Pfordten 2010_Normative Ethik - Welche Wesen

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 XIII. Welche Wesen sind ethisch zu berücksichtigen?

Zur weiteren Aufklärung der möglichen Relationsglieder von Pflichten primärer und se-kundärer Normordnungen und zur Bestimmung der Reichweite der hier entfalteten Ethikdes normativen Individualismus muss nun die bisher zurückgestellte Frage erörtert wer-den, welche Lebewesen, Dinge oder allgemein Seiende ethisch zu berücksichtigen sind.1

Die selbständige ethische Berücksichtigung eines Anderen setzt voraus, dass er ei-gene Belange, also Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche oder Ziele entfaltet. Der Anderemuss mehr sein und tun als leblose Materie, die nur physikalischen Kräften oder sons-tigen externen Beeinflussungen unterliegt. Ein Stein verdient keine ethische Berück-sichtigung, weil er in seiner Existenz und seinen Veränderungen bloß kausales Ergebnisphysikalischer Kräfte ist. Eine Maschine verdient keine ethische Berücksichtigung, weilsie nicht nur von anderen hergestellt, sondern auch in allen strebungsähnlichen Abläu-fen durch ihren Konstrukteur bestimmt wird. Was von anderen hergestellt und in allseinen Prozessen von uns Menschen determiniert ist, dem können wir keine eigenstän-dige Fähigkeit zuerkennen, unsere Handlungen ethisch, das heißt jenseits der bloßenNaturgesetze einzuschränken. Denn wir hätten die Maschine auch anders konstruierenund bestimmen können, ohne dass dagegen von einem ethischen Standpunkt etwas

einzuwenden gewesen wäre. Der Gedanke, dass derjenige, der etwas vollständig oderpraktisch vollständig herstellt und damit in seiner Existenz determiniert, auch darüberverfügen kann, spielt in vielen Argumentationszusammenhängen eine Rolle, zum Bei-spiel in der Eigentumstheorie John Lockes.2 Danach erwirbt derjenige an einem Gegen-stand Eigentum, der ihn bearbeitet oder herstellt und damit bestimmt.

Die Entwicklung von Computern begann wie die von anderen Werkzeugen unterdem Signum einer vollständigen Instrumentalisierung durch den Menschen. Diese voll-ständige Instrumentalisierung schließt ihre eigenständige ethische Berücksichtigungs-würdigkeit aus. Auch wenn Computer partiell Selbststeuerungselemente erzeugen, sobleiben diese doch im Rahmen menschlicher Zwecksetzungen. Avancierte Computerkönnen mittlerweile primitive Programmierungsschritte ausführen. Dies geschieht abernur als Erfüllung menschlicher Programmvorgaben höherer Ordnung. Selbst die primi-

tivste Pflanze entwickelt sich dagegen gemäß ihrem genetischen Programm selbst undwird allenfalls im Rahmen dieser Entwicklung von Menschen instrumentalisiert. Es istaber nicht zu leugnen, dass sich beide Klassen von Individuen in ihrer ethischen Signi-

1 Vgl. zu den folgenden Überlegungen: Verf., Eine Ökologische Ethik der Berücksichtigung anderer Le-bewesen, in: Konrad Ott / Martin Gorke (Hg.), Spektrum der Umweltethik, Marburg 2000, S. 41–65;ders., Ökologische Ethik. Zur Rechtfertigung menschlichen Verhaltens gegenüber der Natur, S. 237 ff.

2 John Locke, Two Treatises of Government, The Second Treatise, § 25 ff.

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3391. Sind nur empfindungsfähige Lebewesen zu berücksichtigen?

fikanz mit der zunehmenden Selbststeuerung von Computern und der zunehmendenGenmanipulation von Pflanzen anzunähern beginnen. Da Computer aber von vornher-ein für menschliche Zwecke konstruiert wurden, wird man von einem Überschreiten derGrenze zur ethischen Berücksichtigungswürdigkeit trotz steigender Selbststeuerungsan-teile erst ausgehen können, sobald sie einen eindeutigen Bruch mit der menschlichenVorgabe der Instrumentalisierung vollziehen, also Strebungen entfalten, die signifikantvon diesen menschlichen Vorgaben abweichen, das heißt, falls sie zum Beispiel selb-ständig aus den menschlichen Verwertungszusammenhängen ausbrächen, etwa sich alsRoboter „in die Wälder schlagen“ und eine eigenständige Existenz führen würden.

1. Sind nur empfindungsfähige Lebewesen zu berücksichtigen?

Viele Ethiker sind der Auffassung, dass nur empfindungsfähige, das heißt bewusstseins-fähige Lebewesen, also höhere Tiere mit Nervensystem und Menschen ethisch zu be-rücksichtigen sind. Man bezeichnet diese Auffassung als „pathozentrisch“. Gegen die pa-thozentrische Auffassung und für eine „biozentrische“ Haltung, wonach alle Lebewesen,also auch Tiere ohne Nervensystem, Pflanzen und Mikroorganismen, prinzipiell ethischeBerücksichtigung verdienen, sprechen wenigstens die folgenden vier Argumente:

Konsequente Vertreter der pathozentrischen These müssen erstens jede moralischeBerücksichtigung irreversibel komatöser Menschen um ihrer selbst willen ausschließen.Nur die Belange der Angehörigen dieser Menschen oder deren frühere Belange im be-wussten Zustand können als ethisch und moralisch berücksichtigungswürdig angesehen

werden. Dies dürfte mit den allgemeinen Überzeugungen, die hinter der gegenwärtigakzeptierten Praxis der monate- und jahrelangen, aufwendigen Pflege irreversibel koma-töser Patienten steht, kaum vereinbar sein. Der Pathozentriker müsste also einen allge-meinen Irrtum der gegenwärtigen moralischen Auffassungen behaupten und erklären.

Zweitens haben auch bewusstseinsfähige Lebewesen Strebungen, die ihnen selbst nie-mals bewusst werden und deren Missachtung trotzdem ethisch unerlaubt ist. Die Schä-digung des Immunsystems des Menschen war sicherlich bereits ethisch verwerflich, be-vor die Medizin das Immunsystem entdeckte. Sie ist ethisch verwerflich, auch wenn einKind nichts von seinem Immunsystem weiß. Wenn es aber nicht nötig ist, dass sich dasBewusstsein eines Individuums auf die ethisch relevante Funktion bzw. Strebung seinesKörpers bezieht, so ist kaum einsichtig, warum eine vergleichbare Funktion bzw. Stre-bung bei anderen Lebewesen ohne Bewusstsein ethisch irrelevant sein soll. Auch Pflanzen

haben zum Beispiel ein Immunsystem, das zwar primitiver, aber demjenigen von Tierenund Menschen in seiner Strebungsstruktur zum Zweck der Selbsterhaltung jenseits blo-ßer physikalischer Gesetze vergleichbar ist.

Sieht man das Bewusstsein einerseits als conditio sine qua non für die Anerkennung vonBelangen eines Individuums an, lässt man aber andererseits die Berücksichtigung einzelnerInteressen ohne Bewusstseinssteuerung zu, so führt das zu wenig plausiblen Konsequenzen.Man gelangt auf diese Weise zu einer Ethik, die uns bei der Wahl eines anderen Kriteriumsganz absurd erschiene. Niemand würde etwa zugestehen, dass es zulässig wäre, die Menge

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340  XIII. Welche Wesen sind ethisch zu berücksichtigen?

der ethisch relevanten Betroffenen nach einem abstrakten Maßstab und vollständig unab-hängig von den Kriterien für konkrete Interessenverletzungen zu bestimmen, etwa indemman allgemein festlegte, ausschließlich Weiße seien ethisch zu berücksichtigen, und dannerst fragt, welche einzelnen Strebungen bzw. Belange dieser willkürlich eingeschränktenKlasse von Individuen Berücksichtigung verdienen.

Mit der Hypostasierung des Bewusstseinskriteriums als Schibboleth für die Trägervon Belangen werden also – zumindest auf einer ersten Stufe – nicht die tatsächlich beste-henden Strebungen als ethisch relevant angesehen, sondern eine zusätzliche Eigenschaftihrer Träger. Dies ist in zweifacher Hinsicht unbefriedigend: Ungelöst bleibt damit zumeinen, was dann als Kriterium für das Bestehen einzelner Interessen fungieren soll. We-nig einleuchtend erscheint es zum anderen, die wesentliche normative Begründungslastnicht in der eigentlich normativ-ethisch signifikanten Eigenschaft der Strebung, sondernin der kognitiven Trägereigenschaft der Bewusstseinsfähigkeit zu lokalisieren. Man be-geht damit einen naturalistischen Fehlschluss, denn man knüpft eine Wertung als ethischzu berücksichtigendes Individuum nicht an eine ihrerseits normative Tatsache wie dieStrebung, sondern an eine nichtnormative Tatsache wie das Bewusstsein.

Drittens wirft die Koppelung des Interessenbegriffs an die Begriffe Bewusstsein undEmpfindung noch ein tiefer liegendes Problem auf. Die Begriffe des Bewusstseins undder Empfindung sind zunächst rein empirische Begriffe. Sie finden ihre Anwendung inverschiedenen empirischen Wissenschaften, etwa der Psychologie, der Biologie und derMedizin. Sie werden dort ausschließlich deskriptiv gebraucht. Eine wertende Kompo-nente wie bei anderen Begriffen der Ethik, etwa „gut“ oder „gerecht“, ist nicht erkenn-bar. Der Begriff „Belang“ bzw. „Interesse“ erfüllt dagegen – zumindest im Zusammen-

hang einer normativ-ethischen Rechtfertigung – eine praktisch-begründende Funktion.Er stellt eine rechtfertigende Brücke zwischen Deskriptionen und moralischen bzw.ethischen Präskriptionen her und ist kein rein deskriptiver Begriff.

Versucht man nun, den solchermaßen praktischen Belang- bzw. Interessenbegriffdurch einen rein deskriptiven Begriff, wie Bewusstsein oder Empfindung, zu konkretisie-ren, ohne die gesamte ethische Rechtfertigung mit ihrer Verbindung von Tatsachen undNormen in den Blick zu nehmen, so bleibt diese Konkretisierung zwangsläufig eine bloßeDezision, ohne wirklich rechtfertigen zu können. Man kann hier auch ein beliebiges en-geres oder weiteres Kriterium wählen, etwa Sprachfähigkeit oder die Qualität, ein Lebewe-sen zu sein. Wenn man ein Resultat aus der Diskussion um das Sein-Sollen-Problem undden naturalistischen Fehlschluss ziehen kann, so ist es das Verbot jeder rein naturalistisch-deskriptiven Lösung der Qualifikation ethisch zu berücksichtigender Individuen. Der In-

teressenbegriff bedarf natürlich einer Konkretisierung durch stärker deskriptive Begriffewie Strebung, Bedürfnis, Wunsch und Ziel, sonst kann er seine Vermittlungsfunktionzwischen Tatsachen und Normen nicht erfüllen. Aber der Einbau deskriptiver Begriffemuss seinerseits unter Berücksichtigung der spezifischen Rechtfertigungsfunktion des In-teressenbegriffs im Rahmen einer praktischen Begründung erfolgen. Andernfalls kann dieethische Rechtfertigung keine normative Begründungskraft gewinnen.

Die normative Begründungskraft der Strebungen ergibt sich daraus, dass sie – wiesich in Kapitel II, 2 zeigte – nicht nur einfache Tatsachen sind, sondern eine Form des

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3412. Sind Naturkollektive wie Arten oder Ökosysteme zu berücksichtigen?

Selbstbezugs und des Selbsterhaltungsstrebens aufweisen. Um einen Anderen als ethischberücksichtigungswürdig anzuerkennen, ist ein solcher irgend gearteter Selbstbezug, einsolches eigenes selbstbezogenes Streben jenseits rein physikalischer Kräfte nötig. Stre-bungen sind wenigstens biologisch, gehen also über rein physikalische Kräfte hinausund können deshalb der Voraussetzung eines solchen Selbstbezugs genügen.

Dazu kommt ein weiterer wichtiger Aspekt: Moral und Ethik schränken die Hand-lungen des Akteurs im Interesse Anderer ein. Das impliziert aber, dass nicht der einzu-schränkende Akteur entscheiden darf, wodurch er eingeschränkt wird. Teil der Selbstzu-schreibung der ethisch zu berücksichtigenden Anderen muss demnach auch die Art und

 Weise ihres Selbstbezugs sein. Als rationales, sprachbegabtes und empfindungsfähiges Wesen darf der Mensch deshalb nicht einfach Rationalität, Sprachbegabung oder Emp-findungsfähigkeit zum notwendigen Kriterium des Interessenbegriffs für andere, vonihm ethisch zu berücksichtigende Wesen erklären. Denn dann wären nicht der Selbst-bezug der betroffenen Individuen und damit der ethisch zu berücksichtigende Andereentscheidend, sondern eine Kategorie, die der Akteur bestimmt, dessen Handlungengerade durch die Belange des betroffenen Anderen eingeschränkt werden sollen.

Viertens: Der Vertreter einer pathozentrischen Position könnte sich durch diese Ar-gumente noch nicht überzeugt zeigen und einwenden, dass es für die Berücksichtigungder Strebungen von Lebewesen ohne Empfindungsfähigkeit keine besseren Gründe alsfür die Beschränkung auf die Berücksichtigung der Strebungen von Lebewesen mit Emp-findungsfähigkeit gebe. Hier stellt sich die Frage der Beweislastverteilung. Schließt man –wie oben – rein physikalische Einwirkungen auf den Menschen als Grundlage für eineethische Berücksichtigung aus, dann verbleibt die Menge der Wesen mit biologischen

Strebungen und als weitere Teilmenge die Menge der Wesen mit bewussten Strebun-gen, also mit Bedürfnissen, Wünschen und Zielen. Erkennt der Mensch die biologischenStrebungen anderer Wesen, so ergibt sich – wenn er überhaupt bereit ist, moralisch bzw.ethisch und nicht nur eigenorientiert zu handeln –, dass alle diese Strebungen in ihremnormativen Status gleich sind. Das Fluchtverhalten eines Insekts erkennt er als prinzipiellgenauso eigenbezogen wie das Fluchtverhalten eines empfindungsfähigen höheren Wir-beltiers. Um nun nur das Fluchtverhalten des höheren Wirbeltiers als ethisch berücksich-tigenswert anzusehen, bedürfte der Akteur einer Rechtfertigung. Die Argumentationslastfür seine eingeschränkte Berücksichtigung liegt also auf der Seite der pathozentrischen,nicht aber auf der Seite der biozentrischen Position. Da eine Rechtfertigung für die pa-thozentrische Einschränkung nicht ersichtlich ist, muss es bei der biozentrischen Positionbleiben. Alle Lebewesen verdienen demnach ethische Berücksichtigung.

2. Sind Naturkollektive wie Arten oder Ökosystemezu berücksichtigen?

 An dieses biozentrische Ergebnis schließen sich zwei Fragen an: Zunächst ist zu fragen,was unter „Lebewesen“ zu verstehen ist. Es dürfte unzweifelhaft sein, dass dazu Tiere,Pflanzen und Mikroorganismen als Individuen gehören. Aber fallen darunter auch Na-

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342  XIII. Welche Wesen sind ethisch zu berücksichtigen?

turkollektive wie Arten, Ökosysteme, die Biosphäre oder sogar das Universum, weil ihrSelbstbezug demjenigen eines Lebewesens entspricht? Sollen wir Arten, Ökosysteme,die Biosphäre oder sogar das gesamte Universum um ihrer selbst willen schützen undnicht nur aus menschlichen Interessen? Die Überlegungen sind hier an einem Punkt an-gelangt, wo die Sachkompetenz der Biologen gefragt wäre. Nach meiner Einschätzungkann man bei Arten nicht von einem selbstbezogenen Gleichgewichtszustand eines of-fenen Systems ausgehen. Die Mitglieder von Arten ähneln sich, aber das tun sie nur alsIndividuen. Sie interagieren, aber das tun sie nur als Individuen. Arten weisen keinenSelbstbezug auf wie eine Zelle. Dies zeigt die biologische Definition des „Artbegriffs“.Es handelt sich um eine „reproduktiv isolierte Gruppe von Populationen, die sich mit-einander kreuzen können, weil sie dieselben Isolationsmechanismen haben“.3

Ökosysteme und die Biosphäre werden dagegen von manchen immerhin in einemgewissen selbstregulierenden Gleichgewichtszustand gesehen. Bei ihnen läge im Falledes Zutreffens dieser Annahme die Parallele zu Lebewesen näher. Allerdings wird dieserGleichgewichtszustand ausschließlich durch das Verhalten der Individuen und durchphysikalische Faktoren herbeigeführt und aufrecht erhalten. In einem Ökosystem gibtes – soweit ersichtlich – nichts, was dem Selbstschutz durch ein Immunsystem bei Le-bewesen oder dem Fluchtverhalten bei Tieren entsprechen würde. Die biologische Defi-nition des Begriffs „Ökosystem“ unterstützt diese Zweifel: Als Ökosystem gilt demnach„jede Einheit, die alle Organismen in einem gegebenen Areal umfasst und die mit derphysikalischen und chemischen Umwelt in Austausch steht, so dass ein Energiefluss klardefinierte Nahrungsketten, Mannigfaltigkeit der biologischen Beziehungen und Stoff-kreisläufe schafft“.4 Auch für Ökosysteme wird man deshalb die ethische Berücksichti-

gung um ihrer selbst willen ablehnen müssen.Gegen diese Argumentation wurde geltend gemacht,5  dass nicht nur Arten und

Ökosysteme und deren Regulationsmechanismen unter streng reduktionistisch-mecha-nistischer (kybernetisch-systemtheoretischer) Perspektive betrachtet werden können, son-dern auch Organismen einschließlich des Menschen und deren Zwecke. Moderne The-orien der Selbstorganisation gingen grundsätzlich davon aus, dass sich die zielgerichtetenVerhaltensweisen von Lebewesen ausschließlich kausal erklären lassen. Dagegen wird maneinwenden müssen, dass eine rein kausale Erklärung alles Tuns und Handelns auch jedeEthik aufhebt. Die ethische Einschränkung von Handlungen und die ethische Reflexionfinden sowieso auf einer Ebene statt, die nicht kausal-systemtheoretisch und damit ky-bernetisch-reduktionistisch erklärbar ist. Das heißt, für die Berücksichtigung Anderer imRahmen einer ethischen Theorie muss man in jedem Fall die bloße Kausalgesetzlichkeit

überschreiten. Dann bietet sich aber eine Stufenfolge in der Komplexität des Selbstbezugsals relevantes Kriterium an. Das Immunsystem einer Pflanze mag partiell kausal erklärbarsein, aber die Kausalität ist die Binnenkausalität dieser Pflanze, die von der allgemeinenphysikalischen Kausalität ein Stück weit als biologische Strebung emergent abgekoppelt

3 Ernst Mayr, Das ist Biologie. Die Wissenschaft des Lebens, Heidelberg 1998, S. 401.

4 Eugene P. Odum, Grundlagen der Ökologie Band 1, 2. Aufl. Stuttgart 1983, S. 10.

5 Martin Gorke, Artensterben. Von der Ökologischen Theorie zum Eigenwert der Natur, S. 272.

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3433. Sind die Lebewesen alle gleich oder ungleich zu berücksichtigen?

und in sich geschlossen ist. Diese Abkopplung und Selbstschließung unterscheidet sichnicht prinzipiell, sondern nur graduell von menschlichen Belangen. Deshalb gibt es kei-nen Grund, sie im Rahmen einer Ethik nicht zu berücksichtigen. In einem Ökosystemmögen etwa Populationen voneinander abhängig sein und in ein Gleichgewicht gelangen.

 Aber es gibt keine manifest gewordene, für die Erhaltung des Ganzen zuständige Einrich-tung, wie etwa ein Immunsystem oder das Fluchtverhalten eines Tieres.

Die Ablehnung einer eigenständigen ethischen Berücksichtigungswürdigkeit von Arten, Ökosystemen und der Biosphäre bedeutet natürlich nicht, dass ihre Zerstörungethisch erlaubt wäre. Allerdings liegt der Grund für die starke Verpflichtung, sie zu be-wahren, nicht in ihrem Eigenwert als Ganzes, sondern in den Belangen der von ihrerZerstörung betroffenen Lebewesen, also den Belangen der betroffenen Menschen, Tie-ren, Pflanzen und Mikroorganismen.

3. Sind die Lebewesen alle gleich oder ungleichzu berücksichtigen?

Eine zweite wesentliche Frage lautet, ob die ethisch zu berücksichtigenden Lebewesen allegleichwertig oder aber hierarchisch gegliedert zu berücksichtigen sind. Es gibt offensicht-lich keinen guten Grund, gleichartige Strebungen oder Bedürfnisse unterschiedlich zubehandeln, nur weil sie von unterschiedlichen Arten von Lebewesen stammen. Allerdingswerden auch bei gleichartigen Lebewesen verschiedenartige Belange unterschiedlich starkgewichtet. Es gibt Belange, die einer intensiveren, komplexeren und damit eigenständi-

geren, das heißt stärker von den physikalischen Kräften entkoppelten Selbstzuschreibungentspringen. Dies muss auch über Artgrenzen hinweg ein Kriterium sein. Empfindungsfä-higkeit, Rationalität und Sprachfähigkeit können daher die ethische Berücksichtigung vonnichtempfindungsfähigen Wesen nicht ausschließen. Aber sie markieren eine intensivere,komplexere und damit eigenständigere Selbstzuschreibung von Belangen. Sie sind alsonicht für das „Ob?“ einer Interessenzuerkennung entscheidend, wohl aber für das „Wiestark?“. Plausibel erscheint also eine nichtegalitäre und somit hierarchische biozentrischePosition im Hinblick auf die jeweiligen Belange. Alle singulären Lebewesen verdienenethische Berücksichtigung. Aber je komplexer und intensiver ihre Belange werden, des-to stärkeres Gewicht verdienen diese Belange in der ethischen Abwägung. Das bedeutetnicht, dass die Belange niederer Lebewesen zwangsläufig denen höherer Lebewesen zuweichen hätten, sondern erfordert nur eine stärkere Berücksichtigung in der Abwägung.

Die zentralen Leidens- und Überlebensinteressen von Tieren verdienen etwa wohl grund-sätzlich gegenüber den Gaumenfreuden der Menschen Vorrang, soweit diese sich ohnegrößere Schwierigkeiten vegetarisch ernähren können.

Pflanzen sind viel weniger komplex als Menschen. Deshalb sind die Belange vonPflanzen so schwach, dass sie in den weitaus meisten Fällen gegenüber denen des Men-schen zurückzustehen haben. Aber es gibt doch Fälle, in denen die Kumulation einerVielzahl von tierischen und pflanzlichen Belangen den Ausschlag geben wird, wenn dieVorteile der Menschen nur gering sind, vor allem bei Großprojekten zum Beispiel Stau-

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344  XIII. Welche Wesen sind ethisch zu berücksichtigen?

dämmen oder Kanälen, sofern deren wirtschaftlicher Nutzen zweifelhaft oder marginalist. Hier wird sich auch in der Praxis ein großer Unterschied, insbesondere zu pathozen-trisch-utilitaristischen Positionen ergeben, auch wenn manchmal versucht wird, diesepraktische Differenz nicht allzu groß erscheinen zu lassen. Fest steht, dass die utilita-ristische Doktrin, die weite Teile unseres traditionellen Denkens gerade in der Politikmitbestimmt hat, für die massive Ausbeutung der Natur mitverantwortlich ist. Man wirddeshalb nicht zu einem verbesserten Naturschutz kommen können, wenn man den Uti-litarismus als umfassende ethische Leitlinie nicht aufgibt.

Man kann versuchen, die relative Höherwertigkeit der Belange der einzelnen Artenvon Individuen genauer zueinander in Beziehung zu setzen, indem man die zentraleVokabel des Selbstbezugs im Hinblick auf die Grundkategorie der Zeit aufspaltet. Manerhält dann die Aspekte der Selbstentstehung, Selbstentfaltung und Selbsterhaltung.

 Jedes Wesen wird jedes dieser Elemente zumindest in Rudimenten entwickeln müssen,um ethisch berücksichtigungswürdig zu sein.

Für einzelne Typen von Wesen ergeben sich dann folgende tentativen Einschätzun-gen ihres Selbstbezugs, wobei „x“ das bloße Vorhandensein des Merkmals meint undmehrere „x“ eine eigenständigere Ausprägung. Nicht im pliziert ist darin eine interper-sonale Austauschbarkeit in Form eines Nutzensummenkalküls. Variabilitäten durchmenschliche Manipulationen sind durch Klammern gekennzeichnet und können sichdurch zunehmende technische Möglichkeiten natürlich vergrößern:

Selbstbezug einzelner Arten von Wesen

Selbstent- stehung 

Selbstent-faltung 

Selbsterhal-tung 

Belange

Mensch xxxxxx(x) xxxxxxx xxxxxxx Ja  

höh. Wildtier xxxxxxx xxxxx xxxxx Ja  

höh. Nutztier xxxxx(xx) xxx(xx) xxx(xx) Ja  

 Wildtier xxxxxxx xxx xxx Ja 

Nutztier xxxx(xxx) x(xx) x(xx) Ja  

 Wildpflanze xxxxxxx xx xx Ja 

Nutzpflanze xxxx(xxx) x(x) x(x) Ja  

Mikroorganismus xxxxxxx x x Ja  

Nutzorganismus xx(xxxxx) x) x) Ja  

Stein / Fluss – – – Ja  

 Art – – – Nein

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3453. Sind die Lebewesen alle gleich oder ungleich zu berücksichtigen?

Selbstent- stehung 

Selbstent-faltung 

Selbsterhal-tung 

Belange

Ökosystem ? ? – Nein

Biosphäre ? ? – Nein

Computer – x) x) Nein

Erläuterung:

Höheres Wildtier : Selbstentstehung wie beim Menschen durch Erbgutverschmelzung,Selbstentfaltung und Selbsterhaltung ebenfalls, aber mangels Rationalität und entwi-ckelter Sprache nicht so elaboriert.

Höheres Nutztier : Selbstentstehung wie beim Menschen durch Erbgutverschmel-zung, aber partiell durch Züchtung und auch schon durch Genmanipulation einge-schränkt, Selbstentfaltung und Selbsterhaltung ebenfalls durch Haltung eingeschränktund mangels Rationalität und entwickelter Sprache nicht so elaboriert.

Wildtier : Selbstentstehung gegeben, Selbstentfaltung und Selbsterhaltung vorhan-den, aber nicht so elaboriert wie bei höheren Wildtieren, zum Beispiel mangelnde Emp-findungsfähigkeit usw.

Nutztier : Selbstentstehung durch Züchtung und Genmanipulation eingeschränkt,ebenso die Selbstentfaltung und Selbsterhaltung.

Wildpflanze : Selbstentstehung gegeben, Selbstentfaltung und Selbsterhaltung eben-falls, aber mangels Rationalität, Sprache, Empfindungsfähigkeit, sehr hoch entwickel-

tem Immunsystem usw. nicht so elaboriert wie bei Menschen und Tieren.Nutzpflanze : Selbstentstehung gegeben, aber durch Züchtung und mittlerweile auch

genetische Eingriffe extrem eingeschränkt, Selbstentfaltung und Selbsterhaltung eben-falls vorhanden, aber mangels Rationalität, Sprache, Empfindungsfähigkeit, sehr hochentwickeltem Immunsystem usw. nicht so elaboriert und durch Anbau und Kultivie-rung stark eingeschränkt.

 Mikroorganismus: Selbstentstehung gegeben, Selbstentfaltung und Selbsterhaltungnoch beschränkter als bei Pflanzen.

Nutzorganismus : Selbstentstehung mittlerweile durch Züchtung und Gentechnikstark eingeschränkt, ebenso die Selbstentfaltung und Selbsterhaltung. 

Stein / Fluss : Entstehung, Entfaltung und Erhaltung nur durch äußere physikalischeund chemische Faktoren.

 Art : Entstehung, Entfaltung und Erhaltung vollständig auf individuelle (Mutation)und externe physikalische Faktoren (Selektion) rückführbar.Ökosystem und Biosphäre : Selbstentstehung und Selbstentfaltung zweifelhaft, Selbst-

erhaltung jeweils vollständig auf externe physikalische Faktoren oder das Ver halten vonEinzelindividuen rückführbar.

Computer : Keine Selbstentstehung, da Konstruktion durch den Menschen, aberbei den am weitesten entwickelten Modellen Ansätze zu Selbstentfaltung und Selbster-haltung (autogene Funktionskontrolle usw.).

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346  XIII. Welche Wesen sind ethisch zu berücksichtigen?

Insgesamt ergibt sich damit folgendes Bild:

Berücksichtigung von Wesen um ihrer selbst willen

Zunehmende Berück-sichtigungswürdigkeit

Tiere

Pflanzen

Mikroorganismen

 Arten Ökosysteme Biosphäre

verschiedene Wesen

Berücksichtigt man dagegen nur menschliche Interessen, dann ergibt sich folgendes Bild:

Berücksichtigung von Wesen um des Menschen willen

Zunehmende Berück-sichtigungswürdigkeit

verschiedene Wesen

 Arten Ökosysteme Biosphäre

Mikroorganismen

Pflanzen

Tiere

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3474. Wie weit reicht die Würde?

Bringt man beide Gesichtspunkte zusammen, so erhält man folgendes Bild:

Kombination der Berücksichtigung der Wesen um ihrer selbst und um des Menschen willen,was zu einer vergleichbaren Berücksichtigungswürdigkeit führt.

 

Zunehmende Berück-sichtigungswürdigkeit

verschiedene Wesen

Tiere Pflanzen Mikroorganismen Arten Ökosysteme Biosphäre

4. Wie weit reicht die Würde?

Tiere sind um ihrer selbst willen ethisch zu berücksichtigen. Das ergaben die vorigenÜberlegungen. Man kann nun weiterfragen: Besteht so etwas wie eine Tierwürde ent-sprechend der Menschenwürde?6 Zunächst sei an die obige (Kapitel III, 7) Unterschei-dung zwischen zufälliger (kontingenter ) und notwendiger (inhärenter ) Würde erinnert.Die zufällige (kontingente ), auf der „Leistung “ des Würdeinhabers beruhende Würde isteine veränderliche Eigenschaft. Sie besteht in dem Ausdruck der Gelassenheit, der inne-ren Unabhängigkeit, des In-sich-selbst-Ruhens gegenüber äußeren Veränderungen und

 Anfechtungen. Sie umfasst einen ästhetischen Teil, etwa die Gravität, Monumentalitätund das In-Sich-Ruhen einer Person, einen institutionell-sozialen Teil, etwa bei Men-schen die Würde eines Amtes als Minister oder Bischof oder der öffentlichen Stellung

und einen expressiven Teil des würdevollen Verhaltens, etwa die Hinnahme einer Nieder-lage oder eines Verlusts mit Gelassenheit und innerer Unabhängigkeit.Die veränderliche Eigenschaft der kontingenten Würde können wir auch bei Tieren

beobachten, etwa die ästhetische Würde eines Elefanten in seiner Monumentalität, die

6 Vgl. zum Folgenden und zu rechtsethischen und rechtspolitischen Konsequenzen: Verf., Tierwürde nach Analogie der Menschenwürde?

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348  XIII. Welche Wesen sind ethisch zu berücksichtigen?

institutionelle Würde des Gorillamännchens als Anführer seiner Sippe oder die expressive Würde des unterlegenen Hirschs im Zweikampf mit einem Rivalen. In diesem Sinneeiner veränderlichen Eigenschaft bzw. „Leistung“ der Würde haben Tiere ohne Zweifeleine Würde.7 Dabei kann allenfalls fraglich sein, ob und wie die Tiere diese Würde selbstwahrnehmen. Unabhängig von einer derartigen Selbstwahrnehmung 8  verdient auchdiese Würde, wie jedes andere Lebensinteresse von Tieren, ethische Berücksichtigung.

 Wie wir Tiere nicht ängstigen oder ihnen keinen Schmerz zufügen dürfen, so dürfen wirauch ihre ästhetische, institutionelle und expressive Würde nicht einschränken, soferngute Gründe uns nicht dazu nötigen. Wir dürfen Elefanten nicht unnötig einpferchen,Gorillamännchen nicht von ihrer Sippe trennen und Hirsche nicht an Unterwerfungs-gesten hindern. Die Hühnerhaltung in Legebatterien und Schlachtviehtransporte überweite Strecken verbieten sich also bereits aufgrund der Missachtung der kontingenten

 Würde der Tiere, selbst wenn deren Wohlbefinden nicht eingeschränkt wäre.Dabei ist allerdings klar zwischen der empirischen Eigenschaft der kontingenten

 Würde und der Fassung dieser Würde als ethischem Belang zu unterscheiden. Diekontingente Würde von Tieren kann als empirische Eigenschaft nicht selbst norma-tive Quelle ethischer Verpflichtungen sein. Man kann die Rolle der bloß empirischenEigenschaft der kontingenten Würde mit der des Hungers vergleichen. Eine ethischeHilfspflicht besteht nur gegenüber tatsächlich Hungernden. Der Hunger ist also einenotwendige Bedingung der ethischen Hilfspflicht. Er ist aber nicht selbst die normativeQuelle der Verpflichtung. Die kontingente Würde kann in ähnlicher Weise Bedingungund damit Inhalt einer ethischen Verpflichtung sein. Letzte normative Quelle ethischerVerpflichtung sind – sieht man von einer transzendent-religiösen Ebene ab – nur die

abgewogenen Belange bzw. Interessen der betroffenen Individuen. Diese Belange bzw.Interessen bedürfen eines Inhalts. Und ein möglicher Inhalt ist auch die kontingente

 Würde von Tieren. Allerdings ist die veränderliche Eigenschaft der kontingenten Wür-de nur ein ethischer Belang unter vielen, keinesfalls der wichtigste. Vorrangig ist zuverhindern, dass Tiere getötet, verletzt, geängstigt oder dass ihnen Schmerzen zugefügtwerden, weil mit derartigen Verhaltensweisen elementarere Belange der Tiere missachtetwerden. Die veränderliche Eigenschaft der Würde von Tieren ist also ethisch zu berück-sichtigen – wenn sie auch nur einen weniger wichtigen Belang unter vielen darstellt.

 Angesichts der Schwäche des Belangs der kontingenten Würde im Vergleich mitanderen ethischen Belangen muss der Schwerpunkt der Frage nach einer Tierwürde in

 Analogie zur Menschenwürde auf die andere Alternative der Menschenwürde bezogenwerden, auf die notwendige (inhärente ) Würde  bzw. die Würde als „Mitgift“. Kommt

Tieren eine solche zu?

7 Ebenso: Robert Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde. Anders Josef Santeler, Die Grundle-gung der Menschenwürde bei I. Kant, S. 16.

8 Aber selbst wenn man eine derartige Selbstempfindung verneinen würde, wären unbewusste Strebungenethisch relevant. So sind wir wie erwähnt verpflichtet, das Immunsystem eines Menschen nicht zu schä-digen, auch wenn er selbst von diesem Immunsystem nichts weiß.

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3494. Wie weit reicht die Würde?

Befürworter verweisen darauf, dass Tiere um ihrer selbst willen ethisch zu berück-sichtigen seien. Folglich käme auch Tieren neben der veränderlichen Würde eine not-wendige Würde zu.9 Vertreter dieser Position gehen dabei regelmäßig folgendermaßenvor: Sie identifizieren in der Interpretation Kants die Würde mit der zweiten Formeldes Kategorischen Imperativs, der Selbstzweckformel, also der bloßen Berücksichti-gungswürdigkeit des Menschen, statt richtigerweise, wie in Kapitel II, 7 erläutert wur-de, klar zwischen Selbstzweckformel und Würdezuschreibung im Reich der Zwecke zuunterscheiden. Wird dann Kants Einschränkung der Selbstzweckformel auf vernünf-tige Lebewesen, also praktisch auf Menschen, mit einleuchtenden Argumenten kriti-siert, dann folgt die Würdezuerkennung quasi automatisch mit der Ausdehnung desKreises der ethisch zu berücksichtigenden Wesen. Das ist aber in zweifacher Hinsichtproblematisch, zum einen weil Kant Selbstzweckformel und Würde nicht ohne weite-res verbindet,10 und zum anderen weil man selbstredend untersuchen müsste, ob die

 Würde tatsächlich der Ausweitung der ethischen Berücksichtigungswürdigkeit der kan-tschen Selbstzweckformel auf nichtmenschliche Wesen folgt.

Ein anderer Versuch der Ausweitung des Würdegedankens auf nichtmenschlicheLebewesen lautet so:11 Komme dem Menschen Würde zu, so schulde er sie letztlich derNatur als seinem Herkunftsort. Dann könne man aber „versuchen“, auch jenem Grund,aus welchem menschliche Würde fließe, Würde zuzusprechen. Nichtmenschliche Lebe-wesen „hätten als Manifestationen der Natur“ Würde.12 Aber wenn etwas eine notwen-dige, aber vielleicht nicht hinreichende Bedingung von etwas anderem Bedingten ist,so darf man nicht ohne weiteres jedes Prädikat von dem Bedingten auf die Bedingungübertragen. Wasserstoff ist eine notwendige Bedingung von Wasser. Trotzdem hat Was-

ser spezifische Eigenschaften, die Wasserstoff nicht hat. Die Natur ist zwar eine notwen-dige Bedingung des Menschen und seiner inhärenten Würde. Aber die inhärente Würdekann ja eine Eigenschaft sein, die sich nur und erst beim Menschen bildet – und nachder Vorstellung Kants ist das selbstredend der Fall. Dann darf aber die inhärente Würdedes Menschen nicht auf die Natur als notwendige Bedingung übertragen werden.

Gegen die Ausweitung der inhärenten Würde auf alle ethisch zu berücksichtigendenLebewesen lassen sich im Übrigen vier Gründe anführen:

Erstens spricht dagegen das Prinzip begrifflicher Sparsamkeit, das heißt das Prinzip,keinen Begriff einzuführen, der nicht notwendig ist, um etwas Eigenständiges zu be-zeichnen. Wenn aber die Annahme der Würde nicht über die Annahme der ethischen

9 Vgl. Beat Sitter-Liver, „Würde der Kreatur“; Peter Saladin, „Würde der Kreatur“ als Rechtsbegriff, in: Julian Nida-Rümelin / Dietmar von der Pfordten (Hg.), Ökologische Ethik und Rechtstheorie, 2. Aufl.Baden-Baden 2002, S. 365–369; Gotthard M. Teutsch, Die „Würde“ der Kreatur. Erläuterungen zueinem neuen Verfassungsbegriff am Beispiel des Tieres, Bern 1995, S. 40; Josef Römelt, Jenseits vonPragmatismus und Resignation. Perspektiven christlicher Verantwortung für Umwelt, Frieden und sozi-ale Gerechtigkeit, Regensburg 1999, S. 116.

10 Vgl. Verf., Zur Würde des Menschen bei Kant.

11 Beat Sitter-Liver, „Würde der Kreatur“, S. 359 ff.

12 Zustimmend zu diesem Argument: Gotthard M. Teutsch, Die „Würde“ der Kreatur, S. 37.

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350  XIII. Welche Wesen sind ethisch zu berücksichtigen?

Berücksichtigungswürdigkeit hinausgeht und damit praktisch mit Belangen bzw. Inter-essen der ersten Stufe parallel läuft, dann bezeichnet der Würdebegriff nichts jenseitsdieser Belange bzw. der daraus resultierenden ethischen Berücksichtigungswürdigkeit.Dies dürfte auch der Grund sein, warum in der utilitaristischen Tradition der Begriffder Würde kaum verwandt wurde. Die einzige bekannte Ausnahme ist John Stuart Mill.Mill nennt im Rahmen seines qualitativen Hedonismus den Unwillen eines Menschen,auf eine seiner Ansicht nach niedere Stufe der Existenz herabzusinken, sei damit aucheine höhere Summe an Lust verbunden, „sense of dignity“.13 Dieser „sense of dignity“ist aber nicht mit ethischer Berücksichtigungswürdigkeit gleichzusetzen. Er bezeichnetgerade die Einsicht des Menschen in seine Differenz gegenüber anderen Lebewesen imHinblick auf seine Fähigkeit zu Wünschen und Zielen zweiter Stufe.

Gegen eine weite Fassung des Würdebegriffs im Sinne bloßer ethischer Berück-sichtigungswürdigkeit spricht aber zweitens auch die Begriffstradition. Die christlicheÜberlieferung des Würdebegriffs hat ihn mit der Gottesebenbildlichkeit des Menschenverbunden. Seit der römischen Antike, insbesondere aber seit der Renaissance, beziehtsich der Begriff der inhärenten Würde im Übrigen auf die Fähigkeit des Menschen,sich über die unmittelbaren Lebenstriebe und Alltagsbedürfnisse zu erheben,14 also diezweite Stufe des reflektierten Bewertens der eigenen Belange einzunehmen. Kant setztdiese Tradition mit seiner Interpretation der Würde als Selbstgesetzgebung fort. DieseBegriffstradition aufzubrechen, erscheint wenig sinnvoll.

Die spezifische Fähigkeit des Menschen, sich über die unmittelbaren Lebensstre-bungen und Alltagsbedürfnisse zu erheben und sie auf einer zweiten Ebene zu bewerten,wäre drittens ohne eigene, klar abgrenzende Bezeichnung, wenn man den Würdebegriff

derart ausdehnen und mit der ethischen Berücksichtigungswürdigkeit im Allgemeinengleichsetzen würde.

Schließlich ist viertens zu bedenken, dass der Impuls zur Wiederbelebung des Wür-debegriffs im 20. Jahrhundert von Recht und Politik ausging. Nachdem der Terminus1919 in der Weimarer Reichsverfassung und 1937 in der irischen Verfassung auftauch-te, waren es insbesondere die Charta der Vereinten Nationen von 1945, die AllgemeineErklärung der Menschenrechte von 1948 und das deutsche Grundgesetz von 1949,welche die Menschenwürde proklamiert und ihr damit besondere Bedeutung verschaffthaben. Viele Verfassungen und Menschenrechtspakte folgten.15 In diesen verfassungs-und völkerrechtlichen Normierungen wird aber eindeutig nicht jeglicher ethische oderrechtliche Anspruch von der Menschenwürde erfasst. Die Menschenwürde wird viel-mehr nur auf einen engen Kernbereich menschlicher Belange bezogen, sonst wären die

übrigen Menschen- bzw. Grundrechte überflüssig.16

 Die ethische Begriffsbildung kann

13 John S. Mill, Utilitarianism, S. 9.

14 Vgl. Maximilian Forschner, Zwischen Natur und Technik. Zum Begriff der Würde des Menschen, in:ders., Über das Handeln im Einklang mit der Natur. Grundlagen ethischer Verständigung, Darmstadt1998, S. 91–119, S. 96.

15 Vgl. Christian Starck, Menschenwürde als Verfassungsgarantie im modernen Staat, S. 457.

16 Vgl. Dieter Birnbacher, Ambiguities in the Concept of Menschenwürde, S. 113.

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3514. Wie weit reicht die Würde?

sich über diese Weiterführung der engen Tradition des Begriffs der Menschenwürdedurch Recht und Politik nicht ohne Weiteres hinwegsetzen.

 Was folgt daraus? Es erscheint nur aussichtsreich, den Begriff der Würde aufrecht-zuerhalten und zu schärfen, wenn man ihm einen eigenen, nicht mit der ethischenBerücksichtigungswürdigkeit identischen und nicht anders erfassten Gegenstand zuord-net.17 Angesichts der Notwendigkeit, mit dem Begriff der Menschenwürde eine zentraleund für ihn selbst wesentliche Eigenschaft des Menschen zu erfassen, und angesichtsder Begriffsprägung in der Tradition von der römischen Antike bis zu Kant und in denMenschenrechtserklärungen und Verfassungen muss man – wie sich oben in Kapitel II,7 ergab – die notwendige, inhärente Würde des Menschen in der spezifischen Eigenschaftder Selbststeuerung bzw. Selbstgesetzgebung des Menschen, das heißt der Wünsche bzw.Ziele zweiter Stufe gegenüber eigenen und fremden Zielen, Wünschen, Bedürfnissenund Strebungen erster Stufe lokalisieren.

Da nun aber Tiere, soweit wir wissen, mangels Vernunft niemals die Fähigkeit erwer-ben können, sich zu ihren Strebungen und Bedürfnissen auf einer zweiten Stufe vernünftigbewertend zu verhalten, kommt ihnen jenseits der einfachen Strebungen und Bedürfnisseerster Stufe, welche die ethische Berücksichtigungswürdigkeit ihrer Belange auslösen, kei-ne inhärente Tierwürde in Analogie zur Menschenwürde zu. Tiere können also zwar eineveränderliche, kontingente ästhetische, institutionelle oder expressive Würde entfalten,die auch ethisch zu berücksichtigen ist, nicht aber wie der Mensch eine in diesem Sinneeng verstandene notwendige, inhärente Würde der Ziele und Wünsche zweiter Stufe be-züglich der eigenen Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Strebungen erster Stufe.

17 Dass dies möglich ist, wird entgegen Norbert Hoerster, Zur Bedeutung des Prinzips der Menschenwürde,S. 96, durch die Problematik der Selbstzweckformel nicht ausgeschlossen.