Paradigmen & deren Veränderung - Universität Innsbruck · VO Wissenschaftstheo. Grundlagen | KMH...
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VO Wissenschaftstheo. Grundlagen | KMH 1
Paradigmen & deren Veränderung
Wissenschaftstheoretische Grundlagen der Geographie
716013 | SS 16 | EH5
Karl-Michael Höferl
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Rückblick
Forschungsperspektive → Forschungsstil
Je Forschungsstil: Vielzahl möglicher Methoden
» Eignung abh. von Untersuchungsziel & -frage
Es gibt nicht „den einen“ Forschungsprozess
→ Forschungsprozess = f(Untersuchungsfrage)
» Explorative Untersuchung → Finden von Hypothesen, Typen etc.
» Explanative Untersuchung → Evaluation von Hypothesen
» Deskriptive Untersuchung → Beschreibung von Merkmalsausprägungen
» Prognostische Untersuchung → Verlauf von Prozessen abschätzen
» Evaluative Untersuchung → Bewertung von Maßnahmen & Programmen
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Überblick
Was ist ein Paradigma?
Veränderung von Paradigmen
Multiparadigmatische
Geographie
Geographische Paradigmen
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Paradigma?
https://twitter.com/tonybosma/status/323517904085729280
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Ein Paradigmenwechsel?
Seit den Anfängen der geographischen Forschung:
→ Veränderung der Sicht des Forschers auf sein Forschungsobjekt
→ „Paradigmenwechsel“
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Was ist ein Paradigma?
Umgangssprachlich:
Paradigma = über einen Zeitraum hinweg
vorherrschendes Denk- & Deutungsmuster
» Ermöglicht das Erkennen
von Problemen …
» … & deren Lösung
BSP: Bipolare Welt,
Energiewende etc.
→ Motivieren, ordnen &
erklären Handlungen
in sozialen Systemen
http://www.cyburbia.org/gallery/data/6457/medium/reagan_map.jpg
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Paradigma bei Kuhn (1969)
„Einerseits steht er [das Paradigma; KMH] für die ganze
Konstellation von Meinungen, Werten, Methoden usw.,
die von den Mitgliedern einer gegebenen Gemeinschaft
geteilt werden. Andererseits bezeichnet er ein Element in
dieser Konstellation, die konkreten Problemlösungen, die,
als Vorbilder oder Beispiele gebraucht, explizite Regeln als
Basis für die Lösung der übrigen Probleme der 'normalen
Wissenschaft' ersetzen können.“ (Kuhn 1969:186)
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… eine irrationale Attacke auf wiss. Integrität (?)
Comte, Wittgenstein, Popper etc.
→ Wie Wissenschaft (= Begründungszusammenhang) ablaufen soll
» ahistorisch
» Ausblendung des Entstehungszusammenhangs
Kuhn:
» Fokus: Wissenschaftliche Praxen („Normal Science“)
& deren zeitliche Veränderung
» Beeinflussung Entstehungs- → Begründungszusammenhang
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Zum Verhältnis Entstehungs-& Begründungszusammenhang
(Eigene Überarbeitung von Damböck 2014)
Entstehungszusammenhang Begründungszusammenhang
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Was ist ein wiss. Paradigma?
Paradigma = „wissenschaftliche Schule“
»Ontologische Leitvorstellungen: Begriffe, Elemente & Grundstrukturen der zu erforschenden Wirklichkeit
»Theoretische Leitvorstellungen: Viable Theorien zu Phänomenen
»Methodologische Leitvorstellungen: „Gute & richtige“ Methoden & deren Auswahl
»Programmatisches Versprechen: „Phänomenklasse“ ausführlich erforschen
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@ ontologische Leitvorstellungen
Begriffe
Individuen
Eigenschaften
Konzepte
Relationen
(Max Planck Gesellschaft, 2014)
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Was ist ein wiss. Paradigma?
Paradigma = „wissenschaftliche Schule“
Set von Regeln welche angeben:
» Was beobachtet & überprüft werden soll;
» die Art der Fragen, welche gestellt & überprüft werden sollen;
» wie diese Fragen gestellt werden sollen;
» wie die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung interpretiert werden sollen.
→ Definition einer „Normalwissenschaft“
VO Wissenschaftstheo. Grundlagen | KMH 14 • Auswahl
Erhebungsinstrument & Analyseverfahren
• … • Interpretation &
Ergebnispräsentation
Vom Paradigma zur Forschungsperspektive & -stil
(Überarbeitung von: Bührmann & Schneider 2008:16)
Forschungs- stil
quantitativ-analytischer, qualitativ-verstehender
Forschungsstil
Methodologische Fundierungen & Gütekriterien
Methodik: Instrumente zur Datenerhebung & -auswertung
Reflexion der Einsatzmöglichkeiten & -grenzen der Methodik
• Erkenntnisinteressen • Forschungsfragen • Untersuchungs- &
Erhebungsziele
Forschungs-perspektive
z.B. deduktiv-nomologische,
hermeneutisch- interpretative Perspektive
Erkenntnistheoretische Grundlagen
Begrifflich-theoretische Grundlagen
Paradigma = „wissenschaftliche Schule“
»Ontologische Leitvorstellungen: Begriffe, Elemente & Grundstrukturen der zu erforschenden Wirklichkeit
»Theoretische Leitvorstellungen: Viable Theorien zu Phänomenen
»Methodologische Leitvorstellungen: „Gute & richtige“ Methoden & deren Auswahl
»Programmatisches Versprechen: „Phänomenklasse“ ausführlich erforschen
Theoret. & ontolog.
Leitvorst.
Methodolog. Leitvorst.
Paradigma Programm. Versprechen
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Paradigmen befähigen zur „Normalwissenschaft“
Paradigmen = Ermöglichungszusammenhang
intersubj. wissenschaftlichen Arbeitens
Paradigmen als angeeignete Denkmuster:
» allgemein Konsens zu Voraussetzungen,
Annahmen & Vorstellungen
→ Fragen an ein Erkenntnisobjekt stellen
Nutzung der Ontologie
→ Antwort auf diese Fragen finden
Passende Theorien & Methoden
(Eigene Überarbeitung von Damböck 2014)
„Unreife“ Wissenschaft
„Reife“ Wissenschaft
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Absage an einen langsamen & stetigen Fortschritt wissensch. Erkenntnis
Entwicklung einer Wissenschaft = Abfolge von Phasen
»Paradigmen „herrschen“ eine bestimmte Zeit
»Werden von anderen Paradigmen abgelöst
»Paradigmen = „inkommensurabel“
Unterschiedliche Ontologien, zu lösende Probleme etc.
Unterschiedliche Begriffsverwendungen
Unterschiedliche „Weltanschauungen“
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Warum verändern sich Paradigmen?
Der Normalfall (P1):
» Phänomene können logisch mithilfe des Paradigmas erklärt, beschrieben
und/oder prognostiziert werden
Die Krise:
» Phänomene können mithilfe des Paradigmas nicht erkannt, erklärt,
beschrieben und/oder prognostiziert werden
→ Phänomen stellt „Lehrmeinung“ (= Paradigma) in Frage
(Egner 2010:75)
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Ausweg „ad-hoc Hypothese“
Formulierung von „ad hoc Hypothesen“ durch Anhänger
des vorherrschenden Paradigmas:
» Für Einzelfall aufgestellte Hypothesen
» Reaktion auf kritische Argumente, die bestehende Theorie
widerlegen könnten
» Kompensation für Anomalien, welche durch Originaltheorie
nicht erklärt werden können
→ Theorie wird komplexer – nicht widerlegt
→ Vorhersagefähigkeit der Theorie einschränkt
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Die Revolution
Neue Theorien → Phänomen erklären
» Herausbildung konkurrierender Lehrmeinungen
» Oftmals persönlich & emotional geführte Auseinandersetzung um
Vorherrschaft in der Erklärung des Phänomens
Kipppunkt: Eine Lehrmeinung setzt sich durch
→ Paradigmenwechsel
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Kuhn zur „Revolution“
“Led by a new paradigm, scientists adopt new instruments and
look in new places. Even more important, during revolutions
scientists see new and different things when looking with
familiar instruments in places they have looked before. It is
rather as if the professional community had been suddenly
transported to another planet where familiar objects are seen
in a different light and are joined by unfamiliar ones as well.” (Kuhn 1970:111)
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Konsequenzen aus Revolution & Inkommensurabilität
Bei(m frühen) Kuhn: 1 vorherrschendes Paradigma
» „unterlegene“ Paradigmen → Vergessenheit
» Vollständiger Verdrängungswettbewerb
Paradox: Multiparadigmatische Geographie (z.B. Weichhart 2000)
» Erklärungskraft des „unterlegenen“ Paradigmas einschränken
(= Anomalien ausklammern) & weiter beibehalten
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Paradigmen & Geographie
Paradigmenwechsel in Geographie
→ oftmals als „Turn“ bezeichnet
» Argumentative Turn
» Linguistic Turn
» Cultural Turn
» …
„Seven revolutions in one generation,
that makes geography the ‚Latin Amerika‘
of the scientiftic community“ (Taylor 1976:141)
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Beginn der modernen akademischen Zeitrechnung
Frühes bis Ende 19. Jahrhundert
1820: Erster Lehrstuhl für Geographie (Ritter)
» Wichtige Autoren: von Richthofen & Ratzel
Bildung des deutschen Nationalstaats (Kaiserreich)
» Geographie = „vaterländische Erdkunde“
» Evolutionstheoretischer Einschlag:
natürliche Bedingungen auf der Erde
→ räumliches Wachstum (Kolonien):
„kulturhohe, vitale “ Völker
VO Wissenschaftstheo. Grundlagen | KMH 25
Ratzels „Politische Geographie“ im Überblick
(Gebhardt et al. 2011:53)
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Beginn der modernen akademischen Zeitrechnung
Frühes bis Ende 19. Jahrhundert
1820: Erster Lehrstuhl für Geographie (Ritter)
» Wichtige Autoren: von Richthofen & Ratzel
Bildung des deutschen Nationalstaats
» Geographie = „vaterländische Erdkunde“
» Evolutionstheoretischer Einschlag:
natürliche Bedingungen auf der Erde
→ räumliches Wachstum (Kolonien):
„kulturhohe, vitale“ Völker
Kuhn: Vorparadigmatische Phase „Unreife“ Wissenschaft
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Die „Klassische Geographie“
Ab 1880: Suche nach vereinheitlichenden Paradigmen
1,5 dominante Paradigmen:
» Landschaftskunde (Bobek, Schmithüsen)
» Länderkunde (Hettner)
Verklammerung „Integrationsstufenlehre“
Zielsetzungen:
» Struktur in „Erdbeschreibung“ bringen
» Vergleichbarkeit von Landschaften- & Ländern
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Die Landschaftskunde
Was ist eine Landschaft?
(Bobek & Schmithüsen 1949:8)
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Die Landschaftskunde
Was ist eine Landschaft?
„Gesamtinhalt eines Teilstücks der Erdoberfläche“
Gesamtinhalt:
» Integrationsprodukt der Teilkomplexe der Geosphäre (= Geofaktoren)
(Bobek & Schmithüsen 1949:8)
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Die Landschaftskunde
Was ist eine Landschaft?
„Gesamtinhalt eines Teilstücks der Erdoberfläche“
Gesamtinhalt:
» Integrationsprodukt der Teilkomplexe der Geosphäre (= Geofaktoren)
→ Landschaft = Charakteristische Verknüpfung von Geofaktoren
» = ganzheitliche „harmonische Raumorganismen“
Landschaft = Klammer gesell. & naturalen Geofaktoren
» Verbindung regelhaft auftretender Erscheinungen der natürlichen & kulturalen Sphäre
(Bobek & Schmithüsen 1949:8)
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Die Länderkunde (v.a. Hettner)
„Länderkunde (auch Regionale Geographie ...) beschreibt die Länder
der Erde als Individuen (idiographisch), d. h. als einmalig in Raum
und Zeit vorkommende Ausschnitte der Geosphäre oder des
Landkontinuums. Besonders die spezifische Lage, die geschichtliche
Situation und organisatorische Zusammenhänge machen einen [...]
Erdraum [...] zum Land.“
(Westermann Lexikon der Geographie 2001:26)
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Die Länderkunde (v.a. Hettner)
Länder = ganzheitliche Raumindividuen:
» Komplexität → nur idiographisch fassbar
Einheit des Landes = aus „Landesnatur“
(= Summe der Landschaften)
» Grenzen eines Landes = „natürlich“ gegeben
→ Landschaften mit ihren Regelmäßigkeiten
= Bausteine von Ländern
→ „Integrationsstufenlehre“
als logische Konsequenz
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Die Integrationsstufenlehre: Wie aus Landschaften Länder werden
(Weichhart 2012)
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Die Länderkunde (v.a. Hettner)
Länderkunde als Ordnungsschema
Zielsetzung: Ein Land als Gesamtheit aller in ihm vorkommenden Prozesse & Phänomene abbilden
Das Lösungsangebot von Hettner:
» Abfolge der Themenfelder (Geofaktoren) → Inhalt kausal auf Inhalten des vorherigen Abschnitts aufbauen
→ Abhängigkeit des Menschen eines Landes von natürlichen Gegebenheiten darstellen
→ Einmaligkeit (= idiographisches Wesen) des Landes darstellen
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Das „Hettner-Sandwich“ als Lösungsangebot
(Gebhardt et al. 2011:74)
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Ein Beispiel zum Themenbereich „Soziales“
„Bei allen Verschiedenheiten ... gehen gewisse
gemeinsame Züge durch alle diese (Mittelmeer-)
Völker hindurch, welchen Stammes sie auch seien,
die der Einheitlichkeit ihres Lebensschauplatzes
entstammen [...] Diese Eigenschaften der
mediterranen Menschheit, die ihr die
Beschaffenheit des Mittelmeergebietes aufgeprägt
hat, sind teils geistiger und sozialer Art, teils zeigen
sie sich in Wirtschaft und Siedlungen.“ (Phillipson 1904:207)
VO Wissenschaftstheo. Grundlagen | KMH 38
… multiparadigmatische Humangeographie
„Erstmals wird eine umfassende
Länderkunde des gesamten
Mittelmeerraums vorgelegt. Der Autor
zeigt die historischen, demographischen,
ökonomischen, ökologischen,
gesellschaftlichen und politischen
Vernetzungen […]“ (Wagner 2001)
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Das System der traditionellen Geographie (bei Werlen 1997:45)
(Baade, Gertel & Schlottmann 2005:36)
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Der Ausblick
Geographische Paradigmen