Platon Kap 3

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    FRIEDRICH KMMEL

    Platon und Hegelzur ontologischen Begrndung

    des Zirkels in der Erkenntnis

    ERSTER TEIL

    DIE PLATONISCHE DIHAIRESISUND IHRE ONTOLOGISCHEN VORAUSSETZUNGEN

    Drittes Kapitel: Die Begrndung des dihairetischen Verfahrens in einerontologischen Prinzipienlehre ..................................................... ...... 102

    1. Das quantitative und qualitative Moment der Begriffsteilung..........................102

    2. Die Verbindung von Einheit und Relativitt des Seienden...............................106

    3. Die beiden Teile des dialektischen Verfahrens .............................................109

    4. Die pythagoreische Zahl und ihre Bedeutung fr den Gedanken einer Ver-mittlung der Gegenstze......................................................................................115

    5. Die geometrische Proportion als Darstellung der rational-irrationalen Grund-struktur des Seienden .......................................................................................... 115

    6. Die Verbindung von Raum und Zeit im mathematischen Begriff der Bewegung 124

    Die Seiten sind textidentisch mit dem Erstdruck beim Max Niemeyer Verlag

    Tbingen 1968.

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    DRITTES KAPITEL

    DIE BEGRNDUNG DES DIHAIRETISCHENVERFAHRENS IN EINER ONTOLOGISCHEN

    PRINZIPIENLEHRE

    1. Das quantitative und qualitative Moment der Begriffsteilung

    Alle Teilung hat fr Platon entsprechend der Struktur der Wirk-lichkeit einen qualitativen und einen quantitativen Aspekt. Die me-thodologischen Errterungen im Politikos sollen eine Antwort gebenauf Beschwerden ber die Lnge der Dihairesen (vgl. Politikos 283 b,286 b ff.). Ist der kontinuierliche Vollzug fortschreitender Teilung dienotwendige Bedingung einer richtigen Begriffsbestimmung, so ist ihreLnge und Krze (Politikos 283 c, 286 c), ihr berma und Man-gel (aaO. 283 c) in bezug auf das Angemessene und Schickliche

    und Gelegene und Gebhrliche und alles, was in der Mitte zwischenzwei uersten Enden seinen Sitz hat (Politikos 284 e) keinesfallsunwesentlich und vielmehr ein so zentraler Punkt des Verfahrens, dasich ein ausfhrliches Eingehen auf den Einwand rechtfertigt. Dieseiende und nicht nur begriffliche Unbestimmtheit dessen, was unter-sucht und geteilt werden soll, gibt dem quantitativen Aspekt der Tei-lung eine mehr als nur beilufige oder gar negative Bedeutung. DerBegriff der Teilung hat zwar fr uns eine fast nur noch quantitativeBedeutung angenommen, so da es ntig ist, das bei Platon in ihmlebendige qualitative Moment der angemessenen und richtigen Tei-lung ausdrcklich mitzudenken. Begriffe wie Unterscheidung, Son-derung oder Gliederung treffen eher den ganzen Umfang, den er hier

    noch hat. Gleichwohl setzt Platon nicht ohne Grund selbst beimquantitativen Aspekt an. Die Teilung oder Ausmessung und Be-stimmung des Umfangs geht zunchst auf das Mehr und Weniger(aaO. 284 b) bzw. das Groe und Kleine (Politikos 283 e). DerAusdruck meint einen Begriff und mu, wo die Anfhrungszeichenwegfallen, mit Bindestrichen versehen werden. Was sonst auch dasUnbegrenzte () oder in der pythagoreischen Formulierung dieunbegrenzte Zwei ( ) genannt wird, ist in den hier ge-

    brauchten Formeln nher verdeutlicht und zugleich in seiner Her-kunft ausgewiesen. Man ist erinnert an Anaxagoras' Bestimmung desUrsprungs, grenzenlos seiend nach Menge wie nach Kleinheit (Fr.1), und ebenso an seine Einsicht, da aus dem hyletisch gedachten

    Ursprung des allein sich die Wirklichkeit in ihrem Entste-hen und Sein nicht begreifen lt und es eines zweiten Prinzips be-darf, das Anaxagoras als Nous bestimmt,

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    whrend Platon den parmenideischen und pythagoreischen Begriff desEinen aufnimmt und der Vernunft eine andere Stelle zuweist (vgl. Phi-lebos 28 d ff.). Da in dem schlechthin Relativen und darin unbe-stimmt und widersprchlich Bleibenden (dasselbe kann je nach Hin-sicht zugleich gro und klein erscheinen) das Wirkliche nicht zurei-chend begrndet werden kann, ist auf eine formal unanfechtbareWeise in der eleatischen Dialektik gezeigt, fr die alles Relative alsin sich gegenstzlich und unendlich teilbar seinen Wirklichkeits-charakter berhaupt verliert. Anaxagoras und Platon anerkennendemgegenber zwar das Ungenge dieses Prinzips fr sich selbst, be-lassen ihm aber zusammen mit einem zweiten, begrenzenden Prinzipeine konstitutive Funktion fr die vielheitliche Wirklichkeit undberwinden damit die parmenideische Alternative. Entsprechend istim pythagoreischen Denken alles in seiner Zahl bestimmte Seiendeaus den beiden Prinzipien des Einen () und der unbestimmtenZwei () hergeleitet und begriffen. Was aber in den fr-heren Fassungen nicht ohne Grund als ein Dualismus der Weltprinzi-

    pien erscheinen konnte, ist bei Platon zu einer einheitlichen Konzepti-on verbunden, hinter die, nachdem sie einmal ausgearbeitet wurde,nicht mehr zurckgegangen werden kann.

    Mehr-und-Weniger, Grer-und-Kleiner, Wrmeres-und-Klteresusw. (vgl. Philebos 24.b ff., 25 c) umschreiben zunchst die Relativi-tt berhaupt. In ihr ist eine unbestimmte Entgegensetzung ineins miteiner ebenso unbestimmt bleibenden Beziehung ausgesagt. Um das Re-lative als solches begrifflich zu fassen, mu zunchst jede bestimmteGre ferngehalten werden. Durch sie wre eine mgliche Entgegen-setzung und Beziehung schon definitiv geworden, whrend es zu-nchst gerade darauf ankommt, da das allgemeine Schema der Rela-tivitt nach beiden Seiten unabgrenzbar ist und sich gar nichts Be-

    stimmtes in ihm ausmachen lt. Innerhalb der quantitativen Skala istzugleich mit der Entgegensetzung auch die durchgngige Kontinuittausgesprochen. Ist jede Extension im Verhltnis zu beliebigen ande-ren grer oder kleiner, so erscheint sie an sich selbst grer undkleiner, je nachdem man sie bezieht und die getroffenen Bestimmun-gen in sie reflektiert. Das Entweder-Oder ist in ein Sowohl-als-auchaufgehoben und umgekehrt: das Relative als Substrat der Entgegen-setzung und Unterscheidung ist auch das des kontinuierlichen ber-gangs und der Beziehung.

    Der Unbestimmtheit entspricht die Formalitt des quantitativenSchemas, in dem alle mglichen Grenzen sich fassen lassen und das alssolches gerade darum noch gar keine bestimmte Grenze an sich ha-

    ben darf. Im Blick auf seine ruhige Kontinuitt kann das Bewutseingnzlich verlorengehen, da es als Schema der Relativitt ja auch inseiner Bildung aufgefat werden mu und die dialektische Bewe-gung des Entgegensetzens und Beziehens,

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    wenn auch auf eine unbestimmte Weise, schon in sich hat. Da dasquantitative Schema mglicher Bestimmung, als Vollzug gedacht, insich dialektisch ist und umgekehrt die Dialektik von sich aus diesesSchema bilden mu, um sich in der von ihr behaupteten Relativittauch bestimmen zu knnen: dies mu deutlich zum Bewutsein ge-

    bracht werden. Dabei zeigt sich ein eigentmlicher Sachverhalt. Wirsind es von Hegel her gewohnt, das eigentlich Dialektische nicht inder quantitativen Bestimmbarkeit und Bestimmtheit zu denken. Dia-lektische Bestimmungen sind ganz entgegengesetzt und fallen darinzugleich total ineinander, so da eine partielle und quantitativ ver-rechenbare Unterscheidung und Beziehung nicht mehr in Frage zukommen scheint. Das hier angesprochene Phnomen der totalen Be-ziehung und der Subjekthaftigkeit des Begriffs zeigt aber in der elea-tischen Dialektik auch noch eine andere Seite. Hier erweist es sichnmlich, da eine radikal dialektische Bewegung ganz von selbst undzwangslufig auf eine quantitative Manier der Begriffsbildung ver-fllt. Die Hervorkehrung des quantitativen als des allein bestimmen-

    den Moments und die damit erreichte Mglichkeit unendlicher Tei-lung und beliebiger Beziehung ist hier geradezu das Mittel um dienegative Unendlichkeit der dialektischen Bewegung auszudrcken.Eine Dialektik, die nur noch Bewegung und sonst nichts sein will,mu alle seiende Bestimmtheit zum bloen Moment des Prozessesselbst machen, und betrachtet man diesen selbst, so kann an ihm nurnoch die formale dialektische Bewegungsform und auf der anderenSeite die reine unbestimmte Quantitt als Medium ihrer Selbstdarstel-lung gefunden werden. Alle seiende Bestimmtheit ist nur noch sichaufhebendes Moment eines unbestimmt bleibenden Ganzen, das indem scheinbar rein quantitativ bestimmbaren und darin selbst be-stimmungslos bleibenden Raum sein sinnliches Schema erhlt. Eine

    den bergang und damit den Aspekt der Relativitt verabsolutierendeDialektik mu alles quantifizieren, weil sie nur so eine Weise der Be-stimmtheit findet, die sie restlos in sich auflsen kann. Indem sie aberdie allgemeine Verflssigung vollzieht, hebt die gegenstandslos wer-dende universale Bewegung sich selbst in die ruhige Kontinuitt desformalen Raumschemas auf. Nach Aristoteles wird das zweite Prinzipder unbestimmten Entgegensetzung bzw. Relativitt auch Raum() genannt (vgl. Phys. IV, 2, 209 b 11 ff.).

    Was in dieser extremen Ausprgung eine negative Konsequenzzeitigt, mu aber gleichwohl in seiner Notwendigkeit fr alle Bewe-gung und damit fr das Sein des vielheitlich im Bezug Seienden selbsterkannt werden. Wenn die Bestimmtheit des Seienden sich ohne Rela-tivitt und Bewegung ebenso verliert (vgl. das unbestimmbar bleiben-de Sein des Parmenides) wie in deren Verabsolutierung, so lt sichnur ein mittlerer Weg einschlagen, der das

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    qualitative und das quantitative Moment verbindet. Die sich to-tal reflektierende Dialektik will das Quantitative vermeidenund mu es schlielich als einzig verbleibenden Horizont ihrermglichen Bestimmung und ihres schrankenlosen bergangsannehmen. Demgegenber nimmt Platon die ursprnglich sei-ende und qualitativ erscheinende Bestimmtheit in die Be-wegung und Relativitt des Wirklichen herein, ohne sie in dieseraufzulsen. Alles mu notwendig und darf doch nicht nur quan-titativ bestimmt werden, wenn es in seinem eigentmlichenWesen erhalten bleiben und sich doch in Bezug und Bewe-gung erschlieen knnen soll. Die zentrale Bedeutung diesesvermittelnden Ansatzes liegt auf der Hand. Wenn die je-quali-tative Bestimmtheit des Seienden nicht allein aus sich selbst be-stimmt werden kann und ber sich hinausweist, ergibt sich mitder Relativitt auf anderes ein nicht selbst wieder qualitativisolierender Horizont der Bestimmbarkeit, der notwendig quan-titative Formen annehmen mu. In ihnen kann die seiende Be-

    stimmtheit aus ihrer Vereinzelung herausgenommen und inden dynamischen Bezug gesetzt werden, ohne sich selbst in ih-rem Eigenwesen zu verlieren. Auch die qualitativ bestimmteVielheit hat als solche schon einen quantitativen Aspekt. Diesereignet in verstrktem Mae auch aller Bewegung und Vernde-rung, die ohne ein Achten auf Gre, Lage und Figur garnicht fabar ist. Aber auch kein Begriff kann ohne eine solcheformal werdende Bestimmtheit auskommen.

    Und doch mu auch das andre ebenso deutlich festgehaltenwerden: eine rein quantitative Bestimmung des Seienden undentsprechend seines Begriffs ist unmglich. Dies ist in dem alleBestimmtheit verlierenden Versuch deutlich geworden, das

    Prinzip der Relativitt und Bewegung ganz allgemein auszu-sprechen. Universaler Grund mglicher Bestimmbarkeit, hat dieRelativitt selbst keinerlei feststellbare Bestimmtheit mehr ansich und hebt jede angenommene Unterscheidung oder Bezie-hung durch sich selbst wieder auf. Das Gegenstzliche gilt glei-chermaen und fllt zusammen, weil nichts vorhanden ist, durchdas die unendliche Mglichkeit der Abgrenzung und Beziehungbeschrnkt werden knnte. Das nur noch quantitativ gedachteSeiende als ein total Relatives lst sich selbst auf. Es gibt in demunbegrenzten Schema selbst kein Ma, und wo ein solches al-lein quantitativ festgesetzt wird, bleibt es willkrlich.

    Die in der Dialektik behauptete wesentliche Identitt vonUnterscheiden und Beziehen, Entgegensetzen und Vereinigen,in der alle partielle Gleichheit oder Verschiedenheit sich zu-spitzt und die Bestimmungen ineinander umschlagen, bedeutetalso nicht nur eine Verinnerlichung des Verhltnisses, das nurnoch Bezug und ohne jede objektive Bestimmtheit zu seinscheint, sondern ebenso seine extreme Veruerlichung. Dastotale Verhltnis lt

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    sich gleicherweise als das innerlichste und als das uerlichste Ver-hltnis aussprechen. Es berhren sich darin die uersten Grenzen ei-ner Mglichkeit, die zwischen diesen Extremen liegt. Fr die Totalittdes Subjekts gibt es die gegenstndliche Wirklichkeit nur noch als einanderes Subjekt oder als grenzenlos bestimmbaren Raum seinerSelbstdarstellung.

    In dem Mae, als seine unendliche und in dieser Unbestimmtheitzugleich aufgehobene Bestimmungsfreiheit sich einschrnkt, kann ersteine objektiv seiende Bestimmtheit des Wirklichen ineins mit seinemeigenen wirklichen Knnen eingerumt werden. Die Negativitt deralles Gegenstndliche zerstrenden und schlielich auf das Subjektselbst zurckfallenden eleatischen Dialektik beruht darauf, da sie sichausschlielich im Horizont unendlicher Bewegung und damit in derquantitativen Mglichkeit einer unendlichen Teilung und Bestim-mung hlt. Alles kann mit allem in Beziehung gesetzt und dadurchin Widerspruch zu ihm gebracht werden. Jedes Ding wird darinsich selbst gleich und ungleich und durch den Selbstwiderspruch in

    seiner eigenen Bestimmtheit aufgehoben. brig bleibt nur das dieseBewegung vollziehende Subjekt in seiner negativen Freiheit, die darinsich selbst aufhebt und doch der Mglichkeit nach bestehen bleibt, in-sofern das Subjekt nicht nur diese Freiheit ist und noch auf einem an-deren Grund seiner selbst zu existieren vermag. Unendliche Dialektikund eine blo quantitative Betrachtungsweise gehen hier auf eineWeise zusammen, die der Wirklichkeit nicht mehr gerecht zu werdenvermag.

    2. Die Verbindung von Einheit und Relativitt des Seienden

    Wenn Platon nun auch seiner Dialektik ausdrcklich die Aufgabestellt, das Mehr-und-Weniger zu bestimmen und damit die Relativittselbst zu thematisieren, so tut er dies mit dem Bewutsein, einen po-sitiven und fr die Bildung des Begriffs unentbehrlichen Wesenszugdes Wirklichen zu fassen. Zugleich wei er aber um die in der eleati-schen Dialektik vorgefhrte Unmglichkeit, allein auf dieser Grund-lage zu einem positiven Ergebnis zu gelangen. Seine Dialektik mudiesen Aspekt einschlieen und darf doch nicht nur auf ihm beruhen.Sie mu es tun, weil das Quantitative dem Wirklichen als einem Ent-stehenden und im Verhltnis Seienden selbst inhrent ist, und siekann nicht nur darauf abheben, weil die totale Relativitt jede seiendeBestimmtheit auflsen mte. Das als unbegrenzbare Konti-nuitt und unbestimmte Gegensetzung kann fr sich allein nicht wirk-lich sein. Es bedarf deshalb auch im quantitativen Schema der Rela-tivitt einer unauflsbaren Bestimmtheit, durch die eine konkreteEntgegensetzung

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    und bestimmte Vergleichung erst mglich wird. Eine solche hat auchdie negative Dialektik noch in dem sie vollziehenden Subjekt. Platongeht es hier jedoch auch und vor allem um den Bestand der gegen-stndlichen Wirklichkeit, deren Seinsselbstndigkeit er nicht dem Sub-

    jekt zu opfern bereit ist. Wenn er die ansich-seiende Bestimmtheit desWirklichen als Grenze oder auch als das Eine bezeichnet, sind dasformale Bestimmungen, bei denen noch gar nichts Bestimmtes gedachtwerden darf, insofern sie nur das Prinzip aller Bestimmtheit berhauptdarstellen sollen und diese nur zusammen mit dem Prinzip der Relati-vitt formieren knnen. Grenze bzw. Einheit meinen abergleichwohl keine blo formale Kennzeichnung, die als solche selbstin die Relativitt fallen wrde. Das ursprnglich und unauflsbarseiende Eine ist am ehesten im Moment des bergangs in die Re-lativitt zu fassen. An sich selbst irreduzibles Dieses, kann die seien-de Einheit doch nur im Relativen konkret bestimmt werden. Die wirk-liche Einheit ist deshalb von Platon schon als Mischung der beidenPrinzipien bezeichnet. Sie wird zur Mitte, die ursprnglich gesetzt ,

    das Relat ive gleichwohl konstitut iv an sich hat und nur insofern auchals Mitte sein kann. So mu man beides zugleich festhalten: die radi-kale Andersartigkeit dieses Einen, das der Relativitt durch sichselbst erst Wirklichkeit gibt und zugleich seinen notwendigen Bezugauf diese, insofern es sich selbst nur in ihr realisieren kann. So kommtPlaton in bezug auf jede wahrhaft dialektische (und nicht nur streit-schtige) Bestimmung eines Seienden zu der doppelten Forderung,das Mehr und Weniger msse mebar sein nicht nur gegeneinander,sondern auch gegen die Entstehung dessen, was angemessen ist(Politikos 284 b).

    Die Problematik dieses Zusammen enthlt alle Schwierigkeitenund die ganze Lsung. Die Relativitt erscheint als Prinzip der (unbe-

    stimmten) Entgegensetzung und Beziehung, erlaubt aber fr sich al-lein weder eine wirkliche Entgegensetzung noch eine Ineinssetzung:alles fliet hier zusammen in die ruhige Kontinuitt des quantitativenSchemas. bergang, Bewegung und Werden gehren zu diesem zwei-ten Prinzip und verschwinden doch in ihm, sobald man es ausschlie-lich behauptet. Eine sich ausschlielich aus ihm verstehende Dialektikwird negativ und hebt mit der objektiven Gegebenheit zugleich sichselbst in ihrer konkreten Mglichkeit auf. Um wirklich vollziehbar zusein, mu ihr etwas Gegenstndliches gegeben sein, an dem die Be-wegung verlaufen kann. Diese geht aber auf Kosten der Wirklichkeit,die sie notwendig voraussetzen mu, auch wenn und gerade weil siesie immer nur auflsen kann. Nur eine sich gegenstndlich realisieren-de Bewegung ist, wie wir sahen, berhaupt mglich. So sehr sie aussich selbst geschieht, so sehr mu sie sich in einem Gegenstand undMedium fassen

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    knnen, um dadurch erst auf eine konkrete Weise mglich zu sein.Bedarf die Bewegung notwendig dieser doppelten Begrndung in undauer sich selbst, so mu die Dialektik zwei Prinzipien als fr siegleich konstitutiv anerkennen: die Relativitt und die ursprnglichseiende Gegebenheit. Nur weil auch die Bewegung durch beide Prin-zipien begrndet ist und nicht der Relativitt schlechthin zugehrt,kann sie Seiendes aufbauen und schlielich im Begriff des Werdenszur zentralen Kategorie des Wirklichen selbst werden. Der in der elea-tischen Dialektik herausgestellte Gegensatz einer durch und durchdialektischen Vielheit bzw. Bewegung und eines vllig undialektischseienden Einen ist unmglich, wenn das Sein ebenso wie die Bewegungan beiden Prinzipien Anteil hat. Im eleatischen Denken wird das Sein

    bewegungslos und kompakt, whrend das Bewegte alle seiende Be-stimmtheit berhaupt verliert und als Nichtseiendes erscheint. BeidePrinzipien zusammen zu denken, verwandelt das selbstndige Seiendein seinem Wirklichkeitscharakter. In seiner Bewegung zum Relativenund durch es hindurch vollzieht es nun selbst die Ttigkeit des Entge-

    gensetzens und Sich-beziehens, die in der abstrakten Formulierung derRelativitt verschwunden bzw. als Subjekt herausgesetzt war. Die zu-vor ortlose dialektische Bewegung hat nun selbst Seinsgeltung be-kommen und geschieht in einer Situation, fr die stets eine objektiveGegenstndlichkeit mitbestimmend wird. Die Relativitt ist darinenthalten in der Weise, in der sie sich berhaupt nur fassen lt: im

    je konkreten, durch sich selbst eingeschrnkten Bezug. Das ursprng-liche Wesen ist in ihm Ttigkeit und bergang, die Relativitt wirdhier zum wirklichen Verhltnis. Beide Prinzipien knnen also nur inihrem Zusammen das sein, was jedes von sich selbst her ist und dochnur vermittels des anderen werden kann. Das Eine wird selbst zumUrsprung einer Ttigkeit (vgl. die Seelendefinition im Phaidros 245

    cd), aber auch wenn diese aus sich selbst geschieht, ist die Relativitt(und damit das krperliche, rumliche Wesen, vgl. die Konstruktionder Welt im Timaios) konstitutiv fr ihr Vollbringen. Das ursprng-lich vorausgesetzte Eine ist selbst zugleich das in der Bewegung erstEntstehende und Werdende. Im vielheitlich Wirklichen als einemWerden zum Sein sind beide Prinzipien unlsbar verschrnkt underklren nur so berhaupt etwas. Sein ist nur aus einer ursprnglichenSelbstndigkeit denkbar, in seiner konkreten Verwirklichung und Be-stimmtheit aber wiederum nur aus dem Zusammenhang. Bewegungist nur im Relativen mglich, wirklich aber wird sie nur durch dasselbstndig Seiende, das ihr Ursprung und Ma ist. Seiende Bestimmt-heit ist durch sich selbst und durch Vermittlung gegeben. Ist aber dasSeiende nur als diese Mitte, dann ist der unbestimmte Gegensatz desquantitativen Schemas nicht ein dem Einen von auen hinzukommen-des fremdes Gegen-

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    prinzip, sondern sein eigenes Jenseits1, das von ihm zugleich Ausge-schlossene und Aufgenommene. Das Unbestimmte ist ebensosehr ander seienden Einheit selbst, wie diese es in ihrer Selbstbestimmungvon sich ausschlieen mu. Worin das Seiende im Extrem sich selbstzerstrt (vgl. Politikos 284 a), darin kann es sich in seiner Positivitt al-lein verwirklichen. Ein und dieselbe konstitutionell gefhrdeteWirklichkeit ist in beiden Grnden und nur durch ihr bereinkom-men (als das Dritte bzw. als Mischung in Platons Ausdruck, vgl.Philebos 25 b ff.) wirklich. Dies hebt nicht auf, da beide Grnde (dienur zusammen ein Wirkliches ergeben) sich im Extrem ausschlieenund dabei den eigenen Wirklichkeitscharakter verlieren. Die Relati-vitt ist fr das Eine Medium seiner Selbstdarstellung und Gegenprin-zip in einem. In ihr allein ist das Wirkliche und ist auf eine Weise, diedie Gefahr seines Selbstverlustes einschliet. Einheit und Dualitt der

    beiden Prinzipien fordern einander heraus. Nur indem man beides inseiner ganzen Widersprchlichkeit zusammendenkt, lt sich das Ge-schehen der Wirklichkeit verstehen. Es geht weder darum, in einem

    monistischen System den Widerspruch abzuschwchen, noch ihn inder Weise sophistischer Dialektik hochzuspielen und einen ontologi-schen Dualismus zu behaupten. Die Alternative von Monismus oderDualismus trifft die platonische Konzeption der Wirklichkeit gar nichtmehr, wenn die Relativitt als negative Bedingung des Wirklichenauch die Sphre und das Medium seiner positiven Mglichkeit undErfllung ist, ohne die ihr immanente Negativitt zu verlieren. Das indiesem Ansatz erffnete Weltverstndnis ist jedoch komplex, und es be-darf einzelner Schritte der Durchfhrung, um seine erkenntnistheore-tische Bedeutung wahrnehmen und in ihren Konsequenzen absehenzu knnen.

    3. Die beiden Teile des dialektischen Verfahrens

    Das Angemessene lt sich nur bestimmen, wenn auch aufberma und Mangel (Politikos 283 c) dabei geachtet wird. Dies

    beides ergibt sich aber wiederum nur vom Ma selbst her und setzt zuseiner Bestimmung eine Mitte voraus. Ihr Mehr und Weniger (aaO.284b) bestimmt sich aneinander und wrde doch im Bezug aufeinan-der unbestimmt bleiben mssen, solange kein Vergleichspunkt mit-gegeben ist. Entsprechend lt sich die

    1Vgl. die Formulierung ,

    bei Alexander Aphr., In Arist. Metaphysica comm. (A 6, 987b33); zit. nach K. Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre. Studienzur systematischen und geschichtlichen Begrndung der Wis-senschaften in der Platonischen Schule. Stuttgart 1963, imAnhang S. 478.

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    qualitative Bestimmtheit des Einzelnen nur durch sich selbst unmit-telbar erfassen und bleibt darin doch verschlossen, wenn sie nicht auchals Mitte zwischen einem Hervorragen oder Zurckbleiben (vgl.Politikos 283 cd) und das heit in bezug auf anderes und unter einemquantitativen Aspekt betrachtet wird.

    Alle Dialektik mu deshalb einen doppelten Zugang haben und einezweifache Weise der Gegebenheit fassen, so da jede Seite durch sichselbst erfat und gleichwohl nur durch die andere erschlossen und sichzurckgegeben werden kann. Die notwendig doppelte Bestimmtheitund Bestimmbarkeit durch sich selbst und in der Relation auf andereswird von Platon in die einheitliche Bewegung der Erkenntnis herein-genommen, deren Mglichkeit einen fundamentalen Doppelcharakterdes Wirklichen impliziert und zugleich die Spaltung vermeidet, in derdieses sich auflsen mte. Die Teilung von Begriffen mu auf ihrVerhltnis zu anderen Begriffen und damit auf ihren Umfang sehenund folgt darin doch einer natrlichen Gliederung der Sache. Jede sei-ende Art ist ein Teil, aber nicht jeder Teil ist auch eine Art (vgl. Poli-

    tikos 263 b). Dialektik als Mekunst hat so gem ihrer doppeltenHinsicht zwei Teile: der eine bezieht sich auf ihr Teilhaben an Greund Kleinheit im Verhltnis zueinander, der andere auf der Entste-hung notwendiges Sein . . . Diese zwei Arten des Seins und der Beur-teilung mssen wir also annehmen fr das Groe und Kleine, undnicht, wie wir vorher sagten, sie drften nur in Beziehung auf einan-der sein; sondern vielmehr, wie es jetzt erklrt worden, ist die eineArt in Beziehung beider auf einander, die andere in ihrer Beziehungauf das Angemessene zu setzen. (aaO. 283 de) Das im engeren SinnMathematische (als Bestimmung eines Quantitativen) kann also frdie Dialektik nicht gengen2, so wenig diese als Mekunst ohne esauskommen kann: Offenbar werden wir nun die Mekunst auf die

    Art, wie jetzt erklrt ist, teilen, indem wir sie in zwei Teile zerschnei-den, als den einen Teil derselben alle Knste setzend, welche Zahlen,Lngen, Breiten, Tiefen und Geschwindigkeiten gegen ihr Gegenteilabmessen; als den andern aber alle, die es tun gegen das Angemes-sene und Schickliche und

    2 Fr Platon bildet die Angemessenheit der rational-irrationalenProportionen, wie sie in den sog. stetigen Teilungen Zustande-kommen, den vorzglichsten Gegenstand der Mathematik, die alsowie die Dialektik beide Teile der Mekunst in sich begreift. DieUnterscheidung von Dialektik als Ideenerkenntnis und Mathematikals Folgerung aus Voraussetzungen () widerspricht dem

    nur scheinbar. Die Dialektik hat keine anderen Gegenstnde, son-dern nur die Einsicht in die ontologischen Voraussetzungen der ma-thematischen Begriffsbildung selbst, die diese zunchst einfach

    blind hinnimmt, so da sie ihren eigenen Anfang nicht findet (vgl.dazu Politeia 511 a ff. und unten S. 115 ff.; 155 f.).

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    Gelegene und Gebhrliche und alles, was in der Mitte zwischen zwei u-ersten Enden seinen Sitz hat. Gar gro ist jeder von diesen Ab-schnitten und gar weit unterschieden einer vom andern. (aaO.2846) Dennoch ergeben sie nur zusammen die rechte dialektischeTeilung, die das quantitative und das qualitative Moment der Be-griffsbildung gleichermaen beachtet und beides verschrnkt. AllerMangel des Verfahrens kommt daher, da beide Teile einseitig ver-folgt werden und darin das Wirkliche verfehlen: Denn was biswei-len, o Sokrates, viele preiswrdige Mnner sagen in der Meinung,etwas recht Weises vorgetragen zu haben, da nmlich die Me-kunst auf alles Entstehende geht, das ist eben dies jetzt erklrte. DennMessung findet gewissermaen bei allem Kunstmigen statt. Weilsie aber nicht gewhnt sind, was sie betrachten, nach Arten einzutei-len: so werfen sie diese so sehr voneinander verschiedenen Dinge ineins zusammen und halten sie fr hnlich; ebenso tun sie dann auchwieder das Gegenteil, indem sie anderes gar nicht nach einer ordent-lichen Teilung voneinander trennen, obwohl doch, wer zuerst die

    Gemeinschaft zwischen vielen bemerkt, nicht eher ablassen sollte, biser alle Verschiedenheiten in derselben gesehen hat, so viele jedenfallsauf Begriffen beruhen; und wiederum, wenn die mannigfaltigen Un-hnlichkeiten an einer Mehrheit erschienen sind, dann sollte mannicht imstande sein, eher sich zu scheuen und aufzuhren, bis man allesVerwandte innerhalb einer hnlichkeit eingeschlossen und unter dasSein einer Gattung befat hat. Dies sei nun aber hierber und berMangel und berma zur Genge gesprochen. (aaO. 284 e 285 b)Die beiden Arten der Dialektik mssen sich gegenseitig ausschlieen,wo sie gesondert verfolgt werden, wobei jede sich selbst in ihrer eige-nen positiven Mglichkeit nicht mehr begreifen kann. Der einzigzureichende Weg liegt in ihrer von Platon vorgeschlagenen

    Verbindung. Dabei bleibt der Unterschied der Hinsichten vollerhalten. Die Verschrnkung verhindert geradezu ihre Reduktionaufeinander, die jede einseitige Position anstreben mu in demWillen, das Ganze zu fassen. Die qualitative Bestimmtheit der Mittelt sich nun grundstzlich nicht mehr in ihren quantitativen Aspekt(ihr Mehr und Weniger) auflsen oder von ihm allein her in denBlick bringen, auch wenn sie nicht ohne ihn bestimmt werden kann.Da das Qualitative notwendig an sich selbst erfat und doch nichtdurch sich selbst erschlossen werden kann, ntigt zur Verschrnkungund zum bergang der Betrachtungsweisen ineinander. Sie setzen anzwei aufeinander irreduziblen Aspekten an und kommen berein inder Mitte des Seienden, das als ein Entstehendes (aaO. 283 d) auf

    beide Weisen ist und sich als isolierte qualitative Bestimmtheit wie alsbloer Punkt im quantitativen Kontinuum gleichermaen verlierenmte. Die Konkretion der Mitte hebt die radikale Verschiedenheitihrer beiden

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    Wurzeln nicht auf und lebt vielmehr aus ihr. Ohne die immanenteDoppelheit und Gegenstzlichkeit der Erkenntnisgrnde bliebe dasganze Verfahren unverstndlich, ohne ihre wesentliche Einheitzerfiele es in sich und wrde so oder anders gewendet gleichunmglich.Platons dihairetisches Verfahren ist auch fr die wissenschaftlicheForm, der Begriffsbildung grundlegend. Wiewohl lange Zeit bezwei-felt werden konnte, ob Platons Spekulationen berhaupt fr eine wis-senschaftliche Methode und den Fortschritt der Wissenschaft frderlichgewesen sei, ist es kein Zufall, da der Einsatz der neuzeitlichen Na-turwissenschaften mit einer Wiederentdeckung Platons und einerWendung gegen den empirischen Aristotelismus des MittelaltersHand in Hand ging. Die neue Rezeption blieb indessen mit der ganzallgemeinen Wertschtzung des Mathematischen und dem Strebennach einer systematischen Weltkonzeption noch zu unbestimmt, als dadie Dialektik Platons fr die Entwicklung der wissenschaftlichen Me-thode selbst htte fruchtbar gemacht werden knnen. Nachdem ihreWiederaufnahme auf dem Boden der Transzendentalphilosophie in

    Schleiermachers Dialektik unwirksam geblieben war, steht die Aufga-be noch immer an, die platonische Dihairese in ihrer Ergiebigkeit frdas wissenschaftliche Verfahren und seine ontologische Begrndungnachzuweisen. Sie vereinigt im Ansatz die in der Naturwissenschaftder Neuzeit einseitig entwickelte quantifizierende Methode mit demdialektischen Verfahren, wie es im Idealismus und vor allem bei He-gel seine weiteste Ausbildung erfuhr und fr die Methode der ge-schichtlichen Wissenschaften fruchtbar werden konnte. Die Abspal-tung von Dialektik und quantifizierender naturwissenschaftlicherMethode im neuzeitlichen Denken wre in Platons Konzeption nichtmglich gewesen und mute fr beide Teile zu einer Verkrzungund Verarmung fhren. Da beide Verfahrensweisen in der durchaus

    notwendigen einseitigen Ausprgung grundverschieden sein mssen,wird von ihm selbst ausdrcklich betont. Da sie aber gleichwohl zu-sammengehren und nicht getrennt werden drfen, wurde kaum je sodeutlich ausgesprochen. Wenn die Naturwissenschaft das Anliegender anderen Seite fr sich ganz einklammern konnte, war ihr diesdoch nur in ihrem begrenzten Gegenstandsbereich mglich. Auf derSeite des Subjekts und seines Verhltnisses zur Welt mute all daswieder eingerumt werden, was hier in dem festgesetzten Rahmen -aber auch nur in ihm - mit Recht auer Betracht bleiben konnte.Macht Platons Dialektik den Anspruch zu Recht, ein der Wirklichkeitim ganzen entsprechendes Verfahren der Begriffsbildung zu sein, somu sich dies auch dort noch beweisen, wo der eine oder andere ihrerTeile fr sich verfolgt wird. Die von ihm entworfene Konzeption ei-ner einheitlichen wissenschaftlichen Methode, die die verschiedenenBestimmungsweisen gleich -

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    berechtigt in sich aufnimmt und die Mngel ihrer Einseitigkeit kom-pensiert, ist in dieser Vollstndigkeit meines Wissens nirgends wie-der aufgegriffen und durchgefhrt worden. Um aber diese Mglich-keit in ihren Konsequenzen wenigstens anzudeuten, mssen einigeAspekte so weit verdeutlicht werden, wie Platon sie selbst wahrneh-men konnte und begrifflich auszubilden vermochte.

    4. Die pythagoreische Zahl und ihre Bedeutung fr den Gedanken ei- ner Vermittlung der Gegenstze

    Die Bestimmung des einzelnen Gegenstands geschieht bei Platon imHinblick auf die allgemeinsten Prinzipien des Seienden. Sie stellt ihnin den Rahmen eines systematischen Ganzen und erbringt mit seinem

    besonderen Begriff zugleich das Bewutsein einer umfassenden Ord-nung der Wirklichkeit im ganzen. Die Deduktion aus Prinzipien ( ) ist mit der Zurckfhrung auf diese (

    )3

    so verbunden, da die Selbstndigkeit des Seienden ge-wahrt bleibt und doch eine Thematisierung der Welt-Einheit nichtausschliet. Wenn Platon zur Durchfhrung dieses Unternehmensauf die pythagoreische Zahlenspekulation zurckgreift, wird diese vonihm doch nicht wie dort zur Bestimmung konkreter Ideenzahlen freinzelne Seiende weitergefhrt. Die Zahlen bleiben Bezeichnungenfr die ganz allgemeinen Verhltnisse der Einheit und Gleichheit, derunbestimmten und bestimmten Entgegensetzung, der ganzzahlig auf-lsbaren oder irrationalen Verhltnisse. Als Einheit-einer-Vielheit hat

    jede bestimmte Zahl die beiden Prinzipien des begrenzenden Einen() und des unbestimmt Relativen und Teilbaren () an sich. Beide sind als Prinzipien der Zahlbildung selbst noch

    keine Zahlen, die nur aus ihrer Vereinigung hervorgehen knnen.Die erste wirkliche Zahl ist dann die bestimmte Zwei (vgl. Alexan-

    der, In Arist. Metaph. [A 6, 987 b 33], zit. bei Gaiser aaO., S. 479), diedurch Verdoppelung oder Halbierung entsteht und die Einheit mit sichselbst ins Verhltnis setzt. Zugleich ist in der bestimmten Zwei aberauch die im Mehr-und-Weniger unbestimmt bleibende Entgegenset-zung zum ausschlielichen Gegensatz gebracht. Auch wenn es in denAlternativen gut-bse, gerecht-ungerecht usw. keinen Mittelbegriffgibt, haben sie doch ein Gemeinsames in ihrem Verhltnis selbst, daseinen bergang des einen Zustandes in den anderen ermglicht. Dievorhandene Beziehung bleibt negativ, insofern die eine Seite

    3Vgl. Aristoteles, Ethica Nie. 1,4, 1095a 30 b 3; zit. nach Gaiser,aaO., S. 454.

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    nur zunehmen kann auf Kosten der anderen. Haben beide Zustndeaber gerade in ihrer wechselseitigen Ausschlieung nur ein gemein-sames Ma, dann mu dieser innere Zusammenhang erfragt undselbst als Bedingung der Ausschlielichkeit eingesehen werden kn-nen. Die bestimmte Zweiheit beweist also gerade in der Entgegenset-zung ein positives Verhltnis, wenn immer in ihr der Bezug und nichtein schlechthin beziehungsloses Nebeneinander gemeint ist. In seinemIneinander von Ausschlielichkeit und Zusammengehrigkeit enthltdas zweigliedrige Schema schon alle Mglichkeiten der Beziehung.Um aber die negative und positive Bestimmung als einander bedin-gend auch zusammen aussagen zu knnen, mssen drei- und vierglied-rige Schemata verwendet werden. Das zweiseitige als das allein voll-kommen realisierte Verhltnis wird durch sie nicht aufgehoben, son-dern nur in seiner komplexen Struktur nher bestimmt und erluter t.

    Die erste Erweiterung besteht darin, das Verhltnis von Zweien frsich selbst als ihre wie immer bestimmte Mitte ausdrcklich herauszu-setzen und gesondert anzugeben. Whrend die bloe Unterschieden-

    heit bzw. Bezogenheit ber die Art der mglichen Verbindung nochnichts aussagt, kann diese nun selbst bestimmt ausgesagt werden. ZurBezeichnung der Ausschlielichkeit oder Identitt hin ergibt sich dieMglichkeit, ein bestimmtes Verhltnis von partieller bereinstim-mung und Differenz festzustellen. Dieses erscheint dann als ein Drit-tes, das zwei nicht voll zur Deckung zu bringende Gegebenheiten insich vereint und zugleich, ihr Unvertrgliches von sich ausschlieend,sie gesondert hlt. Diese Mglichkeit lt sich symbolisieren in derZahl Drei, die als Eins und Zwei die Einheit und das Verschiedenseinin sich hat und beides fr sich anzugeben erlaubt.

    Die gemeinsame Einheit der Bezogenen als ihr Verhltnis selbstkann kein selbstndiges Drittes sein und mu doch zu einem solchen

    werden, wenn kein wirkliches Verhltnis je als vllige Identitt odertotale Verschiedenheit bzw. Gegenstzlichkeit denkbar ist. Liegen diewirklichen Verhltnisse alle dazwischen, dann mu die Mitte aus-drcklich erfragt und im Verbindenden und Trennenden zugleich po-sitiv wie negativ bestimmt werden. Ist sie nur das Verhltnis selbstund doch auch ein objektives Drittes in ihm, dann erlaubt dies erst, dieinnere Bewegung des Bezugs als eine Wechselbestimmung zu fassenund objektiv darzustellen. Die Mitte wird von den Bezogenen her be-stimmt und wirkt durch sich wiederum auf diese bestimmend zurck.

    Whrend sie aber in einer restlos aufgehenden Gleichung als eigeneGre wieder herausfallen knnte, ist dies unmglich, wo die Bezoge-nen in ihrem Verhltnis aufeinander inkommensurabel bleiben. Sie

    brauchen dann notwendig ein Medium, in dem sie sich als in einemgemeinsamen Dritten finden und zugleich voneinander unterschei-den knnen. Die in der Drei-

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    zahl angedeutete Vermittlungsstruktur zeigt in der Verbindung vonGeradem und Ungeradem einen neuen Aspekt, der so in derdurch Verdoppelung derselben Einheit entstandenen Zwei noch nichtenthalten war und fr Platons begriffliche Konstruktion der Wirklich-keit uerst wichtig wird. Gerades mit Ungeradem verbindend,vereint die Dreizahl Auflsbarkeit und Unauflsbarkeit in sich. Da-durch ist auch dem in der Zweiheit liegenden Gegensatz Rechnunggetragen. In der Dreizahl ist das vollkommene Verhltnis erreicht, dassich stndig einlst und doch nie in die Identitt der einen und ande-ren Seite ausgleichen lt. Whrend die bestimmte Zwei (die im Un-terschied zur unbestimmten, den Gegensatz befassenden Zwei fr alledurch dieselbe Einheit befaten und insofern kommensurablen Zahlensteht) ein in derselben Grundeinheit rational auflsbares Verhltnisdarstellt, weist die Dreizahl (sofern man sie nicht als drei mal Einsdenkt und darin kommensurabel macht) auf ein rational-irrationalesVerhltnis hin, das die beiden Bezogenen in sich fat, ohne sie voll-stndig in ihre Einheit aufheben oder diese gnzlich in die Zweiheit

    bersetzen zu knnen. Ein unaufhebbarer Gegensatz (und von einemsolchen mu man hier zunchst ausgehen) ist nur partiell, d. h. durchTeilung auszugleichen und nie endgltig vereinbar. Die seiende Ein-heit ist also nicht schon in der Zahl Eins reprsentiert und auch nochnicht als Zweiheit aussprechbar, sondern wird erst als eine Verbin-dung von Einheit und Gegensetzung erreicht, wie die Trias sie dar-stellt. Eine solche kann aber nur als Verhltnis, genauer als ein sichdurch ungleiche (d. h. kein gemeinsames Grundma der Teile vor-aussetzende) Teilung bestimmendes Verhltnis gefat werden. SeineUnauflslichkeit ist bedingt und gefordert durch die Inkommensurabi-litt der Bezogenen ineins mit dem geteilten mittleren Bereich ihrergemeinsamen Objektivitt. Man hat also die seiende Einheit nur im

    bestimmt realisierten und gleichwohl durch den Gegensatz bestimm-ten, unauflsbaren Verhltnis. Sie ist rationale Form und irrationaleBeziehung (die ohne den immanenten Gegensatz nicht gedacht wer-den kann) in einem.

    5. Die geometrische Proportion als Darstellung der rational-irratio- nalen Grundstruktur des Seienden

    Den mathematischen Ausdruck fr diesen begrifflichen Gehalt fin-det Platon in den geometrischen Proportionen, die mit einem vermit-telnden Faktor ausgestattet sind (a: m = m : b; m = ab). Fr die Tei-lung im Verhltnis 1 : 2 = 2 : 4 = 4 : 8 usw. liegt darin kein Problem,weil hier die mittlere Proportionale durch Halbierung der greren

    bzw. Verdoppelung der klei-

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    neren Zahl bzw. Strecke entsteht und ein allen Teilen gemeinsamesGrundma (eine ) vorhanden ist. Anders ist es aber bei densog. berteiligen Verhltnissen, in denen die Differenz des grerenund des kleineren Teils nur ein Teil des kleineren ist bzw. die gre-re Zahl die kleinere nicht verdoppelt, sondern nur um einen Bruchteilihrer selbst bertrifft (z. B. im goldenen Schnitt, wo der kleinere Teilsich zum greren wie dieser zum Ganzen verhlt). Fr solche ausunhnlichen Zahlen gebildeten Verhltnisse gibt es nach Archytaskeine mittlere Proportionale in der Form eines fr beide Gren ge-meinsamen Maes, durch das sie erschpfend aufgeteilt werden knn-ten4. Doch ist hier eine geometrische Konstruktion der mittleren Pro-

    portionale mglich. So ist die Diagonale eines Quadrats mit seiner Seiteinkommensurabel (1 : 2) und vermag gleichwohl ein Quadrat mit ei-nem ganzzahligen Inhalt zu erzeugen, das mit den Flchenzahlenanderer Quadrate kommensurabel ist (1 2 = 2 :2). Die irrationaleQuadratwurzel hat die Potenz (;vgl. Theaitetos 147 a ff.), einkommensurables Produkt zu erzeugen; an sich selbst unaussagbar

    (, ), ist sie dennoch ;5

    . Die an der ge-nannten Stelle im Theaitetos abgehandelte Frage geht zunchst darauf, inwelchen Fllen die ein Quadrat erzeugende Strecke mit der Flchen-zahl ein gemeinsames Ma hat und wo dies nicht der Fall ist. Ist dieSeite selbst ganzzahlig (Platon nennt sie dann eine Lnge), so istauch ihr Produkt eine ganze Zahl. Dies bedeutet, da nur Quadrate mitsog. Quadratzahlen als Flchen (also 1, 4, 9, 16 usw.) auch ganzzahli-ge Seitenlngen (1, 2, 3, 4 usw.) haben, whrend alle anderen Pro-dukte (Platon nennt sie im Unterschied zu den gleichseitigen Qua-dratzahlen lngliche, ein Rechteck bildende Zahlen, vgl. aaO. 148 a)inkommensurable Wurzeln haben (2, 3, 5 usw.). Man findetsie durch Verwandlung des jeweiligen Rechtecks in ein Quadrat. Die-

    se irrationalen Gren werden nicht an sich selbst, sondern nur in denvon ihnen erzeugten Potenzen miteinander vereinbar (). Es zeigt sich hier (und darin liegt die ontologische Be-deutung dieses Phnomens fr Platon) ein Irrationales, das nichtschlechthin unfabar und unaussprechlich bleibt, weil es in einer an-deren Dimension kommensurabel wird. In den Potenzen (in der Fl-che bzw. im Raum) erscheint rational und wird aussagbar, was in denWurzeln (den erzeugenden Seiten) kein gemeinsames Ma hat undsich irrational zueinander verhlt. Das dimensionale Verhltnis imbergang von der Seite (bzw. Wurzel) zur Flche und von dieser zumKrper (die Bildung

    4

    Vgl. dazu B. L. van der Waerden, Erwachende Wissenschaft. Baselund Stuttgart 1956, S. 183.5 Der Ausdruck steht bei Euklid am Anfang des 10. Buches der

    Elemente; vgl. v. d. Waerden, aaO., S. 274.

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    der zweiten bzw. dritten Potenz) erlaubt eine konstruktive Verbindungvon rationalen und irrationalen Elementen in derselben Figur. Was inder Wurzel inkommensurabel ist, bildet in den hheren Potenzenein mebares Verhltnis. Die Flchen und Krper knnen sich ratio-nal zueinander verhalten, obwohl sie aus irrationalen Seiten bzw.Wurzeln erzeugt sind. Dabei ist die Bildung einer Flche aus zweiFaktoren und ihre Verwandlung in ein Quadrat, dessen Seite dann diemittlere Proportionale darstellt, das einfachere Problem. Platon geht esvor allem um das Verhltnis der den krperlichen Wesen entspre-chenden rumlichen Zahlen, fr die ein Vermittelndes gefundenwerden soll. Dieses sog. Delische Problem der Wrfelverdoppe-lung hat Archytas durch die Konstruktion von zwei mittleren Propor-tionalen gelst, die zwischen zwei gegebenen Strecken eine stetigeProportion herstellen und diese darin verbinden. Darauf soll hier nichtnher eingegangen werden (vgl. dazu v. d. Waerden, aaO., S. 249 ff.),weil es in unserem Zusammenhang nur darauf ankommt, die Mglich-keit der Verbindung von rationalen und irrationalen Elementen in ei-

    ner geometrischen Proportion einzusehen und die philosophischenKonsequenzen darzustellen, die Platon aus diesem fr ihn beunruhi-genden Sachverhalt zieht.

    Knnte es zunchst scheinen, als ob die Zahlenreihe oder eine sie re-prsentierende Linie durch und durch homogen und mit gleichemGrundma teilbar ist, so zeigt die Diagonale des Quadrats in ihremVerhltnis zur Seite, da es einander inkommensurable Strecken gibt,fr die auch bei endlos weitergefhrter wechselseitiger Ausmessungdurcheinander (; vgl. v. d. Waerden, aaO., S. 236) keingemeinsames Ma gefunden -werden kann. Dabei liee sich fragen, obdie Linienelemente selbst inkommensurabel sind oder ob sich dieserAspekt erst im Verhltnis von Linie und Flche ergibt. Dann bliebe die

    lineare Dimension als solche mit sich kommensurabel und wrde nurin bezug auf die hheren Dimensionen der Flche und des Raumesein Irrationales an sich zeigen knnen. Insofern das Problem der Fl-chen- bzw. Raumkonstruktion nach gegebenen Verhltnissen erst zurEntdeckung irrationaler Zahlen fhrte, ist es sicher richtig zu sagen,da Irrationales nur im Verhltnis von Linie und Flche oder Raum

    bzw. im Verhltnis der Zahl zu ihren Potenzen erscheint und bestimmtfabar wird. Die Setzung des bestimmten Irrationalen durch die ra-tionalen Potenzen ist aber zugleich seine Voraussetzung, denn es giltnun auch umgekehrt, da irrationale Seiten rationale Flchen zu er-zeugen vermgen. Das dimensionale Verhltnis von Wurzel und Po-tenz ist unauflsbar nach der einen oder anderen Seite hin. Insofernalso das Irrationale nur vermittels seiner Potenz (in der hheren Di-mension) bestimmt gefat und aussprechbar werden kann, kann dieseals Ursache seines Seins bzw. seiner Teilhabe am (rationalen)

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    Sein betrachtet werden. Zugleich ist aber die diese Dimension erzeu-gende Wurzel in ihrer mglichen Irrationalitt wiederum die Ursacheihres rationalen Seins. Die Dimensionen interpretieren sich wechsel-seitig, wobei jeweils die hhere rational bestimmen lt, was sich inder niederen irrational zueinander verhlt. Van der Waerden formu-liert diesen mathematischen Grundgedanken so: Um Eigenschaftenvon Strecken zu beweisen errichtet man auf diesen Strecken Quadrateund untersucht die Eigenschaften dieser Quadrate. (aaO., S. 277) Da-

    bei lt sich die mgliche Inkommensurabilitt dieser Strecken ausdem Verhltnis ihrer Quadrate auf eine Weise herleiten, die nichtnur ein Irrationales schlechthin ausweist, sondern mit den bestimmtenFlchenformen zugleich die entsprechenden Klassen von Irratio-nalitten anzugeben erlaubt. Die Arten der Linie bzw. Zahl lassensich nur ber die Vergleichung der Flchen fassen, um dann aber die-se Differenzen auch an sich selbst zu haben. Das Irrationale ist nurvermittels einer rationalen Bestimmtheit fabar und selbst bestimmtaussprechbar. Irrationale Wurzel und rationale Potenz gehren so

    sehr zusammen, da beide denselben Namen (, potentia) erhal-ten knnen. Rationalitt und Irrationalitt erscheint als ein Selbstunter-schied desselben Wirklichen, das sich im dimensionalen Verhltnis

    potenziert und reduziert und dadurch eine Einheit des Gegenstzli-chen, eine Fassung des Unfabaren erreicht.

    Das zentrale Anliegen des dialektischen Denkens, die widersprchli-chen Elemente und Charaktere des Seienden in eine Einheit zu brin-gen und diese bestimmt fassen zu knnen, wird fr Platon durch denmathematischen Sachverhalt der geometrischen Teilung vorgezeich-net und in seiner Denkmglichkeit erwiesen. Eine solche Struktur zumModell der allgemeinen ontologischen Verfassung des Wirklichen zu

    machen heit aber, dessen Form grundstzlich zu verwandeln und Al-ternativen zu berwinden, die diese zuvor aporetisch gemacht hatten.Zenons Paradoxien hatten eine unbegrenzbar seiende Vielheit als insich widersprchlich und undenkbar herausgestellt. Aus der ausweg-losen Situation schienen zunchst nur zwei Wege herauszufhren: dieAnnahme letzter unteilbarer Elemente (Atome) oder der Rckgang aufeinen formlosen und potentiell unendlich teilbaren Stoff. Beide L-sungen sind in ihrem Gegensatz aber nur Ausdruck der eleatischenDenksituation und fhren keineswegs schon aus ihr heraus. Das schon

    bei Zenon behauptete unbezgliche Nebeneinander eines begrenzt undunteilbar Seienden und eines in seiner unendlichen Teilbarkeit un-wirklich Bleibenden kann auch im Verhltnis von Atom und Leereoder im Form-Stoff-Gedanken nicht wirklich vermittelt werden. Einein der Weise Zenons fortgefhrte kontinuierliche Teilung durch Hal-

    bierung oder Verdoppelung mte willkr-

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    lieh abgebrochen werden, wenn ein Unteilbares in ihr bleiben soll. Derunter dem Aspekt des durchgngig Gleichen gefate Gedanke derKontinuitt lt allenfalls ein faktisch Ungeteiltes, aber kein Unteilba-res mehr zu. Die vollkommene Rationalitt der von Zenon gebtenTeilung in Hlften macht seine Argumentation unwiderstehlich,sobald man ihre Voraussetzungen bernimmt. Diese im Horizont desGleichen bleibende Teilung ist aber gegenber dem platonischenAnsatz von vornherein einseitig und greift nur einen Aspekt desWirklichen heraus. Sie geht vollkommen in sich auf und kann geradedeshalb beliebig fortgesetzt oder abgebrochen werden. Die Suche nacheinem kleinsten Ma ist unntig, weil innerhalb der erzeugten Reihevon vornherein alles mit jedem kommensurabel ist. Die halbierendeTeilung geht immer in sich auf und kommt deshalb an keine Grenzeihrer selbst. Es gibt fr sie kein Unaufhebbares, weil sie von vornhereinschon alle mglichen Differenzen in die durchgngige Gleichheit auf-gehoben hat. Innerhalb des so abgesteckten Rahmens kann man ei-nen Atomismus gar nicht mehr zu Gesicht bekommen, weil die in ihm

    ausgesprochene unauflsliche Heterogenitt von Elementen durch dasgewhlte Teilungsverfahren von vornherein ausgeschlossen ist.Es bedarf also einer anderen Weise der Teilung, um wahrhaft In-

    kommensurables zu finden. Nur fr inkommensurable Strecken, wiesie sich in den geometrischen Verhltnisbestimmungen ergeben, kannsinnvoll nach einem kleinsten Ma gefragt und zugleich nachgewie-sen werden, da es ein solches in der linearen Dimension selbst nichtgeben kann. Es hier zu finden wrde bedeuten, in dem Verschieden-artigen doch eine letzte Einheitlichkeit zu finden und damit die radi-kale Inkommensurabilitt selbst aufzuheben. Diese erlaubt grund-stzlich keine Vermittlung im Bereich der Wurzeln selbst undzwingt zum bergang in die Potenzen. Die Inkommensurabilitt der

    Teile, wie sie sich in der geometrischen Proportion zeigt (und nicht einunendlicher Regre der gleichen Teilung) zwingt Platon zur An-nahme einer atomaren Grundstruktur der Elemente, die fr ihn je-doch nur Konstruktionselemente der Flchen und Krper ()und nicht schon selbstndig Seiende sind. Die Bestimmungdes stetigen geometrischen Schnittes ist fr Platon der Beweis desAtomismus und nicht wie Zenons Teilung seine Widerlegung. Diehalbierende Teilung wrde auch in einem unendlichen Regre denUnterschied von rationalen und irrationalen Gren nie erweisenknnen, weil sie ihn von vornherein gar nicht in sich hat und immeran ihm vorbergehen mu. Trifft demgegenber die ungleicheTeilung ein rational-irrationales Verhltnis und versucht man diesesaufzulsen, dann zeigt sich nicht eine schlieliche Ausgleichung undein letzter gemeinsamer Grund, sondern umgekehrt eine grundstzli-che Unauf-

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    hebbarkeit der radikalen Differenz seiner Faktoren. Das auf einmalrichtig getroffene irrationale Verhltnis ist in seiner Bestimmung auchschon unauflsbar gesetzt. Die Einheit in der Potenz ist nicht voraus-zusetzen als Gleichheit im Ursprung: sie ist als eine aus inkommensu-rablen Elementen gebildete Einheit grundstzlich synthetisch undnicht als analytische Einheit zugrunde zu legen.

    Auf dieser Inkongruenz seiner Faktoren und nicht auf der durchge-henden Rationalitt beruht fr Platon der heuristische Wert des Ma-thematischen fr eine Analyse des Wirklichkeitszusammenhangs, derweder aus einer durchgngigen Gleichheit noch aus der Anerken-nung einer schlechthin unvermittelbaren Gegenstzlichkeit verstandenwerden kann. Die Geometrie der Flchenverwandlung und der Aus-dehnung des Wrfels (vgl. Politeia 528 b) zeigt Platon eine Mg-lichkeit, das Irrationale nicht mehr nur als schlechthin nichtseiend ab-weisen zu mssen, sondern es durch seine Potenz zur Bildung ratio-naler Formen in die Wirklichkeit einbeziehen zu knnen, ohne da esseine Irrationalitt in der Wurzel dabei aufgeben mte. Die geo-

    metrische Rechnung mit irrationalen Gren wird zu einem hervorra-genden Beispiel, um das zentrale ontologische Problem: die Verbin-dung von heterogenen Seins wurzeln in der seienden Konkretion, in ih-rer Mglichkeit begreifen und auf eine rationale Weise aussprechen zuknnen. Wie die geometrische Mittelbildung zeigt, sind Teilungen undVerknpfungen mglich, die nicht einfach halbieren bzw. verdoppelnund darin immer nur Gleiches mit Gleichem verbinden, sondern hete-rogene Elemente in ein rationales Verhltnis bringen. Diese Aufgabeerscheint nur sinnvoll und ntig, solange der Raum (als universalesMedium des Seienden) nicht schon von vornherein als vllig homo-gen, sondern in dem Verhltnis seiner Dimensionen betrachtet wird.Der im eleatischen Denken aufgebrochene Widerspruch von Grenze

    und Unbegrenztheit, Diskretion und Beziehung, Teilung und ber-gang mu mitbedacht werden, um den Raum nicht nur als ein alleseiende Bestimmtheit auflsendes , sondern auch umgekehrt alsnotwendige Bedingung seiender Konkretion und Form begreifen zuknnen. Das im Raum stets mitgegebene mu in die seiendeForm (die fr Platon wesentlich Raumform ist) selbst aufgenommenwerden, die sich damit als eine Einheit von Gegenstzlichem (mathe-matisch gesprochen als rationales Produkt inkommensurabler Fakto-ren) darstellt. Die Integration des Heterogenen im notwendig auchhomogen und kommensurabel werdenden Raum zugleich mit der

    bleibenden Inkommensurabilitt in seinen Wurzeln festhalten undbeides in ein notwendiges Verhltnis bringen zu knnen: dies ist derphilosophische Hintergrund des Interesses an den geometrischenMittelbildungen, in denen irrationale und inkommensurable Faktorenin ein rational mebares

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    Verhltnis einbezogen werden. Geometrisch sind diese das Inkom-mensurable kommensurabel machenden Teilungen, insofern sie es alsFlchen und Rume erzeugend betrachten und in deren Konstruktionals ein Irrationales gleichwohl einbeziehen und (vermittels des dimen-sionalen Verhltnisses) bestimmen knnen. Das Irrationale lt sichnicht an sich selbst, sondern grundstzlich nur im rational werdendenVerhltnis seiner Potenzen, geometrisch gesprochen im dimensiona-len Verhltnis aussprechen und bestimmen. Der Einbezug des Irratio-nalen macht diese Verhltnisse unauflsbar. Flche und Raum gebendie Mglichkeit einer neuen Behandlung der Linienelemente, in deran diesen auch das rational erfat werden kann, was zuvor ungreifbar,

    ja berhaupt auerhalb des Blicks geblieben war. Der unberwindlichscheinende Widerspruch von Mebarem (Gleichem) und Unmeba-rem (dem Irrational-Unendlichen), von ; und ist im di-mensionalen Verhltnis und nur in ihm zur Einheit gebracht, ohnedadurch als Widerspruch in der Wurzel zu verschwinden.

    Diese Eigenschaft der rational-irrationalen Form des geometrischen

    Schnittes macht die hier vollzogene Weise der Teilung vorbildlich frdas eigene dialektische Tun, denn auch hier gilt es, einer aus wider-sprchlichen Elementen aufgebauten Form des Wirklichen gerecht zuwerden. Auch fr deren unendliche, rational-irrationale Einheitselbst gibt es keine definitive Zahl, sondern grundstzlich nur eineVerhltnisbestimmung, die sie trifft, aber nicht voll zu explizierenund einzuholen vermag. Die unendliche Einheit ist nur als Verhltnisberhaupt mglich, so wie die irrationale Gre nur im Verhltnis zuihrer rationalen Potenz berhaupt fabar und darin fr Platon seiendsein kann. Verhltnisse von total Gleichen sind noch keine wirklichenVerhltnisse. Nur das durch eine dimensionale Scheidung und Verbin-dung (durch Abstufung und Beziehung von Wurzel und Potenz) her-

    gestellte Verhltnis kann dialektisch im strengen Sinn sein und dieEinheit eines Widerspruchs darstellen, wobei weder das Einsseinnoch die absolute Unvereinbarkeit irgend abgeschwcht werden drfenund doch in der ungleichgeteilten Mitte vertrglich werden. Seineursprnglich synthetische (konstruktive) und nicht analytisch aufls-

    bare Einheit ist deshalb nicht an sich selbst gegeben, sondern kann nurim dimensionalen Verhltnis und als dieses selbst berhaupt zur Er-scheinung gebracht werden. Will man die Einheit des In-kommensurablen aussagen, so lt sich dies nur in der Angabe einerProportion und das heit gebrochen und indirekt tun. Die Inkommen-surabilitt der Faktoren bricht auch die Einheit in sich selbst undmacht sie zum dimensionalen, irreduziblen Verhltnis. Es gibt fr Pla-ton keine Einheit des Wirklichen, die den ihm immanenten Gegensatzschlechthin aufheben und als sekundr darstellen wrde. Die Einheitliegt dem Zusammenhang des He-

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    terogenen nicht zugrunde, sondern stellt ihn selbst in seiner Konkreti-on dar. Sie ist im geteilten Produkt und nicht in den Faktoren. In sei-ner Absolutheit bricht der Gegensatz der Prinzipien doch nicht mehrim Sinne eines Dualismus auseinander, weil die Einheit selbst alsSynthese des Heterogenen erscheint und dadurch in ihrer spezifischenWeise erst gefat werden kann6.

    6 Gaiser verstellt sich an entscheidender Stelle den Zugang, wenn erfordert: Eine letzte >Begrndung< wre nur dann gegeben, wennhinter den Antinomien, die in der Gegensatzlehre beschlossensind, ein umfassender Grund sichtbar wrde, der beides Seinund Nichtsein, Peras und Apeiron in sich enthielte. (aaO. S.200) So gefragt erbringt Platon keine Einheit der Gegenstze undkann sie nicht erbringen. Wenn es nun nicht an Anzeichen dafrfehlt, da Platon tatschlich die dynamische Verbindung zwischenden Gegenstzen im Grunde einheitlich und umfassend zu begrei-fen sucht (S. 201), dann mu die den Gegensatz befassende Ein-heit eben anders aussehen als eine hinter den Antinomien liegen-de und diese gar nicht mehr wirklich ernstnehmende Konzeptiondes Ganzen, und es kommt alles darauf an, diese neue Form derEinheit wahrzunehmen und herauszuarbeiten. Gaisers Interpretationder platonischen Prinzipienlehre geht nicht ins Zentrum, weil er die

    beiden Seinsprinzipien nicht im dimensionalen Verhltnis denkt,das den inkommensurablen Gegensatz in der Wurzel setzt, indem esihn in der Potenz zugleich kommensurabel macht und berwindet.Diese Strukturform in ihrem systematischen Gehalt verkennend,vermag Gaiser die spezifische Form der Einheit des Wirklichen, diefr Platon die Bedingung seines Wirklichseins berhaupt ist, nichtrecht zu begreifen und mu das dimensionale Verhltnis ganz aufden Gegensatz hin interpretieren, der in ihm berwunden und zu-gleich (insofern das dimensionale Verhltnis eine dimensionaleScheidung impliziert) fr die positive Mglichkeit und Weise dereinheitlich-vielheitlichen Konkretion des Seienden konstitutiv ge-worden ist. Die von Platon herausgestellte quaternarische, den ge-doppelten Gegensatz verbindende Strukturform (vgl. u. S. 138 ff.),die ein unauflsliches dynamisches Ganzes beschreibt, ist nichteine supralogische (S. 506 Anm.) Einheit, wenn man das Logi-sche so nimmt, wie Platon es (als ein Dialektisches) verstanden hat.Deshalb kann ich auch das abschlieende Urteil Gaisers nichtbernehmen:Wahrscheinlich haben die hier liegenden Schwierigkeiten ihrenGrund nicht nur in der Vorlufigkeit der literarisch-exoterischenDarstellung, sondern darin, da das Verhltnis der Prinzipien zuein-ander also die Tatsache der Gegenstzlichkeit an sich und die Ur-sache des Zusammenwirkens selbst - mit logischen Mitteln ber-haupt nicht lsbar ist . . . Vielleicht zielt Platon auf die Mglich-keit, den logisch unaufhebbaren Gegensatz durch eine Art intuitiverErfahrung zusammenzufassen. Jedenfalls aber zeigt das Problem

    des Dualismus, je genauer man es erfat, um so eindrcklicher, dadie platonische Prinzipienlehre auch in ihrer esoterisch-mndlichenForm keine perfekte Welterklrung bietet, sondern systematischzu einer einzigen, alles einbeziehenden Paradoxie hin-fhrt und das heit, da die >Lehre< Platons auch innerhalb derSchule immer nur >PhilosophiaSophia< sein konn-te. (aaO., S. 201) Mit einem Dualismus der Prinzipien htte Platongar nichts Neues ausgesagt: die vermeintlich unlsbare Paradoxie istgenau das letzte Wort, das der Skeptizismus zu sagen hatte.

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    Damit kann auch der rationale Zusammenhang nicht mehr so be-stimmt werden, da eine allem Widerspruch von vornherein entzoge-ne Identitt fr ihn leitend wird. Insofern jedes bestimmt Gegebene alssolches schon eine synthetische Einheit darstellt, kann seine Ausle-gung in der Tat analytisch verfahren, ohne dabei auf bloe Tautologi-en herauszukommen. Die Gegebenheit einer analytisch zu behandeln-den Mannigfaltigkeit kann aus einem rein analytischen Ansatz garnicht begriffen werden, weil hier immer unerklrlich bliebe, wie in dashomogene Medium berhaupt eine definitiv bestimmte und bestimm-

    bare Mannigfaltigkeit anders als durch Setzung hereinkommen knnte.Versucht man die Kontinuitt und die qualitative Verschiedenheit

    des Seienden gleichsam eindimensional zu denken, so knnen sie sichnur widerstreiten und gegenseitig aufheben, wobei das rationale Mo-ment im Gedanken der Kontinuitt diesem recht geben wird und jederAtomismus als eine unbegrndete metaphysische Annahme erschei-nen mu. Das dimensionale Verhltnis erlaubt es, den unaufhebbarenGegensatz uneingeschrnkt stehenzulassen und zugleich die Konkreti-

    on des Heterogenen zu einer unauflsbaren, synthetischen und geradedarin auch analytisch zugnglich werdenden Einheit auszusprechen.Ihre Bestimmung als Verhltnis erlaubt es, das Irrationale in ihremRationalen mitzusetzen und von ihm her zu bestimmen. An sichselbst unbegreifbar, ist es , d. h. in seiner Potenz undals diese mebar. Das dimensionale Verhltnis ist die Bedingung desSeinknnens des Irrationalen und wahrt in seiner Bestimmtheit dochdessen innere Unendlichkeit, die es zu einem aussprechbaren, abernicht erschpfbaren Verhltnis macht. Das ist in die begrenztseiende Form aufgenommen, ohne durch sie abgeschlossen zu sein.Denn bermut und jegliche Schlechtigkeit aller Art sah diese Gttinwohl . . ., da keine Grenze, weder der Lust noch der Sttigung in ih-

    nen sei, und hat daher Gesetz und Ordnung als Grenze in sich habendeingerichtet; und du zwar sagtest, sie erschpfe, ich aber behaupte, sieerhalte. (Philebos 26 bc) Erschpfend wre die Grenze bei einem ingleichen Teilen mebaren und vollstndig in die gemeinsame Einheitaufhebbaren Verhltnis. Erhalten, aber nicht erschpfen, kannsie einen Zusammenhang, der aus inkommensurablen Gliedern be-steht.

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    6. Die Verbindung von Raum und Zeit im mathematischen Begriffder Bewegung

    Die im harmonischen Verhltnis geteilte Gestalt erhlt durch dieInkongruenz ihrer Elemente ein inneres Leben, das sich schon im si-multanen Anblick und nicht nur darin zeigt, da die harmonische Tei-lung nur in einer Bewegung der Konstruktionselemente zueinander er-reichbar ist. In der Figur von Archytas ist alles Bewegung; sein Den-ken ist kinematisch. (v. d. Waerden, aaO., S. 352) Dieser Bewe-gungscharakter der Konstruktion fhrt in den Raum die Zeit als einexplizites Konstruktionsprinzip ein, das in der arithmetischen Behand-lung entsprechender Sachverhalte mit ihrer infinitesimalen Reihenbil-dung noch strker hervortritt. Das rational-irrationale geometrischeVerhltnis gibt den Ansto zu einer Bewegung, die in der Bestimmtheitder Reihen verluft, um dann durch ihre Unabschliebarkeit dochwieder auf das simultane Verhltnis und seine mgliche rumlicheVergegenwrtigung zurckkommen zu mssen. Was in der ausmes-

    senden Zahlenreihe unbegrenzt erscheint, hat in der geometrischenKonstruktion des Verhltnisses eine definitiv begrenzte Flchen- bzw.Krperform und damit ein Ma des Ganzen, das aber nicht auf einezugrundeliegende Einheit zurckgefhrt werden kann. Dies beweistder Versuch einer wechselseitigen Ausmessung der Strecken(), die sich nur asymptotisch einer kleinsten Einheit n-hern, diese aber nicht erreichen knnen, weil es in der linearen Di-mension selbst gar kein gemeinsames Ma fr sie gibt. Das geometri-sche Verhltnis erscheint stetig, gerade weil es aus inkommensurablenFaktoren aufgebaut ist und sich nicht in ein gemeinsames Gleiches auf-lsen lt. Fr eine zum Ausgangspunkt genommene unbestimmteVorstellung reiner Kontinuitt wrden aber die hier konstitutiven Un-

    terscheidungen von Geradem und Ungeradem, Kommensurabili-tt und Inkommensurabilitt, Rationalitt und Irrationalitt usw.berhaupt ihren Sinn verlieren. Damit wre eine seiende Einheit alsrational-irrationales, weder unbestimmbares noch restlos auflsbaresVerhltnis undenkbar geworden. Auch das Mathematische kann frPlaton nicht in der Kontinuitt begrndet werden, die sich als dasdurchgngig Gleiche oder als das schlechthin Unbegrenzbare auf-fassen liee, beide Aspekte aber nicht mehr zur Einheit bringen knn-te. Dem Kontinuum entspricht die negative Dialektik, die berallGrenzen setzt und beliebig teilt, um ebenso beliebig jede Grenze auchwieder berschreiten und mit ihr alle Bestimmtheit auflsen zu kn-nen.

    Die Einheit bzw. Form des Wirklichen (wie sie sich fr Platon inden geometrischen Proportionen reprsentiert) kann also nicht (wiedie Zahl fr Aristoteles) hyletisch oder definitiv, als vollkommen un-

    bestimmte Kontinui-

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    tat oder andererseits als durchgngige Bestimmtheit gedacht werden.In dieser Alternative wre Platons eigentliche Leistung, diegegenstzlichen Aspekte wesentlich und nicht nur uerlich zuverbinden, wieder preisgegeben. Die groen Grnde und Medien derWirklichkeit, Raum, Zeit und Bewegung, haben fr ihn immer beideCharaktere zugleich an sich und sind als Bestimmt-Unbestimmtegegeben. An sich selbst ungreifbar, sind diese Medien zugleich dieuniversalen Bestimmungsgrnde, Elemente und Formen des Seiendenund machen eine rationale Wissenschaft des nicht durchweg ge-ordneten, in der Bewegung seienden und im ganzen letztlichunbestimmbaren Wirklichen mglich. Die rationale Form selbst hatdann, als Verhltnis und damit als Vollzug betrachtet, notwendigetwas Irrationales an sich, ohne das ihre Bestimmtheit nicht gefatwerden knnte.

    Man knnte hier schon an den neuzeitlichen Funktionsbegriff den-ken, der eine analytische Behandlung des Zahlbereichs und einefruchtbare Anwendung auf physikalische Verhltnisse mglich mach-

    te. Leibniz definiert die Funktion als quantitas quomodocunque for-mata ex indeterminatis et constantibus7. Sie erlaubt die gesetzmigeBildung einer Reihe nach einem bestimmten Verhltnis. Da die geo-metrischen Proportionen, deren Kenntnis Platon den mathematischenEntdeckungen seiner Zeit (vor allem des Theaitetos) verdankt und frseine philosophische Problematik fruchtbar zu machen vermochte, indiesem Sinn als Funktionen gelten knnen, ist selbstverstndlich. Diegriechische Sicht bleibt darin einseitig, da die an der Gestaltorientierte geometrische Behandlung das funktionale Verhltniszunchst nur in der Form der Proportion fassen und die arithmetischeMglichkeit der Reihenbildung nicht ebenso wahrnehmen konnte. Wozum Beweis der Inkommensurabilitt zweier Gren eine

    vollzogen wird, kommt es nur auf den Nachweis ihrerUnabschliebarkeit als indirekten Beweis dafr an, da das hiergefate Unendliche nur im geometrischen Schnitt berhaupt

    bestimmt getroffen werden kann. Die Eigenschaften der zugehrigenReihen werden selbst nicht eigens untersucht.

    So wesentlich dieser Unterschied in bezug auf den Umfang und dieBehandlungsweise der mathematischen Sachverhalte ist, so wenigscheint er doch die grundstzliche Fragestellung zu verndern. Aucheine arithmetische Behandlung kann ja die unendlichen Reihen nichtwirklich durchlaufen und mu auf das funktionale Verhltnis als sol-ches zurckkommen, in dem sie ihre Eigenart und definitive Formhaben. Die Verbindung von konstanten

    7 G. W. Leibniz, in: Acta eruditorum, September 1694; zit. nach 0.Becker, Mathematische Existenz. Jb. f. Philos. u. phn. Forschung,Bd. VIII, 1927, S. 592.

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    und variablen Faktoren im Begriff der Funktion hat ihr Analogon inPlatons Verbindung des Gleichen mit dem Unbestimmt-Relativen, wobei das bestimmte Verhltnis als Einschrnkung einesUnbegrenzten und Unbegrenzbaren durch eine als Grenze fungie-rende Bestimmtheit interpretiert wird. Doch soll diese Entsprechunghier nur angedeutet werden, um die Fruchtbarkeit und Aktualitt des

    platonischen Gedankens deutlich zu machen. Das Unendliche ist beiPlaton zu einem konstitutiven Faktor der endlichen Form selbst ge-worden, die dadurch als Verhltnis und nicht nur als singulre Be-stimmung, als Bewegung und nicht nur als Anordnung und Gestalt,als Konkretion heterogener Elemente und nicht als homogene Er-scheinung gedacht werden mu.

    Fr die Antike galt die mgliche geometrische Konstruktion als Exi-stenzbeweis der mathematischen Gebilde (vgl. Becker, aaO., S. 570).Dabei ergab sich eine gegenstzliche Auffassung darber, ob dieseKonstruktion als ein Werden des Gegenstandes oder als Abbildung ei-nes zeitlosen Verhltnisses aufzufassen sei. Becker findet die erste, em-

    pirische Einstellung in der Schule von Kyzikos und auch bei Aristotelesund schreibt der Akademie die zweite Auffassung zu (vgl. aaO., S. 570ff; 657 f.). In seinem Bestreben, die entscheidende Rolle der Zeitlich-keit fr den Seinscharakter der mathematischen Gegenstnde heraus-zustellen (aaO. S. 637) und ihren Vollzugscharakter zu betonen (vgl.aaO., S. 760), neigt Becker mehr zur ersten Richtung, die das und gegenber der betont. Mir scheint aber, daPlatons Konzeption selbst nicht auf diese Alternative zu bringen ist undBecker seinem eigenen Anliegen einen schlechten Dienst erweist,wenn er der aristotelischen Auffassung den Vorzug gibt. In Aristoteles'hyletischem Begriff des Kontinuums glaubt er den unerschpflichenSpielraum gewahrt, in dem alle mglichen Funktionen angesetzt

    und die im Transfiniten frei werdende Wahlfolge durchgefhrtwerden kann. Die reine Formalitt des vllig unbestimmten Mediumsgibt aber fr den funktionalen Verhltnisbegriff und die qualitativeMannigfaltigkeit seiner Reihenbildung keinen zureichenden Grund ab.Das homogene Kontinuum als ein rein negativer Grenzbegriff kannzwar fr alle mglichen Bestimmtheiten als Substrat gelten, aber esist nicht imstande, sie wirklich in sich aufzunehmen und das heit aussich hervorzubringen. Fr Aristoteles sind alle Zahlen gleich vereinbar(, vgl. Becker aaO., S. 640 f.) und unbegrenzt bestim-mungsfhig, weil sie nur das abstrakte Gesetz der Reihe ausdrcken,immer anders und anders werden zu knnen ( ; Phys. 206 a 22) und allein im Werden und Vergehender Zeit (; Phys. 206 a 32) zu sein. In diesemBegriff des Kontinuums bleibt die Zahl letztlich eine unbestimmteMglichkeit, die nicht durch sich selbst defi-

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    nitiv werden kann. Zeit und Zahl entsprechen der unendlichen Be-stimmbarkeit des bloen Stoffes und haben, wie Simplizius es aus-drckt, ihr Sein im Werden und nur in ihm (; zit. n. Becker, aaO., S. 643). Die Differenz von und fllt fr sie zusammen. Die Wirklichkeit kann in ihrereidetischen Bestimmtheit von ihnen her nicht gedacht werden. SeiendeForm und hyletische Mglichkeit fallen wieder auseinander.

    Demgegenber kann Platon die Verschrnkung dieser Aspekte ge-rade an der geometrischen Konstruktion zeigen, die das reale Konti-nuum mit der Form auf eine sehr viel differenziertere Weise verbindet,als es das bei Aristoteles zunchst ganz begriffslose Verhltnis vonForm und Stoff zu tun erlaubt. Platon braucht das immer Seiendedem Werdenden nicht mehr einfach gegenberzustellen. Das in dergeometrischen Teilung zustandekommende rational-irrationale Ver-hltnis ist durchaus ein Werdendes, aber nicht etwas, was baldentsteht, bald vergeht und bald so, bald anders ist. Das Werdenzum Sein kann ins Ziel kommen und die leidige Alternative ablsen,

    alles Wirkliche als schlechthin gegeben ein fr allemal voraussetzenund auf der anderen Seite das Entstehende als an sich unbestimmbarund vllig begriffslos abtun zu mssen. Da das Mathematische wederdem ewigen Sein noch dem unbestimmten und wandelbaren Wer-denden zugehren kann und vielmehr die produktive Mitte eines sichendlich bestimmenden Unendlichen auszumachen vermag: dieserfruchtbare Gedanke Beckers kann bei Platon in einem mathemati-schen und allgemeinen ontologischen Sinn seine Besttigung finden.Da der Widerspruch im Charakter des Seienden durch die Annahmeeines vllig unbestimmten und vermeintlich beliebig bestimmbarenKontinuums nicht nur nicht behoben ist, sondern zurckkehrt undunausweichlich wird, hat Zenon klar gemacht. Wenn es nicht ohne ein

    Moment der Kontinuitt und Unbestimmtheit in der Form der Einheitselbst geht, soll diese als Verhltnis und Proze bestimmt werdenknnen, dann ist nicht nur an der Einheit der Dimensionen, sondernebensosehr an ihrer radikalen Geschiedenheit festzuhalten. Die Be-stimmung des dimensionalen Verhltnisses mittels der geometrischenKonstruktion bei Platon ist in diesem philosophischen Anliegen nichtberholt. Die neuzeitliche Entwicklung hat die Realittsbedeutungdes Mathematischen zusehends gemindert und gleichzeitig in derPhysik in einem unerhrten Ma besttigen knnen. Wollte man Pla-tons Konzeption mit dem theoretischen Selbstverstndnis der Wissen-schaft enger verbinden, so wrde dies eine erneute Besinnung aufden Begriff der Dialektik in seinem Zusammenhang mit der Mathema-tik einschlieen, wie Platon ihn entwickelt hat. Der Hinweis auf dieKorrespondenz von dialektischer Verschrnkung und bestimmterGegebenheit wre dann

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    wohl mehr als eine entbehrliche philosophische Begrndung eines un-abhngig davon bestehenden Sachverhalts und wrde den Strukturzu-sammenhang des Wirklichen in einer Weise bestimmen, die eine um-fassende wissenschaftliche Behandlung des Gegebenen erst mglichmacht.

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