Paul Tillich: Siehe, es ist alles neu geworden1 - · PDF filePaul Tillich: Siehe, es ist alles...

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  • Paul Tillich: Siehe, es ist alles neu geworden1

    ... Alles Leben wchst; es strebt danach, zu wachsen und lebt, solange es wchst. Immer sind die Menschen fasziniert gewesen von dem Gesetz des Wachsens. Fr viele ist es so faszinie-rend, dass sie gut nennen, was Wachstum frdert, und schlecht, was Wachstum hemmt. Aber wir mssen tiefer blicken in das Gesetz des Wachsens und in seine Tragik. Ob die Zelle wchst, ob die Seele wchst oder ob ein geschichtliches Zeitalter wchst: Wachsen ist immer Gewinn und Verlust; es ist beides, Erfllung und Opfer. In jedem Wachstum werden viele Entwicklungsmglichkeiten geopfert fr die eine, die verwirklicht wird. Wer sich der Wissen-schaft hingeben will, mu dafr vielleicht das Opfer von Kunst und Politik bringen. Er mu einen Preis zahlen. Er kann nicht gleichmig nach allen Richtungen wachsen. Wenn Zellen des Krpers in eine Funktion hineinwachsen, verlieren sie damit die Mglichkeit, anderen Funktionen zu dienen.

    Wenn geschichtliche Zeitalter von der Wahrheit einer groen Idee durchdrungen sind, so mssen andere Wahrheiten dafr unterdrckt werden. Leben bedeutet: stndig sich ent-scheiden und durch Entscheidungen Mglichkeiten ausschlieen. Dadurch wird das Leben, wenn es wchst, enger, obgleich es stets grer und strker wird. Jede Entscheidung macht uns reifer und lter zugleich. Jugend ist Offenheit. Aber jede Entscheidung schliet Tore zu. Das ist unausweichlich so; es ist unentrinnbares Schicksal. In jedem Augenblick entscheiden wir uns, in jedem Augenblick schlieen wir Tore zu. Wir wachsen, das ist unsere Gre; wir wachsen, das ist unsere Tragik. Denn auch die ausgeschlossenen Mglichkeiten gehren zu uns, sie haben ein Recht und einen Anspruch an uns. Deshalb nehmen sie Rache an unserem Leben, das sie ausgeschlossen hat. Entweder sie sterben und nehmen Lebensmchtigkeit und Schpfertum mit sich ins Grab. Dann werden wir hart und unbeweglich, unfhiger, uns neuen Situationen, neuen Anforderungen anzupassen. Oder aber, die Mglichkeiten, die wir ausgeschlossen haben, sterben nicht. Dann bleiben sie in uns, aber nicht als schpferische Krfte, sondern als Krfte, die uns krank machen, die uns altern lassen, die uns gefhrlich werden. Das sind die beiden Wege, auf denen der Tod im Alternden wirkt: der Selbstbegren-zung und der Selbstzerstrung. Das sind die Wege, auf denen Wachstum, Krankheit und Tod miteinander verbunden sind. ...

    1 Auszge aus: Paul Tillich, Siehe, es ist alles neu geworden, in: ders., In der Tiefe ist Wahrheit. Religise Reden 1. Folge, Stuttgart: Ev. Verlagswerk 51952, S. 162-173; hier: S. 165-166.