Peter Voigt: Jule und Fettsack - Leseprobe

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Peter Voigt Jule und Fettsack (Arbeitstitel) Erscheinungstermin Winter 2016/17 Taschenbuch, ca. 130 Seiten Papierfresserchens MTM-Verlag

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind

zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2016 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbROberer Schrannenplatz 2, 88131 Lindau

Telefon: 08382/[email protected] Rechte vorbehalten.

Erstauflage 2016

Lektorat: Melanie WittmannHerstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM

www.literaturredaktion.deTitelbild: Heike Georgi

Druck: BookpressGedruckt in der EU

ISBN: 978-3-86196-644-9

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Peter Voigt

Jule und Fettsack

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Manchmal finde ich mein Leben total ätzend! Am schlimmsten ist es, wenn ich selbst nichts dafür kann.

Zuletzt erging es mir so, als ich meine allerbeste Freundin Jette, meine anderen Freunde, meinen Sportverein und unsere schöne Wohnung mit meinem tollen Zimmer und dem super Blick auf die jute, olle Spree verlassen musste. Nur weil meine Mutter in einem Kaff, über vierhundert Kilometer von Berlin entfernt, hinter den sieben Bergen mitten im Wald einen Job annehmen musste.

Doch das Leben lässt sich in coole Bahnen lenken, wenn man es will.

Und wie ich das wollte!

Die Osterferien waren vorüber. Eigentlich verstehe ich unter Ferien abschalten von der Schule, lange ausschlafen und einfach chillen. Meine Mutter und ich dagegen hatten die Wochen im totalen Stress verbracht, im Umzugsstress.

Nach ein paar Tagen konnten wir jedoch fast behaupten, wieder normal zu leben. Vorbei war die Zeit, in der ich meine Klamotten aus irgendwelchen Kartons ziehen musste und unsere Hauptmahlzeiten aus Pulvernahrung bestanden hatten, die nur mit heißem Wasser übergossen werden mussten, um danach fünf Minuten zu ziehen, bis sie essbar waren.

Das Beste an Ostern war allerdings das Geschenk meiner Mut-ter gewesen: ein Handy! Darüber hatte ich mich sehr gefreut.

Eigentlich gab es so ein Geschenk höchstens zum Geburtstag oder an Weihnachten. Mutter meinte aber, dass ich in einem Alter wäre, in dem ein Handy nützlich sein könnte. Vielleicht war es auch ihr schlechtes Gewissen, das mir dieses Geschenk bescherte. Sie wollte vermutlich wiedergutmachen, was sie mit meiner Entführung aus der Weltstadt Berlin angerichtet hatte. Klar, es war kein Smartphone, eher ein Anfängermodel ohne Ver-trag, mit dem man nur telefonieren und, was noch wichtiger war, SMS verschicken konnte.

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Die Osterferien waren also nun definitiv vorbei. Noch einmal schlafen und der erste Tag in der neuen Schule stand mir bevor.

Ich lag in meinem Bett und hörte die neue CD von Leon Wilson. Nach dem gemeinsamen Tapezieren der Wohnung mit meiner Mutter hatte ich sofort ein Poster von ihm an der Wand über meinem Bett angebracht. Ich wünschte mir, mal so einen Typen wie Leon kennenzulernen.

Vielleicht wartete in meiner neuen Klasse so einer auf mich, hoffte ich. Ich träumte sogar schon davon, dass nur noch ein Platz im Klassenzimmer frei wäre, nämlich der neben dem Typen, der nicht nur so aussah wie Leon Wilson, sondern auch noch genauso cool war und vielleicht sogar singen konnte. Eigentlich würden mir Aussehen und Coolsein schon genügen. Die Musik von Leon könnte ich mir auch über meinen CD-Player anhören.

„Glaubst du, ein Typ wie Leon wird in meiner zukünftigen Klasse sein?“, fragte ich Paule, meinen altersschwachen Clown, den ich im Arm hielt. Seine abgewetzten Klamotten ließen nur noch erahnen, dass sie einst bunt gewesen waren.

Paule, den Namen hatte ich mir selbst ausgedacht, hatte be-reits mit mir gekuschelt, als ich noch Windeln trug. Leider gab er mir keine Antwort auf meine Frage. Auch mein zweitliebstes Kuscheltier, ein Teddybär, der Kuschel hieß und halb so groß wie ich war, schwieg beharrlich. Er lümmelte in meiner weißen Ju-dojacke, die ich mit meinem orange-grünen Gürtel zugebunden hatte, teilnahmslos in meinem roten Faulenzersessel.

Obwohl meine beiden Kuschellieblinge schon sehr alt waren, ungefähr so alt wie ich, also zwölf, konnte und wollte ich mich nicht von ihnen trennen. Warum auch, nur weil sie alt waren und nicht mehr so ansehnlich? Unzählige Male hatte meine Mutter sie zusammengeflickt. Sie kannten mein ganzes Leben, meine Freuden und meine Sorgen.

Kuschel hatte ich angeblich von meinem Vater geschenkt be-kommen. Er war das Einzige außer mir selbst, was von ihm übrig geblieben war. Bereits während meiner Windelzeit hatte er das

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Weite gesucht. Meine Mutter konnte mir nie erklären, warum er abgehauen war, obwohl ich sie mit dieser Frage jahrelang bom-bardiert hatte.

Manchmal fragte ich mich, wie mein Vater wohl so war und ob ich ihn jemals kennenlernen würde. Aber das ist eine andere Geschichte.

Plötzlich wurde meine Zimmertür geöffnet und meine Mutter kam herein. „Jule, du musst endlich schlafen. Morgen haben wir beide einen großen Tag vor uns. Unser neues Leben beginnt!“

„Mama, ich möchte wieder in meine Berliner Schule zurück! Jetzt wohnen wir schon eine Woche hier und ich habe in diesem Menschenfresser, den du mir als modernisierten Plattenbau an-gepriesen hast, noch nicht ein Mädchen gesehen, das ungefähr in meinem Alter wäre. Nur einen dicken Jungen, so einen pickeli-gen Typen. Können wir nicht einfach nach Berlin zurückziehen?“

Mutter setzte sich auf meine Bettkante, strich mir über meine langen braunen, leider viel zu dünnen, glatten Haare. „Rutsch mal“, bat sie und legte sich neben mich. „Wenn sie in dem Elek-tronikmarkt, in dem ich jahrelang an der Kasse saß, nicht etliche Stellen, unter anderem meine, abgebaut hätten, könntest du morgen in deine alte Schule gehen. So aber muss ich froh sein, dass sie mir hier in dieser schönen Stadt eine Stelle in dem neuen Elektronikmarkt angeboten haben.“

„Sag bitte nicht schöne Stadt! Das ist ein von bewaldeten Bergen eingepferchtes Kaff, bewohnt von Hanghühnern“, platzte es aus mir heraus.

„Wo hast du das denn her? Und was sind Hanghühner, bitte schön?“

„Das hat meine Freundin Jette aus der Berliner Trainingsgrup-pe, gesagt. Ihre Oma wohnt auch irgendwo hier in der Gegend. Und Hanghühner haben ein kurzes und ein langes Bein, damit sie nicht umfallen, wenn sie in den Bergen herumkraxeln.“

„Warte es doch erst einmal ab. Vielleicht gefällt es dir hier so-gar, wenn wir uns erst einmal eingelebt haben. Es kann doch

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sein, dass du mir morgen Nachmittag vorschwärmst, wie cool deine neue Klasse ist. Ach, Jule“, Mutter schob einen Arm unter meinem Nacken hindurch, fasste mich an der Schulter und zog mich dicht an sich heran, „ich bin genauso aufgeregt wie du. Für mich – und ich bin immerhin schon Mitte dreißig – wird es auch ein totaler Neuanfang sein. So, nun schlaf aber, meine Süße!“

Mutter gab mir ein Küsschen, was ich trotz meiner zwölf Jahre immer noch sehr gern hatte, und verließ mein Zimmer.

Doch Sekunden später ging die Tür noch einmal auf und sie streckte ihren Kopf herein. „Mach bitte die CD aus. Küsschen!“

Ich schob Paule an die Wand, damit ich zum Schlafen genug Platz in meinem Bett hatte, ließ Leon Wilson verstummen und kontrollierte noch einmal meinen Wecker. Alles okay, er würde mich um sechs Uhr aus meinen Träumen reißen. Vielleicht aus meinem Lieblingstraum, in dem mich Leon in seine Arme nahm und mir einen Kuss gab.

In meiner alten Klasse in Berlin hatte es einige Mädchen gege-ben, die bereits ihren ersten Kuss erlebt hatten. Einen richtigen Kuss, nicht bloß so einen Schmatz von ihrer Mama oder von Tanten, Onkeln, Omas und Opas. Nein, einen richtigen Kuss von einem süßen Typen. Nur ich wartete immer noch auf dieses Ereignis. Allerdings wüsste ich außer Leon Wilson auch keinen anderen Jungen, der dafür geeignet wäre.

Es musste ja auch nicht gleich ein Zungenkuss sein, ein ein-facher Kuss mit geschlossenen Lippen wäre doch schon ein An-fang. Ehrlich gesagt konnte ich mir nicht richtig vorstellen, wie er sein würde, so ein Zungenkuss. Vielleicht war es sogar ein wenig eklig, eine fremde Zunge im Mund zu haben ...

Fest entschlossen, jetzt wirklich zu schlafen, schloss ich meine gelbgrünen Augen – Katzenaugen, wie Mutter behauptete – und schlummerte ein.

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Der Wecker riss mich aus dem Schlaf. Sein schriller Piepton trug nicht gerade dazu bei, den Tag mit guter Laune zu beginnen. Irgendein Traum, an den ich mich nicht mehr genau erinnern konnte, spukte mir im Kopf herum. Ich quälte mich aus meinem Bett und taumelte zum Bad.

Mutter war darin und nuschelte etwas durch die geschlossene Tür, was darauf hindeutete, dass sie ihre Zähne putzte und mir mitteilen wollte, dass sie gleich fertig wäre. Ich wusste aus Erfah-rung, dass das Wörtchen gleich bei meiner Mutter etwas anderes bedeutete, als man annehmen konnte.

Um die Zeit sinnvoll zu nutzen, taumelte ich weiter in die Kü-che und bereitete mir meine Cornflakes vor, wie immer mit kal-ter Milch. Mit warmer Milch würde ich sie nicht runterkriegen.

Um halb sieben saßen meine Mutter und ich, wie durch ein Wunder beide fertig angezogen, im Wohnzimmer an unserem runden Esstisch und frühstückten gemeinsam. Ein weiteres Wun-der war, dass Mama mir erlaubt hatte, meine Lieblingsklamotten anzuziehen: eine dunkelblaue, hautenge Stretchjeans und ein rotes, langärmeliges Shirt. Außerdem durfte ich mein Handy mit in die Schule nehmen, sollte es aber in meinem Rucksack lassen. Das versprach ich ihr, ohne zu murren. Ich hätte ohnehin nicht gewusst, wem ich schreiben sollte. Mutters Nummer war die ein-zige, die ich eingespeichert hatte. Jette, meine beste Freundin aus Berlin, hatte kein Handy.

Mamas erste Schicht begann erst um neun. Weil sie daher noch genug Zeit hatte, schlug sie vor, mich mit ihrem alten Käfer in die Schule zu fahren. Doch das lehnte ich dankend ab. Mein Vertrauen in den Wagen war nicht sehr groß. Es war eher Zufall, dass er ohne eine Panne die vierhundert Kilometer von Berlin bis hierher gekrochen war. Außerdem konnte ich gut darauf verzich-ten, gefahren zu werden, weil ich höchstens zwanzig Minuten benötigte, um zu meiner neuen Schule zu gelangen.

Deswegen verabschiedeten wir uns an der Wohnungstür, so herzlich, als würden wir uns mehrere Wochen lang nicht sehen.

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Der Himmel konnte seine Tränen gerade noch zurückhalten, so traurig schien er zu sein, dass ich nicht in Berlin zu meiner alten Schule lief. Ich konnte ihn gut verstehen.

Mit Zitterpuddingbeinen schlich ich meiner neuen Schule ent-gegen. Auf dem Weg kam ich an ein paar renovierten Platten-bauten vorbei. Jedenfalls sahen sie aus, als wären sie außen herum neu verkleidet und mit frischer Farbe angestrichen worden. Zwi-schen dem Wohngebiet und der Schule lag das Stadion. Diese Bezeichnung war ein Witz. Jedoch stand auf einem großen ver-witterten Schild am Eingang:

Willkommen in unserem Sportstadion.

Damit war ein kleiner Rasenplatz gemeint, der von einer roten Aschebahn umschlossen wurde. Daneben, parallel zur langen Seite der eingezäunten Sportanlage, erhob sich ein leer stehender Wohnblock und wartete auf seinen Abriss. Sein Zustand weckte mein Mitleid. Vielleicht musste er wegen seines trostlosen Äu-ßeren weichen? „Wo mögen wohl all die ehemaligen Bewohner jetzt sein?“, dachte ich.

Von wie vielen spannenden, lustigen und traurigen Geschichten musste das armselige Gebäude berichten können? Ich schätzte, dass in ihm mehr als tausend Menschen gewohnt hatten. Schließ-lich war der Betonkoloss elf Stockwerke hoch und besaß neun Eingänge mit zwei Aufgängen, je einem rechts und links vom Fahrstuhl. In jeder Etage eines Aufganges hatten zwei Familien gewohnt. Es war genauso ein Typ Menschenfresser, in dem wir jetzt wohnten. Mit dem Unterschied, dass unser Plattenbau nur drei Eingänge besaß. Einige Fensterscheiben des Abrissblocks, vor allem die in den unteren Etagen, waren bereits eingeworfen worden.

Schülergruppen verschiedenen Alters zogen, beladen mit schwe-ren Rucksäcken, der Schule entgegen. Nur die Kleinen fehlten. Für die Schüler der ersten bis vierten Klasse gab es am anderen

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Ende des Wohngebietes eine Grundschule. Neben mir liefen ein paar lange Kerle. Vermutlich gingen sie etwa in die neunte Klas-se. Ihre Größe und Coolness wollten sie durch das Qualmen von Zigaretten noch hervorheben. Vielleicht versuchten sie dadurch auch, den Mädchen zu imponieren. Obwohl einige der Mädchen selbst rauchten.

Mir könnte damit niemand imponieren, im Gegenteil. Der Gestank reichte mir schon, und wenn ich mir vorstellte, einen Qualmer zu küssen ...

„Ekelhaft, kannste gleich einen Aschenbecher abschlecken“, dachte ich und schüttelte mich.

Das Schulgebäude war ein schlichter Betonkasten mit viel Glas, meiner alten Berliner Schule sehr ähnlich, und im Inneren roch es nach Reinigungsmitteln. Beschriftete Pfeile wiesen mir den Weg zum Schulsekretariat.

Dort begrüßte mich eine Frau, die in Mutters Alter zu sein schien. Sie stellte sich als Frau Rose vor. Der Name schmeichelte ihr ein wenig. Sie sah weder sehr schön aus, noch verbreitete sie einen angenehmen Duft. Wenigstens war sie nett und verbarg ihre Dornen.

Nachdem ich ihr gesagt hatte, wie ich hieß, blätterte Frau Rose in einem Ordner und brummelte dabei vor sich hin: „Juliane Siebert, Juliane Siebert, ach, hier haben wir sie doch!“ Sie hob den Kopf und wandte sich mir zu. „Du kommst in die 6a, das ist die Klasse von Frau Schön.“ Frau Rose bat mich, ihr zu folgen, und führte mich über den gleichen Flur zu einer Tür mit einem Schild, auf dem unübersehbar Lehrerzimmer stand.

Meine Begleiterin wollte die Tür gerade öffnen, als ihr eine Frau auf der anderen Seite des Durchgangs zuvorkam.

„Ach, das trifft sich ja gut“, trällerte Frau Rose. „So kann ich dich gleich deiner Klassenlehrerin übergeben.“

Frau Schön begrüßte mich freundlich und erklärte mir auf dem Weg zu meinem zukünftigen Klassenraum, dass wir bei ihr Deutsch, Englisch und Ethik hätten. Ihr Name passte im Gegen-

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satz zu dem von Frau Rose sehr gut zu ihr. Die Lehrerin war wirk-lich schön, schlank und groß. Sie besaß lange blonde Haare, die sie offen trug, und ihr Gesicht war ebenmäßig, völlig pickelfrei und schien nicht einmal geschminkt zu sein. Jedenfalls konnte mein für solche Fassadenmalereien geschulter Blick nichts der-gleichen entdecken. Ihre langen Beine steckten in einer blauen Jeans und auf ihrer Wickelbluse hatte sich eine ganze Frühlings-wiese breitgemacht.

„Es fehlen nur noch ein paar bunte Schmetterlinge“, dachte ich.

„Du wirst den einzigen freien Platz in der Klasse bekommen“, sagte Frau Schön soeben. „Neben einem Jungen.“

Mir wurde plötzlich heiß. Sollte mein Traum in Erfüllung ge-hen? Der einzige freie Platz neben einem Typen, der Leon Wilson zum Verwechseln ähnlich sah?

Es läutete zum Unterricht. Und obwohl wir noch ein gutes Stück vom Klassenraum entfernt waren, drang ein ziemlicher Lärm zu uns nach draußen. Frau Schön atmete einmal tief durch und betrat vor mir die Klasse. Ich folgte ihr und spürte, wie mein Herz bis zum Hals schlug. So ein Gefühl hatte ich erst einmal gehabt, vor der Judo-Prüfung für den gelben Gürtel.

In der Klasse wurde es nach und nach ruhiger. Vermutlich we-niger wegen Frau Schöns Erscheinen als eher, weil die Schüler mich wahrnahmen. In meiner alten Klasse war es genauso gewe-sen, wer neu hinzukam, der musste erst einmal gecheckt werden. Ich spürte, wie mich alle anstarrten, und glaubte, mein Gesicht hätte sich in eine reife Tomate verwandelt. Verlegen, was ich sonst eigentlich selten wurde, starrte ich auf den unansehnlichen, abgewetzten Parkettfußboden.

Frau Schön begrüßte die Runde mit einem herzlichen „Guten Morgen“, was die Schüler gelangweilt erwiderten. Danach wurde es mucksmäuschenstill.

Die Klassenlehrerin sagte, dass ich eine neue Mitschülerin sei, was sicher ohnehin alle vermuteten, und bat mich, etwas über

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mich zu erzählen. Wie ich hieße, woher ich käme und was meine Hobbys wären.

Mir steckte ein Kloß im Hals und ich wünschte mir nichts so sehr, wie jetzt in meiner alten Klasse in Berlin zu sitzen, wo mich alle kannten.

„Icke heiße ...“ So ein Bockmist, ich wollte doch auf jeden Fall vermeiden zu berlinern.

Leises Gekicher und Geschwatze drangen an meine Ohren. „Also, ich heiße Juliane Siebert. Meine Freunde rufen mich

Jule. Icke ... ich komme aus Berlin und höre gern Musik, am liebsten ...“

„Nicky Demon, den kleinen niedlichen Bubi?“, spöttelte ein blondes Mädchen in der vordersten Bank, die direkt am Lehrer-tisch stand. Lautes Gelächter setzte ein.

Ich fand es nicht so lustig. „Nee, am liebsten hör ich Leon Wil-son. Den finde ich cooler als Nicky Demon!“ Vom Judo wollte ich nun nichts mehr erzählen. Auf dumme Bemerkungen des-wegen konnte ich gerne verzichten.

Frau Schön erlöste mich und schickte mich zur letzten Bank an der Fensterseite. Zwei weitere Bankreihen standen jeweils an der Wandseite und in der Mitte, wo sich auch das Lehrerpult befand. An der Wand hingen ein paar Antidrogenplakate, die vermutlich von den künstlerisch begabtesten meiner neuen Mitschüler ge-staltet worden waren.

Ich ging nach hinten zu dem mir zugewiesenen Platz, nun aber nicht mehr mit gesenktem Kopf. Als ich noch vor der Klasse stand, hatte ich ihn aus lauter Verlegenheit nicht hochbekom-men. So war es mir nicht gelungen, nach dem einzigen freien Platz Ausschau zu halten. Gern hätte ich mich davon überzeugt, ob der Typ, neben dem ich von nun an sitzen sollte, eine winzige Ähnlichkeit mit Leon vorweisen konnte.

Ich war fast an meinem Platz angelangt, als mein Blick meinen zukünftigen Banknachbarn erfasste. Ungläubig fiel mir die Kinn-lade herunter. In diesem Augenblick wusste ich, dass mein Traum

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von dem tollen Banknachbar ein Albtraum war! Denn mir strahl-te ein mondrundes Pickelgesicht mit einem Paar schmaler Seh-schlitze entgegen. Auf dem Kopf dieses dicken Typs wuchsen dunkle, fettige Haare, die in alle Himmelsrichtungen abstanden.

Was hatte ich angestellt, dass ich so hart bestraft werden sollte? Ich hasste diese Stadt mehr als je zuvor, ich hasste diese Schule, diese Klasse und tausendprozentig dieses Fass vor mir ...

„Die Icke und der Fettsack“, krähte ein schmächtiger, blasser Junge höhnisch. „Voll krass!“

Die anderen kicherten.„Fast wie Dick und Doof“, gab die Blonde aus der ersten Bank

ihren Senf dazu. „Aber ein hübsches Paar!“ Aus dem Gekicher wurde lautes Gelächter, bis Frau Schön

streng um Ruhe bat. Zu meiner Überraschung gehorchte die Klasse dieser Aufforderung.

Blondi aus der ersten Bank würde wohl nicht meine beste Freundin werden. So viel stand schon mal fest! Doch an meinem ersten Tag in der neuen Klasse wollte ich jeden Ärger vermeiden.

In den ersten beiden Stunden hatten wir Literatur. Frau Schön kontrollierte, ob die Klasse das Gedicht Der Erlkönig aufsagen konnte, das die Schüler über die Osterferien hatten lernen sollen. Sie fragte mich, ob in meiner alten Klasse das Gedicht schon dran gewesen wäre.

Wir hatten den ollen Erlkönig schon während der Winterferien lernen müssen. Das behielt ich jedoch für mich und schüttelte nur stumm den Kopf. Frau Schön meinte daraufhin gnädig, dass sie auch mir vierzehn Tage Zeit lassen wolle, um es zu lernen. Das war’s für den Rest des Literaturunterrichts. Ich hatte meine Ruhe. Eine viel zu geringe Entschädigung dafür, dass ich neben dem Dicken sitzen musste.

Ich sah flüchtig zu ihm hin. Auf der Stirn seines rot glühenden Kopfes tummelten sich unzählige kleine Schweißperlen. Ver-mutlich war es für ihn schon anstrengend, einfach nur zu atmen.