Paul Eber (1511–1569) - gko.uni-leipzig.de · Martin Luther in Kursachsen im Vorfeld der...

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Daniel Gehrt | Volker Leppin (Hrsg.) Paul Eber (1511–1569) Humanist und Theologe der zweiten Generation der Wittenberger Reformation EVANGELISCHE VERLAGSANSTALT Leipzig

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Daniel Gehrt | Volker Leppin (Hrsg.)

Paul Eber (1511–1569)Humanist und Theologe der zweiten Generation

der Wittenberger Reformation

EVANGELISCHE VERLAGSANSTALTLeipzig

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort................................................................................................................ 5

Inhaltsverzeichnis ......................................................................................... 12

Autorenverzeichnis ....................................................................................... 16

Abkürzungsverzeichnis ............................................................................... 17

Daniel Gehrt und Philipp Knüpffer Der vergessene Nachfolger Johannes Bugenhagens

Melanchthons in Wittenberg

Bericht und Ausblick über Forschung zu Paul Eber ............................................... 19

I – Konfessionelle Konsolidierung, Integration und Abgrenzung

Volker Leppin Paul Eber und die Lehrkontroversen seiner Zeit............................. 43

Thomas Töpfer »Schöner Rubin« oder »schlipffrige wortte«?

Territoriale Bekenntnisbildung in der zweiten Hälfte des Beispiel des Corpus doctrinae Philippicum........ ............... 64

Daniel Gehrt Ein Intermezzo der Eintracht?

Die Beziehung zwischen den Universitäten Wittenberg und Jena 1560er Jahre ..................... ............................................................................. 83

Inhalt

13

II – Paul Ebers Kompetenz- und Wirkungsbereiche

Meinolf Vielberg Eber als akademischer Lehrer an der Philosophischen

Wittenberg ......................................................................................... 134

Andreas Gößner Paul Ebers Tätigkeit an der Theologischen Fakultät

und in seinen Kirchenämtern ........................................... 162

Christian Winter Paul Eber als kirchenpolitischer Berater

Sachsen ....................................................................... 173

III – Paul Eber als Humanist

Stefan Rhein Paul Eber als neulateinischer Dichter

Eine Annäherung ......................................................................................................... 196

Christoph Bultmann Paul Ebers Gelehrsamkeit

Die Beispiele der Contexta Populi Iudaici Historia (1548) und Germanicolatina (1565) ................................................................................... 258

Hans-Peter Hasse Paul Ebers Calendarium historicum (1550) ................................................ 288

Klaus-Dieter Herbst Die Astronomie bei Paul Eber ........................................................................... 320

Inhalt

14

IV – Paul Eber als Theologe und Seelsorger

Johannes Hund Vom Philippisten zum Melanchthonianer

Die Entwicklungen in Paul Ebers Abendmahlslehre im Kontext Abendmahlsstreites ............................................................................. 341

Robert Kolb Paul Eber as Preacher ......................................................................................... 375

Gerhard Bode Preaching Luther’s Small Catechism

Paul Eber’s Catechismuspredigten (1562) ............................................................... 401

Stefan Michel Das gesungene Wort Gottes

Paul Ebers Gebrauch Geistlicher Lieder in Haus, Schule und Kirche ............. 424

V – Zur Person und Rezeption Paul Ebers

Philipp Knüpffer Patrono suo et amico colendo

Paul Eber und Friedrich Bernbeck ̶ eine lebenslange Freundschaf........................................................................................................................ 444

Doreen Zerbe Das Epitaph für Paul Eber

Ein Erinnerungsbild der Wittenberger Reformation ............................................ 486

Inhalt

15

VI – Anhänge

Franziska König Bibliographie der gedruckten Werke und Beiträge Paul Ebers .... 511

Christiane Domtera-Schleichardt Paul Ebers Beiträge in den gedruckten Wittenberger

publice proposita .................................................................................. 565

Paul A. Neuendorf Die Korrespondenzpartner Paul Ebers in den Beständen

Forschungsbibliothek Gotha .................................................................. 587

Personenregister ......................................................................................... 601

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»Schöner Rubin« oder »schlipffrige wortte«? Territoriale Bekenntnisbildung in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts am Beispiel des Corpus doctrinae Philippicum1

Von Thomas Töpfer

I. Autorität oder Gehilfe? Melanchthon und die kenntnisbildung in Kursachsen

Im Sommer 1558, zwölf Jahre nach den Ereignissen des Schmalkaldischen Krieges und der Belagerung der Stadt durch Kaiser Karl V., erhielt das Wit-tenberger Schloss neue Turmhauben. Philipp Melanchthon wurde beauftragt für die Turmkugeln einen Gedächtnistext zur Geschichte von Stadt, Schloss und Dynastie zu verfassen, in dessen Mittelpunkt die Reformation und das Leben des 1553 verstorbenen Kurfürsten Moritz von Sachsen standen.2 Der Text wurde Kurfürst August von Sachsen im Entwurf vorgelegt und gebilligt. Dieser forderte am 4. August 1558 den Schösser zu Wittenberg auf, den Text auf Pergament schreiben zu lassen und Melanchthon zu

vermelden, daß wir gerne sehen wollten, das seiner neben dem Herrn Doctori Martino Luthero seliger, auch darin gedacht würde. Da er aber Solches von ihm selbst zu stellen vielleicht Bedenken tragen würde, so magst du [der

1 Mit Anmerkungen versehene Fassung des Vortrags vom 10. November 2011, dessen Charakter bis auf einige Ergänzungen beibehalten wurde. Für wichtige Quellenhin-weise und die Überlassung von Textexzerpten danke ich Dr. DANIEL GEHRT (For-schungsbibliothek Gotha) sehr herzlich. Dem Wunsch der Herausgeber, das konfessi-onspolitische Umfeld des Wirkens Paul Ebers abzustecken, ist es geschuldet, dass dessen Persönlichkeit und Wirken im vorliegenden Beitrag nur am Rande behandelt werden kann. Generell sei hier auf den Beitrag von CHRISTIAN WINTER im vorliegenden Band verwiesen, der insbesondere Ebers Rolle während des Altenburger Religionsge-sprächs 1568/69 thematisiert. 2 Miszelle, in: Archiv für Sächsische Geschichte 5 (1867), 230–231; GÜNTHER WARTEN-

BERG, Fürst und Reformator. Philipp Melanchthon als Berater des Kurfürsten August von Sachsen in Bildungs- und Kirchenfragen, in: HCh 24 (2000), 75–101, hier 83.

»Schöner Rubin« oder »schlipffrige wortte«?

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Schösser T.T.] solches mit unsertwegen mit dem Herrn Magistro Paulo Ebero reden.3

Eber hat diesen Auftrag erfüllt. Der Text erwähnt Melanchthon neben Luther als Verfasser wichtiger Bekenntnisschriften, »aus denen die reine Lehre zu erkennen ist«, spricht ihm also noch zu Lebzeiten eine herausgehobene Stel-lung an der Seite Luthers zu.4 Paul Eber ließ es sich aber auch nicht nehmen, sich selbst in diesem auf kurfürstlichen Wunsch entstandenen Gedächtnistext zu verewigen. Im Schlussabschnitt weist er sich als Melanchthons und D. Lu-theri discipulus sowie als Wittenberger Stadtpfarrer in der Nachfolge Johannes Bugenhagens aus und bekennt sich damit zu seinen wichtigen Lehrern und Vorbildern.5

Das gleichberechtigte Nebeneinander von Luther und Melanchthon bil-dete sowohl aus Sicht des Kurfürsten August als auch im Selbstverständnis der Universität den geistigen Mittelpunkt der Leucorea und des sächsischen Kirchenwesens insgesamt.6 Melanchthons Tod im April 1560 veranlasste den Kurfürsten deshalb zu einem ausführlichen Kondolenzschreiben an die Leu-corea, in das auch die Klage über »allerley Sophisterei vnd [...] mehr zurrut-tung, jn vnserer wharen Christlichen Religion« einfloss, hatte doch August bis zuletzt die Hoffnung, dass »durch des Mannes [Melanchthons T.T.] reine Christliche lehre [...] vnd entlichen durch seine autoritet solche eingefallene zwispalt gentzlichen hette gestillet vnd aufgehoben werdenn mugen«.7

Fünfzehn Jahre später, am Ende des Jahres 1575 nahm Kurfürst August erneut Stellung zu der Beziehung Luthers und Melanchthons und zum Rang des Praeceptors Germaniae, allerdings nicht im Rahmen einer offiziellen Ver-lautbarung, sondern im internen Schriftwechsel mit seinen Räten sowie unter veränderten konfessionspolitischen Rahmenbedingungen. An den Rand eines

3 Archiv für Sächsische Geschichte 5 (1867) (s. Anm. 2), 230. 4 CR 9, Nr. 6568, 582–587, hier 585. 5 Ebd., 587. 6 Siehe hierzu demnächst THOMAS TÖPFER, Tradition und Authentizität. Die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Universität Wittenberg in den Krisenzeiten um 1550, in: MATTHIAS ASCHE/HEINER LÜCK/MANFRED RUDERSDORF/MARKUS WRIEDT (Hrsg.), Institutio-nen und Formen gelehrter Bildung um 1550. Die Leucorea zur Zeit des »späten« Me-lanchthon, Tagungsband in Druckvorbereitung. 7 NIKOLAUS MÜLLER, Philipp Melanchthons letzte Lebenstage. Heimgang und Bestattung nach den gleichzeitigen Berichten der Wittenberger Professoren, Leipzig 1910, 137.

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Gutachtens8 seines Rates Lorenz Lindemann zu den innerlutherischen Kon-kordienbemühungen merkte der Kurfürst an, niemand bezweifle, dass Melan-chthon »fyl guttes neben doctor Lutter im anfange in anrichtunck dyser lehr gethan [...] das aber philipus vor D. Lutter gezogen und im mer er [= Ehre] als Luttero zugemessen, kann ich nichtt loben, man lasse in eyne thrauen gehul-ffen Luteri bleyben, und Rume seynenn fleys nichtt hoher als Lutterus geyst«.9 Besonders das nach Luthers Tod entstandene Werk Melanchthons galt nicht mehr viel in den Augen des Kurfürsten, jedenfalls sollte niemand gezwungen werden, es zu lesen und danach zu predigen.

Wie die an den Anfang dieses Beitrages gestellten Aussagen Kurfürst Au-gusts zeigen, war der Prozess der Bekenntnisbildung in Kursachsen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts im Kern auch die »Auseinandersetzung um die Autorität von Philipp Melanchthon und Martin Luther«.10 Den Höhe-punkt des Einflusses und der normativen Geltung der Lehre und Schriften Melanchthons bildete das erstmals in dessen Todesjahr 1560 in Leipzig er-schienene Corpus doctrinae, das mit den unterschiedlichen Zusätzen Philippi-cum, Christianae und Misnicum versehen und in Kursachsen sowie in zahlrei-chen anderen lutherischen Territorien Verbreitung und Anerkennung fand.11

8 SHStA Dresden, Loc. 10303/2, Concordia I, 12r–30r. Der Entwurf des Gutachtens stammte von Lorenz Lindemann (ebd., Kopialbuch 396, 361r–382r), unterzeichnet ha-ben neben ihm Hans von Bernstein, Damian von Sebottendorf und David Pfeifer, 25. November 1575. 9 SHStA Dresden, Loc. 10303/2, 18r. Text auch bei HANS-PETER HASSE, Zensur theologi-scher Bücher in Kursachsen im konfessionellen Zeitalter. Studien zur kursächsischen Literatur- und Religionspolitik in den Jahren 1569–1575, Leipzig 2000, 237, Anm. 113. Generell zu diesem Gutachten ebd., 235–239. 10 ERNST KOCH, Auseinandersetzungen um die Autorität von Philipp Melanchthon und Martin Luther in Kursachsen im Vorfeld der Konkordienformel von 1577, in: LuJ 59 (1992), 128–159. Siehe hierzu auch IRENE DINGEL, Ablehnung und Aneignung. Die Be-wertung der Autorität Martin Luthers in den Auseinandersetzungen um die Konkordi-enformel, in: ZKG 105 (1994), 35–57; ROBERT KOLB, Die Umgestaltung und theologische Bedeutung des Lutherbildes im späten 16. Jahrhundert, in: HANS-CHRISTOPH RUBLACK (Hrsg.), Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland, Heidelberg 1992, 202–234; ULRIKE LUDWIG, Zwischen Philippismus und orthodoxem Luthertum. Der kursäch-sische Reformprozess und das Melanchthonbild in Kursachsen in den Jahren 1576 bis 1580, in: IRENE DINGEL/Armin KOHNLE (Hrsg.), Philipp Melanchthon. Lehrer Deutsch-lands, Reformator Europas, Leipzig 2011, 99–114. 11 Zum Vorbildcharakter des Corpus doctrinae, das einen in zahlreiche Territorien aus-strahlenden »melanchthonischen Typ« begründete und auch – wie in Pommern – einen »melanchthonisch-lutherischen Mischtyp«, also Sammlungen unter Einschluss von Lu-ther-Schriften, beeinflusste, siehe ERNST KOCH, Art. Konkordienformel, in: TRE Bd. 19, 1990, 472–483, hier 472.

»Schöner Rubin« oder »schlipffrige wortte«?

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II. Forschungsstand

Die Bekenntnisbildung im Zeichen der Pluralisierung innerhalb des Luther-tums nach 1547 ist bekanntlich ein komplexer, kirchen- wie allgemeinge-schichtlich höchst bedeutsamer Prozess, der forschungsgeschichtlich auf eine lange Tradition zurückblicken kann – beginnend bei der annähernd »zeitge-nössischen« Sichtweise Leonhard Hutters zu Beginn des 17. Jahrhunderts, über Valentin Ernst Löscher im 18. Jahrhundert bis zu Heinrich Heppe im 19. Jahrhundert. 12

In den vergangenen Jahren wurde dieses vermeintlich altbekannte Thema kirchengeschichtlich unter neuen Perspektiven und Fragestellungen in den Blick genommen, ausgehend von den einschlägigen Untersuchungen von Inge Mager über »Die Konkordienformel im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüt-tel« und Irene Dingel über »Die öffentliche Diskussion um das lutherische Konkordienwerk am Ende des 16. Jahrhundert«.13 Concordia controversa be-reits der Titel der letztgenannten Arbeit bricht mit einer langen historiogra-phischen Tradition, die man als eine auf das Konkordienbuch ausgerichtete Teleologie bezeichnen könnte und durch die den vielfältigen lutherischer Be-kenntnisschriften oder -sammlungen der 1560er und 70er Jahren ex post die Legitimität ab- oder das Stigma »Irrweg« zugesprochen wurde.

Bezogen auf Kursachsen ergibt sich hier ein ähnliches Bild. Bekanntlich hatten die Bemühungen um das Konkordienwerk erst Erfolg, als nach 1574 Kurfürst August von seinem bisherigen konfessionspolitischen Kurs, in des-sen Mittelpunkt das Festhalten an der exklusiven Wittenberger Reformation in der Tradition des späten Melanchthon stand, abging und sich den bereits

12 LEONHARD HUTTER, Concordia Concors. De Origine & Progressu Formulae Concordiae Ecclesiarum Confessionis Augustanae, benutzte Ausgabe Frankfurt am Main/Leipzig 1690; VALENTIN ERNST LÖSCHER, Ausführliche Historia Motuum zwischen den Evange-lisch-Lutherischen und Reformirten, In welcher Der Lauff der Streitigkeiten Acten-mä-ßig erzehlet, und die historische Warheit Wider Hospiniarum, Becmannum, G. Arnoldum und andere gerettet wird. Dritter Theil. Nebst einer Friedfertigen Anrede An die Reformirten Gemeinden in Teutschland, Frankfurt am Main/Leipzig 1724; HEIN-

RICH HEPPE, Geschichte des deutschen Protestantismus in den Jahren 1555–1581, 4 Bde., Marburg 1852–1859. 13 INGE MAGER, Die Konkordienformel im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel. Ent-stehungsbeitrag, Rezeption, Geltung, Göttingen 1993; IRENE DINGEL, Concordia contro-versa. Die öffentlichen Diskussionen um das lutherische Konkordienwerk am Ende des 16. Jahrhunderts, Gütersloh 1996. Den Forschungsstand fasst jetzt zusammen Robert KOLB, Die Konkordienformel. Eine Einführung in ihre Geschichte und Theologie, Göt-tingen 2011.

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laufenden Einigungsbemühungen anschloss.14 Dieser konfessionspolitische Richtungswechsel, der eng mit der als »Sturz« bezeichneten Abwendung von den als »Kryptocalvinisten« pejorativ bezeichneten Philippisten verbunden war, wird bis heute häufig als Bruch, ja als Bekenntniswechsel gedeutet.15 Ge-brochen worden sei mit dem spätestens 1566 zur offiziellen Bekenntnisgrund-lage Kursachsens erklärten Sammlung wichtiger Melanchthon-Schriften, dem Corpus doctrinae Philippicum. Aber hält diese in Handbüchern und Studien bis in jüngste Zeit weit verbreitete Darstellung der Überprüfung an den Quellen stand? Ist das Corpus doctrinae Philippicum als künftige Bekenntnisgrundlage Kursachsens konzipiert worden? Wann wurde es in diesen Status erhoben? Wann endete dessen »kirchenregimentliche Autorisation«?16 Wurde es jemals formell abgeschafft?

Gemessen an der historischen Relevanz dieser Entwicklungen ist die For-schungslage speziell zu den 1560er Jahren dürftig, was auch damit zusam-menhängt, dass die Quellenbasis zur Entstehung und frühen Rezeption des Corpus doctrinae Philippicum dünn ist.17 Die Hintergründe des Drucks des Bu-ches durch den Leipziger Buchhändler Ernst Vögelin 1560 liegen weiterhin im Dunkeln. Zu der Frage, wann genau und in welcher Weise das Corpus

14 Vgl. ERNST KOCH, Ausbau, Gefährdung und Festigung der lutherischen Landeskirche von 1553 bis 1601, in: HELMAR JUNGHANS (Hrsg.), Das Jahrhundert der Reformation in Sachsen, Leipzig 22005, 191–218, hier 201–205. 15 Zur Forschungsgeschichte siehe unter diesem Gesichtspunkt die neueren Arbeiten von HASSE, Zensur theologischer Bücher (s. Anm. 9), 13–19; ULRIKE LUDWIG, Philippis-mus und orthodoxes Luthertum an der Universität Wittenberg. Die Rolle Jakob Andreäs im lutherischen Konfessionalisierungsprozeß Kursachsens (1576–1580). Münster 2009, 24–34, 78ff.; JOHANNES HUND, Das Wort ward Fleisch. Eine systematisch-theologische Untersuchung zur Debatte um die Wittenberger Christologie und Abend-mahlslehre in den Jahren 1557–1574, Göttingen 2006, 14ff. Aus allgemeinhistorischer Perspektive plädiert vor allem Jens Bruning für eine neue Sichtweise auf die persönli-chen und politischen Motive des Kurfürsten August von Sachsen. Siehe JENS BRUNING, Die Nähe zur Macht – Peucer und der kursächsische Hof, in: Zwischen Katheder, Thron und Kerker. Leben und Werk des Humanisten Caspar Peucer 1525–1602. Ausstel-lungskatalog, Bautzen 2002, 105–112; ders., Caspar Peucer und Kurfürst August. Grundlinien kursächsischer Reichs- und Konfessionspolitik nach dem Augsburger Re-ligionsfrieden (1555–1586), in: HANS-PETER HASSE/GÜNTHER WARTENBERG (Hrsg.), Caspar Peucer (1525–1602). Wissenschaft, Glaube und Politik im konfessionellen Zeit-alter, Leipzig 2004, 157–174. 16 GEORG KAWERAU, Art. Corpus doctrinae, in: RE Bd. 4, 31898, 293–298, hier 294. 17 Explizit diesem Thema widmet sich lediglich WOLF-DIETER HAUSCHILD, Corpus Doctri-nae und Bekenntnisschriften. Zur Vorgeschichte des Konkordienbuches, in: MARTIN BRECHT/REINHARD SCHWARZ (Hrsg.), Bekenntnis und Einheit der Kirche. Studien zum Konkordienbuch, Stuttgart 1980, 235–252. Wichtige Beobachtungen zur Struktur des Corpus doctrinae liefert IRENE DINGEL, Melanchthon und die Normierung des Bekennt-nisses, in: GÜNTER FRANK (Hrsg.), Der Theologe Melanchthon, Stuttgart 2000, 195–211.

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doctrinae Philippicum zur Bekenntnisgrundlage Kursachsens gemacht worden ist, stellt Hans-Peter Hasse – einer der besten Kenner der Dresdner Quellen-überlieferung – fest, ihm sei es nicht gelungen, »ein entsprechendes Mandat zu finden«.18 Im Folgenden können deshalb nur einige Beobachtungen anhand der verfügbaren Quellen formuliert werden.

III. Zäsur oder Prozess? Zur Entstehung des Corpus doctrinae Philippicum und dessen »Einführung« im Kurfürstentum Sachsen

Die verschiedenen teils zeitgenössischen, teils ex post entstandenen Erklä-rungen und Vermutungen zur Entstehung des Corpus sind bislang kaum sys-tematisch aufgearbeitet worden. Melanchthon, auf dessen im Frankfurter Re-zess geäußerte Idee einer »Sammlung von Lehrschriften« das Vorhaben im Ursprung zurückgeht, plante zu keinem Zeitpunkt eine territoriale Lehrnorm zusammenzustellen, vielmehr sollte der »Gesamtzusammenhang« der Lehre deutlich werden.19 Damit wurde ein völlig anderer Weg beschritten als im er-nestinischen Sachsen, wo – ebenfalls als Reaktion auf das Scheitern der Frankfurter Verhandlungen – mit dem »Konfutationsbuch« eine territoriale Lehrnorm eingeführt wurde, die nicht auf der Zusammenstellung von Be-kenntnistexten sondern auf der konkreten Verurteilung der Lehrmeinungen der innerlutherischen Gegner basierte.20

18

HASSE, Zensur theologischer Bücher (s. Anm. 9), 297, Anm. 415: »Die Umstände des Drucks des Corpus doctrinae christianae [...] sind bislang nicht hinreichend geklärt. Eine Untersuchung [...] bei der die Archivalien des Leipziger Konsistoriums herange-zogen werden, erscheint dringend notwendig«. Allerdings enthalten die mittlerweile im Staatsarchiv Leipzig verfügbaren Bestände des Konsistoriums kaum Unterlagen aus dieser Zeit. Einer Überprüfung bedarf auch die Behauptung, das Corpus doctrinae Philippicum sei als Grundlage für Eide, beispielsweise im Rahmen der Universitäten verwendet worden. Die Auffassung, Kurfürst August selbst habe die Zusammenstel-lung des Corpus veranlasst, trifft mit Sicherheit nicht zu. Siehe GUSTAV DROYSEN, Ge-schichte der Gegenreformation (= Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellungen, 3. Abt., 3. Th.), Berlin 1893, 81. 19 Zur Anwendung des Begriffs Corpus doctrinae im Frankfurter Rezess siehe DINGEL, Melanchthon und die Normierung des Bekenntnisses (s. Anm. 17), 201, Zitat ebd. Zu den Motiven Melanchthons bei der Wahl des Titel Corpus doctrinae (Einfluss der ernes-tinischen Theologen Wigand und Judex) siehe ROBERT KOLB, The first protestant »Biblical theology«: The Syntagma of Johannes Wigand and Matthaeus Judex, in: Hermeneutica sacra. Studien zur Auslegung der Heiligen Schrift im 16. und 17. Jahrhundert. Bengt Hägglund zum 90. Geburtstag, Berlin/New York 2010, 189–206, hier 200f. 20 Ebd., 206. Zum Entstehungskontext des Konfutationsbuches siehe DANIEL GEHRT, Er-nestinische Konfessionspolitik. Bekenntnisbildung, Herrschaftskonsolidierung und

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Bekanntlich enthielt das Corpus doctrinae neben den drei altkirchlichen Bekenntnissen ausschließlich Schriften Melanchthons, darunter sowohl äl-tere bekenntnismäßige als auch aktuelle kontroverstheologische Texte.21 Die-ses Nebeneinander unterschiedlicher Textgattungen und Zeitschichten hat I-rene Dingel schlüssig mit den beiden Hauptmotiven Melanchthons erklärt. Dem Reformator ging es bei der Zusammenstellung des Corpus einerseits um Normierung, also um einen »Maßstab für Bekenntnis und Lehre in ihren un-terschiedlichen Bezügen, in Kirche und Schule«.22 Andererseits wurde damit der »Nachweis der Kontinuität der rechten Lehre« und »die apologetische Ab-grenzung, Präzisierung und Einordnung der Melanchthonischen Lehre in der Bekenntniskontinuität« angestrebt.23 Zwischen den normierenden und den apologetischen, auf Abgrenzung vor allem gegenüber den ernestinischen The-ologen zielenden Interessen Melanchthons bestand natürlich eine gewisse Spannung, die sich auch in der unterschiedlichen Gewichtung kontroversthe-ologischer Fragen in der lateinischen und deutschen Ausgabe des Corpus doctrinae niederschlug.24 Die in beide Ausgaben aufgenommene, von Melan-chthons Schwiegersohn Caspar Peucer verfasste »Erinnerung an den Leser«

dynastische Identitätsstiftung vom Augsburger Interim 1548 bis zur Konkordienfor-mel 1577, Leipzig 2011, 125–137; VOLKER LEPPIN, Bekenntnisbildung als Katastrophen-verarbeitung. Das Konfutationsbuch als ernestinische Ortsbestimmung nach dem Tode Johann Friedrichs, in: ders./GEORG SCHMIDT/SABINE WEFERS (Hrsg.), Johann Friedrich I. – der lutherische Kurfürst, Gütersloh 2006, 295–306, hier v.a. zur endzeitlichen Aus-richtung der Schrift 305f. 21 Neben der Confessio Augustana, deren Apologie, die Confessio Saxonica von 1551, die Loci Theologici von 1556, das Examen Ordinandorum von 1554, die Antwort Me-lanchthons auf die Inquisitionsartikel der Jesuiten in Bayern (1559), die Refutatio er-roris Serveti et Anabaptistarum sowie – nur in der lateinischen Ausgabe – die Respon-sio controversii Stancari von 1553. Der Bestand der enthaltenen Lehrschriften war allerdings in den verschiedenen lateinischen und deutschen Ausgaben des Corpus doctrinae alles andere als stabil. Dies betraf vor allem die Frage, welche Fassung der Confessio Augustana aufgenommen wurde. Teilweise wurden die Confessio Augustana invariata und variata sogar nebeneinander veröffentlicht. DINGEL, Melanchthon und die Normierung des Bekenntnisses (s. Anm. 17), 203f. 22 Ebd., 202. 23 Ebd., 203, 211. 24 So war die Responsio controversii Stancari nur der in der lateinischen Ausgabe ent-halten, in deren Vorwort (16. Februar 1560) Melanchthon stärker auf eigene theologi-sche Positionen verweist, CR 9, Nr. 6932, 1050–1055. Vgl. DINGEL, Melanchthon und die Normierung des Bekenntnisses (s. Anm. 17), 205f. Das Vorwort zur deutschen Ausgabe vom 29. September 1559 (CR 9, Nr. 6830, 929–931) betont hingegen v.a. das Summarische des Corpus und versucht den »individuellen Charakter« der Textsamm-lung eher zu relativieren. Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen. Ein Arbeits-buch, Bd. 3: Reformation, ausgewählt und kommentiert von VOLKER LEPPIN, Neukir-chen-Vluyn 2005, 230.

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verschärfte die kontroverstheologische Dimension des Werks nachhaltig, denn Peucer brachte darin »das Corpus Doctrinae als Lehrautorität beanspru-chenden Gegenentwurf« zu Matthias Flacius und seinen Anhängern in Stel-lung.25 Die Bedeutung des Leipziger Verlegers Vögelin, der für die Umsetzung der Idee Melanchthons in ein ökonomisch erfolgreiches, durch Vorworte des Reformators gewissermaßen autorisiertes Editionsprojekt sorgte, darf im Rah-men der Entstehungsgeschichte nicht unterschätzt werden.26

Über die Hintergründe der Textauswahl und der Zusammenstellung des Corpus doctrinae Philippicum war bereits den Zeitgenossen wenig bekannt. Als die Wittenberger Theologische Fakultät während der konfessionspoliti-schen Auseinandersetzungen in Kursachsen in einer Neuausgabe der »Schmalkaldischen Artikel« 1575 dem Vorwurf entgegentraten, dass es »eine [...] Todsünde gewesen [...] das vnter den Buechern Corporis doctrinae keins der Bücher und Schrifften Herrn Lutheri [...] nicht gesatzt sein oder gefunden werden«,27 gaben sie unumwunden zu, dass sie nicht wüssten, warum das so gemacht worden sei »als die wir solch werck nicht gubenirt/ noch dabey ge-wesen«.28 Durch die Zusammenstellung der Werke Melanchthons werden aber andere Werke nicht verworfen, so die Wittenberger. Das Corpus sei »gleich als ein schöner Rubin oder Türkis gegen dem andern zu achten vnd zu rechnen gewesen« und von Melanchthon bewusst als Sammlung seiner »priuat Schrif-ten« konzipiert worden.29

Spätere Versionen der Entstehungs- und Editionsgeschichte stehen ganz unter dem Eindruck des Verhältnisses des jeweiligen Verfassers zu Melan-chthon, wie zwei Beispiele aus der unmittelbaren Umgebung des Kurfürsten August zeigen. Im Entwurf zu einem Gutachten vom November 1575 über die Chancen des Konkordienwerkes äußert sich der Melanchthon und dessen Werk freundlich gesonnene Rat Lorenz Lindemann30 über das Corpus doctri-

25 CR 9, Nr. 6840, 931–934. Vgl. DINGEL, Melanchthon und die Normierung des Be-kenntnisses (s. Anm. 17), 206. 26 HANS-PETER HASSE, Der »Wittenberger Katechismus« (1571). Ein umstrittenes Schul-buch in Kursachsen. Ein Beispiel für konfessionelle Identifikations- und Abgrenzungs-prozesse, in: HEINZ-WERNER WOLLERSHEIM u.a. (Hrsg.), Die Rolle von Schulbüchern für Identifikationsprozesse in historischer Perspektive, Leipzig 2002, 107–122, hier 109. 27 Schmalcaldische Artickel/ So da hetten sollen auffs Concilium zu Mantua/ oder wo es wuerde sein/ von vnsers Theils wegen vberantwortet werden ... Geschrieben durch D. Martin Luth. ... Von den Theologen der Vninersitet Witteberg in Druck wider ver-ordnet, Wittenberg 1575 (Exemplar Universitätsbibliothek Leipzig, Signatur Symb.172-f), A3v. 28 Ebd., C3v. 29 Ebd., C3r, C4r. 30 Zur Biographie Lindemanns siehe HASSE, Zensur theologischer Bücher (s. Anm. 9), 278–285.

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nae Philippicum etwa im Sinne der soeben zitierten Stellungnahme der Wit-tenberger Theologen und nimmt eine allerdings verhaltene Distanzierung von diesem Werk vor, dem er irreführende und inhaltliche Widersprüche vorwirft. Lindemann äußert sich – in einer später getilgten Passage des Konzepts – aber auch zur Entstehung des Corpus doctrinae Philippicum. Melanchthon habe diese Zusammenstellung seiner Werke eigentlich nicht gewollt, erst nach sei-nem Tod

hat man zu Leipzig im consistorio durch anregung des buchdruckers M. Vo-gelins [...] deliberirt und fur die Regirung bracht, ob nicht die furnembsten bucher Philippi in ein buch zufassen und demselben den namen Corpus doctrinae philippicum zugeben sein sollte, domit es in die kirchen dieser lande vorkaufft und einvorleibt würde.31

Hier vermittelt Lindemann den Eindruck, das Corpus sei in erster Linie ein Verhandlungserfolg des Verlegers gewesen. Weiterhin betont er, als ein rich-tiges Corpus doctrinae – normam doctrinae seien die Schriften Melanchthons erst während und nach dem Scheitern des Altenburger Religionsgesprächs 1569 von den Wittenberger Theologen verwendet worden.32 Dies deckt sich mit dem Quellenbefund, dass erst 1569 die Verpflichtung der Pfarrer auf eine

31 Dieses eminent wichtige Gutachten ist sowohl im Konzept (SHStA Dresden, Kopial-buch 396, 361r–382r, hier 370r–v) als auch in der redigierten und gekürzte Ausfertigung (Loc. 10303/2, 12r–30r) zu benutzen. Die Verfasserschaft Lindemanns ist nur aus dem Konzept ersichtlich. Siehe HASSE, Zensur theologischer Bücher (s. Anm. 9), 294, zum Kontext des Zitats siehe 297. 32 Siehe die entsprechende Passage in Lindemanns Gutachten-Entwurf bei HASSE, Zen-sur theologischer Bücher (s. Anm. 9), 298, Anm. 416. Die Wittenberger Theologen hät-ten den Titel Corpus doctrinae für die Sammlung der Melanchthonschriften ursprüng-lich abgelehnt und erst »hernach zu ihrem vortel in colloquio Alden[burgensis] solchs auch brauchen und das Corpus doctrine allein für ein Normam brauchen wollen«. Die von Lindemann behauptete Aufwertung des Corpus doctrinae nach dem Altenburger Religionsgespräch wurde auch während der Konkordienverhandlungen zwischen den Wittenberger Theologen und Jakob Andreae im August 1569 sichtbar. Georg Major und Paul Eber verwiesen nach den Erfahrungen in Altenburg auf die Verbindlichkeit des Corpus doctrinae in Kursachsen und schlugen die Einigung möglichst vieler Reichs-stände auf diese Bekenntnisgrundlage vor. Siehe hierzu den Bericht Majors und Ebers über die Beratungen mit Andreae in HUTTER, Concordia Concors (s. Anm. 12), Caput II, 118–122, hier 119. Zu Andreaes Aufenthalt MAGER, Die Konkordienformel, 67f. Zum Altenburger Religionsgespräch GEHRT, Ernestinische Konfessionspolitik (s. Anm. 20), 328–334; KOCH, Auseinandersetzungen (s. Anm. 10), 129f.; ROBERT KOLB, Bound Choice, Election, and Wittenberg Theological Method: From Martin Luther to the Formula of Con-cord, Grand Rapids, Mich. 2005, 128–134.

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Bekenntnisnorm erfolgte, die das Corpus doctrinae Philippicum ausdrücklich enthielt.33

Eine gänzlich andere Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Corpus doctrinae bietet die wenige Wochen nach Lindemanns Gutachte, im Februar 1576 nach Beratungen in Schloss Lichtenburg entstandene Stellungnahme der Melanchthon-kritischen Theologen, zu denen an einflussreicher Stelle der Hofprediger Kurfürst Augusts Georg Listhenius zählte.34 Das Corpus doctrinae Philippicum wird ausschließlich den verhafteten Philippisten, allen voran Me-lanchthons Schwiegersohn Caspar Peucer zur Last gelegt:

dz. Corpus doctrinae philippicum ist von Peucero und seinen consorten zuvor-kleinerung der schrifften Lutheri gestellet, wie zu Torgau in den briefen be-funden vnd sie sich vornach auch die vorstrickten Theologii gesagt, Dz. Lu-theri schriftten wie gemenge, philipps corpus der Kern were.35

Die im Zuge der Auseinandersetzung um die Stellung Melanchthons für die kursächsische Kirche nach 1571 entstandenen widersprüchlichen Stel-lungnahmen zeigen, dass den Zeitgenossen die Umstände der »Einführung« des Corpus doctrinae Philippicum in Kursachsen weitgehend unklar waren. Der Hofprediger Listhenius erwähnt in einer kritischen Stellungnahme über die Wittenberger Theologen vom Juni 1575 das Jahr 1560, in dem ein Mandat

33 Siehe hierzu den vorgenannten Bericht Majors und Ebers vom August 1569 in HUT-

TER, Concordia Concors (s. Anm. 12), Caput II, 120. 34 SHStA Dresden, Loc. 10302/12, Acta, das Corpus Doctrinae und unterschiedene Be-dencken das Jus reformandi betr., 1559–1667, 3r–18v. 35 Eine ähnliche Deutung findet sich bereits in den von Matthäus Ratzeberger, dem Leibarzt und Vertrauten Luthers begonnenen und nach dessen Tod (1559) von einem ungenannten Verfasser fortgesetzten Aufzeichnungen (überliefertes Exemplar in FB Gotha, Chart. A 114). Die Vorwürfe wurden während der publizistischen Auseinander-setzungen der 1560er und 70er Jahre auch von ernestinischer Seite vorgebracht, stie-ßen zu diesem Zeitpunkt aber noch auf den Widerstand der kursächsischen Theologen und ihres, der Melanchthon-Tradition eng verbundenen Landesherrn. Vgl. Die hand-schriftliche Geschichte Ratzeberger’s über Luther und seine Zeit mit litterarischen, kritischen und historischen Anmerkungen, hrsg. v. JOHANN CHRISTIAN GOTTHOLD NEUDE-

CKER, Jena 1850, hier 227f.: »Dahero dan auch post obitum Philippi die andern profes-sores Wittebergenses des Hern Lutheri scripta ad imitationem et consilium Peuceri hindansetzeten und unter die banck stecketen, und es bey Churfursten Augusto dahin arbeiteten, Das man das Corpus Doctrinae Philippicum pro norma et canone in Ecclesia alleine und durchaus halten sollte, neglectis scriptis Lutheri und wie In andern Arti-ckeln geschehen, also hat auch furnemlich D. Peucer mit seinen Wittebergern herna-cher Lutheri meinunge de coena verworffen«.

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des Landesherrn ergangen sei.36 Dies wird durch eine 1561 geführte langwie-rige Auseinandersetzung mit den Geistlichen der Grafen von Schönburg be-stätigt, die das Buch als »nützliche und selige Arbeit« lobten, aber Vorbehalte gegen die Ausführungen zum freien Willen vorbringen und deshalb nicht zur Grundlage ihrer Predigten machen wollten.37

In Forschung wird ungeachtet der keineswegs eindeutigen Quellenbe-funde i. R. das Jahr 1566 genannt, in dem allen Pfarrern die Anschaffung des Corpus zur Pflicht gemacht worden sei.38 Gesichert ist, dass Melanchthons Schriftensammlung im Frühjahr 1569 – nach dem Scheitern des Altenburger Religionsgesprächs – den sächsischen Pfarrern zur Unterschrift vorgelegt wurde, freilich nicht allein, sondern als Teil eines größeren Lehrbekenntnis-ses, das aus den apostolischen und biblischen Schriften, den drei altkirchli-chen Bekenntnissen, der Confessio Augustana und deren Repetition sowie »In

36 SHStA Dresden, Loc. 10302/12, 1r–2v, datiert Torgau 27. Juni 1575. 37 THEODOR SCHÖN, Geschichte des Fürstlichen und Gräflichen Gesammthauses Schön-burg, Bd. 7: Band des Urkundenbuches der Herren von Schönburg (1534–1566). Zwei-ter Teil. Von der Uebernahme der Regierung durch Herrn Georg von Schönburg bis zum Tode des Herrn Hugo I. von Schönburg, Waldenburg 1908, Nr. 318, 206f. Der Streit eskaliert schließlich zu einer generellen Auseinandersetzung zwischen dem kur-sächsischen und dem schönburgischen Kirchenregiment. Vgl. LUISE SCHORN-SCHÜTTE, Obrigkeitskritik und Widerstandsrecht. Die politica christiana als Legitimitätsgrund-lage, in: dies. (Hrsg.), Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. Politische Theologie – Res Publica – Verständnis – konsensgestützte Herrschaft, München 2004, 195–232, hier 215–218. 38 Vgl. KAWERAU, Art. Corpus doctrinae (s. Anm. 16), 294. Johannes WIRSCHING, Art. Be-kenntnisschriften, in: TRE Bd. 5, 1979, 487–511, hier 500 (die landesherrliche Autori-sierung sei unter dem Namen Corpus doctrinae Misnicum erfolgt); ähnlich HASSE, Der »Wittenberger Katechismus« (s. Anm. 26), 110. Der reichsgeschichtliche Kontext der Förderung – von »Einführung« kann nicht gesprochen werden – des Corpus doctrinae in Kursachen in den 1560er Jahren muss hier ausgeklammert werden. Die Auswirkun-gen der Toleranz- und Integrationspolitik des Kurfürsten August gegenüber der zum Calvinismus übergegangenen Kurpfalz, die ihren Höhepunkt genau 1566, während der Verhandlungen des Augsburger Reichstages erreichte, verdienen eine genauere Be-trachtung. Dies gilt allgemein für den Zusammenhang von territorialer Konfessions- und Reichspolitik. Siehe hierzu BRUNING, Caspar Peucer und Kurfürst August (s. Anm. 15), 166; MAXIMILIAN LANZINNER/DIETMAR HEIL, Der Augsburger Reichstag 1566. Ergeb-nisse einer Edition, in: HZ 274 (2002), 603–632. Neue Perspektiven hierzu bietet die vor dem Abschluss stehende Dissertation von SEBASTIAN KUSCHE (Leipzig) (Gegenspie-ler oder Juniorpartner des Kaisers? Lutherische Konfessionskultur und frühmoderne Staatsbildung in Kursachsen vor dem Dreißigjährigen Krieg), dem ich für zahlreiche Hinweise herzlich danke.

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dem Catechismo vnd scriptis D. Martini Lutherj, Dominj philippi Melanchtho-nis sehligenn vnd Corpore Doctrinae« bestand.39 Die Geistlichen wurden zu-nächst wie folgt befragt:

Zum Ersten frage Ich euch vnd ein Jeden In sunderheitt, Ob Jhr [...] ewer Lehr

vnd predigtten habt gerichttett, Nach Jnhaldt der prophetischen, apostolischen vnd Biblischenn schrifften, denn dreyen Symbolis Apostolico, Niceno vnd Atha-nasiano, Nach der augspurgischen confessio, Apologia, derselben Repetition des Hern Lutherj vnd Melanchthonis Catechismo vnd schriften, vnd Corpore Doctri-nae, Jnn welchen fein Richtigk vnd klahr, die Reine Lahr, Gottes wortt erklehrett vnd Summarien weis vorfasset Jst. Zum andern frage Jch euch, ob Jhr dem Fla-

cianischen, Illyrischenn, Zenckischen geschmeis, giftigenn gepeis, Schwerme-rey vnd fehrliche Irthumb etc. damit sie dieser Landen schulen vnd Kirchen, von dem Erdichtten vnd ahngegebenen Adiaphorismo, Synergismo, Maiorismo vnd andern falschenn aufflagen beschwehett, ahnhengigk, zugethann vnd bei-pflicht oder nicht. Zum dritten, ob Jhr euch hinfurthan des gentzlichenn auch endthaldtenn, fliehen vnd meiden vnd vordammen wollett. Zum vierden, Weill

hochgedachten Churf. zue Sachssen etc. vnsern gnedigsten Hern, wihr die vorordenten des Consitorij zu Leipzigk, von einer Jgklichenn person, Superin-tendenten vnd pastorn Jnsonderheitt vnderschiedtlichen bestendigen berichtt mussen thuen, vnd euch Jtzige ewer bekendtnis Ernst, So werdett ihr euch nichtt beschwehrenn, dieser bekendtnis der Lehr mit eigner Handt zuvnder-scheibenn.40

39 SHStA Dresden, Loc. 10328/7, Inquisitio, So uff die formulam Confessionis bei allen und jeden Superattendenten und Pfarrherrn, unter das Consistorium zu Leipzigk ge-horigk wieder die Flacianische Sect, uff Churfurstl. Sächs. Befehl gehalten worden Anno 1569, unpag. Darin »Inquisitio wieder die Superattendenten, So vnter diese Ju-risdiction gehörigk, So nicht zu Dresden gewesen. Gehaldten den dritten und 4. May Anno 1569«. Daraus das nachfolgende längere Zitat. Hervorhebungen vom Verfasser. 40 Das »Bekendtnis zur Lehr« hatte folgenden Wortlaut: »Ich habe, bisanhero gotttes wortt, rein, lautter vnd klahr gelehrett vnd gepredigtt, lauts vnd Inhaldts propheti-scher, apostolischer vnd Biblischer schriftenn, Wie das In den dreien Symbolis Apos-tolico, Niceno vnd Athanasiano, Jn der augspurbgischen Confession, dehren Repeti-tion, Jn dem Catechismo vnd scriptis D. Martini Lutherj, Dominj philippi Melanchthonis sehligenn vnd Corpore Doctrinae, fein richtigk, deutlich vnd ordentlich vorfassett vnd erklehrett ist. Vnd habe die hailigen, hochwirdigen Sacramenta gehan-deltt, ausgetheildt, vnd gereichett, nach Christj Jhesu vnsers lieben Hern vnd heilandts beuelch, ordnung vnd einsetzung. Dergleichen hab Jch mein pfaruolgk threulich vnd vleissigk vermahnett vnd ahngehaldten zum gebeth, vnd wahrer ahnruffung Gottes durch den einigen mittler Jhesum Christum, vnd zu Gottsehligem leben vnd Wandell, das sie glauben vnd gueth gewissen, die Zeitt Jhres lebens, behaldtenn woldten, vnd das alles will Jch mit Gottes Hilff auch hinfurthan, treuhlich thuen vnd haldten, bis Jn

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Ähnlich wie in den Herrschaften der Schönburger sind – allerdings nur ganz vereinzelt – Konflikte um Geistliche nachweisbar, die vermutlich aus Sym-pathie mit den Gegnern Melanchthons im ernestinischen Sachsen eine Un-terschrift verweigerten oder zumindest hinauszuzögern versuchten. Akten-kundig wurde etwa der Fall des Pfarrers von Gnandstein, Christoph Trautner, »welcher in Synodo sein Pfarlehn vbergebenn resignir vnd fur al-len andern Pastoribus offentlich [...] abzutreten erbothen« und die Unter-schrift mit Verweis auf das erhaltene Corpus doctrinae zunächst verwei-gerte.41 Erst auf Druck seines Patronatsherren Hans von Einsiedel auf Gnandstein erklärte sich Trautner bereit, das Lehrbekenntnis zu unterzeich-nen, freilich mit der Einschränkung, seine Unterschrift – wie andere seiner Amtskollegen – nur mit der Hand, nicht aber mit dem Herzen geben zu kön-nen.42

Der Aufstieg des Corpus doctrinae Philippicum wenn nicht zur alleini-gen, so doch zum wichtigsten Element der Bekenntnisgrundlage Kursach-sens, geschah nicht über Nacht, sondern verlief ganz offensichtlich evoluti-onär. Dieser Prozess beginnt nach dem Tod Melanchthons, als dessen Werk nicht nur beim Kurfürsten größte Anerkennung genoss, und endet mit dem Altenburger Religionsgespräch, als das Corpus doctrinae Philippicum als In-strument der Abgrenzung der kursächsischen Kirche diente. Anders als bei den ernestinischen Bekenntnisschriften von 1559 und 1570 (Corpus doctri-nae Thuringicum), deren Einführung im Dreischritt herzogliches Mandat, Aufnahme in den Ordinationseid sowie schließlich Verpflichtung aller Pfar-rern erfolgte43, liegen die entsprechenden Vorgänge in Kursachsen im Dun-keln. Wie die unterschiedlichen Berichte aus dem 16. Jahrhundert zeigen, galt dies bereits für die Zeitgenossen. Dem allmählichen Bedeutungszu-wachs des Corpus im Verlauf der 1560er Jahre, der sich auch in den ver-schiedenen deutschen und lateinischen Ausgaben, deren unterschiedlichen

mein grubenn. Jch bin auch dem Flaccianischen Illyrischenn geschmeis, giftigen ge-peis, Schwermerey vnd gefehrlichen Jrthumben, damit sie dieser Landen Schulen vnd Kirchen von dem Erdichttenn Adiaphorismo, Synergismo, Maiorismo, vnd andern fal-schenn auflagen beschwertt, nicht ahnhengigk noch darob gefallenn habe. Vnd will auch hinfurthan (mit Gottes hilff) mich desselbenn gentzlich endthaldten, damniren, fliehen vnd meiden, vnd nach Meinem vermugen, bey andern auch vorhuetten, Der-wegen vnd zum Zeugknus, hab Jch mich, dieser bekendtnis, mit meiner eignen Handt vnderschrieben«. 41 Hierzu zwei Briefe des Superintendenten von Borna, Blasius Naumann, an das Kon-sistorium (2./9. Juli 1569), SHStA Dresden, Loc. 10328/7, unpag. 42 Ebd., Brief vom 9. Juli 1569, in dem Naumann betont, »er [= Trautner, T.T.] hat sich vernehmen lasse, er woll auch wie andere sich mit der handt vnd nicht mit dem hert-zen unterschreiben«. 43 Vgl. hierzu GEHRT, Ernestinische Konfessionspolitik (s. Anm. 20), 362–368.

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Textgrundlagen und einer kontroversen Rezeption in anderen Territorien niederschlug, steht analog ein allmählicher Bedeutungsverlust im Verlauf der 1570er Jahre gegenüber. Eine nach Zäsuren und Brüchen suchende Er-forschung der Konfessionspolitik und Bekenntnisentwicklung hat dies lange Zeit zugunsten vereinfachter Periodisierungen ausgeblendet.

IV. Prozess der Distanzierung – das Corpus doctrinae Philippicum in den 1570er Jahren

Der Ausgangspunkt des allmählichen Bedeutungsverlusts und der Distan-zierung seitens des Landesherrn ist zugleich der Höhepunkt der normativen Geltung des Corpus doctrinae Philippicum – der von den Universitäten Wit-tenberg und Leipzig, den sächsischen Konsistorien und Superintendenten am 10. Oktober 1571 geschlossene Dresdner Konsens. Ziel dieses Eini-gungsversuchs war der Befriedung der Auseinandersetzung um den »Wit-tenberger Katechismus«, der mit seinen Aussagen zu Abendmahlslehre und Christologie und dem expliziten Rekurs auf das Corpus doctrinae Philippi-cum die Bekenntnisnorm Kursachsens in Verruf gebracht hatte.44 Der Con-sensus stellte implizit letztmalig die Geltung des Corpus doctrinae fest, die durch folgende landesherrliche Maßnahmen bekräftigt wurde.45

Den chronologischer Schlusspunkt der normativen Geltung des Corpus doctrinae Philippicum bildet das landesherrliche Verbot eines Neudrucks im Jahr 1578.46 Tatsächlich aufgehoben oder »abgeschafft« wurde das Corpus doctrinae aber bezeichnender Weise ebenso wenig, wie es jemals formell

44 Der Katechismus führt im Titel den Hinweis Contexta ex Corpore Doctrinae Christia-nae, quod amplectuntur ac tuentur Ecclesiae regionum Saxonicarum et Misnicarum. Vgl. HASSE, Zensur theologischer Bücher (s. Anm. 9), 83–110; ders., Der »Wittenberger Ka-techismus« (s. Anm. 26), 108f.; HUND, Das Wort ward Fleisch (s. Anm. 15), 209–221; Harm KLUETING, »Wittenberger Katechismus« (1571) und »Wittenberger Fragstücke« (1571). Christoph Pezel (1539–1604) und die Wittenberger Theologie, in: ZKG 112 (2001), 1–43. 45 Zur Bewertung des Consensus Dresdensis siehe ausführlich INGE MAGER, Das Ringen um Wahrheit und Eintracht im Consensus Dresdensis vom 10. Oktober 1571, in: HANS-JÖRG NIEDEN/MARCEL NIEDEN (Hrsg.), Praxis Pietatis. Beiträge zu Theologie und Fröm-migkeit in der Frühen Neuzeit. Wolfgang Sommer zum 60. Geburtstag, Stuttgart 1999, 103–118, hier 104. MAGER stellt bei allen Bemühungen der beteiligten Theologen, »Lu-ther und Melanchthon gleichermaßen gerecht zu werden« (117), »indirekte« und vor-sichtige Distanzierungen von Melanchthon fest. HUND, Das Word ward Fleisch (s. Anm. 15), 432–448, beschreibt den Konsens als »Kompromisspapier« (439). Durch kurfürst-lichen Befehl wurden im Mai 1572 die drei Fürstenschulen ausdrücklich zur Verwen-dung des Corpus doctrinae aufgefordert. HASSE, Der »Wittenberger Katechismus« (s. Anm. 26), 114f. 46 HASSE, Zensur theologischer Bücher (s. Anm. 9), 211.

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»eingeführt« wurde. Die hier als Prozess der Distanzierung bezeichnete Ent-wicklung lässt sich in vier Phasen einteilen.

(1.) Die Auseinandersetzung um den Wittenberger Katechismus und der Dresdner Konsens 1570/71 entfaltete zunächst eine stabilisierende Wir-kung, obgleich die Annäherungsversuche der dem Calvinismus bereits na-hestehenden Pfalz sowohl in den Augen der Gnesiolutheraner als auch der Anhänger des Konkordienwerkes die älteren Zweifel an der Zuverlässigkeit des Corpus doctrinae Philippicum verstärkt hatten.

(2.) Die vor allem von den Theologen in Jena angestoßene Auseinander-setzung um die Zusammengehörigkeit Luthers und Melanchthons, bzw. das Verhältnis zwischen den Schriften der beiden Reformatoren (1573/74). Auch damit war zunächst die zeitweilige Verstärkung der normativen Gel-tung des Corpus doctrinae Philippicum verbunden. Die Wittenberger Theolo-gen nahmen diese publizistische Auseinandersetzung auch nach dem Per-sonalaustausch in Folge des Vorgehens des Kurfürsten gegen die Philippisten 1574 beherzt auf. Sie verteidigten die sächsische Bekenntnis-grundlage noch 1575 in dem bereits erwähnten Neudruck der Schmalkaldi-schen Artikel gegen den Vorwurf, das Corpus doctrinae Philippicum sei ge-gen Luthers Werk gerichtet.47

Hof und Universitäten waren zu diesem Zeitpunkt noch ganz dem Ge-danken der Kontinuität – von Luther über den späten Melanchthon zur Ge-genwart – geprägt. Dies zeigen die Torgauer Artikel von 1574, in deren Vor-rede betont wird, man wolle die Schriften der Reformatoren »von einander nicht trennen/ oder reissen vnd nehmen lassen«.48 Die problematischen und den Gegnern der kursächsischen Kirchenpolitik zuarbeitenden Widersprü-che zwischen den verschiedenen Ausgaben des Corpus doctrinae Philippi-cum, etwa in Bezug auf die verschiedenen Fassungen der Confessio Au-gustana und die Aussagen zur Abendmahlslehre, wurden ausgeräumt, indem betont wurde, »das [...] damit keine andere/ denn Herrn Lutheri Lere

47 Schmalcaldische Artickel ... Von den Theologen der Vninersitet Witteberg in Druck wider verordnet, B2r–v, D2r, D3r. 48 Kurtz Bekentnis vnd Artickel vom heiligen Abendmal des Leibes vnd Bluts Christi. Daraus klar zu sehen/ was hieuon in beiden Vniuersiteten/ Leipzig vnd Wittenberg/ vnd sonst in allen Kirchen vnd Schulen des Churfuersten zu Sachssen/ bisher œffent-lich geleret/ ... worden ... Vbergeben vnd gehandelt in juengstem Landtag zu Torgaw, Wittenberg 1574 (Exemplar Universitätsbibliothek Leipzig, Syst.Theol.833–im), B4v. Vgl. IRENE DINGEL, Die Torgauer Artikel (1574) als Vermittlungsversuch zwischen der Theologie Luthers und der Melanchthons, in: NIEDEN/NIEDEN (Hrsg.), Praxis Pietatis (s. Anm. 44), 119–134, hier 129f. Dingel betont die »konfessionell integrierend[e]« Inten-tion der Torgauer Artikel. Ebd., 122.

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verstanden vnd gemeinet haben wollen«.49 Diese Argumentation folgten die Wittenberger Theologen noch 1575, in dem sie analog zu den Torgauer Ar-tikeln die Zusammengehörigkeit Luthers und Melanchthons herausstellten. Es sei Verpflichtung der Leucorea deren Werk »beysammen zu behalten/ vnd die vns nimmer mehr von einander reissen/ trennen/ verdechtig ma-chen lassen wollen«.50

(3.) Die Neuausrichtung Kursachsens im Verhältnis zum Konkordien-werk nach der Verhaftung der sogenannten »Kryptocalvinisten« (1575/76). Dass es schließlich doch zu einer nachdrücklichen Distanzierung der Dres-dner Politik vom Corpus doctrinae Philippicum und zum Einschwenken auf den Kurs des Konkordienwerkes gekommen ist, hängt eng mit dem Macht-gefüge am Dresdner Kurfürstenhof zu tun, wie HANS-PETER HASSE gezeigt hat. Diese Entscheidung scheint im November 1575 gefallen zu sein, als dem Kurfürsten konkurrierende Gutachten seines Rates Lindemann (pro Melan-chthon trotz vorsichtiger Kritik) und des Hofpredigers Listhenius (contra) vorlagen.51 Während Lindemann im Sinne der – wie eingangs betont – auch von Melanchthon selbst betonten theologischen Kontinuität argumentierte, wies der Hofprediger den Kurfürsten auf die Widersprüche, die »schlipf-frige[n] wortte« hin. Luthers Werke sollten uneingeschränkt »primas ha-ben«.52 Geschickt nahm Listhenius dabei die bereits genannten inneren Strukturmerkmale des Corpus doctrinae auf – das Nebeneinander unter-schiedlich alter, bekenntnismäßiger und kontroverstheologischer Textgat-tungen, die Verquickung normierenden und apologetischen Absichten Me-lanchthons sowie die Unterschiede in Inhalt und Textgestalt zwischen den verschiedenen Drucken des Corpus. Daraus leitete der Hofprediger Argu-mente gegen die innere Stringenz und kirchenpolitische Tragfähigkeit des Werks ab. »Norma doctrinae vnd simbolum confessionis« – so Listhenius – »muß eintrechtig vnd nicht vngleich, wieder mit wortten nicht verstande sein, Aber das Corpus doctrinae philippi stim[m]t nicht durchaus vberein,

49 Kurtz Bekentnis vnd Artickel vom heiligen Abendmal des Leibes vnd Bluts Christi, C1v. 50 Schmalcaldische Artickel ... Von den Theologen der Vninersitet Witteberg in Druck wider verordnet, B3r. 51 HASSE, Zensur theologischer Bücher in Kursachsen (s. Anm. 9), 210f., 234–239. Die Distanzierung des Kurfürsten vom Corpus doctrinae hatte sich bereits im Sommer 1575 angedeutet. Siehe ERNST KOCH, Später Philippismus in Jena. Zur Geschichte der Theo-logischen Fakultät zwischen 1573 und 1580, in: JOHANNA LOEHR (Hrsg.), Dona Melan-chthoniana. Festgabe für Heinz Scheible zum 70. Geburtstag, Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, 217–245, hier 229. 52 SHStA Dresden, Loc. 10302/12, 26r–32r: »Ursachen, warumb das Corpus doctrinae Philippi Melanthonis nicht pro norma Doctrinae anzunehmen sey.«, undatierter Ent-wurf, Zitate 28r, 31v.

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Sondern ist beide uerbis et. sensu vngleich«.53 Aufgrund der Unterschiede zwischen des verschiedenen Ausgaben sei Melanchthons Corpus doctrinae ein »manttel, daruntter sich die falschen lerer können bedecken«, da es er-mögliche »daß die Alten vnd neuen Antinonimer, vnder der decken, daß Cor-pus doctrinae philippi liegen vnd damit ihre schande zudecken kön[n]en«.54

In Folge dieser konfessionspolitischen Richtungsentscheidung wurde das Corpus doctrinae Philippicum nicht verdammt, sondern in seiner Bedeu-tung herabgestuft, ja es wurde sogar in Zweifel gezogen, dass es jemals als norma doctrinae fidei & confessionis eingeführt worden sei. Dies zeigt die Stellungnahme der im Februar 1576 in Lichtenburg versammelten Theolo-gen – darunter auch Heinrich Salmuth, Paul Krell, Wolfgang Harder und Nikolaus Selnecker.55

Und befinden erstlich/ daß etlicher ausländischen Kirchen Theologen/ die sich doch zugleich mit uns zu der Augsburgischen Confession bekennen/ ein Mißverstand gefasset haben/ daraus und daher/ dieweil wir das nützli-che und gute Buch/ welches Corpus doctrinae philippicum genand wird/ und vom Herrn Philippo, seligen/ geschrieben worden/ den Kirchen und Schu-len commendiert und beygelegt/ und etlichen als ein norma doctrinae fidei & confessionis ausgeruffen worden/ welches dann bey etlichen ausländi-schen dieses ansehen gewonnwn/ als wollte man damit die nützlichen Schrifften und treffliche Geistreiche Bücher des theuren Mannes Lutheri aus der Pastorn und anderer Leut Händen bringen.56

Künftig sollte das Corpus doctrinae philippicum nicht »als ein Symbolum nor-mam oder Richtschnur« dienen, sondern lediglich »als ein methodum docendi & discendi, daraus sich die Lehrer und die Jugend die rechte Art und Ordnung zu reden, zu schreiben und zu lehren erholen können«.57

53 Ebd., 27r. 54 Ebd., 28r, 29r. 55 Siehe hierzu die »Churfürstliche Sächsische Proposition den versamelten Theologen zu Liechtenberg vorgehalten«, 5. Februar 1576, in: HUTTER, Concordia Concors (s. Anm. 12), Caput IX, 274–276. Antwort der Theologen »Bedencken der zu Liechtenberg ver-samleten Theologen/ auff vorgehende Churfürstl. Sächs. Proposition« vom 16. Februar 1576, ebd., 278–285. Protokoll dieser Beratungen in SHStA Dresden, Loc. 10302/12, Entwurf des Antwortschreibens an den Kurfürsten 10r–18v. 56 HUTTER, Concordia Concors (s. Anm. 12), Caput IX (s. Anm. 55), 281. 57 Ebd., 282.

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Das Corpus doctrinae Philippicum wurde also zu einem rein didakti-schen, wenngleich nützlichen Leitfaden herabgestuft.58 Als Bekenntnis-grundlage sollten ausschließlich die prophetischen und apostolischen Schriften, die altkirchlichen Bekenntnisse, die Confessio Augustana invari-ata, deren Apologie sowie die beiden Katechismen Luthers und die Schmal-kaldischen Artikel anerkannt werden.59

(4.) Die kritische Auseinandersetzung mit der Melanchthon-Tradition in Kirche und Universitäten unter Jakob Andreae (1576/78/80). Diese er-reichte ihren öffentlichkeitswirksam Höhepunkt 1578/79 nicht mit dem in-offiziellen Verbot einer Neuauflage des Corpus doctrinae Philippicum, son-dern in der Predigt Jakob Andreaes im Juni 1579 in der Wittenberger Stadtkirche hielt.60 Andreae griff Melanchthon zwar nicht persönlich an, er erklärte aber das Corpus doctrinae Philippicum zum »bubenstück«.61 In einem

58 Diese Strategie lässt sich auch im Umgang mit anderen Werken Melanchthons be-obachten. Siehe THOMAS TÖPFER, Philipp Melanchthons Loci communes. Systematisie-rung, Vermittlung und Rezeption gelehrten Wissens zwischen Humanismus, Reforma-tion und Konfessionspolitik 1521–1591, in: GERLINDE HUBER-REBENICH (Hrsg.), Lehren und Lernen im Zeitalter der Reformation. Methoden und Funktionen, Tübingen 2012, 127–147. 59 Als eine Art Gegenbewegung wurde dennoch vereinzelt versucht, das Corpus doctri-nae Philippicum durch katechetische Methoden zu bewahren bzw. zu popularisieren. Hierzu HASSE, Der Wittenberger Katechismus (s. Anm. 26), 115f.; ders., Konfessionelle Identität und Philippismus in Kursachsen. Die identitätsstiftende Funktion des Corpus doctrinae Philippicum am Beispiel der »Christlichen nützlichen Fragen« (1590) des Lie-benwerdaer Superintendenten Paul Franz, in: LOEHR (Hrsg.), Dona Melanchthoniana (s. Anm. 51), 119–146. 60 Die Predigt war Teil einer Reihe von Auftritten Andreäs. Er predigte in Dresden, Leipzig und Wittenberg. JAKOB ANDREAE, Fuenff Predigen. Von dem Wercke der Con-cordien. Vnd endlicher Vergleichung der vorgefallenen streitigen Religions Artickeln. Auch welcher gestalt die Hohen/ Fuersten/ vnd Particular Schulen/ Kirchen/ dersel-bigen Visitationen, Consistoria, Synodi, vnd was sollichen mehr anhanget, Im Hoch-loeblichen Churfuestenthumb Sachssen angestelltet: Zu Dreßden/ Leiptzig vnd Wittembergk/ ... gehalten, Dresden 1580. (Ausgabe Universitätsbibliothek Leipzig St.Nicolai 638), Text der Wittenberger Predigt V, IVv–dv. Zu Andreaes Wirken in Kur-sachsen und insbesondere zu den Reaktionen auf seine Predigten LUDWIG, Philippis-mus und orthodoxes Luthertum an der Universität Wittenberg (s. Anm. 15), 253–289. Hierzu auch dies., Zwischen Philippismus und orthodoxem Luthertum (s. Anm. 10). 61 ANDREAE, Fuenff Predigen (s. Anm. 60), Zv. Bereits in einem Gutachten vom Februar 1579 hatte sich Andreae von wesentlichen Teilen des Corpus doctrinae mit dem Vor-wurf der Unreinheit distanziert, so vom Examen ordinandorum, das auch nicht die neu erarbeitete Kirchen- und Schulordnung aufgenommen wurde. Gutachten vom 18. Feb-ruar 1579, in: WALTER FRIEDENSBURG (Hrsg.), Urkundenbuch der Universität Witten-berg, Bd. 1: 1502–1611, Magdeburg 1926, Nr. 395, 476–485, hier 484. Zur analogen Auseinandersetzung um Melanchthons Loci communes siehe TÖPFER, Philipp Melan-chthons Loci communes (s. Anm. 58).

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Bericht der Universität an den Kurfürsten heißt es, Andreae habe diese Aus-sage mehrfach »geschriehen«, worauf es in der Kirche zu Tumulten kam und Andreä gezwungen war, eine revidierte Fassung seiner Predigt zu veröffent-lichen.62

V. Zusammenfassung

Die kurze Regierungszeit Kurfürst Christians I. (1586–1591) brachte eine zeitweilige Restauration der Stellung Melanchthons im sächsischen Kir-chenwesen und an den Universitäten und damit auch eine gewisse Rückbe-sinnung auf das Corpus doctrinae Philippicum mit sich. Darauf kann hier ebenso wenig eingegangen werden wie auf die Nachwirkung des Corpus doctrinae in anderen Territorien, wo es teilweise übernommen bzw. variierte wurde oder konkurrierende Bekenntnisse beeinflusste.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die unbefriedigende Quellen-lage, die widersprüchlichen und insgesamt betrachtet spärlichen, überwie-gend erst ex post entstandenen Informationen und Berichte, Hinweise dafür sind, dass sich der Prozess der »Konfessionsbildung« in Kursachsen in den 1560er Jahren keineswegs so klar und eindeutig gestaltete wie häufig dar-gestellt wird, sondern eher als langgestreckter keineswegs geplanter Pro-zess zu verstehen ist.

Die normative Geltung des Corpus doctrinae Philippicum, dessen Entste-hung und rasche Verbreitung im albertinischen Territorium gewiss auch als ein Stück Gedächtnisstiftung für den kurz zuvor verstorbenen Reformator diente, war dabei Wechseln unterworfen und erreichte nach 1569 bzw. 1571 ihren kurzen Höhepunkt. Schließlich setzte sich aber auch in Kursachsen eine zuvor vor allem im ernestinischen Sachsen gepflegte Haltung durch, die nach der sichtbaren Vorrangstellung der Schriften Luthers im Kanon der Bekenntnistexte verlangte. Der von Kurfürst August Ende 1575 zuerkannte Status als »thraue[r] gehulffe Luteri« war Melanchthon schließlich aber auch nicht mehr sicher. Dies zeigt Jakob Andreaes wenig später auf der Kanzel der Wittenberger Stadtkirche vorgebrachte Kritik Melanchthons als Urheber eines »bubenstücks«. Paul Eber, Melanchthons und Luthers discipulus, musste dies nicht mehr miterleben.

62 Bericht der Universität vom 24. Juni 1579, FRIEDENSBURG, Urkundenbuch der Univer-sität Wittenberg (s. Anm. 61), Nr. 402, 489f.