und gleichzeitig der untere Pol immer mehr dieBasis für den Willen wird, entsteht dazwischen einfreier Raum, in dem das Fühlen sich entwickeln kann.Damit ist in diesem Zusammenhang die Fähigkeit derSeele gemeint, sich mit der Umgebung zu verbindenund gleichzeitig Abstand zu ihr halten zu können. Es istwichtig, die Entwicklung dieses dritten Gebietes, desFühlens, als eine selbständige Entwicklung zu sehenund sie von der der anderen zwei Gebiete, denen desDenkens und Wollens, zu unterscheiden. Natürlich wirddas Gefühl durch den oberen und den unteren Pol be-einflusst. Wenn man fit ist und voller Energie für neuePläne, fühlt man sich besser als ohne Energie und ohneneue Pläne. Wenn man keine Vorstellungen und keineIdeen hat, beeinflusst das das Gefühl anders als wennman etwas ganz genau vor sich sieht und weiß, wieetwas funktioniert. Aber für die Entwicklung zumfreien Menschen, einem lernenden Individuum, ist ge-rade der Freiraum zwischen Denken und Wollen essen-tiell. Ein Kind begreift etwas erst dann wirklich, wennes in seinem Gefühl aufgenommen ist. Vielleicht müs-sen wir anstatt „reif für die Klasse“ die Bezeichnung„reif, etwas selbst zu begreifen“ gebrauchen.

Die Entwicklung des DenkensDenken hängt mit Reflexion zusammen. Auch für deneinfachsten Denkprozess ist eine Spiegelfunktionnötig, die die Wahrnehmung oder den Denkinhalt re-flektiert. Um in diesem Spiegel etwas sehen zu können,muss man stillstehen können, einen Standpunkt ein-nehmen können. Wir wissen alle, dass aktive Bewegungeinen ruhigen Denkprozess unmöglich macht. Ein Rad-rennfahrer ist nach seinem Etappensieg oft nichtgleich in der Lage, die meist einfachen Fragen eines Re-porters schlagfertig zu beantworten.

Die drei Fähigkeiten des Stillstehens, des Bildschaffensund der Reflexion wollen wir nun noch näher betrach-ten.

Der erste Aspekt der Denkentwicklung. Das Stehen.Am Ende seines ersten Lebensjahres kann das Kind aufseinen Füssen stehen, frei, aufrecht im Raum. Dazu hates sich vorbereitet mit Kriechen, Sitzen, sich Hochzie-hen an etwas. Das erste Mal, dass es stehen kann, ist esganz stolz, und seine Eltern freuen sich mit ihm. Aberstabil stehen kann es noch nicht. Sobald es abgelenktwird oder sich umdrehen will, fällt es wieder hin. Dasinnere Gleichgewicht zu halten, ist eine Kunst, die eserst mit 2,5 bis 3 Jahren einigermaßen beherrscht. Da-nach kann es rennen, tanzen, klettern und Kopfrollenmachen lernen.

Das Stehenlernen bedeutet also auch, innerlich einenStandpunkt einnehmen zu können, während man sichbewegt. Die Bewegungen selbst können zunehmendinnerlich beherrscht und schön werden. Für die Denk-bewegung bedeutet das, dass das Kind begreifenkann, was ihm gesagt wird, ohne in Verwirrung zu ge-raten.

Der zweite Aspekt der Denkentwicklung. Das Bild.Im Laufe des zweiten Lebensjahres lernt das Kind„Sprache“ zu verstehen. Das ist eine große Hilfe etwasvon dem, was rundum geschieht, zu begreifen. Dies isteine erste Phase im Zustandekommen eines Bildes.

In der Entwicklung dieses zweiten Aspektes sind dreiPhasen zu unterscheiden.

A) Anfängliche BilderDer junge Säugling ist noch ganz aufgenommen in undausgeliefert an alle Eindrücke, die auf ihn zu kommen.Sobald ein Kind stehen kann, kann es die Eindrückeschon viel ruhiger auf sich einwirken lassen. Es kannanfangen, sich ein Bild zu machen von dem, was um esherum vorgeht.

Dazu kommt, dass es langsam anfängt, Sprache zu ver-stehen. Das ist eine große Hilfe, die Vorgänge aus derUmgebung auch begreifen zu lernen. Wenn die Mutter:„Brei“ sagt, kann das im Kind schon ein inneres Stim-mungsbild von Wohlbehagen hervorrufen: In den Stuhlgesetzt werden, die Mutter neben sich haben, der süß-liche Geschmack im Mund … dieses „Totalerleben“hatte es vorher auch schon, aber das Wort schenkteinen Angriffspunkt zum Begreifen, es bekommt Bild-charakter. Durch die Sprache werden die Welt und dieMenschen begreiflich, das Kind ist nicht nur unbewusstin seine Umgebung aufgenommen; jetzt entstehen Bil-der zwischen dem Kind und der Welt. In Sprache ge-kleidete Bilder.

Schulreife 21

B) Die Bilder breiten sich ausIm Alter von 2,5 bis 4,5 Jahren kann inzwischen auseinem enormen kreativen Brunnen geschöpft werden,die Sprache hat eine große Aufgabe vollbracht. Die Bil-der breiten sich aus. Jetzt entstehen auch: „Was wärewenn …“ Bilder. Die schöpferische Phantasie kommtzum Vorschein in Zeichnungen, Bauwerken und Spiel.Auch während des Spielens ist äußere und innere Spra-che nötig, um der Geschichte Form und Richtung zugeben. Der Brunnen der Fantasie liegt im unerschöpfli-chen Bildreichtum des eigenen Inneren, hier leben Bil-der von der Umgebung und der eigenen Stimmung.Alles kann jetzt Bild werden, mit Worten bezeichnetwerden, abgebildet und umgebildet werden. Es geht indiesem Prozess nicht um das Resultat, sondern darum,dass der kreative Brunnen reichlich strömen kann.

C) Der Strom kann auch inne haltenJetzt kommen auch Momente, in denen der Strom stillstehen kann. Plötzlich kann sich auch eine spiegelndeOberfläche bilden, in der sich etwas abbilden kann, aufder ein Bild sich verdichten und für einen Moment stillstehen kann. Gleich darauf strömt es wieder, und löstdas Bild sich auf. Immer öfter kann der Strom angehal-ten werden. Es zeigt sich, dass die Bilder auf der Spie-gelfläche einander ähnlich sehen, dass sie in einen Zu-sammenhang gebracht werden können, dass sie sichüberschneiden können. Diese Fähigkeit, die Bilder auseigener Kraft an zu halten und sie in Ruhe anschauenzu können, ist Voraussetzung für das Lernen. Sie ist derAusgangspunkt, um Denkbilder entwickeln zu können.

Der dritte Aspekt der Denkentwicklung. Der Spiegel.Auch diese Entwicklung vollzieht sich in drei Phasen:Fragen stellen, nach-denken und vor-denken.

A) Fragen stellenDer kreativen Unbegrenztheit wird am Ende der Kin-dergartenzeit von selber eine Grenze gesetzt. Wenn einKind beginnt, Fragen zu stellen: „Warum tust du das?“„Warum ist das so?“ steigt es aus der Bilderflut und ausseinem Spiel aus. Es schaut sozusagen auf die Spiegel-fläche hin, unter der der Strom der Geschehnisse füreinen Moment zur Ruhe kommt. Der erste Ansatzhierzu wird geschaffen, wenn das Kind in seinem drit-ten Lebensjahr zu Denken beginnt.

B) Nach-denkenDas Denken eines 2,5 jährigen Kindes hat noch einenvorläufigen Charakter. Wenn es „Ich“ zu sich selbersagt, meint es damit gleichzeitig das „Nicht-Ich“ derAußenwelt. Der erste Abstand dazu entsteht, wenn die

Trotzphase beginnt. In der Periode entstehen die Ge-danken noch nach den Geschehnissen, das Denken istnoch ein „Nach-Denken“.

C) Vor-denkenAb 5,5 Jahren kann das Kind auch voraus denken: Auchohne einen äußeren Anlass kann es Fragen stellen wiez.B. „Ist der Mond genau so groß wie die Sonne?“ Ja,und was antwortet man dann als Erwachsener? Wenfragt das Kind? Und will es eigentlich eine Antworthaben? Mit diesem neuen Schritt spricht sich am Kinddas Folgende aus: „Ich entschließe mich dazu, denStrom der Phantasie zu unterbrechen, im Vertrauendarauf, dass sich inzwischen in meinem oberen Pol einSpiegel gebildet hat, den ich nun dem Lernprozess zurVerfügung stellen kann.“

Durch die Phantasie, durch das Stillstehen und durchdas Fragen entwickeln sich im kindlichen Denkorgan,im Gehirn, gewisse Spuren und Formen, die sich da-nach vertiefen und weiterentwickeln können. Es übtseinen Spiegel, bis es wortwörtlich stehen bleiben kannund sich konzentrieren kann auf die Bilder, die ihm inder Schule angeboten werden, und die die Wirklichkeitder Welt nahe bringen. Das Kind kann jetzt nachden-ken und voraus denken, es kann nachbilden und Vor-bilder erfassen. Es kann auch Gefühlsbilder entstehenlassen, durch die es sich in der Welt, die es immer mehrbegreift, auch zuhause fühlen kann. Wenn es oh sogerne wissen will, wie die Welt wirklich ist, dann ist esreif zum Denken-lernen.

Die Entwicklung des Willens.Um wirklich etwas wollen zu können und sinnvolleHandlungen auszuführen, muss Bewegung da sein.Aber nicht einfach nur Bewegung. Man muss sich derUmgebung und der Umstände bewusst sein, man musssich fügen können und sich als Mensch mit etwas ver-bunden fühlen können. Zu „Ich will“ gehört auch dieVerantwortlichkeit für seine Taten. Dieser Prozess desWollen-lernens dauert ein ganzes Leben lang. In die-sem Text lesen Sie nur etwas über die ersten drei Pha-sen, die sich bis zum 7. Lebensjahr vollziehen.

Diese drei Phasen werden wir nach einander bespre-chen. Es sind:– Die Umgebung im Bewusstsein haben– Einfügen in die Umstände der Wirklichkeit– Verantwortung tragen können für die eigenen Taten.

Kurz gesagt: Wahrnehmen, Fügen und Autonomie.

22 Schulreife

Der erste Aspekt der Willensentwicklung:Wahrnehmen.An den verschwommenen Augen eines Neugeborenenkann man sehen, dass es noch nicht in der Lage ist, sei-nen Blick zu richten. Heißt das, dass es noch nichtssieht? Es sieht bestimmt etwas, aber das wird anderssein, als wir es durch unser gewöhnliches Sehen ken-nen. Es sieht aus, als ob das kleine Kind noch träumt, sowie unser Blick auch nicht auf etwas gerichtet ist,wenn wir vor uns hin starren. Aber der Säugling starrtnicht, seine Augen bewegen sich immerhin, als suchtensie etwas. Vielleicht könnte man sagen: Die Augen wer-den noch bewegt. Die Augenbewegungen ähneln denBewegungen der Gliedmaßen in dieser Periode, die„general movements“ genannt werden. Graziöse, tän-zerische Gliederbewegungen, die das Kind später so niewieder machen wird. Als würde es durch eine unsicht-bare Kraft bewegt. Dieses Von-außen-bewegt-werdenist ein Bild, das gut zu der Beeinflussbarkeit einesSäuglings passt: Alles, was in seiner Umgebung ge-schieht, bringt ihn in Bewegung. Es sei denn, er schläft.

Das Sehen fasst zwei entgegengesetzte Bewegungenzusammen (für die anderen Sinne gilt vergleichsweisedasselbe):

Es gibt eine nach innen gerichtete und eine nachaußen gerichtete Sehaktivität. Das Neugeborene hatnoch keinen nach außen gerichteten Blick, kann seinenBlick noch nicht richten. Die Welt schaut in sein Inne-res, und es hat noch kein Bewusstsein von seiner Um-gebung. Erst wenn es lernt, durch seine Augen hin-durch nach außen zu blicken, kann es sehen. In derBegegnung dieser zwei Sehströme entsteht eine Wahr-nehmung. Bis dahin ist die Wahrnehmung vage, un-kontrolliert. Nach und nach beginnt das Kind zu sehen,zu erfühlen und zu schmecken, was es zu sehen und zuertasten gibt. Wahrnehmen ist also ein aktiver Prozess.Der Wille ist daran beteiligt. Davor ist die Umwelt nurWirkung von außen nach innen. Später wird die Umge-bung wahrgenommene Außenwelt, die mit den Sinnenerlebt werden kann, also Sinneswelt. Das Üben derSinne ist ein lebenslanger Prozess, aber in den ersten 2-3 Jahren wird der wichtigste Schritt dazu gemacht.

Der zweite Aspekt der Willensentwicklung, Fügenin drei Phasen dargestellt:A) Die Wahrnehmungen zeigen sich bedeutungsvoll,nicht neutral; es geht eine Wirkung von ihnen aus. Wasdie Augen sehen, wollen die Händchen ergreifen. DieseNeigung ist vor allem in den ersten Jahren sehr stark,keine Ermahnung kommt dagegen an. „Das darfst du

nicht“, „Nicht in den Mund nehmen!“ das führt nichtzur gewünschten Unterbrechung zwischen Wahrneh-mung und Handlung. Und doch ist es wichtig, dassdiese Unterbrechung gelernt wird. Das Kind muss dazuheranreifen, auch etwas nicht tun zu können, um nichtein durch seinen Instinkt gesteuertes Wesen zu bleiben.

B) Ab 2 bis 3 Jahren wird es normal, das man ein Kindauch von Weitem durch die Sprache anleiten kann. DieSprache hat sich inzwischen zu einem gemeinsamenFaktor zwischen Eltern und Kind entwickelt und Ver-bundenheit geschaffen. Die Sprache kann übrigenshier auch nonverbal sein, auch Gebärden und Mimikwirken wie eine Sprache. Kleine Kinder, die nicht mitderselben Sprache aufgewachsen sind, können dadurchdoch gut miteinander spielen. Das Spiel wird so zueinem idealen Erzieher in dieser zweiten Phase der Wil-lensentwicklung. Geben und nehmen, Freude und Leid,aufbauen und abbrechen, Phantasie und Enttäuschung… wo kann man das besser lernen als in der wahren„Als-ob-Welt“ des Spielens? Im Tätig-sein lernt dasKind, sich zu fügen. Es lernt, seine Wünsche an dieMöglichkeiten anzupassen und seine Pläne zusammenmit anderen zu realisieren. Bis zum 2,5. Lebensjahr istdas gemeinsame Spiel noch ein Nebeneinander. Jetztwird es zum Miteinander.

C) Vom 4,5. bis zum 5. Lebensjahr lernt ein Kind, wie es,eventuell zusammen mit einem anderen Kind, einenPlan machen kann um dann das gemeinsame Spiel aus-zuführen.

Der dritte Aspekt der Willensentwicklung im Altervon 4 2/3 bis 7 Jahren.Autonomie – Wahrnehmen und Fügen sind nicht dieeinzigen Vorbedingungen für die Schulreife. Sobald derBrunnen der Phantasie nicht mehr unbegrenzt quillt,wird es Zeit sich langweilen zu können. Nichts ist schö-ner als ein 6-jähriges Kind, das plötzlich alles Spielenum sich herum dumm und langweilig findet. DieserMoment der Einsamkeit, des Abgetrenntseins vom tra-genden Strom des gemeinsamen Spielens, kündigteinen neuen Entwicklungsschritt an. Nach einiger Zeitentstehen dann neue Pläne: zusammen mit Schulkame-raden wird ausgedacht, was man morgen zusammenmachen will. Wer der Anführer der Truppe sein wird, istdann eine neue, spannende Frage. Abwechselnd viel-leicht? Die Pläne lösen sich zu Anfang im Eifer des ge-meinsamen Spielens schnell wieder auf, aber zuneh-mend soll die Ausführung der Pläne, die gemachtwurden, auch den Vorstellungen entsprechen, die jetztder Wahrnehmung der Wirklichkeit entspringen. Schritt

Schulreife 23

für Schritt lernt das Kind, Aufgaben auf sich zu nehmenund sie auch auszuführen. Die Entrüstung ist dann auchgroß, sobald zuhause oder in der Schule eine selbstän-dig ausgeführte Aufgabe nicht genug gewürdigt wird.Jetzt wird es Zeit für Projekte, die über mehrere Tagelaufen. Das Abbrechen von etwas das mit viel Einsatzaufgebaut worden ist, befriedigt nicht mehr: „Wir ma-chen morgen weiter!“ Auf diese Art lernt das jungeKind, Pläne zu schmieden, sich selber und andere Kin-der zu leiten. Wenn dabei etwas schief geht, ist dasgar nicht schlimm, das Kind ist jetzt daraufhin an-sprechbar. Nach der gemeinsamen Phase ist das Kinddann angekommen in seiner eigenen, manchmal ei-genwilligen Innenwelt. Natürlich kann es noch nichtvoll verantwortlich gemacht werden für seine Taten,wie man das bei einem Jugendlichem in der Pubertäterwartet. Mit Autonomie ist hier die Phase der Selb-ständigkeit und Verantwortlichkeit gemeint, die einKind erreicht hat wenn es mit sechs Jahren in dieerste Klasse kommt.

Wenn das Kind gut geübt hat, ist es nun umgeben voneiner Schöpfung, die es bewundern kann, hat es genü-gend Zurückhaltung gelernt um sich fügen zu können,und hat es gemerkt, dass ihm Respekt entgegenge-bracht wird, wenn es sich an sein Wort halten kann.

Die Entwicklung des GefühlsEin junges Kind ist, was sein Gefühl betrifft, vollständigin seine Umgebung aufgenommen. Stimmungen undGefühle aus dem Umkreis haben ihre Resonanz im In-nern des Kindes. Man könnte sagen: Das Innere desKindes ist noch nicht Inneres.

Die Entwicklung eines gesunden Gefühlslebens, einesgesunden emotionellen und kreativen Lebens, beginntmit dem absoluten und tiefen Erleben von Sicherheit.Die Nestwärme ist die Basis, auf der sich eine Persön-lichkeit entwickeln kann. Das Selbstvertrauen, das Ge-fühl der Daseinsberechtigung, kann sich später darausentwickeln. Das Selbstvertrauen kann so weit wachsen,dass das Kind die Grenzen der sicheren und vertrautenUmgebung, die seine Eltern ihm bieten, untersuchenwill. Hieraus entsteht eine erste Form des Selbstbe-wusstseins. Das Kind wird eigenwillig und vielleichtsogar trotzig.

Inzwischen hat es auch die äußere Welt schon ent-deckt. Es hat Wahrnehmungen durch seine Sinnesor-gane, auf die es immer mehr vertrauen lernt. Es kannselbständig wahrnehmen und sich ein eigenes Bild von

den Dingen machen, absehen vom Urteil anderer. Dasist eine großartige Erfahrung, die ihm ein neues Gefühlder eigenen Wertigkeit verschafft. Es entdeckt, dass eseine Innenwelt gibt, aus der man anderen Menschenetwas mitteilen kann, die man gegebenenfalls aberauch verschlossen halten kann. Vielleicht übt es dasmit seinem Teddybären, mit dem es seine Erlebnisseteilt. Letztendlich hat das Kind im Alter von 6 Jahreneine Selbständigkeit erreicht, die es ihm ermöglicht,zur Schule zu gehen. Es ist jetzt imstande, um Hilfe zubitten, es kann Trost empfangen, Kritik vertragen undDankbarkeit zeigen.

Auch in der Entwicklung des Gefühlslebens kann manalso verschiedene Phasen unterscheiden. Ihrer Artgemäß, sind sie schwerer in allgemeine, objektive Be-griffe zu fassen. Sie sind nämlich sowohl abhängig vonder Denk- und Willensentwicklung als auch von denUmgebungseinflüssen, und nicht zuletzt auch nochstark individuell verschieden.

– So kann es in extremen Fällen geschehen, dass dieGefühlsentwicklung stark durch das Denken beein-flusst wird. Solche Kinder können nur schwer spon-tan reagieren. Wenn ein solches Kind sich zum Bei-spiel stößt und ein Erwachsener will es trösten, sagtes: „Ist gar nicht so schlimm. Was Alex gestern hat,war viel schlimmer“. Der Erwachsene merkt, dass dasKind erst Abstand von dem Geschehen nimmt, eineMeinung von sich gibt, und diese Meinung mit Ge-fühl verwechselt.

– In einem anderen Beispiel reagiert das Kind durchAufnehmen der Gefühle, mit der es umgeben ist. Inso einem Fall sieht das Kind hilflos zur Mutter hin,wenn es etwas gefragt wird. An der Mimik der Mut-ter liest es dann schnell ab, dass diese ablehnendreagiert, und sagt dann: „Nein, ich möchte nicht.“Solche Kinder können in der Entwicklung ihres ei-genen Gefühl träge werden. Sie brauchen sozusa-gen kein eigenes Gefühl zu entwickeln und bezie-hen alles, was sie in der Hinsicht brauchen, aus ihrerdirekten Umgebung.

– In einem anderen Fall entwickelt das Kind kein ei-genes Gefühlsleben, weil es z.B. ständig von hefti-gen Emotionen anderer umgeben ist. Es lernt dann,auf alles zu reagieren, sich stark nach außen zuwenden, wodurch sein eigenes, ruhiges Innenlebenzu kurz kommt. Es hat keine Ahnung von seinen ei-genen Gefühlen, ist ständig bereit, unerwarteteStimmungen aus der Umgebung aufzunehmen.

24 Schulreife

Wie gesagt entwickelt sich das Gefühl in der atmendenBewegung zwischen Hingabe an die Welt und Verwei-len im eigenen Innern. Für ein junges Kind ist die Um-gebung noch vorherrschend und das Kind hat nochnicht die Fähigkeit, sich vor der Umgebung zu ver-schließen. Die Möglichkeit des oben genannten At-mens kommt erst langsam an das Kind heran, und un-gefähr in der Zeit des Übergangs in die erste Klassekommt sie in Sicht. Das Kind kann dann, wenn es sichin einer sicheren Situation befindet, schon überra-schend originell seine Gefühle äußern. Fühlt es sichunsicher, schweigt es, oder spricht eine allgemein ge-haltene Antwort aus.

Atem und SpracheDer Atem ist Träger der Sprache. Die Sprache ist Trägerder Verbundenheit zwischen Menschen. An der Sprach-entwicklung lässt sich daher Vieles über die Phasen derGefühlsentwicklung ablesen. Zu Anfang ist das Kindumgeben von Sprache, es wird umhüllt und geformtdurch sie. Dann fängt es selber an zu babbeln undLaute auszusprechen. Im günstigen Fall führt das zurKommunikation mit den Eltern und anderen Menschenin der Umgebung. Dann gewinnen die Laute mehr undmehr an Bedeutung. Sie fangen an, dem Kind etwasmitzuteilen. Danach kann es nicht nur die Worte, son-dern auch die Bedeutung der Worte erfassen und nachund nach selber aussprechen.

Das ist notwendig für die Entwicklung des Denkens (esweiß was es sagt), aber auch für die Gefühlsentwick-lung. Die Sprache stellt das Kind in eine bedeutungs-volle Wechselwirkung mit der Umgebung hinein.

Nicht nur Geborgenheit und Sicherheit sind Vorausset-zungen für eine gesunde Gefühlsentwicklung. AuchEnttäuschung und Einsamkeitsgefühle sind notwen-dige Erlebnisse. Enttäuschungen erfahren und hinneh-men, Einsamkeit erleben und aushalten, lehren einKind hinnehmen und aushalten im Allgemeinen. Wiesollte es das sonst lernen? Eine bestimmte Reife aufdieser Ebene braucht das Kind, um lernen zu können.Es muss sich selber vertrauen können, sich in der Klassewohl fühlen und den Lehrer so wahrnehmen und zu-lassen können, dass es ihm vertrauen kann, dass eshören und begreifen kann, was er erzählt.

Die Beurteilung der Gefühlsreife ist viel weniger objek-tiv abzugeben als eine Einschätzung der Lernreife undder Schulreife. Bevor man es merkt, beschreibt man an

Stelle der Eigenschaften des Kindes die seiner Umge-bung. Die Gefühlsreife wiegt weniger schwer als dieDenk- und Lernreife, wenn es um die Frage geht, ob einKind in die erste Klasse kommen soll oder nicht. Siekann höchstens ein zusätzliches Kriterium für den Be-schluss sein.

Die Art der Schule, die Größe und Zusammensetzungder ersten Klasse, die Erfahrung des Lehrers sind ge-nauso wichtige Faktoren wie die emotionellen und so-zialen Fähigkeiten des Kindes. So etwas lässt sichschlecht in einem objektiven Urteilssystem unterbrin-gen. Wenn man an dem Schritt in die erste Klasse zwei-felt, muss man auch einschätzen, ob ein eventuelleszusätzliches Kindergartenjahr dem Kind helfen würde.

Körperliche MerkmaleBisher haben Sie lesen können, wie der Prozess desDenkreif- und Schulreif-werdens sich ausdrückt in derEntwicklung verschiedener Fähigkeiten und des Beneh-mens eines Kindes. Im folgenden Abschnitt wollen wirden körperlichen Aspekt davon besprechen. Wir gehenja davon aus, dass ein Kind nicht nur durch sein Beneh-men und seinen Stil, sondern auch durch seinen leibli-chen Ausdruck zeigt, wie weit es in seiner Entwicklunggekommen ist. Mit anderen Worten: Wenn wir gut hin-schauen, muss es möglich sein, an der Gestalt und derMotorik, am Augenaufschlag und an Essgewohnheitenzu erkennen, inwiefern ein Kind sich in seine Körper-lichkeit eingelebt hat. Abstrakter gesagt: Inwiefernsein Geist seine Leiblichkeit schon durchdrungen undumgeformt hat. * In anthroposophischer Sprache: in wieweit der Formkräfteleib, der Ätherleib schon geboren ist.

In seinem Buch Die Entwicklungsphasen des Kindes1

beschreibt Bernard Lievegoed die aufeinander folgen-den Entwicklungsphasen Streckung, Füllung und Rei-fung, die sich in jeder Siebenjahresperiode finden las-sen. Damit ist eine Entwicklungsrichtung von untennach oben beschrieben. Die Streckung von den Glied-maßen aus, die Füllung vor allem des Rumpfes, und dieReifung vom Kopf aus. Das ist die Entwicklungsrich-tung des Denkens.

Lievegoed beschreibt weiter, wie das Kind sich währenddieser drei Phasen präsentiert. An der Motorik lässt essich besonders deutlich beschreiben: Der Weg geht vomBewegungschaos des jungen Kindes über die emotionellgeladenen Bewegungen der Kindergartenzeit bis hin zur

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1 ISBN 9783880691230

zielgerichteten Geschicklichkeit des schulreifen Kindes.Das ist die Entwicklungsrichtung des Willens: Von außennach innen. Gleichzeitig gibt es eine Willensentwicklungvon oben nach unten. In ihrer ersten Phase bringenWahrnehmung und Eindrücke das Kind in Bewegung,oft in Verbindung mit Unruhe. In der zweiten Phase ent-wickelt sich das Wechselspiel mit der Umgebung durchdas Spielen. In der dritten Phase kann man einem Kindschon einen Auftrag geben. Es kann dann seine Glied-maßen aus der Vorstellung heraus in Bewegung bringen.

Die leibliche Seite der DenkentwicklungDiese Merkmale der Denkentwicklung kann man vorallem an der kindlichen Gestalt ablesen.

Der leibliche Aspekt der ersten Phase derDenkentwicklungDas Stehen – Das Sich-Aufrichten beginnt mit einemzur-Ruhe-kommen des Bewegungschaos. Das drücktsich äußerlich aus in der Art, wie das Kind seinen Kopfträgt. Das Kind, das gerade eben erst steht, ist sozusa-gen noch eine ganz ungegliederte Gestalt. Erst mit 2Jahren wird der Hals sichtbar, aber der Bauch wölbtsich noch nach vorn und die Wirbelsäule ist noch eineziemlich gerade Linie. In der Kindergartenzeit bewegtsich das Kind, wenn es gesund ist, noch elastisch undgelenkig. Es ist in der Bewegung ganz es selber. Stillste-

hen, das Gleichgewicht wahren … das gehört nochnicht zu ihm. Das entsteht erst in der dritten Phase. DerRücken bekommt dann seine charakteristische dop-pelte S-Form, das Kind kann entspannt gerade stehenmit den Füssen nebeneinander. Mit einem Buch aufdem Kopf laufen zu üben, ist ein beliebtes Spiel, daserst gelingt, wenn die Bewegung aus der Mitte herausgesteuert werden kann, der Kopf stillhalten kann unddie Beine unabhängig davon ihre Arbeit tun.

Der leibliche Aspekt der zweiten Phase derDenkentwicklungDas Bild – Ab 2,5 oder 3 Jahren kann der innerlichegeistige Reichtum des Kindes sich in Bildern manifes-tieren. Glücklicherweise will das Kind seine inneren Bil-der gern mit uns teilen: Wenn es spielt oder zeichnet,zeigt es uns, welche Bilder in ihm leben. Wenn wir ihmvorlesen, fühlen wir, wie es die Bilder in sich aufnimmtund sie innerlich bewegt. In dieser Phase lernt dasKind, seiner Muttersprache neue Bilder zu schenken.Neue Wortschöpfungen, originell zusammengestellteWorte, die uns als Erwachsene so rühren können, dasswir sie aufschreiben, um sie zu bewahren als Erinne-rung für später. Es handelt sich hier nicht darum, dassdas Kind die Worte vielleicht noch nicht richtig aus-sprechen kann oder uns nicht richtig verstanden hat –in diesem Alter muss jedes Kind eigentlich neue Worteerfinden, denn seine schöpferische Bildekraft erstrecktsich bis in das kulturelle Element der Sprache hinein.

Der leibliche Aspekt der dritten Phase derDenkentwicklungDer Spiegel – Das oben Genannte verändert sich in derdritten Phase, die Phase des Bespiegelns. Ein Kind imAlter von 5,5 bis 6 Jahren möchte die Worte gern imrichtigen Sinne gebrauchen und sie korrekt ausspre-chen können. Falls jetzt noch neue Worte entstehen,sind es oft Erfindungen oder unsinnige Reime. Gleich-zeitig können jetzt Pausen in den Sprach- und Wort-strom eintreten. Der Blick kehrt sich nach innen, dasKind ist imstande, „über etwas zu brüten“. Manchmalkommt es danach mit einer Frage, manchmal ein er-staunter Blick oder ein tiefer Seufzer. Wenn man Zeugeeines solchen Momentes ist, kann man fragen: „Be-greifst du es?“ oder „schwierig, was?“

Wenn es dann den nächsten Tag noch einmal zurück-kommt auf seine Frage, weiß man, dass sein Kopf jetztlernbereit geworden ist.

Die Gestalt verliert jetzt sein kleinkindliches Aussehen,der Bauch wird schlanker, und eine Taille hält jetzt die

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Figur 3In dieser Figur sind die folgenden Abschnitte zusammengefaßt.An der linken Seite die Entwickelung des Denkens, rechts desWollens

Hose auf ihrem Platz, der Rippenbogen hat einen spit-zen anstatt eines stumpfen Bogens bekommen.

Die leibliche Seite der WillensentwicklungEs ist schwierig, sich bei einem ähnlichen Entwurf zur Be-schreibung der Willensentwicklung kurz zu fassen, äußertdas Kind sich doch in seinem Hunger nach Entdeckungen,in der Lebendigkeit seines Spiels und der Geschicklichkeitseiner Bewegungen. Ein Teil der Schulreifetests richtetsich auf die Untersuchung dieser Seite: Kann das Kind miteiner Hand werfen und fangen, kann es auf einem Beinhinken und tauspringen, ist es lateralisiert,2 sind seine un-willkürlichen Bewegungen zum großen Teil schon ver-schwunden,3 und so weiter. In den folgenden Abschnittenkönnen Sie lesen, wie die „Innenseite“ dieser Willensent-wicklung aussieht. Die Frage lautet: Was geschieht imKörper des Kindes, während es die drei Stufen der Wil-lensentwicklung durchmacht?

Die leibliche Seite des ersten Aspektes derWillensentwicklung. Das WahrnehmenWir unterscheiden drei verschiedene Phasen.– Die erste Phase. Was passiert innerlich, wenn das

Kind wahrnimmt? Um eine Antwort auf diese Fragegeben zu können, müssen wir die Annahme, dasKind nehme auf die gleiche Art wahr wie wir, ver-gessen. Je jünger eine Kind ist, desto weniger De-tails es wahrnimmt. Kurz lenkt es seine Aufmerk-samkeit auf ein glänzendes Blatt, dann wird seinBlick wieder diffus. Kein Eindruck, auch jeder sinnli-che, bleibt außerhalb des Kindes, so wie es bei ge-sunden Erwachsenen der Fall ist. Jeder Eindruckwirkt bis tief in den Leib hinein. Die Farben undKlänge der Welt färben und durchklingen das Kind.Das ist auch richtig so, denn so bildet es sich seinenLeib, seiner Umgebung gemäß in der es aufwächst.Aber so kann es natürlich nicht immer bleiben, nachund nach verschiebt sich die Sinneswahrnehmungimmer mehr in Richtung Peripherie. Das Kind be-ginnt, aus seinen Augen herauszuschauen, die Au-ßenwelt als Außenwelt zu betrachten. Solange derTisch noch die Schuld dafür bekommt, dass es sichgestoßen hat und ihm sein Bein weh tut, ist dieserSchritt noch nicht vollzogen.

– Die 2. Phase. Die Wahrnehmung verändert sich. Inder Mittelphase, von 21⁄2 bis zu 42⁄3 Jahren, ist die Wir-kung der Wahrnehmungen immer mehr auch emo-

tionell gefärbt. Jetzt kann das Kind wahrnehmen,dass die Luft z.B. „drohend“ aussieht, die Wärme drü-ckend ist oder eine Stimme tröstend wirkt. Das istkeine rein sinnliche Wahrnehmung mehr. Es kanndem Kind helfen, wenn es in dieser Phase dazu ein-geladen wird, seine Wahrnehmungen in Erfahrungenzu verwandeln. Der Erwachsene kann dabei helfen,die Gefühle in Worte zu fassen, z.B.: „So ein großerLastwagen! Da hast du dich erschrocken!“

– Die 3. Phase. Der nächste Schritt auf dem Weg indie Schulreife ist jetzt, die Außenwelt so sehen zulernen, wie sie wirklich ist. Die Wirklichkeit, undnichts anderes als die Wirklichkeit. Der Sonnenun-tergang macht den Himmel orange-rot. „Dieses Liedkenne ich schon „oder eine Szene wie: „Du weißtdoch, dass ich keinen Broccoli mag!“ „Schmeckst duihn denn heraus?“ „Nein, aber ich habe doch gese-hen, wie du ihn in den Topf getan hast!“ In demMoment ist der Sechsjährige damit beschäftigt, dieEindrücke außer sich zu lassen, seine Sinne ganz andie Peripherie seines Organismus zu lenken.

Die leibliche Seite des 2. Aspekts derWillensentwicklung. Das Fügen Die Entwicklung des Fügen-Könnens beginnt in derzweiten Phase.– In der mittleren Phase vom 21⁄3 bis zum 42⁄3 Jahr liegt

der Schwerpunkt der Willensentwicklung auf demErobern der Außenwelt: Das Kind will sie begreifenund an ihr teilnehmen, statt sie nur wahrzunehmen.Die Welt besteht für ein 21⁄2 bis 5jähriges Kind nichtaus der abstrakten Außenseite, die wir Erwachsenenvielleicht für die echte Welt ansehen, sondern ist vollvon geheimnisvollen Wirkungen. Für ein Kindergar-tenkind hat alles eine Bedeutung, und Zwerge gibt eswirklich! Wenn es gerade keine sieht, heißt das nur,dass sie weggelaufen sind – gerade eben waren sienoch da. In diesem Alter ist das Kind ein magischerRealist. Der Bauklotz ist ein Boot, und im nächstenMoment eine Ampel. „Ich bin der Direktor vom Zir-kus, und du bist der Löwe!“ Das Kind dieses Alters istder selbstverständliche Mittelpunkt der Schöpfung,denn es steht mitten in ihr. Das Leben schreitet voneinem Fest zum nächsten, von einem Theaterstückzum andern, von einem Drama zum folgenden. DerErwachsene gibt sich am besten zufrieden mit seinerRolle als Bühnenhilfe und Requisiteur. Innerhalb der

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2 Unter Lateralisation verstehen wir das Entwickeln einer dominanten Seite im Gebrauch von Händen, Füssen, Augen und Ohren.3 Das junge Kind hat die starke Neigung, seine Gliedmaßen symmetrisch zu bewegen. Die eine Hand macht unbewusst die Bewe-

gungen der anderen mit. Das führt zu den symmetrischen unwillkürlichen Bewegungen.

festen Rollenverteilung und in dem felsenfesten Si-cherheitsgefühl seiner Kinderwelt kann das Kindseine Magie ausleben. Es ist in diesem Moment einemTheaterstück, das wir die erste Klasse nennen, nochnicht gewachsen! Dazu muss sich die Magie in der 3.Phase erst noch in Interesse verwandeln.

Die leibliche Seite des dritten Aspekts derWillensentwicklung. Der Autonomie.Die Entwicklung der Autonomie beginnt in der erstenPhase.– Innerhalb der Willensentwicklung muss die Magie

sich zu Interesse umbilden. Das geschieht, wennalles gut geht, ganz von selbst!

In der dritten Phase der Willensentwicklung beginnt eingrenzenloses Interesse hervorzubrechen. Interesse inMenschen, ihre Äußerungen, oder in Naturerscheinun-gen. Jetzt wird es Zeit, dass das Kind eine eigene Auf-gabe bekommt, zum Beispiel ein Tier zu pflegen. Es kannnun auch in einer anderen Familie übernachten und sichdort an die „fremden“ Gewohnheiten anpassen. Sobaldes sich in so einer Situation zu helfen weiß, kann es viel-leicht auch den Schritt in die Schule wagen.

Das ist der Schritt in die Autonomie, und dieser Schritt,der es bis in die tiefsten Lagen seiner Leiblichkeitmacht, wird am sichtbarsten im Stoffwechsel. Das Kindkann jetzt das Essen der Erwachsenen mitessen undverdauen, es kann selbst auf die Toilette gehen undbraucht dabei keine Hilfe mehr. Es schaut neugierig indie Welt, geht auf sie zu und wird schnell müde an ihr.Aber schon nach kurzer Zeit kommt es durch eine neueIdee wieder zu neuer Kraft. Das Kind kann eine Strand-wanderung machen und durchhalten, auch wenn es allseine Energie kostet. Mit anderen Worten, es ist jetztimstande, sich etwas vorzunehmen (aus dem Denkenheraus) und es auch zielsicher auszuführen (aus seinerAutonomie heraus). Ein Kindergartenkind muss manauf so einer Wanderung noch durch Singen und Erzäh-len unterstützen. Ein Schulkind schafft das schon aufeigene Kraft, weil es sich etwas vorgenommen hat. Eskann morgen und übermorgen wieder weiter laufen.

Am Zahnwechsel wird deutlich, dass das Kind jetztetwas Neues hervorbringt, etwas, das ganz aus eigenen

Kräften heraus entstanden ist. Die Zähne werden inden Kiefern, im oberen Pol, angelegt. Es sind die Form-kräfte von oben, die die Zähne entstehen lassen, wäh-rend die Kräfte von unten, die Stoffwechselkräfte,dafür sorgen, dass die Zähne hervorkommen. Das ersteGebiss verschwindet, die Milchzähne fallen aus, unddas neue Gebiss schiebt sich hervor.4

Allgemeiner gesagt: Durch die Kräfte des Stoffwechselswird das Alte zur Auflösung gebracht und kommt dasNeue ans Licht.

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4 Es ist eine der wichtigsten Entdeckungen Rudolf Steiners, Gründer der Anthroposophie, dass das Kind zum Denken und fürs Ge-dächtnis genau dieselben Kräfte anspricht, mit denen es auch seinen Leib aufbaut. Ätherkräfte heißen sie in der Anthroposophie.Das sind sowohl Lebenskräfte als auch Formkräfte. Das Gebiss ist ein Abbild dieser Kräfte. Darum ist der Durchbruch der bleiben-den Zähne ein wichtiger Hinweis auf die Schulreife, wobei es nicht unbedingt so sein muss, dass ein früher Zahnwechsel auchfrühe Schulreife bedeutet.

Ich-Entwicklung

Ein schulreifes Kind hat Autonomie erworben. Dasist vor allem ein Zeichen der Ich-Entwicklung, diesich im 3-Jahres-Rhythmus vollzieht. Die Lernent-wicklung folgt dem 7-Jahres-Rhythmus. Über dieerste 7-Jahres-Periode lesen Sie in diesem Text.

Natürlich gibt es daneben auch den Jahresrhythmus,der ein Kind jedes Jahr ein Jahr älter werden lässt.Nicht nur sein Körper wird ein Jahr älter, auch in-nerlich vollzieht es die dazugehörigen Schritte.

Der sich mehr im Verborgenen abspielende 3-Jahres-Rhythmus zeigt sich an folgenden Lebensabschnit-ten: Geburt, 3.-6.-9.-12.-15.-18.-21. Jahr. Diese Ent-wicklungsschritte sind vom Ich aus gesehen eineRealität. Mit jedem dieser Schritte bekommt das Kindmehr Gelegenheit, neue Fähigkeiten zu entwickelnauf dem Weg zu Autonomie und Freiheit. Mit sechsJahren macht es nicht nur einen Schritt, sonderngleich einen Sprung! Dieser Sprung muss es über denAbgrund des Zögerns und Sich-nicht-trauens hinwegheben. Nur die Tatsache, dass ein Kind so gern großwerden will, macht, dass es sich traut zu springen, an-sonsten würde es einen solchen Sprung nicht wagen.

In den meisten europäischen Ländern kommen dieKinder nicht mit sieben Jahren in die erste Klasse,wenn sie schul- und denkreif geworden sind, sondernschon im Alter von 6 Jahren. Vom Standpunkt des3-Jahresrhythmus’ aus gesehen ist das zu verstehen.

Ein 6-jähriges Kind ist in jeder Hinsicht ein ganz be-sonderer Mensch.

Das sechsjährige KindWo es auch ist, noch im Kindergarten oder schon in derersten Klasse, das sechsjährige Kind befindet sich ineiner wichtigen Übergangsphase, die wir in diesem Textbeschreiben wollen.

Davon ausgehend, dass die erste Phase der Kindheitsieben Jahre dauert, steht das Kind mit sechs Jahrenvor einer Schwelle, besser gesagt vor zwei Schwellen:Erstens wird der Denkapparat, der Spiegel des Ge-hirns, konsolidiert, und zweitens muss das Kind jetztalles, was es lernen soll, selbständig aufnehmen kön-nen.5

Das sechsjährige Kind steht vor der Aufgabe, denSpiegel zu vervollkommnen, seinen physischen Leibin die richtige Form zu bringen. Wenn das sorgfältiggeschieht, steht das Gehirn für den Rest der Schul-zeit zur Verfügung als Grundlageorgan für das Ler-nen.

Doch der Mensch lernt mit seinem ganzen Körper,nicht nur mit dem Gehirn. Wenn der Kopf frühzeitigzum Lernen angeleitet wird, tritt dadurch eine Art Not-reife ein, die später Lernstörungen verursacht.

Das sechsjährige Kind steht vor der Herausforderung,den Sprung in die Autonomie zu bejahen, während esauch noch gern Hilfe in Anspruch nehmen will undhören möchte, was es tun soll, um Respekt zu erhalten.Etwas selber machen dürfen und etwas können zu wol-len, kostet Mut. Vor dieser Mutprobe zögern vieleSechsjährige noch. Sie wissen noch nicht, was sie wol-len. „Er langweilt sich im Kindergarten, er muss jetztwirklich in die erste Klasse“, könnte eine Schlussfolge-rung sein. Die Frage ist dann, ob die Langeweile nichtvielleicht eine Äußerung der Zweifel ist, die es innerlichhegt.

Es hilft dem Kind wenig, wenn wir in dieser Phase zuihm sagen: „Du brauchst keine Angst zu haben, dukannst es bestimmt! „Es wird in dem Falle etwas tun,weil wir ihm sagen, was es tun soll. Wie wunderbar istes, wenn ein Kind den Sprung aus eigener Bewegungschafft! Wir können ihm helfen, einen Anlauf zu neh-men, aber vor allem müssen wir die Geduld nicht ver-lieren, und ihm die Chance geben, die Kraft zumSprung in sich selber zu finden.

Zu früh / zu spätAllerhand Zweifel im Gespräch über die Schulreife füh-ren zu der Frage: Was sind die Folgen einer zu frühenoder zu späten Einschulung?

Es kann geschehen, dass ein Kind noch recht jung in dieerste Klasse kommt und es dort dennoch in Ruhe übenkann, seine Aufgaben als Sechsjähriger zu bewältigen.Dann ist es nicht zu früh eingeschult worden.

Ebenso möglich ist es, dass ein Kind schon älter ist,wenn es in die erste Klasse kommt, und schon im letz-ten Kindergartenjahr die Chance hatte, seine Verant-wortlichkeiten als Sechsjähriger zu üben. Dann ist es inunserem Sinne nicht: „zu spät“.

Was heißt dann also: „zu früh“ oder „zu spät“?

Zu früh geweckte DenkkräfteZu früh die Denkkräfte anzusprechen und mit einemunvollkommenen Spiegel anfangen zu lernen, hat imersten Moment noch nicht so viele Folgen. Das Kindsieht höchstens blass aus und ist nach der Schule sehrmüde. Aber auf längere Zeit hat das Folgen für die Ge-sundheit. Die noch nicht ordentlich durchgebildeteLeiblichkeit ist anfälliger für bestimmte krankma-chende Einflüsse. Hierbei handelt es sich um Krankhei-ten, die ein schnelleres Altern zur Folge haben, wie z.B.Rheuma oder COPD.

Zu früh beanspruchte WillenskräfteEin zu früher Appell an die Selbständigkeit macht einKind innerhalb kürzester Zeit abhängig. Es arbeitet,weil die Erwachsenen sagen, dass das sein muss. Daswird ein paar Jahre gut gehen, in der Pubertät kommtes dann allerdings zu Mutlosigkeit und Desinteresse,die auf dem vorher beschriebenen Mutsprung beruhen.Auf Dauer wird ein Mensch davon unsicher und ängst-lich. Vielleicht wird er das als junger Erwachsener ver-suchen zu kompensieren und sich selber und seinenMitmenschen dann ein äußerlich mutiges und selbstsi-cheres Betragen vorspielen.

Zu spät entwickelte DenkkräfteDurch zu spätes Beanspruchen seiner Denkkräfte wird dasKind träge im Denken. Was dann entsteht, ist z.B. einhochbegabtes Kind, das in der Schule zu wenig leistet. AufDauer suchen die ungebrauchten Kräfte sich einen ande-

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5 Mit anthroposophischen Begriffen beschrieben ist der zuerst genannte Schritt der des Abschließens der Entwicklung des physi-schen Leibes, der zweite der des Geborenwerdens des Ätherleibes. Es ist nicht von Wichtigkeit, wie wir diese zwei Schritte benen-nen, sondern dass wir uns einen Begriff von ihnen machen können, um damit die ersten sieben Jahre zu verstehen.

ren Ausweg, und es können unangenehme Verhaltensstö-rungen auftreten wie z.B. Grenzenlosigkeit, Grenzen miss-achten oder Gefahrensuche. Dieses kann außerdem zuGesundheitsproblemen wie Infektionskrankheiten, Aller-gien oder Autoimmunkrankheiten führen.

Zu später Gebrauch der WillenskräfteWenn das Kind den Sprung zu spät macht, wird derfortwährende Entwicklungsstrom unterbrochen. DasKind beginnt schon bald, Unsinn zu machen in derKlasse, Macht auszuüben, unangenehme Streiche aus-zuhecken. Später wird er sich als Klassenältester mitder auf diesem Weg erworbenen Autorität durchsetzenmüssen, während er den innerlichen Sprung vielleichtnoch immer nicht gewagt hat. Auf Dauer wird dieses„zu spät“ keine großen Probleme mit sich bringen, derAltersunterschied weicht irgendwann, und die Forde-rungen des Lebens geben diesem Kind die Chance, sei-nen nicht gewagten Sprung reichlich zu kompensieren.

Untersuchen der Schulreife Es kann sein, dass Sie an diesem Punkt im Text ange-kommen sind und leichte Zweifel fühlen: Es ist ja allesschön und gut, die Entwicklung ist ja sehr interessant,aber wie entscheide ich jetzt, ob mein Kind in die ersteKlasse soll oder nicht?

Der Zweifel ist berechtigt, denn dieser Text will Einzel-heiten verdeutlichen, und gleichzeitig nichts in einSchema pressen. Es wäre nicht richtig, diesen Text miteiner Liste von Kriterien abzuschließen, anhand wel-cher Sie Fragen über die Schulreife ihres Kindes einfachabhaken könnten: Bei 15 Punkten oder mehr soll dasKind in die erste Klasse, bei weniger als 14 Punktenbleibt es noch ein Jahr im Kindergarten ….

Die Beschreibung sollte sie dazu einladen, die Entwick-lungsschritte ihres Kindes sehen zu lernen und inner-lich nachvollziehen zu können. Diesen Prozess kannman mit einer Liste nicht ersetzen. Glücklicherweisegibt es eine Orientierungsmöglichkeit und eine Auf-gabe ….

Die Orientierungsmöglichkeit ist der Schulreifetest:den Lehrer, interne Schulbegleiter oder remedial te-achers ausführen können. Damit werden einige Fähig-keiten im kognitiven, im sozialen und im motorischenBereich getestet. Diese werden Lernbedingungen ge-nannt. Voraussetzungen für das Rechnen wie Zahlen-begriff und Gedächtnis gehören zur Vorstellungsfähig-keit. Für die Sprache ist die Zusammenarbeit aufverschiedenen Ebenen notwendig: auditive und visu-elle Synthese und Analyse führen zum Begreifen einesexakten Bildes. Motorische Fähigkeiten wie z.B. Tau-

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Figur 4In diesem Schema sind ein paar vielgebrauchte Begriffe aus dem Schulrei-fetest dem Gebiet zugeordnet, in demsie sich vorzugsweise abspielen. Dieskann eine Hilfe sein bei der Beurteilungeines Kindes.

springen, einen Ball werfen und auffangen, Lateralisa-tion, gehören zur Phase der Autonomie.

Zeitbewusstsein gehört mehr zum mittleren Bereich,Raumbewusstsein mehr zum unteren Pol. Das Fehlenalter Reflexmuster wie die unwillkürlichen Bewegun-gen ist eine Konsequenz der Reifung im oberen Pol undder Beherrschung der Motorik.

Aufgabe:Dem Beschluss, ob ein Kind in die erste Klasse kommensoll oder nicht, sollte ein ausgewogener Prozess voran-gegangen sein. Dieser Prozess ist das Wichtigste. Esgeht darum, dass Lehrer und Eltern sich gemeinsam eingutes und richtiges Bild vom Entwicklungsstand desKindes machen und den nächsten Schritt bestimmenkönnen. Wenn ein Kind nur schlaue Bemerkungen ma-chen kann oder motorisch sehr geschickt ist, heißt dasnoch nicht, dass es auch reif ist für die erste Klasse. Daswird deutlich geworden sein.

Vielleicht sind Ihnen anhand dieses Textes oder wäh-rend anderer Abwägungen, die die Schulreife betref-fen, die starken oder schwachen Seiten ihres Kindesdeutlicher geworden. Diese Grundlage bildet nämlichdie Aufgabe für das kommende Jahr: für jede Einseitig-keit kann man einen Plan zur Behandlung machen. Dasbraucht nicht immer eine Therapie zu sein, auch in der

Schule oder im täglichen Leben zuhause können dienötigen therapeutischen Elemente eingeflochten wer-den.

Ein Kind mit wenig Phantasie und wenig Vorstellungs-vermögen bekommt vielleicht Musiktherapie, um sei-nen inneren Brunnen zum Strömen zu bringen. Ein be-geistertes, erhitztes und dominantes Kind kanninnerhalb einer Maltherapie lernen, sich nach Gesetzenvon Farbe und Form zu richten.

Die genaue Beschreibung der Therapiemöglichkeitenist nicht das Thema dieses Heftes, kann aber eine Rollespielen in der Besprechung von Eltern, Lehrern undeventuell anderen wichtigen Bezugspersonen des Kin-des.

Im Mittelpunkt des Interesses muss immer das Kind inseiner Entwicklung stehen, Ihr Kind, als der beste Inspi-rator für einen richtig genommenen Beschluss.

Übersetzung: Sabine Hansemann, Eurythmietherapeutin

Aus der Broschüre Reihe des Kindertherapeutikums inZeist Holland

Vieles aus dem Inhalt ist entstanden aus der Zusammen-arbeit mit den Kindergärtnerinnen in Belgien, durch dieInitiative von Klaar Aerts.

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32 Schulreife und Übergang vom Kindergarten in die Schule

AusgangsfrageWarum ist uns in der Waldorfpädagogik die Schulreifeein so bedeutsames Thema? Warum ist es so wichtig,den richtigen Moment für die Einschulung zu finden?Das heißt der Moment, in dem das Kind bereit ist vondem sog. impliziten Lernen, dem unbewusstem Lernendurch Nachahmung, Erfahrung und Wiederholung vonVorgängen überzugehen zum sog. expliziten Lernen,dem Lernen durch gezielte Aufnahme von Informatio-nen, die bewusst wieder abgerufen, erinnert werdenkönnen.

Es gibt keine einzige wissenschaftliche Untersuchung,die belegt, dass eine frühere Einschulung den Lerner-folg der Kinder nachhaltig fördert oder steigert, im Ge-genteil. Seit ca. 7 Jahren wird in Deutschland frühereingeschult und vor einigen Tagen kam im Tagesspiegeldie Meldung, in Berlin, wo seit 2006 der Stichtag zurEinschulung um ein halbes Jahr auf den 31. 12. vorver-legt wurde, also Kinder mit 5,6 Jahren eingeschult wer-den, zehn Mal so viele Kinder ein Jahr länger in derSchuleingangsphase (den ersten beiden Schuljahren)verbleiben als vorher. Auch weiß man, dass jungeinge-schulte Kinder später häufiger eine Klasse wiederholenoder weniger hohe Schulabschlüsse erreichen als älterEingeschulte. Dadurch aber bekommen diese Kinderdas Gefühl des nicht Genügens und fühlen sich über-fordert, was die Lernmotivation verschlechtert unddamit das Verhältnis zum Lernen und die Bildungsbio-graphie der Kinder für das ganze Leben prägen kann.Schon diese Erfahrungen sprächen für eine spätereEinschulung. Auf was aber meist gar nicht gesehenwird sind die gesundheitlichen Folgen für das ganzeLeben, die durch die frühe intellektuelle Forderung unddie Verkürzung der Zeit im Kindergarten entstehen. DieKinder haben weniger Zeit zum freien Spielen, zuwenig Zeit um ihren Leib durchzuarbeiten und zu rei-fen. Die Kräfte, die dem impliziten Lernen zu Grundeliegen, wie sie dem Kind im ersten Jahrsiebt von Naturaus eigen sind, werden vorzeitig unterbunden unddurch explizites, reflektierendes Lernen ersetzt. Dafürfehlen dem Kind aber noch die Kräfte und die leibli-chen Voraussetzungen. Es geht bei der Frage des Ein-schulungsalters nicht nur um mehr oder weniger Lern-erfolg sondern darum, ob die Kinder sich zu gesunden,schöpferischen und freien Menschen entwickeln kön-nen. Hier stehen sich das Wissen der Pädagogen, die

Erfahrungen mit den Kindern und die wirtschaftlich-politischen Kräfte in einem harten Kampf gegenüber.

R. Steiner spricht in der Ansprache am Abend vor Be-ginn seiner Vorträge über Allgemeine Menschenkunde(GA 293) von diesem Kulturkampf: „Die Waldorfschulewird ein praktischer Beweis sein für die Durchschlags-kraft der anthroposophischen Weltorientierung. Siewird eine Einheitsschule sein in dem Sinne, dass sie le-diglich darauf Rücksicht nimmt, so zu erziehen und zuunterrichten, wie es der Mensch, wie es die menschli-che Gesamtwesenheit erfordert. Alles müssen wir inden Dienst dieses Zieles stellen.“ Dann spricht er aberauch von der Schmiegsamkeit, die man haben muss,um Kompromisse zu schließen, die notwendig sind, um„uns anzupassen an das, was weit abstehen wird vonunseren Idealen“ … und: „Wir werden einem hartenKampf entgegengehen, und müssen doch diese Kultur-tat tun“. (20.8.1919, GA 300/1)

Hier stellt sich heute die Frage: Bis wohin können, dür-fen wir Kompromisse machen und ab wann ist es viel-leicht – vor lauter Kompromissen – keine Steiner/Wal-dorfpädagogik mehr die wir vertreten? Die Frage derSchulreife ist ein Thema, wo wir keine Kompromissemachen dürfen! Wie finden wir die Argumente, mitdenen wir unsere Stimme erheben in diesem Kultur-kampf um das Kind, um die Zukunft des werdendenMenschen? Sind wir geistige Revolutionäre?

* * * * * *

Metamorphose von Wachstumskräften inGedankenkräfte. Was sind das für Kräfte, die, verbunden mit dem im-pliziten Lernen unseren Leib organbildend gestaltenund später dem bewussten Erinnern zu Grunde lie-gen? Was ist der Ätherleib? Was heißt Metamor-phose von Ätherkräften? Wie können wir das Frei-werden der Kräfte verstehen, die vorher im Leiborganbildend gearbeitet haben zu Kräften des be-wussten Lernens und Erinnerns werden?

Das Kind, die Individualität kommt aus der geistigenWelt zur Inkarnation, aus der Leichte, Raumlosigkeitkommt es in die Erdenschwere, in die Stofflichkeit und

Schulreife und Übergang vom Kindergarten in die Schule

Claudia McKeen

verbindet sich mit den Erdenstoffen, aus denen es sichseinen Leib aufbaut. Das geht aber nicht so ohne weite-res. Das Seelisch-Geistige braucht ein Vermittelndes unddieses Vermittelnde sind die Ätherischen Kräfte. Sie sinddas Bindeglied zwischen Geistig-Seelischem und Erden-Stofflichkeit. Sie vermögen es, den Stoff zu ergreifen,dass er nicht mehr seinen eigenen physischen Gesetzenfolgt, sondern sich einer höheren Ordnung, den Geset-zen des Lebens einfügt. Die Ätherischen Kräfte könnender geistig-seelischen Individualität einen Stoff-Erden-Leib aufbauen, in dem sie wohnen kann. Haben sie dieOrgane geformt, den Physischen Leib aufgebaut, so wer-den sie zu dem Teil frei der nicht dem Erhalten des Le-bens und der Organtätigkeit zeitlebens dient und stehennun dem geistig-seelischen Leben zur Verfügung.

Für die Ärzte schildert R. Steiner 1924 in dem Buch‘Grundlegendes zur Erweiterung der Heilkunst’ (GA 20),das Verhältnis der Äther- und Wachstumskräfte zu dengewöhnlichen Denk- und Vorstellungskräften:

… Diese im Ätherleibe wirksamen Kräfte betätigen sichim Beginne des menschlichen Erdenlebens – am deut-lichsten in der Embryonalzeit – als Gestaltungs- undWachstumskräfte. Im Verlaufe des Erdenlebens eman-zipiert sich ein Teil dieser Kräfte von der Betätigung inGestaltung und Wachstum und wird Denkkräfte, ebenjene Kräfte, die für das gewöhnliche Bewusstsein dieschattenhafte Gedankenwelt hervorbringen.Es ist von der allergrößten Bedeutung zu wissen, dassdie gewöhnlichen Denkkräfte des Menschen die verfei-nerten Gestaltungs- und Wachstumskräfte sind ….“

Diese bildsamen, plastischen Organ-bildekräfte stehenin dem Maße dem seelisch-geistigen Leben zur Verfü-gung, in dem sie aus dem Leib frei werden. Sie tauchenzurück in den Leib, wenn sie sich im Krankheitsfall alsHeilkräfte wieder der Regeneration und Organbildungzuwenden. Dann legen wir uns ins Bett und merken,wie unser Bewusstsein, unser Sinnes- und Seelenlebenweniger Kraft hat bis sie nach der Genesung in oftneuer Form uns wieder zur Verfügung stehen. Glei-chermaßen betätigen sich diese Kräfte in uns wenn wirkünstlerisch, schöpferisch tätig sind oder sie dienenuns als Kräfte für die höhere Erkenntnis.

Wir können bei einem Kind immer von zwei Seitenauf seine Entwicklung blicken: einmal auf den Leibund sein Wachsen, Reifen und Werden und auf deranderen Seite auf das, was als Beziehung zur Umge-bung im Wahrnehmen, im Bewusstsein sich entwi-ckelt, was sich im Seelisch-Geistigen äußert. Beijedem leiblichen Reifungsschritt können wir auf dasSeelisch-Geistige blicken und fragen: was taucht dortneu auf – und umgekehrt. Hier tut sich ein enormesForschungsfeld auf einer noch zu schreibenden Ent-wicklungsphysiologie, ein Arbeitsfeld für die Zusam-menarbeit von Pädagogen und Ärzten. Welche seeli-schen Fähigkeiten tauchen auf, wenn die Lungeausgewachsen ist? Oder die Leber? Wenn die Gestaltdes Kinders sich im 7. Lebensjahr wandelt? Wenn wirdas verstehen, dann können wir auch Fehlentwicklun-gen frühzeitig erkennen und verhindern. Die Zeich-nungen der Kinder oder die Spielentwicklung spre-chen davon.

Schulreife und Übergang vom Kindergarten in die Schule 33

Abb. 1: Allmähliches Freiwerden der Ätherischen Kräfte während der kindlichen Entwicklung für seelisch-geistige Tätigkeit

Im siebenten Lebensjahr ist mit dem Zahnwechsel dieFormung und Bildung des Zahnschmelzes, der härtes-ten Substanz im Körper, abgeschlossen. Im Kiefer lie-gen neben den 20 Milchzähnen alle 32 bleibendenZähne fertig ausgebildet und bereit, nach und nachausgetrieben zu werden. Jetzt sehen wir, wie die Kräfte,die da wirksam waren in der Zahnbildung frei werdenund im Seelisch-Geistigen des Kindes auftreten als dieKraft des Form-Bewahrens und Festhaltens, als die Fä-higkeit Gedanken und Erlebtes, Gelerntes unverändertzu spiegeln und willkürlich zu erinnern.

Im siebenten Lebensjahr ist das Kind in der Lage einerlängeren Geschichte zu folgen weil es das Ende mitdem Anfang noch in einen Zusammenhang bringen

kann. Blickt man auf die Ausbildung und Verknöche-rung der Gliedmaßen in diesem Alter um die Schulreifeso findet man, wie die einzelnen Knochen durch diefortschreitende Verkalkung immer mehr den Zusam-menhang zueinander finden. Vergleicht man diesesBild mit dem des einjährigen Kindes, wo die einzelnenKnochenkerne noch wie isoliert schwimmende Inselnim Fettgewebe erscheinen, so kann man ahnen, wie dieätherischen Kräfte, die in der Verkalkung und Kno-chenbildung tätig sind, wenn sie freigeworden sind imSeelisch-Geistigen die Möglichkeit zum zusammen-hängenden Denken geben. Das Bild des Einjährigenspiegelt die sich rasch verflüchtigenden Eindrücke deskleinen Kindes wieder, bei dem die einzelnen Wahrneh-mungen unverbunden nebeneinanderstehen.

34 Schulreife und Übergang vom Kindergarten in die Schule

Abb. 2: Zähne im Kiefer eines 6-Jährigen Kindes. Im Kiefer befinden sich, fertig ausgebildet, neben den 20 Milchzähnen alle 32Ersatz- und Zusatzzähne.

Schulreife und Übergang vom Kindergarten in die Schule 35

Abb. 3: Röntgenbilder der Hand, die in verschiedener Altersstufen, die fortschreitende Verknöcherung zeigen.

Diese Arbeit der Ätherkräfte an dem kindlichen Leib imersten Jahrsiebt hat noch eine andere Seite, auf die R.Steiner am 1.3.1924, in den Karmavorträgen (GA 236),hinweist: „Wenn der Mensch im Zahnwechsel steht, sotauscht er ja nicht nur seine zuerst bekommenenZähne gegen andere aus, sondern es ist das der Zeit-punkt, im menschlichen Leben, in dem sich zum erstenmal die ganze menschliche Wesenheit als Organisa-tion erneuert … Der Mensch bekommt indem er gebo-ren wird, etwas mit wie ein Modell zu seiner Men-schenform … Und an diesem Modell entwickelt derMensch dasjenige, was er später wird. Das aber was erda entwickelt, das ist das Ergebnis dessen, was er ausgeistigen Welten herunterträgt“ … Und dann stellt R.Steiner die Frage: … Ja, warum braucht der Mensch einModell? … Ursprünglich war der Mensch dazu veran-lagt … dass er ebenso wie er seinen Ätherleib aus derallgemeinen kosmischen Äthersubstanz heranzieht, soauch seinen physischen Leib sich bilde aus den Sub-stanzen der Erde“. Das heißt aber, dass er sich einenphysischen Leib gebildet hätte, der ganz zu seinemSeelisch-Geistigen gepasst hätte. Wenn das so geblie-ben wäre, dann würde uns der Leib immer völlig „pas-sen“ würde ganz dem entsprechen, was wir Seelisch-Geistig sind. Aber durch die luziferischen undahrimanischen Einflüsse hat der Mensch diese Fähig-keit verloren, dass das Seelisch-Geistige sich unmittel-bar einen passenden Leib bilden kann, es muss denphysischen Leib aus der Vererbung nehmen. Es ist eineFolge des Sündenfalls, dass wir einen Erbleib brauchen,der uns sieben Jahre lang als Modell dient, an dem wiruns, je nach der Stärke oder Schwäche unseres Ich ersteinen mehr oder weniger passenden eigenen, indivi-dualisierten Leib aufbauen müssen. Aber von dem Ge-lingen oder weniger Gelingen dieses Umarbeiten undPassend-Machen des Leibes hängt ab, inwiefern derMensch seine geistigen Impulse in dieser Inkarnationfinden und ausleben kann. Und dann formuliert R.Steiner in dem o.g. Vortrag: „Die Schule wird sogar dieAufgabe haben, wenn sie eine rechte Schule ist, dasje-nige im Menschen zur Entfaltung zu bringen, was erheruntergetragen hat aus den geistigen Welten in dasphysische Erdendasein“.

Folgen zu früher EinschulungBlicken wir auf die Metamorphose der Wachstums-kräfte, so blicken wir allgemein auf die Gesetze der ei-nerseits Leib- und Organe schaffenden, bildenden undandererseits frei im Bewusstsein, im Denken tätigenÄtherkräfte. Der Blick auf die Umgestaltung des Mo-dellleibes weist uns zusätzlich noch hin auf die Not-

wendigkeit der Individualisierung des ererbten Leibes,die das Kind im ersten Jahrsiebt zu leisten hat. Indemdas Kind sein Modell umbaut, muss es den Leib gleich-zeitig so ergreifen, dass in die neuen Formen der Geistseine individuelle Gestaltung einprägen kann. Dasheißt aber auch, dass dieser Leib plastisch und formbarsein muss. Nur dann kann der Leib das passende indivi-duelle Werkzeug werden für das Schicksal des Kindes.Hier gibt es nun heute viele Faktoren, die diese Indivi-dualisierung erschweren. Vitamin D, Fluor haben denZweck den Leib früh fest zu machen. Impfungen, Fiebersenkende Mittel, Antibiotika verhindern die entzündli-chen warmen Krankheiten, die dem Kind helfen denModellleib umzuschmelzen. Auf der anderen Seite sindes die frühe intellektuelle Ansprache und besonders diezu frühe Einschulung, der zu frühe Übergang von derimpliziten Art zu lernen zur expliziten. Statt im Leib zuschaffen werden die organbildenden Kräfte für dasLernen ins Bewusstsein gezogen und dienen dem abs-trakten Lernen und bewussten Erinnern, was die eigeneDurcharbeitung und Neugestaltung des Modellleibesunterbricht oder abkürzt. Es ist entscheidend, ob wirdem Kind die Zeit und die Hilfen geben, im erstenJahrsiebt durch alle Ebenen seiner Leiblichkeit hin-durch an seinem Erb-Modell-Leib individualisierend zuschaffen oder nicht. Diese Arbeit braucht Zeit und voll-zieht sich stufenweise. Als erstes reift, hauptsächlich inden ersten 2 - 3 Jahren, der Kopf und das Nerven-Sin-nessystem aus. Das Erwachen, Aufrichten und den Leibbeherrschen lernen geht vom Kopf und den Sinnen aus.Es sind Kräfte, die im Leib über die Nachahmung wir-ken und als sog. sensomotorische Intelligenz die Bewe-gungsfähigkeit des kleinen Kindes bilden. Im Alter von3 bis 5 festigt sich der Atem und Herzrhythmus. Dasrhythmische System wird ergriffen und individualisiert,die aus diesem Bereich nach und nach ins Bewusstseinaufsteigenden Kräfte sind die der zauberhaften kindli-chen Phantasie. Im letzten Drittel des ersten Jahrsieb-tes ergreift das Kind sein Stoffwechsel-GliedmaßenSystem. Es wird motorisch geschickt und sicher, findetzu differenzierter Bewegungsfähigkeit und mit demsog. Gestaltwandel zeigt es uns den Abschluss der Um-arbeitung seines Modellleibes. Die nun freiwerdendenKräfte erscheinen im wachen Bewusstsein als die Erin-nerungs- und Vorstellungskräfte des Schulkindes.

Ziehen wir die freiwerdenden Kräfte aus dem Sinnes-Nervensystem frühzeitig ab in das Bewusstsein, gebrau-chen wir sie verfrüht als Vorstellungs- und Denkkräfte,so fehlen sie oder stören die weitere Durchgestaltungund Reifung der anderen Glieder. Wir bekommen so zu-nehmend eine Dissoziation, ein Auseinanderweichen ei-

36 Schulreife und Übergang vom Kindergarten in die Schule

nerseits der kognitiven Fähigkeiten, die alleine hervor-treten, hypertrophieren, und andererseits der sozialenund motorischen Fähigkeiten des Kindes, die wegen dermangelhaften Durcharbeitung des rhythmischen Sys-tems und Stoffwechsel-Gliedmaßen-Systems nur un-vollkommen reifen und frei werden.

Es ist erst 1924, dass R. Steiner vom Modelleib und des-sen Umarbeitung während der ersten sieben Jahrespricht. Im o.g. Karmavortrag am 1. März 1924, im Heil-pädagogischen Kurs am 25. Juni und am 24. September1924 und im 4. Vortrag des Pastoralmedizinischen Kursam 11. September 1924. In diesem letzteren wird derBogen noch weiter gespannt und von der gesundenDurcharbeitung des physischen Modellleibes im erstenJahrsiebt auf die weitere Durcharbeitung im zweiten unddritten Jahrsiebent hingewiesen und dann ausgeführt,wie es von der gesunden Umgestaltung abhängt, ob mandem Menschen im späteren Leben „die volle Verantwor-tung zuschreiben kann“, oder nicht, weil eine zu lockereoder eine zu feste Verbindung des Ich mit dem Leib ent-standen ist. (Broder von Laue, Arzt in Öschelbronn hat zudiesem Aspekt einen äußerst interessanten Artikel ver-fasst, der in der Medizinisch-Pädagogischen KonferenzNr. 59 November 2011 abgedruckt ist.)

An diese Thematik der Umarbeitung des Modellleibesschließt sich eine zweite Frage an, die die Erzieherin-nen und Lehrer und auch die Oberstufenlehrer glei-chermaßen betrifft:

Wie und woran können wir im Kindergarten sehen,ob das Kind seinen Erb-leib, seinen Modellleib ge-sund d. h. in der für es richtigen und passendenWeise umgestaltet, individualisiert? Und wie oder anwas kann der Klassenlehrer oder auch der Oberstu-fenlehrer wiederum sehen, ob diese Umarbeitungdes Modells harmonisch und gesund geschehen istoder ob Teile zu schnell, zu langsam oder unvollstän-dig reiften. Was können wir in der Schule dann zurNachreifung tun, damit das Kind in seiner Biogra-phie zu seinen mitgebrachten Impulsen finden kann?

Hemmend auf die gesunde Metamorphose der Wachs-tumskräfte wirkt heute nicht nur eine zu frühe Ein-schulung, sondern noch vieles andere: z. B. die Impfun-gen, die Gaben von Fluor und Vitamin D oder einefrühe intellektuelle Ansprache des Kindes. Alles dies istdazu angetan, den Leib frühzeitig fest und fertig zumachen und Kräfte abzuziehen, die dann in anderenBereichen fehlen.

Schulreife und Übergang vom Kindergarten in die Schule 37

38 Perspektiven der Menschenkunde zum Einschulungsalter

Beschreiben wir vom Gesichtspunkt der Waldorfpädago-gik die Entwicklung des Kindes, so blicken wir auf dieunzähligen Fähigkeiten, die sich der junge Mensch nachseiner Geburt Schritt für Schritt erwirbt: Das immerstärkere Ergreifen der Bewegungen bis hin zum Gehenund Laufen; die tiefe Hingabe an die umgebendemenschliche Sprache von der Nachahmung bis hin zumeigenen Sprechen; das schrittweise Aufwachen für Zu-sammenhänge bis hin zum eigenen Fragen und Denken.Impulsiert und ergriffen werden alle diese grossen Lern-schritte immer wieder neu aus dem inneren Entwick-lungs- und Lernwillen der menschlichen Individualität. –

In diese kindliche Entwicklung hinein strömen von außenKräfte der Erziehung, der Familie, des Umfeldes, der Kul-tur und Gesellschaft. Kann der heranwachsende jungeMensch in seiner Sinnesoffenheit diese äusseren Ein-flüsse tief aufnehmen und mit seiner inneren Entwick-lung verbinden, so erlebt er eine sich stetig wandelnde,harmonisch wachsende Einheit von Ich und Welt. Stim-men aber Kindesentwicklung und äussere Einflüsse zumBeispiel durch eine zu frühe Einschulung nicht zusam-men, so kann das zu Einseitigkeiten, Dissonanzen undEntwicklungshemmungen führen. Im Jahr 2010 deckteeine Studie zum Beispiel auf, dass unzählige früh einge-schulte Kinder, die das psychisch beruhigende Medika-ment Ritalin erhielten, sich in ihrem Bewegungsdrang imGrunde nur altersgemäss verhielten. Unter dem Titel„Fehldiagnose Zappelphilipp“ endete der Bericht mit denWorten: „Einfache Antworten gibt es nicht, aber zumin-dest legt die Stichtag-Studie jetzt eine Möglichkeitnahe: unreife Kinder ein Jahr später einschulen.“1

Die grosse Bedeutung des Einschulungsalters wird hierbelegt: Ob sich ein junger Mensch aus seinen eigenenindividuellen Kräften heraus entwickeln darf, oderdurch nicht altersgemässe Anforderungen unter Um-ständen sogar Medikamente verordnet bekommt, kannseine Biographie und Gesundheit entscheidend fördernoder behindern.

Im Folgenden soll die Entwicklung des Kindes im Ein-schulungsalter aus verschiedenen Perspektiven der an-throposophischen Menschenkunde betrachtet werden:

• Zur Dynamik zwischen Ich-Entwicklung und Wachs-tum

• Die gesunde Verwandlung der Wachstumskräfte inder Zeit der Einschulung

• Zeichnungen als Abdruck individueller Entwicklung• Die 2. Individualisierung der Ätherkräfte• Die Wirkung der Erzieherhaltung

Organisches Wachstum als Ausdruck der Ich–TätigkeitIn den ersten sechs Lebensjahren verbindet sich das Ichdes Kindes vor allem mit der organisch-leiblichen Ent-wicklung. Was in grösster Sinnes-Offenheit und Hin-gabe in der Umgebung miterlebt wird, verwandelt sichzum tragenden Impuls der Nachahmung im Willen:Über den Willen wirkt das Kindes-Ich in die Leibesbil-dung hinein bei allen Bewegungen bis hin zum Krab-beln, zum Üben des Aufrichtens und zum Sich-Halten,Sich-Führen im späteren Gehen und Laufen. Das Kno-chen-Muskelwachstum wird in diesen Prozessen ebensovom Ich durchdrungen, wie die Bildung aller Organe.Die Wachstumskräfte, die sich aus diesem Prozess inden ersten Lebensjahren bilden, prägen die Gesund-heitsverhältnisse für das ganze nachfolgende Leben desjungen Menschen. Diese tiefe Wirkung des Ich auf dieEntwicklung ist aber nicht selbstverständlich, denn sieentspringt einer seit der Geburt fortdauernden Ausei-nandersetzung: Von der einen Seite her entwickeln sichdie vererbten physischen Leibeskräfte des Kindes, dieeine Art „Modell-Leib“ bilden. Von der anderen Seiteher wird dieser von der Individualität des heranwach-senden Menschen immer wieder neu durchgearbeitet:„Der ganze Mensch ist nämlich von der Geburt bis zumZahnwechsel, indem in seinem Physischen die Verer-bungskräfte walten, wie eine Art Modell, an dem dasGeistig-Seelische arbeitet nach den Eindrücken derUmgebung als rein nachahmendes Wesen.“2 So ent-steht in den ersten Lebensjahren ein Kreislauf der Um-wandlung der Leibesorganisation: Wie ein grosses Sin-nesorgan nimmt das Kind die Eindrücke derumgebenden Welt in sich auf, um sie dann im Willender Nachahmung tief dem Organismus einzuprägen. Jestärker diese Nachahmung sein kann, desto stärkermacht sich das Ich den Leib immer wieder neu zu eigen.

Perspektiven der Menschenkunde zum Einschulungsalter

Claus-Peter Röh

1 Der Spiegel 34/20102 R. Steiner, Die Methodik des Lehrens, GA 308, 9. April 1924, S. 28/29

Von besonderer Bedeutung für das beschriebene Alterist dabei die Betätigung des eigenen Willens aus einemfreien Herangehen an die Welt: Was das Kind in dieserPhase aus seinem freien geistigen Wesen heraus er-greift, woran es sich erinnern will und was es in kindli-cher Phantasie umgestaltet, das stärkt sein Ich undseine Wachstumskräfte. Mit der Achtung, Wahrneh-mung und Förderung dieser schöpferischen Individua-lität des Kindes ist ein Kernpunkt der Waldorfpädago-gik beschrieben: „Diese Erziehungsmethode weiss,dass es im Innern der Menschennatur eine individuelleWesenheit gibt, der man als Lehrer, als Erzieher denWeg vorbereiten muss. Diese innerste Individualitäterzieht sich eigentlich immer selbst; sie erzieht sichdurch dasjenige, was sie wahrnimmt in der Umgebung,was sie mit Sympathie aufnimmt durch das Leben,durch die Situation des Daseins, in die sie hineinge-stellt ist. In dieses kann der Erzieher oder Lehrer nurindirekt wirken: Dadurch, dass er das Leibliche undSeelische des Menschen so bildet, dass später imLeben der Mensch die möglichst geringsten Hinder-nisse und Hemmnisse an seiner eigenen Leiblichkeit,an dem Temperament und den Emotionen, durch denCharakter seiner Erziehung hat.“ 3

Blicken wir in das heutige Zeitgeschehen, so müssenwir wahrnehmen, dass die zweifelsohne grossen Ent-wicklungskräfte des kleinen Kindes sehr früh für eingedächtnismässiges Lernen eingesetzt werden: Soheisst es zum Beispiel in einem Programm für Fünf-jährige: „Intensivtraining vor der Einschulung – Kin-der auf Erfolgskurs – Es wird Lesen, Schreiben, Rech-nen trainiert und das Sozialverhalten reflektiert.“Was geschieht, wenn die Gedächtniskräfte des Kin-dergartenkindes ganz direkt von aussen „trainiert“werden? Das Ich des Kindes ist dann gezwungen,seine Verbindung zum organischen Wachstum zu frühzu lösen und es wird darauf „dressiert“, gedanklicheFähigkeiten zu ergreifen, die sich vom ganzheitlichenErleben des jungen Menschen trennen. Da nach heu-tiger salutogenetischer Beschreibung Gesundheit ausdem Zusammenstimmen von innerlich menschlichemErleben und äusserer Entwicklung entsteht, hat dieseTrennung für das spätere Leben zum Einen eine Min-derung der Ich- und Gesundheitskräfte zur Folge(siehe Beitrag von M. Schmidt). Zum Zweiten erwirbtsich der junge Mensch gedankliche Wissens-Begriffe,die dadurch einseitig sind, dass sie nicht mehr so tief

mit dem ureigenen Fühlen und Erleben des Kindesverbunden sind. Als Zusammenfassung ergibt sich einpolarer Erziehungsgrundsatz:• Gelingt es, das Kind bis zum 7. Lebensjahr in freier,

eigener Weise Nachahmung, Phantasie und Ge-dächtnis entwickeln zu lassen, so stärken wir dasIch und die Gesundheit des jungen Menschen.

• Zu früh von aussen geforderte Gedächtnis-Übun-gen schwächen die Ich-Kraft und damit die Ge-sundheit des Kindes.

Die Verwandlung der ätherischen Wachstumskräftein der Zeit der EinschulungIn der dritten und letzten Phase der Kleinkindzeit be-ginnen sich die ätherischen Wachstumskräfte zwischendem 5. und 7. Jahr allmählich von der Bindung an dieOrgane zu lösen. Mit der Streckung der Gliedmassenbis in die Haltung hinein beginnt das Kind innerlich-seelisch aufmerksamer zu werden. Die weiterhin wir-kenden Kräfte der kindlichen Hingabe, Nachahmungund Bewegung zeigen nun Schritt für Schritt eine neueQualität der Wachsamkeit, aber auch Empfindsamkeit.Rudolf Steiner beschreibt diesen Umschmelzungspro-zess als „stärksten Kampf“ zwischen zwei Kräftearten:Das Seelische des Kindes, das sich über Jahre so starkmit dem in den Organismus hinunter strömenden plas-tisch-ätherischen Formkräften verbunden hatte,emanzipiert sich nun. Ein Grossteil der organbildendenKräfte wird frei und verwandelt sich einerseits in Ver-standes- und Denkkräfte, andererseits in aufsteigendeKräfte, die dem Ich des Kindes als freie Gestaltungs-und Phantasiekräfte für das Lernen zur Verfügung ste-hen: „Alle Kräfte, die da heraufschiessen, verwendenwir dann, wenn wir aus dem Zeichnen das Schreibenherausentwickeln; denn diese Kräfte wollen eigentlichübergehen in plastisches Gestalten, in Zeichnen undso weiter. Das sind die Kräfte, die im Zahnwechselihren Abschluss finden, die vorher den Körper des Kin-des ausplastizierten.“5

Stellen wir aus dem Vorherigen die Frage, wie wirheute die beschriebene Ich-Entwicklung in der Zeit desSchulübergangs wahrnehmen können, so wenden wirden Blick zunächst in drei Richtungen: Zum Einen kön-nen wir in besonderen Augenblicken beobachten, wiedie Innerlichkeit des Kindes den ganzen jungen Men-schen erwärmt und durchlebt: Wenn es aus sich heraus

Perspektiven der Menschenkunde zum Einschulungsalter 39

3 Rudolf Steiner, Erziehungs- und Unterrichtsmethoden auf anthroposophischer Grundlage, Stratford-on-Avon, GA 304, 19. April 19224 Aus einem Werbe-Artikel5 R. Steiner, Meditativ erarbeitete Menschenkunde, GA 302a, 16.9.1920

auf etwas zugeht, wenn es freudig ein Spiel aufgreiftoder wenn es sich draussen bewegt. Bis in die seelischdurchlebte Mimik hinein prägt sich diese ganz eigeneHinwendung zu Mensch und Welt aus. – Zum Andernfällt der Blick auf den Vorgang des Zahnwechsels. Hierprägt sich die Individualität bis in physische Prozesseaus: Die Milchzähne hat das Kind als Modell-Leib ausseinem Vererbungsstrom erhalten. Nun werden diesevon den kräftigen, ganz anders durchformten zweitenZähnen herausgestossen. Es ist ein regelrechter Kampfzwischen dem vererbten Modell-Leib und den geistigenFähigkeiten und Schicksalskräften, die von der Indivi-dualität des Kindes in dieses Leben hereingetragenwerden.

Wirkungen heutiger Kulturfaktoren und DissoziationZum Dritten blicken wir mit der Wahrnehmung des in-neren Menschen in der Gegenwart zugleich auf dieHinderungen und Hemmnisse einer solchen Ich-Ent-wicklung: Erzieherinnen und Erzieher berichten, wiedas Ergreifen des Leibes aus dem Nachahmungs-Willenheraus vielen Kindern heute schwerer fällt, währenddie frühe, oft allzufrühe Gedankenwachheit im Kopf-bereich deutlich zunimmt. Hier spielen mit Sicherheitdie Kulturfaktoren unserer reizüberfluteten medialenWelt eine entscheidende Rolle (siehe Beitrag von R.Patzlaff). Die Tendenz zur frühen Bewusstheit könnenwir auch in einem Zusammenhang denken mit Äusse-rungen Rudolf Steiners über die Tendenz der menschli-chen Wesensglieder, in der heutigen Zeit fester zusam-menzurücken: „Wir bilden die Bewussteinsseele geradedadurch, dass wir mit unserem Ich eine gewissermas-sen innere Verwandtschaft mit dem physischen Leibeeingehen, dass wir uns so recht in den physischen Leibhineinstemmen.“6 Tatsächlich ist heute diese Tendenzzur frühen und festen Verbindung mit dem PhysischenLeib beobachtbar. So fallen zum Beispiel schon wenigeTage nach der Geburt eines Kindes Sätze, wie: „Sie/Erist ja schon ganz da.“ Beim genauen Hinsehen stehtdiese Verbindung zum Physischen durch die Kindheitund Jugend hindurch einerseits in Verbindung mit frü-her Bewusstheit. Andererseits zeigt sie sich aber nichtals ein wirklich harmonisches, festes Ruhen im Irdi-schen, sondern in der Regel immer auch als ein Labiles,unruhig Suchendes. Die Wachheit, die im festen Ge-füge der Wesensglieder entsteht, zeigt sich in derDurchdringung von leiblichen, seelischen und innerlichgeistigen Ebenen auch als grosse Sensibilität.

Bildet sich nun beim Freiwerden der ätherischen Wachs-tumskräfte in den letzten Kindergarten-Jahren eineimmer grössere Diskrepanz zwischen der frühen Wach-heit der Gedanken und der im Verhältnis dazu zurück-bleibenden Ausbildung und Fähigkeit der Gliedmassen,so sprechen wir von „Dissoziation“. Ein fünfjähriges Kindkann zum Beispiel in der gedanklich-sprachlichen Ent-wicklung schon eine sehr frühe Wachsamkeit zeigen, –zugleich aber in der Motorik, in der Ausbildung derHände und Gliedmassen, in der Gestaltungsfähigkeitund im sozialen Miteinander noch starke kleinkindlicheZüge haben.

Um diesen Kindern eine Nachreifung der Gliedmassen-und Willens-Ausbildung zu ermöglichen, haben vieleSchulen eine sogenannte „Brückenklasse“ oder „KlasseNull“ eingerichtet: Bevor die schulische Beanspru-chung der Gedächtniskräfte einsetzt, wird hier ineinem rhythmischen, gesundenden Tagesablauf die ge-samte Sinnes-Organisation angeregt. Im Mittelpunktsteht dabei die Ausbildung der Basal-Sinne: Das inten-sive Durchleben des Tast-, Lebens-, Gleichgewichts-und Eigenbewegungs-Sinns ermöglicht den Kindernein neues, tieferes Ergreifen der Leiblichkeit. Die wach-sende innere Beheimatung und Sicherheit wirkt stär-kend zurück auf die rhythmische Organisation des jun-gen Menschen und auf das Erwachen der kindlichenAufmerksamkeit.

Zeichnungen als Ausdruck individueller EntwicklungDie beschriebene Gefährdung der Gesundheitskräfte imAlter des Schuleintritts findet auch in den Zeichnungenund Arbeiten der Kinder einen deutlichen Ausdruck.Denken wir uns die Bilder der Schuleingangs-Untersu-chungen aus den letzten 20 Jahren nebeneinander, sobemerken wir zunächst in aller Deutlichkeit ein Nachlas-sen der Ausdruckskräfte: Viele Bilder sind heute blasserin den Farbkräften und es finden sich die Motive von„Baum, Haus, Mensch und Sonne“ oft in dünnen Strich-formen7 äusserlich umrandet. Ein Beispiel dafür ist dasfolgende Bild (S. 41):

Da dieses „Blasserwerden“ der Einschulungsbilder sichin der Tendenz als länderübergreifendes Phänomenzeigt, liegt der Gedanke nahe, dass es sich hier zu-nächst um eine Folge der Einflüsse der heutigen Kul-turentwicklung handelt: Im Zuge der zunehmendenSinnesreiz-Überflutung steigt das eher passive Ausge-

40 Perspektiven der Menschenkunde zum Einschulungsalter

6 R. Steiner, Schicksalsbildung und Leben nach dem Tod, GA 157a, S. 577 siehe auch Hanna Piaskowski, Medizinisch-Pädagogische Konferenz, Heft 37/ Mai 2006

liefertsein des Kindes, während die Kräfte der kindli-chen Phantasie und Ausdruckkraft abnehmen. Einzweiter Aspekt ist das Phänomen des innerlichen Rück-zugs im 6. Jahr der Kindes-Entwicklung: Die Kräfte desunmittelbaren Eintauchens in das kindliche Spielenund Tun ziehen sich im Prozess der sich anbahnendenVerwandlung und Neuorientierung nach innen zurück(siehe Beitrag von G. Lundgren). Als dritter Aspekt zeigtsich nun, dass diese Rückzugsphase zwar allgemeinauftritt, aber doch stets in ganz individueller Weiseausgeprägt sind: So zeigen in diesem Einschulungsbilddie Sonne und der Mensch neben den dünn umrande-ten Formen doch ein hoffnungsvolles, schmunzelndesLächeln. Zusammenfassend durchdringen sich in derRückzugsphase des Kindes um das 6. Jahr herum diefolgenden Ebenen:• Einflüsse der heutigen Kulturentwicklung durch

Sinnesreize, Erziehungsgewohnheiten und -bedin-gungen

• Im inneren Prozess der Umwandlung der Ätherkräftezieht sich das Kind aus äusseren Spiel- und Aus-drucksgewohnheiten zurück in eine Phase hoherEmpfindsamkeit

• Die Art, wie sich das Kind nun äussert, ist zuneh-mend von einem ureigenen, individuellen Ansatzgeprägt

Das Mädchen, das dieses Bild beim Einschulungsge-spräch malte, besuchte seinen städtischen Kinder-garten bis ins 7. Jahr und wechselte mit sechseinhalbJahren in die Waldorfschule. Nach wenigen Tagendes stillen Staunens begann sie mit beeindruckenderFreude jede Bewegung, jeden Rhythmus, jede Ar-beitsaufgabe und jedes Lied so kräftig aufzugreifen,dass sie bald zu den mittragenden Kräften der neuenGemeinschaft zählte. Auch im Fachunterricht arbei-tete sie bald mit einer solchen Intensität, dass sie„nach getaner Arbeit“ dann manchmal zur Mittags-zeit im Hort vor erfüllter Müdigkeit einfach ein-schlief. Allen beteiligten Erziehern und Lehrern ent-stand der Eindruck, dass dieser junge Mensch nachder Ausreifung der Gesundheitskräfte im Kindergar-ten bis hin zu einem kräftig einsetzenden Zahnwech-sel nun ganz aus der inneren Kraft des Ich herausdiesen Lernwillen hervorbrachte und tatkräftig ein-setzten konnte.

Perspektiven der Menschenkunde zum Einschulungsalter 41

Bild 1: Einschulungsbild „Linien“

Die 2. Individualisierung der ÄtherkräfteAus dieser Schilderung lässt sich die Wandlung der Ich-Aktivität und Ich-Wirkung für den Übergang zurSchule beschreiben: Nachdem das Ich sich in den ers-ten Jahren ganz mit der Organbildung verband, hat esnun das tiefe Bedürfnis, die in gesunder Weise freiwer-denden Wachstumskräfte durchzuarbeiten. In diesemSinne ist der freie Wechsel der Tätigkeiten im künstle-risch geführten Schulunterricht sozusagen eine liebe-volle grosse Einladung an das Ich des Kindes zur akti-ven Mitarbeit: Begrüssung – Morgenspruch – Gesang –Bewegung – Erinnerung – Gespräch – schriftliche Ar-beit – Erzählung – Verabschiedung. Was das Ich desKindes hier leisten kann, wenn es gereifte Kräfte vor-findet, beschreibt Rudolf Steiner im Band „Meditativerarbeitete Menschenkunde“ wie folgt: „Nun, was ge-schieht weiter? In das, was da eigentlich frei wird – obwir es nun Ätherleib, ob wir es Intelligenz nennen –, indas strömt gewissermassen das schon mit der Geburtheruntergestiegene Ich ein und durchorganisiert esnach und nach; so dass also in dieser Zeit stattfindetein Durcheinanderströmen des ewigen Ich mit dem,

was sich da bildet: die freiwerdende Intelligenz, dergeborenwerdende Ätherleib.“8

Gelingt dieses „Durchorganisieren“ durch das Ich, gehendie Schüler gegen Ende der 1. Klasse mit neuen Kräftenund Ansätzen auf Herausforderungen zu: Gut ein Jahrnach dem Einschulungsbild malte jene Schülerin nocheinmal ein Baum-Haus-Mensch- und Sonne-Bild.

Eine deutlich gewachsene Gestaltungskraft ist hier er-kennbar. Diese spiegelt die beschriebene innerlich enga-gierte, freudige Arbeitshaltung der Schülerin. Auch einganz individueller Grundzug der Gestaltung ist sichtbar:Offenbar werden die aus dem Organismus freigeworde-nen Kräfte nun ganz vom Ich aus ergriffen, bewegt undverwandelt (siehe Beitrag von B. Ostheimer). Zu diesemNeu-Ergreifen der Ätherkräfte durch die Aktivität des Ichgibt Rudolf Steiner einen bemerkenswerten Hinweis,indem er beschreibt: „Man sieht, wie alles was man zurVererbung rechnen kann, von den physischen Organis-men der Vorfahren auf die physischen Organismen derNachkommen in einem fortlaufenden Geschehen über-

42 Perspektiven der Menschenkunde zum Einschulungsalter

8 R. Steiner, Meditativ erarbeitete Menschenkunde, GA 302a, 4. Vortrag, 22. 9. 1920

Bild 2: „Baum, Haus, Sonne“ 1. Klasse

geht. Man schaut aber auch wie sich für die Tatsachendes ätherischen Organismus eine fortwährend neue Wir-kung des ätherischen Kosmos einstellt. Diese Wirkungstellt sich der Vererbung entgegen. Sie ist eine solche, dienur den individuellen Menschen betrifft. In diese DingeEinsicht zu haben ist ganz besonders für den Erzieherwichtig.“9

Hier stellt sich die pädagogische Frage nach den Bedin-gungen einer solchen aufbauenden, „fortwährendneuen Wirkung“ des Ätherischen: Die erste Vorausset-zung ist sicherlich die innere Aktivität des Kindes. Mitwachsendem, freudigem Engagement und bis in denWillen fliessender Regsamkeit baut sich unmittelbarein Strom neuer Lebenskräfte auf. – Als zweite Voraus-setzung ist von entscheidender Bedeutung, welcheKräfte aus dem organischen Wachstum der ersten Le-bensjahre mitgebracht werden und zur Verfügung ste-hen: Konnte das Kind seinen Modell-Leib lange genugin der Nachahmung durchleben und individualisieren?Haben sich im freien Spiel so viele eigene Willens- undBewegungsansätze ausgelebt, dass nun mit Schulbe-ginn eine individuelle Regsamkeit als Grundlage fürdas neue Lernen vorliegt? In diesem Sinne basiert diesezweite Individualisierung der Ätherkräfte im schuli-schen Lernen auf der ersten Individualisierung des Mo-dell-Leibes in den Kindheitsjahren: „Wir bekommenwirklich als Menschen von der Erdenwelt durch dieVererbungskräfte ein Modell mit, nach welchem wirden zweiten Menschen, der eigentlich erst geborenwird mit dem Zahnwechsel, ausbilden.“10

Die geistige Freiheit des Schulkindes, das Lernen auseigenem Impuls, aus eigener innerer Regsamkeit zuergreifen, baut somit auf der nachahmenden Gestal-tungs- und Bewegungsfreiheit in allen vorangehen-den Lebensjahren des Kindes auf.

In diesem Zusammenhang liegt die Begründung dafür,die beschriebenen ätherischen Kräfte des jungen, nochwachsenden Leibesorganismus nicht zu früh durch einschulisches Lernen zu schwächen.

Zur Mit-Wirkung der Erzieher-Haltung auf dieEntwicklungStehen wir nun als Erzieher oder Eltern vor dieser Fragedes „zu früh oder zu spät?“ der Einschulung, richtet

sich der fragende Blick zunächst auf den Zusammen-klang der leiblichen und seelischen Entwicklung: Zeigtsich in der Art der Leibbildung, des Auftretens, der Be-wegung und des gemeinsamen Spielens eine Reife, dieein eigenständiges Miterleben von Unterricht ermögli-chen? Wie verhalten sich die seelischen Fähigkeiten desZuhörens, des Sprechens und Verstehens dazu? Beginntein Interesse für die umgebende Welt zu erwachen, wiees bei vielen schulreifen Kindern geschieht? Eine Zu-sammenschau dieser Ebenen kann ein ganzheitlichesBild ergeben, aber auch ein Auseinanderklaffen, eineDissoziation zeigen, wie oben beschrieben. In einemwirklichen Zweifelsfall, ob Schulreife besteht odernoch nicht, wird sich die verantwortliche Erzieher-Ge-meinschaft mit den Eltern und dem Schularzt in be-sonderer Weise beraten.

Vor allem aber kann das Gewahrwerden eines Gesamt-bildes sich der Frage nähern, in welcher Weise und biszu welchem Grad die Individualität des jungen Men-schen den ererbten Modell-Leib durcharbeiten undverwandeln konnte. Haben Erzieher und Eltern erlebt,wie sich das innere Wesen des Kindes in der Nachah-mung äusserte, wie es in ureigener Weise Handlungenund Spiele ergriffen hat, dann verwandelt sich die Be-gegnung mit dem Kind: Eine Haltung der Achtung undEhrfurcht bildet sich und es entsteht damit auch einefeinere Aufmerksamkeit für die Art, wie dieser jungeMensch seine nächsten Tätigkeiten ausübt. Im tägli-chen Zusammensein mit dem Kind hat die Haltung derErzieher und Eltern nicht nur eine von aussen wahr-nehmende, sondern auch eine die Entwicklung ermög-lichende und mitprägende Bedeutung (siehe Aufsatzvon M. Zech11). Sind sich nach ausführlichen Begeg-nungen und Gesprächen alle Erzieher einig, dass nochein „zu früh“ besteht, so hat diese frei gewonnene Hal-tung zugleich eine prägende Wirkung auf die Entwick-lung des Kindes im kommenden Jahr: Wurde zum Bei-spiel beschlossen, dem Kind in der Brückenklasse nochein Jahr Zeit und Raum zu geben, seine Lebens- undGesundheitskräfte vor dem Schuleintritt weiter auszu-reifen, so haben der Entschluss und die daraus fol-gende Haltung auch eine mitkonstituierende Wirkungauf den Verlauf des ersten Jahrsiebtes für dieses Kind.

Deutlich wird auch hier die Verantwortung, die alle Be-teiligten in der Schuleingangs-Entscheidung für diegesamte Biographie eines betroffenen Kindes tragen.

Perspektiven der Menschenkunde zum Einschulungsalter 43

9 R. Steiner, GA 25, Drei Schritte der Anthroposophie: Philosophie Kosmologie Religion, S. 3110 R. Steiner, Die Methodik des Lehrens, GA 308, 9. April 1924, S. 28/2911 M.M. Zech, Jahrsiebte als heuristisches Instrumentarium, Rundbrief 42 der Pädagogischen Sektion, Michaeli 2011

44 Die Entwicklung der Kreativität vom Kindergartenalter bis in das Schulalter

Kind und Gesellschaft:In unserer modernen Gesellschaft gilt immer mehr dieDevise „je früher desto besser“. Dieses betrifft auchdie Fragen der Kindererziehung und Pflege. In immermehr Ländern werden Krippenplätze in Massenpro-grammen angeboten, um den Frauen den Weg in denBeruf zu ebnen – im Kampfe um die Gleichberechti-gung der Frau wird so das Kind zum Spielball in einerGleichung – bei der immer irgendeiner in seinen Be-dürfnissen zurückstecken muss. In Folge der Etablie-rung von Krippenplätzen wird schnell eine positiveArgumentation dazugestellt, mit der bewiesen wer-den soll, dass es besser für das kleine Krabbelkind ist,sich mit 15 anderen Gleichaltrigen in einer Krippe be-treuen zu lassen als im Heim zu „versauern“. Das Kindbraucht „Stimulanz“, Austausch, soll so früh wie mög-lich professionell „gefördert“ werden. Schnell wirddas schlechte Gewissen, was wohl jede Familie plagt,die ein knapp 1 Jahr altes Kind aus dem Haus gibt, er-leichtert – durch die Argumentation, dass dem Kindin der Krippe ein viel besseres pädagogisches Angebotpräsentiert wird als zu Hause. Spätere Probleme so-wohl in der sozialen Selbstständigkeit, der Bindungs-unfähigkeit als auch dem daraus entstehenden Stresswerden damit offiziell nicht in Zusammenhang ge-bracht.

Schulreife?Ähnlich kann man sehen, wie auch das Einschulungsal-ter immer tiefer in die frühe Kindheit herabsinkt – eineTendenz, die vielerseits durch das Bedürfnis nach Sti-mulanz und Herausforderung motiviert wird (unter-schwellig wird damit behauptet, dass ein Kind im Kin-dergarten grundsätzlich unterstimuliert ist und auchnicht in rechter Weise herausgefordert wird). Auchmeint man, dass es wichtig sei – die Kinder früher inden strukturierten Lernprozess einzugewöhnen, da essich zeigt, dass immer mehr Kinder Schwierigkeitenhaben zu fokussieren und den Stoff wirklich aufzuneh-men. Also fängt man ganz einfach früher an …! Dielauten Proteste von Kinderpsychiatern, Entwicklungs-experten und Pädagogen verklingen oft ungehört.

Bewegungsdefizite: Die grössten Probleme, die wirheute in den frühen Schuljahren haben, beruhen aufder unzureichend ausgereiften Bewegungsfähigkeit

des Kindes und damit einhergehenden körperlichenUnruhe, Probleme in der Konzentration und soziale In-kompetenz. Ja – was machen wir denn da? Trainings-programme für Kleinkinder? Immer mehr Unterstüt-zungslehrer in den frühen Klassen? Oder greifen wirganz einfach zur Medizin (Ritalin, Amphetamin) umden Kindern ein wenig extra Zentralstimuli zu schen-ken, damit sie endlich fokussieren können?

Eigentlich ist das ein Übergriff auf das Recht des Kin-des zu einer natürlichen Entwicklung. Zunächst einmalsoll es sich in seinem eigenen Körper voll und ganzetablieren und „des eigenen Körpers Herr werden“,bevor man diese Konzentration auf andere Inhaltelenkt und fordert. Erst wenn das Kind einigermassenbei sich selbst angekommen ist, kann es seine Energieauf die Interaktion mit der Aussenwelt richten. Hierliegt eine grosse Aufgabe für den Kindergartenbereich.Es wird immer schwieriger in der heutigen Zeit der sit-zenden und medienkonsumierenden Gesellschaft, dieseDefizite der gesunden und natürlichen Bewegungs-möglichkeit auszugleichen.

Situation in Schweden: Hier in Schweden kann ichmich des Eindruckes nicht erwehren, dass hinter diesergrandiosen „6-Jahresreform“, die im Jahre 1996 durch-geführt wurde und allen 6-jährigen einen Platz in einerschulvorbereitenden Klasse anbot, im Grunde nur fi-nanzielle Beweggründe standen. Ein Schulkind hateinen „Personalschlüssel“ von 15:1 hier in unseremLande. Verglichen mit dem Kindergartenkind – welchesmit dem Betreuungsbedarf von 9:1 (3-jährige 5:1) er-heblich „teurer“ ist! Die Eltern wurden massiv mit Re-klame für die viel bessere pädagogische Betreuung be-arbeitet und es wurden Argumente aneinander gereiht,die damit motivieren sollten, dass die 6-Jahresklasseeine so gute Vorbereitung für die Schule sein sollte.Ausserdem passt das ja auch in die Argumentation „jefrüher desto besser“! Immer weniger wurden die Elternüber ihre im Grundgesetz festgelegte Wahlmöglichkeitzwischen Kindergarten und Schule für die 6-jährigeninformiert. Es besteht in den kommunalen Einrichtun-gen keine Wahl mehr, alle 6-jährigen besuchen dieschulvorbereitende Klasse. 2% der Kinder besuchendiese Klasse nicht, das sind diejenigen, die sich aufGrund der aktiven Wahl der Eltern im Waldorfkinder-garten befinden.

Die Entwicklung der Kreativität vom Kindergartenalter bis in das Schulalter

Geseke Lundgren

Interessant zu beobachten, dass die Probleme in denfrühen Klassen sich offenbar dadurch in keiner Weiseverbessert haben, eher das Gegenteil scheint der Fall zusein und einige der Lernresultate der Schulkinder inSchweden haben eine negative Kurve im Vergleich zuvielen anderen Ländern.

Waldorfschule: Es bekümmert mich aber noch vielmehr, dass auch in den Waldorfschulen diese Denk-weise leicht Anklang findet. Immer mehr Schulenhaben Probleme, in den höheren Klassen die Schüler zuhalten. Die Konkurrenz mit anderen Profilschulen isthart und viele wählen andere Formen von Pädagogik inden späteren Schuljahren. Also muss man von untenaufbauen – am besten die Kinder schon mit 5 in derSchule einschreiben, um volle Klassen zu garantierenund damit die finanziellen Voraussetzungen der Schulezu sichern. Hier würde ich mich über ein regeres In-tresse für die menschenkundliche Betrachtung und dasBewusstsein für die Bedürfnisse des Kindes freuen,bevor man Lösungen etabliert. Wie verstehe ich denEntwicklungsbedarf des 0 - 7 Jährigen? Passt sich die-ser ganz einfach den veränderten Voraussetzungen anoder hat das Kind tatsächlich eine eigene Entwick-lungsweisheit? Etwas, was sich nicht beliebig verschie-ben lässt?

Ich hoffe, dass die folgenden Gedanken ein wenig zueinem tieferen Verständnis beitragen können!

Der Rhythmus der IndividualisierungWir sprechen oft über die 7-Jahresphasen, diesegrundlegenden Entwicklungsschritte der Kinder – Ju-gendlichen – bis hinein in die Biografiarbeit bei den Er-wachsenen.

Worüber wir uns jedoch seltener austauschen, sind diein diesen 7-Jahresrhythmen enthaltenen Enwicklungs-schritte, und wie wir diese besser verstehen, unterstüt-zen und begleiten können.

Während das Kind in der körperlichen Entwicklungs-phase sich der Willensschulung widmet, dann in derzweiten Phase die seelischen Qualitäten durch das ge-fühlsmässige Engagement mit dem Umfeld pflegt, umdann in der dritten 7-Jahresphase die Gedankenwelt zuüben und kultivieren, kann man beobachten, dassgleichzeitig ein anderer Rhythmus sich geltend macht.Dieses ist der Inkarnationsrhythmus des Ich, welcheralle 3 Jahre stark individualisierend eingreift und diegewonnenen Fähigkeiten, das etablierte Gleichgewicht

und die eben erlangte Sicherheit wieder in Frage stellt– erschüttert und durchrüttelt.

0-3 Jahre:Wir können das deutlich beobachten in der Entwick-lung des Kindes – welches die ersten 21⁄2 Jahre ganz undgar damit beschäftigt ist, sich dem Erlangen der auf-rechten Haltung, dem Spracherwerb und den erstenBegriffserkenntnissen zu widmen. Gehen – sprechen –denken!

Unterdessen geschieht ja ungeheuer viel mit dem Kind,die Verdauungsorgane werden „grundeingerichtet“, dereigene Schlaf- und Wachrhythmus reguliert, der Au-scheidungsmechanismus ergriffen und auch die erstensozialen Fähigkeiten entwickelt. Das Kind ist in dieserPhase vollkommen „schlafend“ in der sogenannten Ge-dankenwelt, träumend im Fühlen und wach nur imWillen, sprich in der Bewegung – der Gliederkontrolle.Das Kind übt ständig sobald es wach ist. Immer undimmer wieder werden Bewegungen wiederholt, geübt,ausgekostet – bis sie sich etabliert haben, das Kind sieohne weitere Anstrengung ausführen kann – sie also„mechanisiert“ wurden. Erst dann kann das Kind sichneuen Herausforderungen stellen, wenn die grundle-genden Bewegungsfähigkeiten etabliert sind. Erst ste-hen – dann gehen! Erst gehen – dann hüpfen ….!

Hier ist das Kind aufmerksam, wach, ganz dabei! Esahmt nach, es übt – es wiederholt! Auch im Spiel siehtman sehr deutlich, dass hier noch nichts von „Erfin-dungsgeist“ zu sehen ist. Nachahmung und Wiederho-lung von Bewegungen oder Vorgängen, die das Kindbeobachtet (Bügeln, Essen machen – in Töpfen rühren –an und ausziehen, Betten machen ….) Viele dieser häus-lichen Notwendigkeiten spiegeln sich im Spiel des klei-nen Kindes wieder. Noch kann das Kind nichts selber„erfinden“. Noch hat es keinen Zutritt zu der Welt derPhantasiekräfte. Diese Schaffenskräfte sind noch ganzund gar damit beschäftigt, die Grundfunktionen desKörpers zu gestalten, den Körper des Kindes langsamaber sicher den Lebensbedingungen und der speziellenIndividualität des Kindes anzupassen. Die inneren Or-gane erfahren einen ungeheuren Entwicklungsprozess,Umwandlungsprozess und werden in vieler Hinsicht erstgebildet – ausgearbeitet in diesen allerersten Lebens-jahren.

Dann – mit 21⁄2 beginnt das Kind sich träumend in dieseSchaffenswelt hineinzutasten. Langsam erwacht es ausdem tiefen Schlaf, schaut sich um und beginnt mitdem wachsenden Ich-bewusstsein in neuer Art mit der

Die Entwicklung der Kreativität vom Kindergartenalter bis in das Schulalter 45

Umwelt zu interagieren. Das sogenannte „Trotzalter“ist ja nichts anderes als das Erwachen für die eigenePersönlichkeit und das erste Bewusstsein um Aus- undAbgrenzung des eigenen Willens, Körpers und Fühlensgegenüber Anderen.

3 - 6 JahreHier beginnt nun das Kind – Zugang zu den sukzessivfrei werdenden „Schaffenskräften“ zu bekommen,indem es sich der Phantasiekräfte bedient, um dieWelt in eine für das Kind zu verarbeitende Realitätumzuwandeln. Das freie Phantasiespiel wird als Kö-nigsweg des Kindes in das Leben betrachtet. Tatsacheist aber auch – dass gerade dieses Phantasiespiel nurmöglich ist, wenn das Kind nicht zur Aussenwelt auf-wachen muss, sondern diese träumende Qualität indem Weben des Spieles erreichen kann. Ein zu wachesKind kann den Zugang zu diesem phantasivollen Spielnicht finden und bekommt Schwierigkeiten, sich derdarin herrschenden Kreativität hinzugeben. Verdrussund Trauer um das vermisste Glücksgefühl – welchesdie Kinder erfüllt in dem tiefen Spiel, prägen dannimmer öfter die Stimmung des Kindes. Es äussert dannimmer mehr den Wunsch nach „Ablenkung“ und Be-schäftigung von aussen, um den Mangel des innerenEngagements auszugleichen. Diese ist ein typischesVerhalten um das 6. Lebensjahr, wo das Kind nun imZuge der „Geburt des Ätherleibes“ gänzlich aufwachtund realisiert, dass das Ergreifen der Phantasiekräftenun einer Anstrengung bedarf (da es im Wachen ge-schieht und nicht mehr träumend). Das Kind hat nundie Möglichkeit – zum ersten Mal in seinem Daseinwach und bewusst „schaffend“ zu werden. Die nun„befreiten“ Äther – und Schaffenskräfte stehen demKind zur Verfügung, wenn es sie mit seiner „Vorstel-lungskraft“ ergreift – nutzen lernt und damit in denwirklich kreativen Prozess einsteigt. Wird dem Kinddiese Möglichkeit gegeben, kann es das Spiel ganz neuerobern und nun als Grundlage einer ein Leben langzuträglichen Kreativität erüben!

Beschäftigung oder Unterstützung derEigeninitiativeWenn man dem Kind in dieser empfindlichen Phasedes augenscheinlichen Spielverlustes im 5. – 6. Jah-resalter allerdings nicht diese Geduld entgegenbringt– und sich dem Verlangen des Kindes zur Beschäfti-gung beugt, verweigert man ihm oftmals gleichzeitigdieses Erüben der Eigeninitiative – des Erlebens, dasses aus eigenem Antrieb wieder in die Aktivität kom-men kann. Vermögen der Selbstbeschäftigung ist eine

grundlegende Voraussetzung des Selbstvertrauens.Wenn ich weiss, dass ich selber etwas mit mir und derUmwelt anfangen kann, dann bin ich nicht der unab-dinglichen Abhängigkeit von der ständigen Stimulanzvon aussen ausgeliefert. Ich kann die erste „Selbst-ständigkeit“ in der Schaffensfreude erleben und kul-tivieren. Ein verfrühtes „Beschäftigen“, lernen und or-ganisieren der Tätigkeiten des Kindes sind dahermeines Erachtens nicht zuträglich für das Kind. EinKind, welches in dieser Phase hauptsächlich durchäussere Anleitung und Impulse zur Aktivität kommt –also durch äussere Stimulanz – lernt, dass es als tüch-tig und fleissig bestätigt wird, indem es diese vonaussen herangetragenen Aufgaben erfüllt. Ein Selbst-bild, welches unsere Gesellschaft von heute immermehr prägt. Wir wollen den Erwartungen und Anfor-derungen der Umwelt entsprechen und gerecht wer-den. Tun alles, um so zu werden, wie die Umwelt esvon uns erwartet. Gleichzeitig entwickelt das Kinddann eine Abhängigkeit von ständiger Stimulanz undBestätigung, da das Eigenerleben und Eintauchen insich selbst und in die Möglichkeit der Zufriedenheitdann gar nicht mehr möglich sind.

Die Sicherheit und Freude an dem Tätigwerden auseinem eigenen, inneren Antrieb und Schaffensdrangsind eher eine Seltenheit geworden. Dieses Selbstver-trauen und Erfassen der eigenen Identität aus dem Er-leben der Eigeninitiative werden schon im 6. Jahresal-ter veranlagt und möglich – oder unmöglich gemacht.Die Waldorfpädagogik sollte hier mit gutem Beispielvorangehen und dem Kind den Übergang vom Phanta-siespiel in das wache Ergreifen der Vorstellungskraftsowie der Realisierung dieser Vorstellungen durch Kon-struktionsspiele, Rollenspiele usw. ermöglichen. Aus ei-gener Initiative! Nicht durch den Erwachsenen initiiertund geführt! Geduld in diesem Entwicklungsschrittgibt die Vorraussetzung zu einer kraftvollen Entwick-lung mit gesunder Selbtsinitiativkraft!

Altershomogene oder gemischte GruppenEin weiterer Aspekt, bei dem ich mir grössere Auf-merksamkeit wünschen würde, ist die Frage um dieIntergrierung des Kindes in altershomogene Gruppenim 6-Jahresalter. Wenn sich das Kind in dieser sensi-blen Umgestaltunsgphase befindet, ist es sehr unsi-cher, muss alle Kraft aufwenden um einerseits dieneuen körperlichen Voraussetzungen (Aufrichten,Freistellung des Halses, der Hüftpartie und die Umge-staltung des Rückgrates zur S-Kurve) neu zu beherr-schen, aber auch um sich in der neuen Wachheit zu-

46 Die Entwicklung der Kreativität vom Kindergartenalter bis in das Schulalter

Die Entwicklung der Kreativität vom Kindergartenalter bis in das Schulalter 47

recht zu finden. Nun muss man mit vollem Bewusst-sein „so tun als ob …!“. Es ist eine Anstrengung, sichetwas aktiv vorzustellen! Die eigene Vorstellung zuaktivieren erfordert Willenskraft und Übung. Das Kindmöchte gern träumen, wird schnell müde und vorallem wird es recht schnell desillusioniert – da es fest-stellt wie viele Fähigkeiten zur Realisierung der eige-nen Vorstellungen ihm fehlen. Da bräuchte es sowohleine Bezugsperson, die es gut kennt und welcher auchdas Kind gut vertraut ist, so dass eine notwendige Un-terstützung, wenn die Situation übermächtig wird,auch möglich ist. Der Umgang mit kleineren Kindern,die noch alle ungezwungen zu ihren Schwächen undUnfähigkeiten stehen, ist da wohltuend! Wenn ein 4-oder 5-jähriger den 6-jährigen fragt, ob er ihm helfenkann ein Häschen zu zeichnen oder den Schuh anzu-ziehen, wird das ältere Kind darin bestätigt, dass esnicht schlimm ist – etwas noch nicht zu können! Dassman um Hilfe bitten kann ohne seine Würde zu ver-lieren. Dass das Üben und auch Missglücke zum Fort-schritt gehören. Das ist sehr viel schwieriger in einerSituation – wo man gerade in diesem neuen Erwa-chen gleich mit nur Gleichaltrigen und älteren Kin-dern in einem Schulzusammenhang konfrontiertwird.

Ausserdem: was tun, wenn plötzlich alle 15 6-jährigengleichzeitig in den Schaffensdrang kommen und ge-rade ihre Vorstellung voller Enthusiasmus verwirklichenüben wollen? Das ist so viel einfacher, wenn man nochin einer altersgemischten Gruppe mit auch jüngerenKindern ist – die alle gern dabei sind, wenn die älterenmit ihren Ideen kommen. Man übt – passt an – entwi-ckelt, ohne sich gleich in dieser ersten wachen Schaf-fensfreude gegen andere „Regisseure“ durchsetzen zumüssen.

Schulreife als Dreiklang; physisch, seelisch undintellektuellViele Kinder weisen eine frühe intellektuelle Reife auf.Wo aber befinden sie sich in ihrer körperlichen Ent-wicklung, der Bewegungsfähigkeit, der sozialen Reifeund vor allem – in diesem hoch sensiblen Findungspro-zess der eigenen Kreativität? Wenn wir wirklich zu derEntwicklung zur Freiheit beitragen wollen, müssen wirauch in der Waldorfpädagogik noch viel lernen!

Im Kindergarten versuchen wir, diese Reifeprozesse gutzu begleiten. Dem Kind sowohl Halt und Vertrauen,aber auch adäquate Herausforderungen zu bieten.Wenn dann das Kind die Eigenaktivität ausreichend er-griffen und erübt hat, kann man mit Struktur und Dis-ziplin wieder in diesem gesunden und kraftvollen Wil-len kultivierend wirken. Aber eben nicht vorher! Ichsehe diese Entwicklung als einen wichtigen Aspekt derSchulreife. Die Geburt des Ätherleibes – wo dem Kinddie Schaffenskräfte zugänglich werden um nun ausdem physischen Gestalten in die seelische Verbindungmit der Welt zu wirken.

Emmy Pickler bat vor langer Zeit in ihren Beobachtun-gen zur Entwicklung des kleinen Kindes aus eigener Fä-higkeit in einem Buch mit dem Titel „Lasst mir Zeit!“darum – dem Kind den nötigen Respekt entgegen zubringen, um den in ihm verborgenen Entwicklungs-kräften freie Entfaltung zu gewähren. Ich schliessemich dem an. Für das 6-jährige Kind!!

(Waldorfpädagogin, tätig für den schwedischen Wal-dorfkindergartenverein und als Dozentin in der Ausbil-dung von Waldorflehrern und Kindergärtner/innen inSchweden. Mitglied der Alliance for Childhood inSchweden)

48 Schulreife und frühe Schulzeit am Beispiel von Kinderzeichnungen

Alles was die Kinder an Bildhaftem gestalten ist einAusdruck ihrer Entwicklung, Wie durchdringen die Le-benskräfte den Körper, wie lebt das Seelische im physi-schen Leib? Davon sprechen die frühen Kritzelzeich-nungen ebenso wie die Bilder im Kindergarten und inden ersten Schuljahren. Daher ist das Mensch – Haus –Baum Bild ein sinnvolles Element der Schuleingangs-untersuchung. Auch in den folgenden Schuljahrenzeigt es Fortschritte und Verzögerungen der Entwick-lung des Kindes an.

Die Darstellung der Menschengestalt entwickelt sichallmählich aus den Kritzelzeichnungen des Kopfes unddes Kopffüßlers zur dreigliedrigen Gestalt – Kopf,Rumpf, Gliedmaßen – zum Zeitpunkt der Schulreife.Um das 5. Lebensjahr taucht das Haus als Motiv auf.Wenn das Kind beginnt seinen Körper genauer zu er-spüren, bildet sich das in seinen Zeichnungen ab.

In der Waldorfschule Ismaning bei München schautdas Aufnahme-Team eine Gruppe von 5-6 Kindern ge-meinsam an, die eine Art erste Schulstunde haben. EineAufgabenstellung ist das Malen eines Bildes mitWachskreiden. Auf dem Bild soll ein Mensch, ein Hausund ein Baum erscheinen und alles, was die Kindersonst noch hinzufügen möchten. An ihren Gesichternist ablesbar, dass sie gern an die Arbeit gehen! Siemalen so schön, wie sie es können.

Nur wenn die Bilder spontan entstehen, ist die ge-wünschte Aussagekraft gewährleistet. Werden die Kin-der angeleitet, ahmen sie, wie es altersgemäß ist, nach,was der Erwachsene ihnen vorzeichnet. Malen sie ohneweitere Anleitung, hat die Menschengestalt vielleichtkeine Füße oder Hände. Daran wird sichtbar, dass dasKind noch unbewußt in diesem Bereich ist. Im Laufedes ersten Schuljahres wird es aus eigenem Antrieb da-rauf achten. Es lernt, dass es seine Hände zur Arbeitbraucht und seine Füße, um sich von einem Ort zumanderen zu bewegen.

Einige Gesichtspunkte zur Betrachtung der BilderDie Bilder erzählen von dem Weg des Kindes, seinerGeistseele, vom Himmel auf die Erde, wo es Schritt fürSchritt den Erdenleib bezieht, den es von seinen Elternbekommt. Davon erzählen auch viele Märchen.

Das Haus ist ein Urbild für den Körper, in den dasWesen des Kindes einzieht. Daher stellt sich die Frage,ob das Haus eine Tür hat mit einem Türgriff, damit manhineingehen kann. Durch die Fenster im Haus scheintdas Licht hinein und man kann hinausschauen undsehen, was draußen geschieht. Die Sinne erwachen. Derrauchende Schornstein zeigt an, daß der Bewohner imDachstübchen angekommen ist und nachdenkt.

Der Baum ist ein Urbild für die strömenden und gestal-tenden Lebenskräfte. Sie steigen von den Wurzeln inder Erde durch den Stamm, der sich verzweigt und eineKrone bildet mit vielen Blättern. Ist der Stamm durchein Linie abgeschnitten von der Krone, können dieSäfte nicht aufsteigen. Trägt der Baum rote Früchte,meist sind es Äpfel oder Kirschen, wie die Kinder erklä-ren, deutet dies auf die den Reichtum der Farben undsaftige Süße erlebenden Seele hin.

Die Aufteilung des Bildes – unten das grüne Gras, obender Himmel und die Sonne oder der Regenbogen – sagtetwas über die Orientierung des Kindes auf der Erdeaus.

Was ist sonst noch auf dem Bild zu sehen? Blumen?Vögel? Schmetterlinge? Bienen? Wolken?

Welche Farben hat das Kind gewählt? Wie ist der Farb-auftrag? In allem spricht sich das Wesen des Kindesaus, was es entdeckt oder übersieht, die Wachheit inden Sinnen.

Wir haben uns auch gefragt, warum die Kinder in derRegel ganz selbstverständlich ein Haus mit spitzemDach (Quadrat und Dreieck) malen , obwohl sie in ihrerHeimatstadt München fast nur Hochhäuser mit Flach-dach sehen? Aus der äußeren Wahrnehmung kanndiese Darstellung kaum stammen. Das Kind lebt in die-sen geometrischen archetypischen Formen.

Vor einigen Jahren gab es in der Aufnahme viele Kin-der, die zwar das Einschulungsalter erreicht hatten,aber dürftige Bilder mit Strichmännchen, unvollständi-gem Haus und Leiterbaum malten. In der schulärztli-chen Untersuchung berichteten die Eltern meist vonSchwierigkeiten im Verlauf von Schwangerschaft undGeburt, auch von Erkrankungen im ersten Lebensjahr.

Schulreife und frühe Schulzeit am Beispiel von Kinderzeichnungen

Barbara Ostheimer

Gemeinsam mit der Klassenlehrerin beschlossen wiralle Kinder am Ende der 1. Klasse noch einmal einMensch-Haus-Baum Bild malen zu lassen. Die sichtba-ren Fortschritte vieler Kinder führten zu weiteren Wie-derholungen des Malens am Ende der 2. und der 3.Klasse. Die Bilderreihen zeigten anschaulich die Ent-wicklung jedes einzelnen Kindes von Schuljahr zuSchuljahr, die nicht zuletzt durch den altersgemäßenUnterrichtsstoff möglich wurden.

Auch in den nachfolgenden Klassen wurden diese Bil-derstudien fortgesetzt. Die beigefügten Bilderreihensind jeweils von demselben Kind gemalt.

Im Gespräch mit den jeweiligen KlassenlehrerInnenhelfen diese Bilderreihen, die Probleme besonders auf-fallender Kinder besser zu verstehen und pädagogischeEinfälle zu bekommen. In der Lehrerkonferenz werdenalle Bilderreihen im Rahmen einer Klassenbesprechungausgelegt.

In einem Elternabend nach der Zweitklassuntersu-chung zeigen wir die Bilderreihen ohne Namensnen-

nung den Eltern der Klasse, die mit Staunen und Freudedie sichtbaren Entwicklungsschritte ihrer Kinder be-trachten.

Zum Ende der 3. Klasse malen die Kinder gern noch ein-mal ein Bild für die ihnen mittlerweile gut bekannte För-derlehrerin als Geschenk. Die Veränderungen im 9. Le-bensjahr spiegeln sich auch in den Bemerkungen derSchüler beim Malen. Ein Kind rief mich und sagte aufsein Bild deutend: „Den Menschen male ich nicht, der istim Haus!“ Manchen Kindern war es jetzt sehr wichtig,dass der Mensch nicht größer als die Haustür war, durchdie er eintreten sollte. Auf fast allen Bildern findet sichnun (ohne Ansage!) ein Fluss. Der Mensch wandert amUfer entlang, geht über eine Brücke, steht im Wasserund fischt oder ist mit einem Boot unterwegs. Ein neuerSchritt auf dem eigenen Lebensweg wird vollzogen.

Diese Bilderstudien werden fortgesetzt. Anregungen zurBetrachtung von Kinderbildern finden sich auch in denBüchern „Die Extrastunde“ von Audrey McAllen und „DieGeheimnisse der Kinderzeichnungen“ von Inger Broch-mann.

Schulreife und frühe Schulzeit am Beispiel von Kinderzeichnungen 49

50 Schulreife und frühe Schulzeit am Beispiel von Kinderzeichnungen

1. Klasse

2. Klasse

3. Klasse

Bub K.

Aufnahme

Einschulung im September

7 Jahre

Anlagen zu „Barbara Ostheimer – Frühe Einschulung und Schulreife am Beispiel von Kinderzeichnungen“Mai 2013

Anlage 1

Schulreife und frühe Schulzeit am Beispiel von Kinderzeichnungen 51

1. Klasse

2. Klasse

3. Klasse

Bub T.

Aufnahme

Einschulung im September

7 Jahre

Anlage 2

52 Schulreife und frühe Schulzeit am Beispiel von Kinderzeichnungen

1. Klasse

2. Klasse

3. Klasse

Mädchen T.

Aufnahme

Einschulung im September

6 Jahre

Anlage 3

Schulreife und frühe Schulzeit am Beispiel von Kinderzeichnungen 53

2. Klasse

3. Klasse

Bub J.

Aufnahme

Einschulung im September

63⁄4 Jahre

1. Klasse

Anlage 4

54 Schulreife und frühe Schulzeit am Beispiel von Kinderzeichnungen

1. Klasse

2. Klasse

3. Klasse

Mädchen M.

Aufnahme

Einschulung im September

6 Jahre

Anlage 5

Schulreife und frühe Schulzeit am Beispiel von Kinderzeichnungen 55

2. Klasse

1. Klasse

3. Klasse

Mädchen L.

Aufnahme

Einschulung im September

7 Jahre

Anlage 6

Themenheft Schulreife

Dezember 2013

Herausgeber:Pädagogische Sektion am GoetheanumPostfach, CH 4143 Dornach 1Telefon: 0041 61 706 43 15Telefon: 0041 61 706 43 73Telefax: 0041 61 706 44 74E-Mail: [email protected]: www.goetheanum-paedagogik.ch