Geographische Paradigmen - Universität Innsbruck · VO Wissenschaftstheo. Grundlagen | KMH 2...

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VO Wissenschaftstheo. Grundlagen | KMH 1 Geographische Paradigmen Wissenschaftstheoretische Grundlagen der Geographie 716013 | SS 16 | EH6 Karl-Michael Höferl

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Geographische Paradigmen

Wissenschaftstheoretische Grundlagen der Geographie

716013 | SS 16 | EH6

Karl-Michael Höferl

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Rückblick

Paradigma = ontologisch, methodologisch & theoretische

Leitvorstellungen

Ermöglicht das Stellen & Beantworten von Fragen

Landschaftskunde = Fragen nach charakt. Verknüpfung von

Geofaktoren

Länderkunde = Fragen nach der Gesamtheit aller in einem Land

vorkommenden Prozesse & Phänomene

Integrationsstufenlehre = Bindeglied Landschaft - Land

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Überblick

Multiparadigmatische Geographie

Aktuelle human- (& physiogeo-

graphische) Paradigmen

Multiparadigmatik als Problem?

Disziplinäre Interdisziplinarität

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Multiparadigmatische Humangeographie

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Das System der traditionellen Geographie (bei Werlen 1997:45)

(Baade, Gertel & Schlottmann 2005:36)

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Paradigmenwechsel in der Geographie

Die „Kieler Wende“:

Geburtsstunde Human- & Physiogeographie → Absage an Paradigma der „Landschaftskunde“

Kritikpunkt 1: Dominanz der idiographischen Perspektive

» Induktion liefert keine neuen Theorien

→ Geographie als „Wissenschaft Light“

Kritikpunkt 2: Dominanz der deskriptiven Perspektive

» Landschafts- & Länderkunde erklärten keine Problemstellungen & keine Anhaltspunkte für Lösungen

→ Problemzentrierung

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Das System der moderner Geographie (Werlen 1993, Blotevogel 2001)

http://www.spektrum.de/lexikon/geographie/geographie/2917

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Eine recht unübersichtliche Paradigmenlandschaft Landschaftsgeographie

Raumwissenschaftliche Geographie

Welfare Geography

Radical Geography

Marxistische (strukturalistische) Geographie

Feministische Geographie

Verhaltensgeographie

Humanistische Geographie

Neue Regionale Geographie

Handlungstheoretische Geographie

Poststrukturalistische Geographie

Neue Kulturgeographie

Humanökologische Geographie

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Gegenwärtige Paradigmen der Sozialgeographie

Was auffällt:

Pluralität

Beziehungen

Zeitgleichheit

→ ≠ Überein-

stimmung mit Kuhns

Inkommensurabilität

(Weichhart 2008:147)

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Gegenwärtige Paradigmen der Sozialgeographie

3 Klassen von Paradigmen

» Teilw. auch auf Wirtschaftsgeographie anwendbar

» Hist. unterschiedliche Ursprünge → existieren parallel im Jetzt

(Weichhart 2008:147)

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Gegenwärtige Paradigmen der Sozialgeographie

3 Klassen von Paradigmen

» Teilw. auch auf Wirtschaftsgeographie anwendbar

» Hist. unterschiedliche Ursprünge → existieren parallel im Jetzt

1. Makroanalytische Paradigmen

» Ziel: Aufdecken räumlicher Struktur –

& Verhaltensregeln

→ Raumstrukturforschung

» Quant. Orientierung, große Datenmengen, GIS etc.

» Klassiker: Christallers Theorie der Zentralen Orte

(Weichhart 2008:147)

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Gegenwärtige Paradigmen der Sozialgeographie

(Weichhart 2008:147; Heineberg 2006:64ff.)

2. Mikroanalytische Paradigmen

Ausgangspunkt: Individuum

» Wahrnehmungs- & verhaltens-

wissenschaftliche Zugänge:

Klassiker: Cognitive Maps

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Gegenwärtige Paradigmen der Sozialgeographie

(Weichhart 2008:147; Heineberg 2006:64ff.)

2. Mikroanalytische Paradigmen

Ausgangspunkt: Individuum

» Wahrnehmungs- & verhaltens-

wissenschaftliche Zugänge:

Klassiker: Cognitive Maps

» Handlungstheoretische Zugänge:

Sinnbezogenes Agieren von Akteuren

Werte & Bedürfnisse → Sinn & Ziele

→ Handlungsentwurf → Vollzug → Folgen

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Gegenwärtige Paradigmen der Sozialgeographie

(Weichhart 2008:147; Heineberg 2006:64ff.)

3. Gesellschaftstheoretische Paradigmen

» Ausgangspunkt: Soziale Gruppen bzw. gesellschaftliche Strukturen

» Ziel: Dekonstruktion bestehender gesell. Verhältnisse

» Oftmals stark emanzipatorischer Anspruch: Veränderung

→ (normatives) Ziel: gesellschaftliche Veränderung

→ 2 Klassiker:

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Gegenwärtige Paradigmen der Sozialgeographie

(Weichhart 2008:147; Heineberg 2006:64ff.)

Politisch-emanzipatorische Paradigmen:

» Feministische Geographie

» Radical Geography

» Kritische Geographie

» Marxistische Geographie

» Kritik & Veränderung bestehender Rollen

→ Aufhebung soz. Ungerechtigkeit

→Aufgabe der Wertneutralitätsthese

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Gegenwärtige Paradigmen der Sozialgeographie

(Weichhart 2008:147; Heineberg 2006:64ff.)

Poststrukturalistische Paradigmen:

» Neue Kulturgeographie

» (Diskurs- & dispositiv-orientierte Arbeiten)

» Kultur = soz. Praxis der Sinnzuschreibung

Abkehr vom Logozentrismus

» Dekonstruktion bestehender

Sinnzuschreibungen, Rollen etc.

» Analytik von „Macht“ & ihrer „Geometrien“

BSP: Aufzeigen wie soz. Ungerechtigkeit erzeugt wird

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Paradigmen als „Komplementoren“ (Weichhart 2000)

„Nehmt doch alle verfügbaren […] und vergleicht sie, denn sie ergänzen einander. Die ‚blinden Flecken‘ des einen sind die Sehschärfen des anderen.“ (Weichhart 2004:12)

(Weichhart 2000:488)

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Paradigmen in der physischen Geographie

→ weniger „Latin Amerika“ als die Humangeographie

„In einer weitgehend positivistisch geprägten deutschen

Geomorphologie kann es allerdings durchaus passieren als ‚theorielastig‘

bezeichnet zu werden, wenn über Fallstudien hinausgehende Ansätze

und Konzeptionen diskutiert werden.“ (Dikau 2005:96)

Entwicklung von Paradigmen langsamer & überschaubarer

Auffällig:

» Geringere Auseinandersetzung über theoret. Grundlagen

» geringe zeitliche Überlappung unterschiedlicher Paradigmen

→ kein Widerspruch zu Kuhns These der Inkommensurabilität

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Die 2 Seiten des Pragmatismus

Die positive Seite: Handeln im Vordergrund

» Stellen von Forschungsanträgen

→ empirische Erforschung ausgewählter Phänomene

» Produzieren von Ergebnissen

Die negative Seite: Mangel an kohärenter wiss. Identität

» Starke Zersplitterung → Anlehnung an Nachbardisziplinen

„Spin-offs“ vs. reine Disziplin

» Kein klares Bild nach innen & außen, was phys. Geographie ausmacht

→ Problem für akad. Disziplin(?)

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Konsequenz dieser Teilung & Paradigmenvielfalt

„Die Hauptaktivitäten beider Bereiche positionieren sich

heute in ziemlich spezialisiert agierenden Arbeitskreisen, die

fast immer eine starke Affinität zu Nachbarwissenschaften

zeigen. Diese an sich positive Entwicklung vernachlässigt […]

ein thematisches, methodisches, theoretisches und

begriffliches Vakuum, das sich sukzessive vergrößert“

(Leser 2003:44)

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Integrative Geographie als Paradigma der Gesellschaft-Umwelt Forschung

Alternativ: „Dritte Säule“

Im deutschen Sprachraum

ab Beginn 2000

» An manchen Instituten prägend

für Forschungsprogramme

» Eigene Lehrstühle &

Forschungsgruppen für

„Integrative Geographie“

BSP: Hamburg & Bern

(http://www.uibk.ac.at/geographie/forschung/pdf/folder_forschung.pdf)

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Motivationen zu einer integrativen Geographie

Fachpolitische Perspektive:

» „Geography matters“ bzw. „Brückenfach Geographie“

→ Lösung gesellschaftlicher Probleme

» Schaffung neue Einheit

→ Abheben der Geographie

» Letztlich: Suche nach Alleinstellungsmerkmal

Inhaltliche Perspektive:

» Viele Phänomene & Problemstellungen

→ nicht ausschließlich durch Human- & Physiogeographie lösbar

Teildisziplinäre Erkenntnisgrenzen

» BSP: Schutz vor Naturgefahren, Umgang mit Klimawandel, Landnutzungswandel

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@Fachpolitische Perspektive

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http://www.internationalrivers.org/files/styles/600-height/public/images/resource/katy_yan/aralcaptain.jpg?itok=30uFLJDR

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http://hrbrief.org/wp-content/uploads/2012/11/4039371523_dd8acc7f91_b.jpg

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http://www.internationalrivers.org/files/styles/600-height/public/images/resource/katy_yan/aralcaptain.jpg?itok=30uFLJDR

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http://www.offsetwarehouse.com/media/wysiwyg/Behind_The_Scenes/Organic/AralSeaShrinking.jpg

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@ Inhaltliche Perspektive

(Ehlers 2008:239)

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Natur-Kultur Dichotomie - ein doppeltes Problem

Physiogeographische Perspektive

» Gesellschaft reduziert auf „Störfaktor“

Humangeographische Perspektive

» Vorstellung von Gesellschaft → Import auf Sozialwissenschaften

» „Soziale Welt“ reduziert auf System

rekursiver symbolischer Kommunikation

→ Materialität geht verloren

→ Perspektive die Fokus auf den Zusammenhang

von Gesellschaft & Umwelt (= Sinn & Materie) lenkt

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Aktueller Stand der Diskussion

Diskussion um die Überwindung dieser Natur-Kultur Dichotomie

→ Suche nach einem integrativ geographischen Paradigma

Stand 2014: Definitiv kein elaboriertes Paradigma

» Ontologischen Leitvorstellungen: ~

Deutscher Sprachraum: Weichhart, Wardenga, Ratter, Egner, Dikau etc.

» Methodologische Leitvorstellungen: -

Außerhalb der Geographie: Fischer-Kowalski & Umfeld

» (Sach-)Theoretische Leitvorstellungen: -

Außerhalb der Geographie: Fischer-Kowalski & Umfeld

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@ ontologische Leitvorstellungen

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Weichharts Vorschlag zur Ontologie (2005): Ein „sozialökologische Interaktionsmodell“

Ursprung:

Sozialökologie bei

Fischer-Kowalski

(& Weisz) ca. 1999

→ „Wiener Schule

der Sozialökologie“

(Weichhart 2011:948)

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Konklusio

Multiparadigmatische Geographie

» Komplementaritätsidealisten

(Eine) Konsequenz:

» innergeographisches Auseinanderdriften

» Suche nach „Brücke“

Baustelle „Dritte Säule – integrative Geographie“

» Anknüpfung an Forschung zu Socio-ecological Systems (SES)

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Der Ausblick

Wissenschaft &

„die Welt da draußen“