Politik der Gewalt – Gewalt in der Politik - hsfk.de · sollte die Politik auf eine bewußte...

63
HESSISCHE STIFTUNG FRIEDENS- UND KONFLIKTFORSCHUNG, Frankfurt __________________________________________________ _ Peter Kreuzer Politik der Gewalt – Gewalt in der Politik: Indonesien HSFK-Report 4/2000 © Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschun

Transcript of Politik der Gewalt – Gewalt in der Politik - hsfk.de · sollte die Politik auf eine bewußte...

HESSISCHE STIFTUNG FRIEDENS- UND KONFLIKTFORSCHUNG, Frankfurt

___________________________________________________

Peter Kreuzer

Politik der Gewalt – Gewalt in der Politik:

Indonesien

HSFK-Report 4/2000© Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschun

Zusammenfassung

Über lange Jahre galt die Freundschaft zwischen den westlichen Staaten und Indonesien, ins-besondere die Freundschaft zwischen Deutschland und Suharto und dem in den deutschenMedien regelmäßig auftretenden Technologieminister Habibi, als unzerbrechlich. Die indone-sische Geschichte seit den 70er Jahren wurde in vielen Medien als Erfolgsstory eines moder-nisierungsorientierten (leider autoritären) Regimes gezeichnet. Indonesien befand sich an derSeite von Thailand, Malaysia und Singapur auf dem Weg „nach Oben“. Suharto konnte sichim Respekt der Staatsführer dieser Welt sonnen, und die Streitkräfte galten als unverzichtbareeinigende Klammer des riesigen Inselreiches, die sich mit der Übernahme gesellschaftlicherVerantwortung als wichtige Modernisierungsagenten erwiesen.

In den Augen der westlichen Medien verwandelte sich das indonesische Musterland in derzweiten Hälfte des Jahres 1997 in wenigen Monaten in ein krisengeschütteltes Land, geführtvon einer durch und durch korrupten Regierung unter der autokratischen Führung eines bru-talen Diktators, ausgebeutet von einer Handvoll allmächtiger Familien und von menschen-rechtsverachtenden Militärs. Plötzlich sah man allerorts die durchdringende Gewalt, mit dereinige mächtige Familien und deren Verbündete in den Sicherheitskräften ihre Interessendurchsetzten.

Der Rücktritt Suhartos im Mai 1998 wurde begleitet durch Gewaltexzesse gegen die chinesi-sche Minderheit in Jakarta, es folgten Wellen der Gewalt auf Java, im Jahr 1999 in den Mo-lukken und in Aceh. Die besondere Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit fand das Dramain Osttimor, wo schon im Vorfeld der Volksbefragung über die Annahme oder Ablehnungeiner Autonomieregelung die politische Gewalt gegen Kritiker einer weiteren Anbindung anIndonesien eskalierte und nach der Bekanntgabe des Befragungsergebnisses im September1999 Hunderte oder Tausende von Milizen ermordet und Hunderttausende über die Grenzenach Westtimor oder in die Berge getrieben wurden. Die westliche Öffentlichkeit reagiertemit Abscheu und Entsetzen und erzwang die Erlaubnis Indonesiens zur Entsendung einer be-waffneten UN-Truppe.

Die Analysen der Gewalt bleiben seltsam kurzatmig. Der beinahe über Nacht vom Moderni-sierer zum Diktator mutierte Suharto und das von ihm aufgebaute System nepotistischer Be-reicherung und gewalttätiger Unterdrückung scheinen als Ursache der explosiven Gewaltplausibel genug. Mithin sollten der Sturz Suhartos, die Auflösung der nepotistischen Struktu-ren und die Professionalisierung des Militärs sowie die Demokratisierung des politischenSystems als zentrale Mittel gegen eine Perpetuierung der Gewalt gelten – paradoxerweisejedoch eskaliert die Gewalt in den letzten Jahren mit trauriger Beständigkeit, von einer Zivili-sierung des Konfliktaustrags kann keine Rede sein.

Die Eskalation der Gewalt kann jedoch nicht allein als Übergangsphänomen gedeutet werden,sondern beruht auch auf Ursachen, die unabhängig vom autoritären Suharto-System bestan-den und im wesentlichen auch noch bestehen. Will man auf eine Zivilisierung des innergesell-schaftlichen wie auch des politischen Konfliktaustrags hinarbeiten, so müssen sie offengelegtund bearbeitet werden.

Die folgende Studie entfaltet das Problem der Gewalt in Indonesien und arbeitet das Zusam-menspiel verschiedener Dimensionen und einige zentrale Bestimmungsfaktoren der vielfälti-gen Formen der Gewalt heraus. Ein genauerer Blick auf die verschiedenen, partiell autono-

II

men Gewaltarenen und -szenarien verdeutlicht, daß den konkreten Ausprägungen kollektiverGewalt jeweils spezifische Bestimmungsfaktoren zugrunde liegen, die nicht ohne Verkürzun-gen verallgemeinert werden können. Deutlich tritt hervor, daß jeder der untersuchten Kon-flikte über eine lange Vorgeschichte verfügt, die nicht selten bis in die Kolonialzeit zurück-reicht, daß mithin eine Analyse, die die Ursachen gewaltförmiger Konflikte in den Spezifikades Suharto-Regimes sucht, nur einen Aspekt der Problematik beleuchtet. Wichtig ist in meh-reren Fällen eine langwährende Praxis der Politisierung von Eigenschaften, die zur Identitäts-stiftung sozialer Gruppen genutzt werden (Sprache, Religion, Abstammung). Dadurch werdendie verschiedenen Dimensionen sozialer Identität so miteinander verkoppelt, daß kompromiß-fähige ökonomische und politische Differenzen symbolisch aufgeladen werden, bis sie für dieAkteure zu Nullsummenspielen mutierten. Langfristig erscheint eine kognitive und affektiveEntkoppelung der verschiedenen Identitätsdimensionen von eminenter Bedeutung. Kurzfristigsollte die Politik auf eine bewußte Balance der Identitätsgruppen hinarbeiten, so daß wiederein geteilter politischer Raum entsteht, in dem sich die Gruppen begegnen und der Lösungalltäglicher Probleme widmen können. Nur wenn das gelingt, besteht die Chance, daß dieAkteure ihre Nullsummenperspektiven zugunsten der Möglichkeit gemeinsam zu erarbeiten-der Gewinne überwinden.

Daß die Gewalt in ihren verschiedenen Formen in der indonesischen Politik und Gesellschaftwährend der letzten Jahrzehnte eine dermaßen herausgehobene Rolle spielen konnte, beruhtauch auf einem gewaltfördernden kulturellen und strukturellen Rahmen. Den kulturellenRahmen für einen beträchtlichen Teil der staatlicherseits ausgeübten Gewalt liefert das kogni-tive Muster des inneren Kolonialismus. Bislang ist es dem indonesischen Staat bzw. seinerpolitischen Elite nicht gelungen, eine egalitäre Sicht auf die eigene Nation zu entwickeln. Diegrößtenteils javanische Elite hält zwar die außenliegenden Provinzen für integrale Bestand-teile der indonesischen Nation, akzeptiert deren indigene Bevölkerungsgruppen jedoch nichtals gleichwertige Bürger eines gemeinsamen Vaterlandes, sondern sieht sie als rückständige,unterentwickelte Subjekte, die der Führung und Entwicklung bedürfen. Damit wiederholt siedie paternalistische Attitüde des kolonialen Systems – die dergestalt „kolonisierten“ Völkerwiederum gewannen ihre Identität zu einem wesentlichen Teil aus diesem kolonialen Blick.Ihre Forderungen nach Unabhängigkeit und gleichberechtigte, auf Respekt begründete Be-handlung durch die Metropole spiegelt die Position früherer anti-kolonialer Bewegungen. SollIndonesien als Staat erhalten bleiben, so müssen beide Seiten diese kognitiven Muster derinneren Kolonialisierung überwinden. Der erste Schritt kann freilich nur von der Elite ausge-hen. Sie muß – sichtbar nicht nur in der politischen Rhetorik, sondern auch in der Praxis – dievielfältigen Minderheiten als wahrhaftig gleichberechtigte Bürger einer gemeinsamen Nationakzeptieren.

Staatliche Gewalt und Gewalt zwischen gesellschaftlichen Gruppen werden befördert durchdie langandauernde Tradition politischer Gewalt. Gesellschaftliche und politische Sozialisati-on ist im modernen Indonesien durchgängig auch eine Gewöhnung an eine konflikt- und ge-waltförmige Wirklichkeitswahrnehmung und soziale Handlungspraxis. Die in den letzten Jah-ren beobachtete Gewaltsamkeit darf nicht als Besonderheit, sondern muß als eine Spitze ineinem Kontinuum der Gewalt interpretiert werden, dessen eigentlicher Höhepunkt in den Jah-ren 1965/66 über 500.000 Menschenleben forderte. Gewalt als Mittel der Politik und der in-nergesellschaftlichen Auseinandersetzung ist kein Phänomen der Suharto-Ära, auch wenn siein diesen Jahrzehnten zweifellos zu neuen Höhepunkten fand, sondern ist schon in den Jahr-zehnten davor ein regelmäßig wiederkehrendes Phänomen. Terror und Gewalt sind bisher

III

eine „normale“, beständig wiederkehrende, über Zeit stabile Facette der modernen indonesi-schen Politik und Gesellschaft. Die vor langen Jahrzehnten in Gang gesetzte Dynamik derGewalt hat über die vielen Akte zu einer Deformierung sozialer Kategorisierungsmuster undsozialer Interaktion zwischen Gruppen geführt, die noch auf lange Zeit soziale Praktiken ent-scheidend mitprägen wird.

Ein nicht zu unterschätzender Faktor, der die beständige staatliche Bereitschaft zur Gewalt-anwendung sichtbar unterstützt hat, ist, daß die Großmächte, insbesondere die USA undGroßbritannien, aber auch Australien und die Bundesrepublik Deutschland, der staatlichenGewalt nicht nur nichts entgegengesetzt, sondern die politischen Akteure in ihrer Präferenzfür gewaltsame Strategien politischer Konfliktregelung bis in die jüngste Vergangenheit –trotz mancher gegenteiliger Rhetorik – de facto unterstützt haben. Die Paradigmen des Ost-West-Konflikts und der Stabilität Indonesiens standen durchgängig einer kritischen Haltungzum indonesischen Repressionsapparat entgegen. Das humanitäre Engagement wie beim Ein-greifen der westlichen Mächte im Falle Osttimors muß als klare Ausnahme von der Regel derzumindest passiven, nicht selten aber auch aktiven Politik der Unterstützung des menschen-rechtsverletzenden Regimes interpretiert werden.

Wenngleich die Gewalt in Indonesien vielfältige und dauerhafte Ursachen hat, so wurde dieEskalation in den letzten Jahren doch durch die fundamentale ökonomische, soziale und poli-tische Krise vom Herbst/Winter 1997 ausgelöst. Anders als in den anderen südostasiatischenStaaten war für die Indonesier die Asienkrise nicht nur eine ökonomische und soziale Krise,sondern auch eine politische Systemkrise. Mit dem ökonomischen Zusammenbruch war dieLegitimation des Suharto-Regimes weggebrochen, das System kollabierte binnen wenigerWochen. Alle Gewißheiten der letzten Jahre hatten über Nacht ihre Gültigkeit verloren, ohnedaß andere in Sicht kamen. In Indonesien fand sich nicht nur das „Staatsschiff“ in einem Wir-belsturm wieder, auch der Kapitän war samt eines Teils der Mannschaft über Bord gespültworden. In einem derartigen Kontext fundamentaler Verunsicherung kann Gewalt, parado-xerweise gespeist aus der allgemeinen Angst davor, selbst Opfer der Gewalt zu werden, eineEigendynamik entfalten, die sich jeder Steuerung und Begrenzung entzieht.

Nachdem Indonesien nun mit der erfolgreichen Wahl eines demokratisch legitimierten Präsi-denten in ruhigeres Fahrwasser gekommen ist, wird es die zentrale Aufgabe sein, den altenLeitgedankens staatlicher Politik, „Einheit in Verschiedenheit“, neu zu bestimmen. Wenn eswie unter Sukarno und Suharto nicht gelingt, der Verschiedenheit einen gleichberechtigtenPlatz neben der Einheit einzuräumen, dann ist eine Fortschreibung der Gewalt programmiert.Wenn es aber gelingt, beide Konzeptionen so ins Gleichgewicht zu bringen, daß der nationaleund die regionalen und transnationalen (etwa religiösen) Bezugsrahmen so aufeinander ausge-richtet werden können, daß sie, obzwar voneinander unabhängig, sich doch gegenseitig beste-hen lassen, dann stehen die Chancen auf einen langfristig zivilisierteren Konfliktaustrag ineinem zumindest de facto föderalen Indonesien nicht schlecht. Der Weg dorthin wird jedochnoch über Jahre eine Wiederkehr kommunalistischer, aber wohl auch staatlicher Gewalt se-hen.

Inhalt

1. Die Politik der Gewalt: Die Schwächen einfacher Erklärungenund der Schrecken in Zahlen 1

1.1 Erklärungen und ihre Schwächen 1

1.2 Die Gewalt in Zahlen 7

2. Szenarien der Gewalt 10

2.1 Eine Tragödie in Sumba 11

2.2 Gewalt auf den Molukken 13

2.3 Aceh – Die Konflikthaftigkeit von Traditionen 21

2.4 Anti-chinesische Pogrome und ihre Geschichte 24

3. Bestimmungsfaktoren der Gewalt 33

3.1 Innerer Kolonialismus 33

3.1.1 Entwicklung als koloniales Projekt 34

3.1.2 Sprache und politische Identität 37

3.1.3 Transmigrasi 39

3.1.4 Innerer Kolonialismus als Herrschaftsstrategie:zur Problematik des Gerechtigkeitsdefizits 41

3.2 Traditionen politischer Gewalt 43

3.3 Die Mitverantwortung der großen Demokratien 47

3.4 Die Dynamik der Gewalt in den letzten Jahren 50

4. Abschließende Betrachtungen 55

1. Die Politik der Gewalt: Die Schwächen einfacher Erklärungenund der Schrecken in Zahlen

Eine traurige Tatsache ist, daß das Ausmaß der Gewalt in Indonesien in den letzten Monatender Ära Suharto und insbesondere in den nunmehr zwei Jahren seit dem Zusammenbruch desautoritären Regimes dramatisch zugenommen hat. Dies gilt sowohl für die von den Sicher-heitskräften ausgehende Gewalt, für die Gewalt in den von Sezession bedrohten Provinzen alsauch für die kommunalistische Gewalt1 im ganzen Land. Die Gewalt ist allgegenwärtig. Siedurchtränkt die derzeitige indonesische Politik von West nach Ost und von Nord nach Süd.Orte, die nur wenige Monate vorher noch als friedlich galten wie Bali oder Lombok, verwan-deln sich in wenigen Tagen in Schauplätze von Tragödien. Die Politiker scheinen hilflos. Derislamische Klerus und die christlichen Führer schwanken zwischen Unterstützung der eigenenSeite und wiederholten Aufrufen zur Gewaltlosigkeit und Mäßigung.

1.1 Erklärungen und ihre Schwächen

Indonesien ragt in bezug auf die innergesellschaftliche, aber auch die von staatlichen Institu-tionen ausgehende Gewalt nicht nur gegenwärtig, sondern über die gesamte Moderne be-trachtet im Vergleich mit seinen direkten Nachbarn heraus. Die Philippinen hatten mit Marcos„ihren Suharto“, die Thai erlebten bis 1992 Politik über viele Jahre als Betroffene und Zu-schauer von Militärdiktaturen, doch lassen sich die Autoritarismen beider Systeme in bezugauf ihre Gewalthaltigkeit nicht im entferntesten mit dem in Indonesien vergleichen. Singapurund dem ethnisch und religiös vielfältigen Malaysia gelang es unter dem weichen Autorita-rismus von Lee Kuan Yew bzw. Tunku Abdul Rahman und Mahathir Mohammad, stabile undim regionalen Vergleich ausnehmend gewaltarme Ordnungen zu verwirklichen. Warum je-doch ist die indonesische Politik nicht nur in der gegenwärtigen Krisensituation, sondern inder ganzen Moderne so eminent gewaltförmig?

Die Art der Frage verdeutlicht, daß Antworten, die allein auf den umfassenden Transformati-onsprozeß verweisen, in dem sich Indonesien derzeit befindet, keine ausreichenden Erklärun-gen liefern können.

Nichtsdestoweniger gilt es zunächst hervorzuheben, daß die exzessive Gewalt der letzten Jah-re wesentlich durch den allumfassenden Charakter der Krise in Indonesien ausgelöst – abereben nicht verursacht – wurde. Anders als in den anderen Tiger-Staaten Südostasiens fiel inIndonesien in den Jahren 1998/99 die ökonomische mit der politisch-sozialen Krise zusam-men. Die Herrschaft Suhartos, die sich einzig über den ökonomischen Erfolg legitimierte,verlor im Angesicht des wirtschaftlichen Zusammenbruchs jegliche Legitimität und kolla-bierte, ohne daß geregelte Prozeduren für die Nachfolgeregelung (Suksesi) zur Verfügunggestanden hätten. Demgegenüber verfügten zum Zeitpunkt der Asienkrise 1997/98 alle Nach-barn über Regime, die ihre Legitimation nicht allein aus den ökonomischen Gewinnen zogen,die zu verteilen sie fähig waren, und sich auch nicht zu einem nennenswerten Maß auf die

1 Mit kommunalistischer Gewalt ist Gewaltanwendung zwischen ethnisch oder religiös umrissenen sozialenKollektiven gemeint, ohne daß die Gewalt unbedingt als ethnisch oder religiös motiviert gefaßt würde. Siekann auch aus sozialen, politischen oder ökonomischen Deprivationserfahrungen resultieren, die sich zwi-schen gesellschaftlichen Gruppen entlang ethnischer oder religiöser Grenzen entladen.

2

Macht der Gewehrläufe stützten. Alle anderen, von der Asienkrise schwer getroffenen Tiger-Staaten hatten zumindest weitgehend demokratisch gewählte Regierungen, die eine von mate-riellen Erfolgen partiell unabhängige normative Legitimation aufwiesen. Anders als in Indo-nesien waren in allen Nachbarstaaten Systemlegitimation und die Legitimation der Regierungauch nicht weitestgehend deckungsgleich – ein Versagen der Regierung implizierte nichtnotwendigerweise ein Versagen des politischen Systems. Thailand, die Philippinen, aber auch(wenngleich in begrenztem Sinn) Singapur und Malaysia verfügen über mehr oder wenigerausgeprägte und schon wiederholt zur Anwendung gekommene politische Mechanismen derRegierungskontrolle, die in der Krise gesellschaftlichen Protest zu kanalisieren fähig waren.So gelang es in Thailand im November 1997 – also mitten in der Krise – einen „ganz norma-len Regierungswechsel“ durchzuführen. Im Mai 1998 zogen die Philippinen mit Wahlennach, in denen nicht nur der Präsident und sein Stellvertreter, sondern auch die Hälfte desSenats, das ganze Repräsentantenhaus, alle Gouverneure und Vizegouverneure sowie dasGros der gewählten Positionen bis hinunter zu den Stadträten neu bestimmt wurden. Selbst inMalaysia gelang es dem Amtsinhaber Mahathir Mohamad und seiner Koalitionsregierung, dieWahlen im November 1999 mit einer deutlichen Zweidrittel-Mehrheit zu gewinnen.

Alternative Erklärungen der gesellschaftlichen Gewalt in Indonesien setzen an der Verarmunggroßer Teile der Bevölkerung in der Asienkrise an. Auch hier gilt, daß damit zwar sicherlichein auslösender Faktor für die Gewaltexzesse benannt worden ist, doch nicht ihre Ursache undauch nicht der kognitive Rahmen, der sie erst ermöglicht. Der Rekurs auf die wirtschaftlichenRückschläge der letzten Jahre taugt nicht zur Erklärung der Gewalt in den Jahrzehnten desAufschwungs. Weder die Armut an sich, noch die soziale Asymmetrie zwischen Arm undReich können für sich genommen als ausreichende erklärende Faktoren für die gesellschaftli-che Gewalt genommen werden. Zwar gehörte Indonesien bis zum Crash von 1997 im direktenVergleich mit seinen Nachbarn nicht zu den reichen Staaten, doch war es, was manchen über-raschen mag, eine der ökonomisch egalitärsten Gesellschaften in der Region. Nicht nur dieZahl der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, ging von 64,3% im Jahr 1975kontinuierlich bis auf 11,4% im Jahr 1995 zurück, auch die Verteilung des Einkommens warim regionalen Vergleich ausnehmend „gerecht“ (siehe hierzu die folgenden Schaubilder 1 und2).

Schaubild 1: Pro-Kopf-Maß der Armut in Südostasien*

1975 1985 1993 1995

Indonesien 64,3 32,2 17 11,4

Philippinen 35,7 32,4 27,5 25,5

Thailand 8,1 10 unter 1 unter 1

Malaysia 17,4 10,8 unter 1 unter 1

*: Anteil der Bevölkerung unter der Armutsgrenze von einem Dollar pro Tag zu Preisen von 1985.2

2 Bernhard Dahm / Roderich Ptak (Hg.), Südostasien-Handbuch, München (C.H. Beck), 1999, S. 610.

3

Schaubild 2: Einkommensverteilung in Südostasien3

Land Jahr Prozentualer Anteil der Bevölkerungsgruppen amVolkseinkommen

Gini-Index

die ärmsten

20%

die reichsten20%

die reichsten10%

Indonesien 1995 8,4 43,1 28,3 34,2

Philippinen 1994 5,9 49,6 33,5 42,9

Thailand 1992 5,6 52,7 37,1 46,2

Malaysia 1989 4,6 53,7 37,9 48,4

Im Gefolge der Asienkrise stieg sie 1998 nach offiziellen Regierungsangaben wieder auf17,5%.4 Damit aber ist Indonesien inzwischen im „innerasiatischen Vergleich“ deutlich zu-rückgeblieben. Die Prozentsatz der Menschen, die mit weniger als einem US-Dollar pro Tagauskommen müssen, lag 1998 – trotz Asienkrise – für den asiatisch-pazifischen Raum bei ca.15%. Rechnet man die VR China nicht mit, so sinkt die Zahl auf 11%.5 Auch diese Umkehrdes langanhaltenden Aufstiegs taugt für sich nicht zur Erklärung gesellschaftlicher Gewalt, istdoch gerade mit den Molukken eine Region von Gewaltexzessen betroffen, die durch die A-sienkrise nur relativ wenig in Mitleidenschaft gezogen wurde, wohingegen die Bevölkerungauf der Hauptinsel Java, die sowohl im ländlichen als auch im städtischen Raum dramatischeRückschläge erfuhr, ihre Deprivationserfahrung kaum in Gewalt umsetzt.6

Trotz dieser Problematiken konzentrieren sich die gängigen ‚realistischen‘ Erklärungen fürdie kommunalistische, aber auch die von staatlichen Organen ausgehende Gewalt der letztenJahre auf die ökonomischen und machtpolitischen Aspekte der vielfältigen Konflikte. Selbstwenn diese als ethnische bzw. religiöse Konflikte bezeichnet werden, wird doch immer wie-der betont, daß die Ursachen der Konflikte und der Gewalt in ungleicher und ungerechterVerteilung ökonomischer, politischer oder sozialer Ressourcen lägen, mithin also nicht im„eigentlichen Sinn“ von ethnischen bzw. religiösen Konflikten gesprochen werden könne.Ethnos und Religion würden lediglich als Mobilisationskerne benutzt, um Forderungen nachökonomischer, politischer bzw. sozialer Besserstellung mit einem höheren Druckpotentialdurchsetzen zu können. Nicht selten wird das Argument „elitentheoretisch abgewandelt, wo-nach es sich bei den vielfältigen ethnischen und religiösen Konflikten eigentlich um Ausei-nandersetzungen zwischen konkurrierenden Eliten handele, die ihre jeweiligen Ressourcen –und hierzu gehören die manipulierten Massen – bestmöglich zur Durchsetzung der eigenenInteressen mobilisieren.

3 ebenda, S. 607.

4 Urban poor 'left out' of poverty programs, in: The Jakarta Post.com, 18.2.2000.

5 James D. Wolfensohn, Rethinking Development: Hurdles and chances, in: The Jakarta Post.com,18.2.2000.

6 Siehe hierzu: Sudarno Sumarto/Anna Wetterberg/Lant Pritchett, The Social Impact of the Crisis in Indone-sia: Results from a Nationwide Kecamatan Survey, in: http://wbln0018.worldbank.org/eap/eap.nsf. In demvon den Autoren erstellten Index liegen die urbanen Regionen der Molukken an 50ster und die ländlichenRegionen an 43ter Stelle von den insgesamt 51 Regionen.

4

Diese Variante beschränkt die Unterstellung, daß dem menschlichen Handeln eine rationaleEntscheidung zugrunde liegt und Gewaltanwendung kalkuliert eingesetzt wird, um bestimmteZiele zu erreichen, auf die Elite. Deren Mitglieder streben in einem rational ausgetragenenKonflikt um Macht, Einfluß und Ressourcen danach, ihre Positionen optimal durchzusetzen.Dafür wird, wenn es nutzbringend erscheint, auch Gewalt eingesetzt. Die Gewalttäter selbsterweisen sich als manipulierte Instrumente. Sie sind nicht mehr als Spielbälle in den Machen-schaften der Eliten. Die Affekte, die ihr gewalttätiges Handeln treiben, werden dadurch saubervon dem interessenorientierten strategischen Handeln der Eliten geschieden. Ein Interpretati-onsproblem taucht erst dann auf, wenn keine Profiteure der Gewalt mehr erkennbar sind – inAnbetracht der Überdeterminiertheit jeglicher sozialen Wirklichkeit ist die Gefahr hierfürjedoch eminent gering.

In diesem Bild gelten Ethnie und Religion weitgehend im Sinne eines „falschen Bewußtseins“als Maskierung der darunter liegenden eigentlichen Erklärungsebene von Ungleichheit undMachtkampf zwischen Gruppen oder Klassen. Negative Einstellungsmuster gegenüber derkonkurrierenden Outgroup und positive in bezug auf die eigene Ingroup sind ein Resultat vonAuseinandersetzungen um knappe Ressourcen (Macht, Einfluß, Land, Rohstoffe, etc); ihrerEigendynamik wird kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Die theoretische Ausgangsbasis derVerortung der Konflikte zwischen Individuen oder Gruppen in tatsächlichen Interessendiver-genzen bildet zwar, weil eminent anschaulich und aus der Common sense-Perspektive sofortnachvollziehbar, eine der Stärken der realistischen Erklärung, ist jedoch gleichzeitig ihre zent-rale Schwäche: Sie kann weder erklären, warum bei strukturell gleichen Konfliktlagen ver-schiedene Gruppen verschieden reagieren, noch warum schwache Minderheiten in Konfliktemit starken Mehrheiten eintreten und diese extrem verlustreich über Jahrzehnte durchhalten,obgleich sie vernünftigerweise nicht davon ausgehen können, auch nur den Hauch einerChance auf Gewinn zu haben, sich gleichzeitig ihre Verluste wegen ihrer oppositionellenHaltung jedoch verstärken – wie in den jahrzehntelangen Tragödien in Osttimor und WestPapua. Ein Rückgriff auf das Konzept der relativen Deprivation, wonach es nicht darauf an-kommt, ob ein Individuum oder eine Gruppe tatsächlich signifikant benachteiligt, ob einesoziale, ökonomische oder politische Ordnung tatsächlich ungerecht ist, führt zwar weiter alsder bloße Verweis auf Armut oder die Behauptung objektiv bestehender Interessendivergen-zen, doch ist auch damit nicht zu klären, warum einzelne „objektiv“ benachteiligte Gruppendagegen mit friedlichen oder gewaltsamen Mitteln angehen, andere in vergleichbarer Situati-on die ungerechte Ordnung hingegen hinzunehmen bereit sind. Die auslösenden Faktoren derGefühle relativer Deprivation bleiben durchgängig im Dunkeln.

Eine elitenzentrierte, instrumentalistische Sicht der Konflikte kann zwar u.U. plausibel ma-chen, warum einzelne Personen oder Personengruppen ein Interesse an gewaltförmigen Aus-einandersetzungen haben, sie erklärt jedoch normalerweise nicht, warum sich die Gewalttäterhierfür mobilisieren lassen. Auch werden häufig alternative gewaltfreie Optionen, die denEliten zur Verfolgung ihrer Ziele möglicherweise zur Verfügung gestanden hätten, nicht indie Rationalitätskalkulation einbezogen. Sonst müßte gefragt werden, warum Eliten bei einerWahl zwischen mehreren Optionen die Option der Auslösung von gewaltförmigen Gruppen-konflikten wählen, obwohl diese langfristig kaum steuerbar und damit mit hohem Risiko be-haftet ist. Spieltheoretische Modelle legen nahe, daß in Spielen zwischen ungleich mächtigenKontrahenten der dominierende Partner zwar mehr Gewinne einheimst als der schwache, daßer aber weniger gewinnt als im Spiel zwischen gleich mächtigen Partnern. Dieses doch über-raschende Ergebnis läßt sich damit erklären, daß in einer Situation, in der eine Partei die Op-

5

tion der Drohung bzw. des Gewalteinsatzes hat, beide Parteien einen Teil ihrer Ressourcender Konfliktbewältigung widmen müssen und nicht mehr zur Erreichung der eigentlichenZielsetzung einsetzen können.7 Deutlich wird, daß es auch für den starken Partner „rational“wäre, das Spiel so zu spielen, als wären beide Parteien gleich stark, und auf Kooperation undnicht auf Macht zu setzen. In dem Maß, in dem er dies nicht tut, und das ist in der Politik eherdie Regel, handelt er irrational. Auf Osttimor, Aceh oder West Papua bezogen, legen derartigeUntersuchungen zumindest nahe zu überprüfen, inwieweit nicht eine frühe, friedliche Kon-fliktregelung, bei denen die indonesischen Militärs und ihre Verbündeten auf einen Teil derGewinne verzichtet hätten, die „rationalere“ Strategie der mittel- und langfristigen Gewinn-maximierung gewesen wäre. Wenn dem so wäre, stellt sich aber die Frage nach der Grundla-ge der Entscheidung für eine gewaltförmige Strategie – diese Grundlage kann dann nichtmehr in der rationalen Wahl gesucht werden. Eine Ursachenforschung, die auf die Ökonomieder Gewalt und auf ihren instrumentellen Charakter abstellt, verkürzt ihre psychologischeDimension und übersieht insbesondere, daß – um beim indonesischen Fall zu bleiben – eineKosten-Nutzen Analyse nur in den seltensten Fällen zu eindeutigen Ergebnissen führt. Viel-mehr ist häufig kaum noch auszumachen, wer bzw. welche Gruppe einen meßbaren Nutzenvon einer derartigen Gewaltsamkeit haben sollte. Von Trotha verweist darauf, daß nicht seltendie Gewaltdynamik die Statik der Modelle der Gewaltursachenforschung zur Makulaturmacht.8 Insbesondere Sofsky betont in seinen Anaysen die Eigendynamik der Gewalt:

„Aus der beobachtbaren Tatsache, daß viele Taten mit Bedacht verübt werden, folgtmitnichten, daß sie irgendein Ziel hätten. Zwar lassen sich aus der Ferne immer ir-gendwelche Zwecke oder Funktionen zuschreiben. Was die Aktivitäten aber wirklichlenkt, hat damit häufig wenig zu tun. [...] Absolute Gewalt genügt sich selbst. Daherverfehlt der instrumentelle Begriff der Gewalt von vornherein jenen Schwellenpunkt,an dem Gewalt in Grausamkeit umschlägt. Und er übersieht alle Vorgänge, die nichtvon Kalkülen gesteuert werden, weil sie nämlich selbst die Kalkulationen steuern.“9

Unbeantwortet bleibt bei den rationalistischen Ursachenanalysen kollektiver Gewalt, die öko-nomische Gründe in den Vordergrund stellen, dreierlei:

• Warum die Grenzen der ökonomisch bevorzugten bzw. benachteiligten Gruppen nach eth-nischen bzw. religiösen Kriterien gezogen werden – oder es zumindest so wahrgenommenwird, als würden sie dergestalt gezogen;

• warum die Mobilisierung nicht direkt mit dem ökonomischen Argument, sondern auf derBasis ethnischer-religiöser Zugehörigkeit erfolgt. Der ethnisch-religiöse Appell ist als Mo-bilisationsgrundlage eindeutig erfolgreicher. Identitätsbildung erfolgt in all diesen Kon-flikten als Ethnie, als religiöse Gemeinschaft und nicht auf der Basis der gemeinsamen ö-konomischen oder sozialen Benachteiligung;

• warum Gewalt auch eingesetzt wird, wenn doch offensichtlich sein müßte, daß für alleGruppen die zu erwartenden Kosten der Gewalteskalation die hypothetisch zu erreichenden

7 Siehe hierzu knapp: Donald M. Taylor/Fathali M. Moghaddam, Theories of Intergroup Relations: Interna-tional Social Psychological Perspectives, Westport Conn. / London (Praeger), 1994 (2nd edition), 52f..

8 Trutz von Trotha, Zur Soziologie der Gewalt, in: ders. (Hg.), Soziologie der Gewalt, (Kölner Zeitschrift fürSoziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft Nr. 37) Köln (Westdeutscher Verlag), 1997, S. 21.

9 Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt am Main (Fischer), 1996, S. 53.

6

Gewinne bei weitem überschreiten. Welcher Instrumentalität folgen die allzerstörerischeGewalt auf den Molukken, die keine Gewinner mehr kennt, oder aber die Orgie der Ver-nichtung auf Osttimor, die nur verbrannte Erde, Flüchtlinge und entwurzelte Milizen üb-riggelassen hat? Selbst die vorhergegangene Gewalt der Militärs ist ökonomisch kaumplausibel zu erklären. Zwar dominierten die Streitkräfte den Kaffeeanbau und seine Ver-marktung auf Osttimor, doch waren gleichzeitig die finanziellen und menschlichen Kostender Besetzung enorm hoch, so daß eine „rationale“ eindeutige Gewinn-Verlust Rechungkaum aufgemacht werden kann. Unter einer instrumentellen Perspektive, die Gewalt alsMittel zum Zweck versteht, kann eine Fortführung von Gewalt über diesen Punkt hinausnicht erklärt werden. Ihre Steigerung, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hat, ergibt keinenSinn, auch muß Gewalt ohne sichtbaren Zweck unverständlich bleiben.

Die Unterscheidung zwischen echten ökonomischen Ursachen und vorgeschobenen religiösenbzw. ethnischen Identitäten und die implizite Klassifikation des religiösen/ethnischenSelbstbewußtseins der Akteure als einer Art des falschen Bewußtseins ist wenig erhellend.Hanf bemerkt ironisch, „daß in Geschichte wie Gegenwart weitaus mehr Menschen bereitwaren und sind, sich von ‚falschem‘ statt von ‚richtigem‘ Bewußtsein mobilisieren zu lassen,dafür zu kämpfen und zu sterben.“10

Ohne also die Bedeutung struktureller, seien es ökonomische oder soziale, Faktoren für dieGenese der Gewalt in Abrede stellen zu wollen, konzentriere ich mich auf die mit dem „fal-schen Bewußtsein“ verbundene und in der Politikwissenschaft tendenziell vernachlässigtesozialpsychologische und kulturelle Dimension der kollektiven Gewalt in Indonesien. Hierzubeleuchte ich nach einem Überblick über die Gewalt in Zahlen (Kap. 1.2) in Kapitel 2 zu-nächst verschiedene Szenarien der Gewalt. Auf der Basis von Verlaufsmustern konkreter ge-waltförmiger Konflikte und ihrer Rekonstruktion als Endpunkte historischer Entwicklungs-pfade arbeite ich die sich teilweise komplex überlagernden sozialpsychologischen Muster dergewaltförmigen Konflikteskalation heraus. Die knappen Studien zielen darauf ab, die Konfi-gurationen der Konflikt- und Gewalteskalation zu rekonstruieren. Kapitel 3 richtet sich aufkognitive Muster, Traditionen und habitualisierte Praktiken, die als Referenzrahmen aktuel-lem Handeln zugrunde liegen. Im Zentrum stehen das kognitive Muster des inneren Kolonia-lismus in seinen Auswirkungen für die politische Praxis sowie die mit der langandauerndenTradition politischer Gewalt verbundene Habitualisierung einer konflikt- und gewaltförmigenWirklichkeitswahrnehmung und sozialen Handlungspraxis. Ergänzt werden diese Aspektedurch eine Untersuchung der Mitverantwortung der großen westlichen Demokratien, insbe-sondere der USA, für die vom indonesischen Staat ausgehende Gewalt (Kap. 3.3). In einemeigenen Abschnitt (Kap. 3.4) behandele ich die Frage, wie die der kollektiven Gewalt inhä-renten Dynamiken für deren Eskalation in den letzten Jahren verantwortlich waren. DieseAnalyse versucht die sozialpsychologischen Mechanismen der Gewalteskalation selbst zubeschreiben, durch die die Gewalt, einmal in Gang gesetzt, jenseits aller Nutzenkalküle vo-rangetrieben wurde und wird.

10 Theodor Hanf, Ethnurgie. in: Wolfgang Jäger / Hans-Otto Mühleisen / Hans-Joachim Veen (Hg.), Republikund Dritte Welt, Paderborn et al., 1994, S. 133-143, Zitat S. 136.

7

1.2 Die Gewalt in Zahlen

Vom 13. bis zum 15. Mai 1998 starben bei anti-chinesischen Unruhen in Jakarta wahrschein-lich über 1.000 Menschen. Im Jahr 1997 starben auf Westkalimantan bei Auseinandersetzun-gen zwischen Dayak und Maduresen tausende von Maduresen, viele von ihnen wurden aufgrausamste Art und Weise verstümmelt. Anfang des Jahres 1999 wiederholte sich die Tragö-die mit hunderten von toten Maduresen und über 30.000 Flüchtlingen allein in der HauptstadtWest Kalimantans, Pontianak. Im September 1999 massakrierten Milizen mit aktiver Unter-stützung der Streitkräfte in Osttimor hunderte oder sogar tausende von Menschen und triebenhunderttausende, die an die Verheißungen der von den UN überwachten Wahlen geglaubthatten, in die Flucht; die Städte und Ortschaften wurden dem Erdboden gleichgemacht. Imgleichen Jahr erschütterten wiederholte Wellen kommunalistischer Gewalt die bis dahin sofriedlich wirkenden Molukken – mindestens 2.000 Menschen kamen ums Leben, weit über100.000 irrten ziellos umher, flohen auf andere Inseln der weitläufigen Region, auf denen sieauch nicht immer willkommen waren. In Westjava finden sich in den letzten Jahren regelmä-ßig wiederkehrende Mordserien von Todesschwadronen an muslimischen Predigern, Wahrsa-gern, aber auch regimekritischen Personen. Allein im Jahr 1999 fielen diesen Gewaltäternmehrere hundert Menschen zum Opfer.

Für Aceh brachten der Sturz des Regimes Suharto und die anschließende Demokratisierungdes politischen Systems Indonesiens bis zum Ende des Jahres 1999 keinerlei Verbesserungen,sondern eher eine Verschlechterung der Menschenrechtssituation. Zwar wurde im August1998 der seit 1989 bestehende DOM-Status11 aufgehoben, der die Region de facto unter mili-tärische Kontrolle gestellt hatte, doch korrespondierte damit keinerlei Reduzierung der Ge-walt. Nachdem man schon geglaubt hatte, daß die Gewalt während des Jahrzehnts militäri-scher Willkürherrschaft in Aceh den traurigen Höhepunkt der modernen Geschichte dieserwestlichsten Region Indonesiens bilden werde, wurde man im Jahr 1999 eines schlimmerenbelehrt. Im Gefolge des Sturzes des Suharto-Regimes findet sich eine enorme Gewalteskalati-on, die auch durch die neue Regierung Wahid nicht gestoppt werden konnte. Zeitweise warenüber 150.000 Menschen auf der Flucht. Militär und Polizei auf der einen und die Unabhän-gigkeitsbewegung GAM12 sowie eine unbekannte Zahl irregulärer Milizen auf der anderenSeite lieferten sich einen blutigen Bürgerkrieg. Nach Untersuchungen des Care for HumanRights Forum (FPHAM), das sich explizit der Beobachtung der Menschenrechtssituation inAceh widmet, sind in den beinahe zehn Jahren intensiver militärischer Kampagnen in Aceh(d.h. von 1989 bis zum August 1998) 1.321 Menschen ermordet worden, 1.985 werden ver-mißt, 3.439 Fälle von Folter und 128 Fälle von Vergewaltigung sowie 81 sexuelle Übergriffewurden berichtet.13 Für den kurzen Zeitraum zwischen August 1998 und Dezember 1999 be-richtet die gleiche Organisation von 534 Ermordeten. Allein im Dezember 1999 starben 54

11 Dieser Status galt auch über lange Jahre in West Papua (Irian Jaya) und Osttimor. DOM ist das Kürzel fürDaerah Operasi Militer (Militärisches Operationsgebiet).

12 Die Abkürzung GAM steht für „Gerakan Aceh Merdeka“ (Bewegung für ein freies Aceh).

13 Andere Quellen nennen abweichende Zahlen. So finden sich in einem Bericht vom August 1998 deutlichniedrigere Angaben: 781 Getötete, 163 Verschwundene und 368 Gefolterte (siehe hierzu Suryadinata 1999,122). Doch gibt es auch Berichte mit deutlich höheren Zahlen. So zählt die „Student Coalition for Aceh“3000 getötete Zivilisten, 3.862 Verschwundene, 4.663 Gefolterte, 186 Fälle von Vergewaltigung, 16.000Waisen und ca. 90.000 Flüchtlinge, sowie 6.800 Menschen die geisteskrank geworden seien (Crisis in A-ceh threatens Indonesian Unity 28.11.1999. in: http://www.gn.apc.org/tapol/r991128aceh.htm).

8

Menschen.14 Im Januar 2000 erhöhte sich die Zahl der Toten nach offiziellen Angaben auf113, im Februar starben 125 Menschen. Zwischenzeitlich sollen ca. 180.000 Menschen aufder Flucht gewesen sein. In früheren Jahren war die Gewalt noch weitestgehend von den Si-cherheitskräften ausgegangen. Seit dem Jahr 1999 tut sich auch eine Vielzahl von politischenoder vorgeblich politischen Gruppierungen mit brutalen Gewalttaten gegen die Sicherheits-kräfte, aber auch gegen die Zivilbevölkerung hervor. Zwar ist hier an erster Stelle die GAMzu nennen, doch spielen inzwischen auch Teile der unter dem Namen Taliban zusammenge-faßten Jugendgruppen eine Rolle15. Daneben scheint es noch einige „wilde“ Milizen zu geben,die sich mit ungeklärten Motiven an Mord und Brandschatzung beteiligen.

Nicht nur im Zusammenhang mit sezessionistischen Bestrebungen findet sich eine deutlicheZunahme von Gewalt, auch die religiös motivierte bzw. entlang religiöser Grenzen aufbre-chende Gewalt eskalierte nach dem Ende der Suharto-Diktatur. Freilich war schon in denletzten Jahren der Ära Suharto die Zahl entsprechender Gewalttaten deutlich angestiegen. Auseiner Aufstellung von gegen Christen gerichteter Gewalt von 1945 bis 1998 läßt sich einebeständige Zunahme anti-christlicher Gewaltakte ablesen. War diese Zunahme bis Mitte der90er Jahre noch „maßvoll“, so wird in den Jahren danach von einem sprunghaften Anstieg derGewalt berichtet. Von den zwischen 1945 und 1998 insgesamt 516 registrierten Kirchen-schließungen und -zerstörungen geschahen über 50% in den vier Jahren von 1995 bis 1998(Siehe Schaubild 3). 1996 wurden 71, 1997 91 und in den ersten 11 Monaten des Jahres 1998113 Kirchen geschlossen, zerstört oder niedergebrannt.

Schaubild 3: Zerstörte und geschlossene christliche Kirchen in Indonesien 1945-1998 (n)16

14 Saifuddin Bantasyam. Bringing an end to Aceh's saga of sadness. in: The Jakarta Post.com 10.1.2000 und11.1.2000, http://www.thejakartapost.com. Nach offiziellen Polizeiangaben starben in Aceh im Jahr 1999293 Menschen (davon 202 Zivilisten) durch Gewalt, 419 Gebäude und 63 Fahrzeuge wurden in Brand ge-setzt und schwer beschädigt oder zerstört (Little to celebrate in Aceh with three killed in attacks. in: TheJakarta Post.com, 4.1.2000.

15 In dieser Organisation soll eine große Zahl der muslimischen Studenten Acehs organisiert sein.

16 Indonesia Christian Communication Forum. The Church and Human Rights in Indonesia. Surabaya, o.J., S.20. Suryadinata gibt für den Zeitraum von 1985 bis 1994 132 Zerstörungen von Kirchen an. Seine Anga-ben für die vorhergehenden Zeiträume unterscheiden sich jedoch nicht von den hier vorgelegten (siehe:Leo Suryadinata. A Year of Upheaval and Uncertainty: The Fall of Soeharto and Rise of Habibi. in: Insti-

0255075

100125150175200225250275

1945-1954 1955-1964 1965-1974 1975-1984 1985-1994 1995-1998

9

Dieser dramatische Anstieg von Gewalt gegen Christen korrespondiert mit einer deutlichenregionalen Verschiebung. Aus Schaubild 4 wird deutlich, daß für den gesamten Zeitraum vonder Gründung der indonesischen Republik im Jahr 1945 bis zum Jahr 1998 das Zentrum derGewalt in Java lag – und zwar immer überproportional zum Anteil der javanischen Bevölke-rung an der Gesamtbevölkerung Indonesiens. So wurden 55% der Gewalttaten in den Jahr-zehnten von 1945 bis 1995 in den drei Provinzen von West-, Ost- und Zentraljava verübt,doch nahm deren Anteil an der Gewalt in den letzten Jahren der Ära Suharto nochmals auf71% zu. Nimmt man die Metropolen Jakarta und Jogjakarta noch hinzu, so erhöht sich dieZahl auf über 76% für den gesamten Zeitraum (1945-1995: 72% und 1996-1998: 82%). Be-sonders zu bemerken ist, daß gerade auf den Molukken, wo im Jahr 1999 mindestens 79 Kir-chen niedergebrannt oder schwer beschädigt worden sind,17 zwischen 1945 und 1998 ledig-lich eine (!) Kirche zerstört worden war.18

Schaubild 4: Regionale Verteilung der Gewalt gegen christliche Kirchen in Indonesien19

Parallel zum Anstieg der Gewalt gegen christliche Einrichtungen stieg auch die Gewalt gegenMoscheen, wenngleich die Zahlen im direkten Vergleich marginal erscheinen. Während inden zehn Jahren von 1970 bis 1979 nur zwei Moscheen zerstört worden sind, waren es in den

tute of Southeast Asian Studies (ed.). Southeast Asian Affairs 1999, Singapur (Institute of Southeast AsianStudies), S. 111-127, hier: S. 119).

17 Eine detaillierten Überblick gibt: Data of Destroyed Churches in the Moluccas Islands. 11.2.2000 in:http://www.indopubs.com/varchives/0362.html. Hier wird auch die Wellenform kommunalistischer Gewaltüberdeutlich. So wurden am 19. und 20 Januar 14, am 1. April 7, am 18. August 11, am 6. November 9,vom 21.-26. Dezember 1999 18 und am 31. Dezember 8 Kirchen zerstört.

18 Indonesia Christian Communication Forum. a.a.O. (Anm. 16), S. 24.

19 Indonesia Christian Communication Forum. a.a.O. (Anm. 16), S. 20.

0

25

50

75

100

125

150

Wes

t Jav

a

Ost

Jav

a

Zen

tral

Jav

a

Jaka

rta

Yog

jaka

rta

Kal

iman

tan

Süds

ulaw

esi

Nor

dsum

atra

And

ere

1945-1995

1996-1998

insgesamt

10

folgenden zehn Jahren (1980-1989) schon elf und von 1990 bis zum November 1998 sieb-zehn.20

2. Szenarien der Gewalt

Auch wenn kollektive Gewaltexzesse in ihrer äußeren Form den Eindruck der Gleichförmig-keit vermitteln, so verstecken sich doch unterschiedliche Vorgeschichten dahinter. Das Grosder Gewaltexzesse in Indonesien findet sicherlich in einer für alle gültigen Rahmung statt,doch gleichzeitig lassen sich die einzelnen Arenen und Formationen der Gewalt nicht alleindurch einen Rekurs auf den umfassenden Rahmen erklären und verstehen. Will man der hinterden immergleichen Bildern von Tod und Zerstörung liegenden Vielfalt der Gewalt näher-kommen, so muß nolens volens ein genauerer Blick auf einzelne konkrete Szenarien der Ge-walt geworfen werden.

Indonesien

20 Suryadinata. a.a.O. (Anm. 16), S. 119.

11

2.1 Eine Tragödie in Sumba

Beginnen will ich mit einem Blick auf einen Fall kommunalistischer Gewalt auf Sumba. Dortkamen im November 1998 bei einem Angriff einer großen Gruppe von Wewewa auf diemehrheitlich von Loli bewohnte Stadt Waikabubak 26 der Angreifer ums Leben.21 Beide eth-nischen Gruppen hatten bis zu jenem Zeitpunkt (scheinbar) friedlich zusammengelebt: Misch-ehen waren alltäglich, und eine Differenzierung nach Glauben oder Beschäftigung läßt sichgleichfalls nicht feststellen. Auslöser der Gewalt waren gemeinsame Demonstrationen vonUniversitätsabsolventen beider Gruppen, die gegen nepotistische Einstellungspraktiken fürden lokalen öffentlichen Dienst protestierten. Die Gruppe der Demonstranten war geeint aufder Basis (a) ihrer gemeinsamen Studienerfahrung auf Bali oder Java und (b) der gegen sieausgeübten Diskriminierung. Die Demonstrationen gegen den Leiter der lokalen Bürokratie(Bupati) eskalierten. Binnen weniger Tage forderten die Demonstranten nicht mehr nur Ge-rechtigkeit, sondern den Rücktritt des Amtsinhabers. Als Reaktion mobilisierte der angegrif-fene Beamte seine Unterstützergruppen – zumeist Mitglieder der weitverzweigten Familie,die von seiner Patronage profitierten – zu Gegendemonstrationen. Diese wiederum führten zuDemonstrationen vieler Familien der Universitätsabsolventen, die große Anstrengungen undEntbehrungen auf sich genommen hatten, um wenigstens einzelnen Familienmitgliedern densozialen Aufstieg zu ermöglichen. Signifikanterweise handelte es sich jedoch weitestgehendum Loli, die sich nun gegen die Clique des zu den Wewewa gehörenden Bupati wendeten. Siegriffen die Häuser von all denen an, die sie als Mitglieder der Clique des Bupati ansahen. DieAngegriffenen flüchteten aufs Land und organisierten eine ca. 2.000 Mann starke, mit vielfäl-tigen Waffen ausgerüstete „Armee“ von Wewewa, die auf die Stadt Waikabubak marschierteund unterwegs alle Loli-Dörfer in Flammen aufgehen ließ. In der Stadt kam es zur Schlachtzwischen den Volksgruppen, in deren Verlauf mindestens 26 Menschen ihr Leben verloren.22

Die Provinzregierung flog sofort Polizeitruppen ein, der Gouverneur selbst leitete den „Frie-densprozeß“ – offensichtlich klientelistisch begründete Ämterbesetzungen wurden rückgängiggemacht, der Bupati jedoch nicht entlassen. Wenige Wochen nach den Ereignissen tratenviele prominente Wewewa mit der Forderung nach dem Rücktritt des Bupati hervor – undstellten damit sicher, daß er, obgleich Mitglied der eigenen ethnischen Gruppe, keine Aussichtauf eine zweite Amtszeit erhielt.

Zwei zentrale Fragen stellen sich hier: welcher Art war der Konflikt, und warum konnte erderart eskalieren?

Offensichtlich handelt es sich um einen Konflikt, der entlang ethnischer Grenzen eskalierte,obgleich der originär auslösende Faktor nicht ethnischer, sondern ökonomischer oder, sollteman besser sagen, sozialstruktureller Natur war. Der Klientelismus des Bupati war von denjungen, potenziellen zukünftigen lokalen Eliten nicht akzeptiert worden. Sie begründeten ihreForderungen auf einem „modernen“ Maßstab, nämlich ihrer Qualifikation. Ihre Gegner

21 Die folgende Darstellung des Ablaufs der Auseinanderstzungen folgt David Mitchell, Tragedy in Sumba:Why neighours hacked each other to death in a remote part of Indonesia, in: Inside Indonesia No. 58, Ap-ril-June 1999 (http://www.insideindonesia.org/edit58/sumba.htm).

22 Mitchell gibt folgende Darstellung: „These were not the neat and quick deaths produced by bullet wounds.All had been chopped to death with machetes, or sometimes speared. Six had limbs or the head hacked off.Most were men, but one Wewewa woman died of machete wounds outside her home. One boy was killedas well, speared while trying to hide under a bed with adult men.“ (Mitchell a.a.O., (Anm. 21)).

12

fürchteten um ihre klientelistisch abgesicherten Pfründe. Diese Frontstellung löste sich jedochschon bei der ersten gewaltätigen Auseinandersetzung asymmetrisch entlang ethnischer Li-nien auf: Nur Loli griffen die Häuser der Clique des Bupati an. Auch wenn sich ihr Angriffgegen die Bupati-Clique gerichtet haben mochte, erfolgte damit der erste Schritt der Neurah-mung des Konflikts in ethnische Kategorien. Ungeachtet ihrer Mitgliedschaft zur Clique desBupati konnten dann auf ethnischer Grundlage alle Wewewa für den Kampf gegen die Lolimobilisiert werden. Damit standen nun auch die Familien, deren Universitätsabsolventen ur-sprünglich, wegen ihres benachteiligten ökonomischen oder sozialen Status zusammen mitLoli gegen den Bupati protestiert hatten, auf seiner Seite im Kampf gegen die gegnerischeethnische Gruppe. In seinen Friedensbemühungen bestimmte der Gouverneur den Konfliktzwar als ethnisch, handelte jedoch in bezug auf die ökonomischen Aspekte. Die Wewewa-Honoratioren ihrerseits übernahmen die Demontage „ihres“ Bupati, indem sie ihm öffentlichdie Unterstützung entzogen.

Im ökonomischen Konflikt prallten klientelistische Herrschaftsmuster mit der Forderung nacheiner rationalen, an fachlichen Fähigkeiten orientierten Einstellungspolitik zusammen. Eshandelte sich nicht um ökonomische Differenzen zwischen den ethnischen Gruppen. Imzweiten Schritt verwandelte sich dieser Konflikt in einen auf ethnischer Grundlage ausgetra-genen Angriff gegen klientelistische Bevorzugung, d.h. um die Forderung nach einem größe-ren Anteil am zu verteilenden Kuchen für das eigene Klientel. Im dritten Schritt schließlichhatte sich der Konflikt vollständig von der ursprünglichen Grundlage gelöst und in einen „ir-rational“ motivierten Kampf zwischen zwei ethnisch definierten Gruppen verwandelt. DieEskalation des Konfliktes beinhaltete also eine mehrfache Rahmenverschiebung. Diese wurdeausgelöst durch einen Wechsel der involvierten Akteure, die jeweils verschiedene Interpreta-tionsmuster an den Konflikt herantrugen und dementsprechend unterschiedliche Handlungs-strategien entwarfen. Während die Studenten in einem Rahmen der rationalen Moderne versusklientelistischer Tradition agierten, interpretierten ihre Verwandten den Konflikt innerhalb dertraditionellen Rahmen des Klientelismus und ethnischer Loyalitäten.

Auf die Frage danach, wie der Konflikt derart außer Kontrolle geraten konnte, findet sich inder Konfliktanalyse Mitchells ein unscheinbarer, doch aufschlußreicher Satz. Dort heißt es,daß „(t)he tactic of counter-demonstrations might have worked in years gone by, but in thepost-Suharto era it produced a defiant reaction“.23

Die autoritäre System hatte unter Suharto einen Rahmen für politische Konflikte zwischengesellschaftlichen Gruppierungen gestellt, wenngleich dieser wegen der ihm inhärenten Ge-waltsamkeit zu Recht oft gehaßt wurde. Die Optionen autonomen Gruppenhandelns wurdendurch die notwendige Rücksichtnahme auf die Prärogative der staatlichen Gewalt begrenzt.Konfligierende Interessen konnte nur rituell in Demonstrationen und Gegendemonstrationenzum Ausdruck gebracht werden. Nur in Ausnahmefällen schlugen diese rituellen Konfrontati-onen in physische Gewalt um, so (bedeutend weniger dramatisch) einmal im Jahr 1992. Diedamalige rituelle Lösung des gewaltsamen Konflikts zwischen Wewewa und Loli bestand auseiner „staatlich initiierten und überwachten“ Zeremonie des Friedensschlusses, verbunden miteinem Eid, nie wieder das Territorium des Anderen in aggressiver Absicht zu betreten. Dochkonnten weder der rituelle Friedensschluß noch die durchaus bestehende Praxis von Misch-ehen den Fortbestand der Bedeutung der ethnisch bestimmten Identitätsgruppe (Loli oder

23 Mitchell a.a.O. (Anm. 21).

13

Wewewa) im geringsten in Frage stellen. Ein Friedensschluß zwischen zwei Parteien bestätigtgrundsätzlich zunächst einmal ihre Existenz und ihre Bedeutsamkeit als kollektive Subjekte.Der staatlich-administrative Rahmen für die rituelle Symbolisierung von Gewalt war immerfragil gewesen. Mit dem Ende des Suharto-Regimes brach er weitgehend in sich zusammen.Die Rituale der Gewalt konnten nun ungehindert Stufe um Stufe eskalieren.

2.2 Gewalt auf den Molukken

Doch nicht nur in einzelnen, isolierten Auseinandersetzungen zwischen lokalen Gemein-schaften verdeutlicht sich, daß die Komplexität des Gewaltproblems einfache Deutungennicht zuläßt. Gerade Prozesse kollektiver Gewalt, die von einer zur anderen Gemeinschaftüberspringen, die die Fähigkeit haben, hunderte von Kilometern Wasser zu überwinden undan von der Ausgangsproblematik völlig unberührten Orten Replikationen der ursprünglichenGewalt hervorzurufen, sperren sich gegen jede monokausale Interpretation, die ihrer Überde-terminiertheit nicht Rechnung trägt. Das Phänomen der Überdeterminiertheit einzelner Kon-flikte und der damit möglichen vielfältigen und in sich eminent widersprüchlichen Rahmungdurch die Akteure bis hin zu distanzierten Beobachtern lassen sich am Beispiel der Molukkenverdeutlichen.

Die Molukken hatten weder an der indonesischen Revolution von 1945 noch an den darauf-folgenden Jahren des anti-holländischen Kampfes, der als einer der identitätsstiftenden As-pekte Indonesiens gelten kann, einen Anteil. Ganz im Gegenteil kämpften molukkische Sol-daten während des Pazifischen Krieges auf der Seite der Holländer gegen die japanischenStreitkräfte. Sie kamen auch in den Versuchen der Holländer von 1946 bis 1948, die Kon-trolle über Indonesien auf gewaltsamen Weg wiederzuerlangen, gegen die Streitkräfte undMilizen der Republik Indonesien zum Einsatz.

Die (Süd-)Molukken schlossen sich 1947 durch Beschluß des Südmolukkenrates 1947 provi-sorisch und unter dem ausdrücklichen Vorbehalt eines Rechts auf Austritt Ostindonesien (Ne-gara Indonesia Timur, NIT) an, das im Gefolge der Übereinkunft von Linggadjati (25.4.1947)zwischen der Republik Indonesien und Holland als Teilstaat in die Republik der VereinigtenStaaten von Indonesien (RIS) eingegliedert wurde. Direkt im Anschluß an die Round TableConference vom November 1949, durch die die Souveränität über die indonesischen Territo-rien (mit Ausnahme West Papuas) von den Niederlanden an den neuen Staat der Republik derVereinigten Staaten von Indonesien überging, setzte einer der Teilstaaten – die Republik In-donesien mit ihrem Präsidenten Sukarno – dazu an, die Konföderation in einen unitären Staatzu verwandeln. Im Gefolge mehrerer Dekrete wurde im März 1950 ein Großteil des indonesi-schen Territoriums in die Republik Indonesien inkorporiert – in keinem Fall wurde das ver-traglich gesicherte Recht der Regionen auf Selbstbestimmung respektiert. Vor diesem Hinter-grund erfolgte am 25.4.1950 die Proklamation der unabhängigen Republik Maluku Selatan(RMS).24 Jakarta reagierte mit Gewalt.25 Zwar gelang es seinen Truppen, die Herrschaft Ja-

24 Diese Republik umfaßte nicht das gesamte Territorium der Molukken. Die überwiegend muslimischenNord-Molukken verblieben in der Republik der Vereinigten Staaten von Indonesien.

25 Siehe hierzu: Karen Parker, Republik Maluku: The Case for Self-determination: A Briefing Paper. Presen-ted to the United Nations Commission on Human Rights 1996 Session March. (in: http://webcom/hrin/parker/m.html).

14

kartas über die (Süd-)Molukken wiederherzustellen, doch hielten sich die Rebellen über langeJahre in dem kaum besiedelten Inneren mehrerer Molukkeninseln.

Die in der indonesienkritischen Literatur vorherrschende Dichotomisierung von „guten“ mo-lukkischen Sezessionisten und „bösen“ indonesischen Republikanern muß freilich kritischhinterfragt werden, um die komplexe Sezessionsproblematik auch nur annähernd angemessendarstellen zu können.

Die Christianisierung der Südmolukken läßt sich aus der muslimischen Perspektive zurechtals sozioökonomische Stratifizierung der indigenen Gesellschaft entlang religiöser Gruppendurch die Kolonialmacht lesen.26 Diejenigen, die sich zum christlichen Glauben bekannten,durften Schulen besuchen und erhielten eine Ausbildung, so daß sie Posten in Verwaltung undMilitär übernehmen konnten. So wurden die christianisierten Südmolukker schon währendder niederländischen Kolonialherrschaft von der Kolonialmacht als strategische Minderheit“genutzt – etwa in den Polizeitruppen und Streitkräften.27 Wurde hierfür in früheren Jahrhun-derten das christliche Label aktualisiert, so gewann im 20. Jahrhundert zunehmend das ethni-sche Label an Bedeutung, um diese Gruppierung zum Nutzen der Kolonialmacht zu instru-mentalisieren – und ihnen im Gegenzug Vorteile zu gewähren.28 Diese Geschichte ist bis indie Gegenwart im Bewußtsein der muslimischen Bevölkerung eingeschrieben.29

26 Die Kolonialmacht Niederlande verknüpfte bei der Christianisierung der (Süd-)Molukken die ethnischeund religiöse Identität mit dem ökonomischen und sozialen Status. Damit verwandelte sich direkt der Cha-rakter der ökonomischen und politischen Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen. In derWarhnehmung wandelten sich die ökonomischen und politischen Privilegien zu „unteilbaren Gütern“, wiesie Ethnie und Religion verkörpern. „Priviligierte Schichten in homogenen Gesellschaften riskieren denVerlust ihrer Privilegien; ethnische Gruppen aber sehen sich in der Gefahr, unterjocht oder ihrer Identitätberaubt zu werden, wenn nicht gar ihre Existenz zu verlieren“ (Hanf, a.a.O. (Anm. 10), S. 139).

27 Vielfach wurden Ambonesen von der Kolonialmacht dazu benutzt, Aufstände anderer ethnischer Gruppenniederzuschlagen. Die ambonesischen Mitglieder der niederländischen Streitkräfte „were feared by many,and they also had more privileges than other ethnic groups during the Dutch era“ (Frederica Bunge (Hg.),Indonesia a country study, Washington D.C. (Government Printing Office), 1983 (4th edition), S. 91).

28 Die Konstruktion einer (molukkischen) ethnischen Identität durch die Niederlande wiederholte sich in den50er Jahren auf West Papua, das solange unter der wohlwollenden Vernachlässigung der Kolonialmachtlebte, bis im Gefolge der erfolgreichen indonesischen nationalistischen Revolution konkurrierende Ansprü-che auf das Territorium gestellt wurden. Erst dann, „on the grounds that they were collectively part of anew non-Indonesian ethnic group ..., they (the West Papuans; P.K.) were enlisted in the Dutch coalition.[...] Between 1950 and 1963, the Dutch made frantic efforts, with some success to create an Irianese ethnic– eventually nationalist – group“ (Benedict Anderson. The Spectre of Comparison: nationalism, SoutheastAsia and the World. London, New York (Verso), 1998, S. 320-321).

Das Problem ist, daß sich diese „phantom characterizings of new-found ethnicities“ (Anderson a.a.O., S.323) als ausgesprochen zählebig erwiesen haben und bis heute zur Identitätsbildung verwendet werden.

29 So veröffentlichten muslimische Studenten im Zusammenhang mit den religiösen Unruhen des Jahres 1999einen Aufruf zur Unterstützung der muslimischen Position, in dem sie kritisch anmerken, daß „Ambonesewilling to accept the religion received a special treatment from the Dutch. Ever since, thousands of localpeople, who were Christians, were sent to schools by the Dutch and they were offered jobs at civil and mi-litary positions across the country. They were used as colonial armies in annexing the country's area whichhad not been conquered at the time. [...] Therefore [...] until around 1920, Islamic villages were not equip-ped with secular education facilities. [...] based on the 1950 census, 90% of the Muslims were illiterate.The Christians, with the education support from the Dutch, dominated Ambonese society in such a waythat many people thought that Ambon was a Christian only area“ (A Description of the Muslim Life in

15

Die funktionale Einordnung der christlichen Südmolukker in den kolonialen Apparat der Nie-derlande – am prominentesten in den Streitkräften – ließ sie im Fall einer Eingliederung ineinen unitären indonesischen Staat um ihre bevorzugte Position fürchten. Auch schien ihrchristlicher Glaube in dem überwiegend muslimischen Indonesien nicht wie bisher gegenüberder Kolonialmacht von Vorteil, sondern von Nachteil zu sein. Was sie vor sich sahen, war eindrohender Statusverlust auf ökonomischem, sozialem und politischem Gebiet. Eine erste Re-volte ehemaliger Soldaten der niederländischen Streitkräfte (KNIL) wurde vom JustizministerOst-Indonesiens auf Sulawesi im April 1950 initiiert – vorher waren unter seiner Ägide Be-fürworter der Zusammenlegung der drei Teile der indonesischen Föderation ins Gefängnisgeworfen worden. Nach der Niederschlagung der Revolte ehemaliger KNIL-Soldaten floh ernach Ambon, wo er wieder die Ängste der KNIL-Soldaten zu erwecken wußte. Wenige Tagespäter erfolgte die Proklamation der Unabhängigkeit der Südmolukken – die überwiegendmuslimischen Nordmolukken zeigten 1950 keinerlei Sezessionsgelüste.30

In den ersten Jahren nach 1950 folgte der indonesische Staat auf den Molukken einer Politikder Förderung interreligiöser Kooperation und des gemeinsamen ökonomischen Aufbaus derRegion – finanziell gefördert mit Mitteln aus Jakarta. In späteren Jahren versuchte er auch,mit gezielter Migrationspolitik (transmigrasi) seine Kontrolle über die Inseln zu festigen, undinzwischen gehören knapp über fünfzig Prozent der Bevölkerung dem muslimischen Glaubenan.31 Muslimische Bevölkerungsgruppen dominieren inzwischen den lokalen Handel undscheinen in den letzten Jahren auch zunehmend Posten im lokalen öffentlichen Dienst, der bisdato christlich dominiert war, zu besetzen, obgleich über die Jahrzehnte der Suharto-Diktaturpeinlich genau darauf geachtet wurde, daß die Balance zwischen Christen und Muslimengrundsätzlich gewahrt blieb.

Trotz des enormen Konfliktpotentials gelang es über Jahrzehnte, eine prekäre Balance zwi-schen Muslimen und Christen aufrecht und Konflikte entlang religiöser Trennlinien niedrig zuerhalten. Seit dem Januar 1999 entlädt sich der schlummernde Konflikt in immer neuen Ex-zessen der Gewalt, die alles in der Region bislang Gesehene weit in den Schatten stellen. DieErklärungen, die von den verschiedenen Parteien angeboten werden, sind deutlich unter-schiedlich.

Die ökonomische Argumentation betont, daß auf Ambon religiöse Identitäten nicht nur An-hänger unterschiedlichen Glaubens, sondern auch Mitglieder verschiedener politisch-

Maluku. in: http://www.al-madeena.com/MuslimWorld/indo/maluku.html; Ambon ist die Hauptinsel derSüdmolukken).

30 Siehe hierzu z.B.: Virginia Thompson, Richard Adloff. Minority Problems in Southeast Asia. New York,1955 (reprinted 1970), S. 165-169. Angefügt werden sollte, daß im Rahmen des Sezessionsversuchs meh-rere muslimische Gemeinden in den Südmolukken von christlichen Mobs angegriffen und gebrandschatztwurden.

31 Nicht alle Neuzuwanderung verdankt sich gezielter Migrationspolitik. Ein nicht unbeträchtlicher Teil er-folgt zwar auch unter staatlichen Auspizien, jedoch als Reaktion auf interethnische und –religiöse Kon-flikte in anderen Regionen. Die Zentralregierung versucht, durch Umsiedlung von einer der Konfliktpartei-en die Konflikte zu lösen, bedenkt jedoch trotz schlechter Erfahrungen nicht, daß damit häufig an der neu-en „Heimat“ schon wieder der Keim zu den alten Problemen gelegt wird. So werden im Jahr 2000 unter derneuen Regierung Wahid auf den Molukken, West Kalimantan und Aceh, sowie Südwest-Sulawesi, West-timor und Madura neue Regionen für Transmigranten erschlossen, die im Gefolge der kommunalistischenUnruhen ihre Heimat verlassen mußten (Down to Earth, Transmigrants and refugees, 9.2.2000, in:http://www.indopubs.com/varchives/0350.html).

16

ökonomischer Netzwerke voneinander trennen. Die bürgerkriegsähnlichen Zustände undWellen gewaltsamer Auseinandersetzung zwischen religiösen Gruppierungen sind in dieserSicht Ausdruck der Auseinandersetzungen um Zugang, Erhalt und Ausweitung politischeroder ökonomischer Macht. So argumentiert etwa Gerry van Klinken, daß eine der Ursachender dramatischen Gewalteskalation auf Ambon im Jahr 1999 die Rivalität zweier, nach Reli-gionszugehörigkeit organisierter, sowohl in Ambon als auch in Jakarta operierender, halbkri-mineller Banden gewesen zu sein scheint.32 Hinter der christlichen Gang, den Cowok Keristen(„christlichen Jungen“), deren Hauptquartier sich in der zentralen protestantischen Kirchebefand, stand ein schon zweifach erfolgloser christlicher Bewerber um den Posten des Gou-verneurs der Molukken Freddy Latumahina.33 Ähnliche Spekulationen trägt die Zeitschrift„Tempo“ vor, die sich auf die Aussagen des Chefs des Streitkräftekommandos von Wirabua-na bezieht, wonach die Unruhen durch Raudis aus Jakarta ausgelöst worden seien, die im De-zember 1998 per Schiff in Ambon eingetroffen sein sollen.34 Festhalten läßt sich, daß ersteAuseinandersetzungen zwischen religiös definierten Gruppen mit Beteiligung ambonesischerChristen im November 1998 in Ketapang (Jakarta) stattfanden. Dort hatten angeblich ambo-nesisch-christliche Wachen eines Spielkasinos eine lokale Moschee niedergebrannt, worauf-hin ein muslimischer Mob sieben Ambonesen lynchte und seinerseits dreizehn Kirchen nie-derbrannte.35

Verschiedentlich wird behauptet, daß die Unruhen primär als regionale Machtkämpfe zwi-schen politischen Führern verschiedener Gruppen zu analysieren seien. Zwar läge die Ursacheder Unruhen auf den Süd- und Nordmolukken in der Migrationspolitik der Suharto-Regierung, doch würde das latent vorhandene Konfliktpotential von lokalen politischen Füh-rern in ihren Machtkämpfen genutzt. Diese strebten danach, ihre Ausgangspositionen fürwichtige politische Posten zu maximieren, die durch die administrative Neuordnung der Re-gion im letzten Jahr ins Leben gerufen wurden. So zielt angeblich der Sultan von Ternate aufden in absehbarer Zeit zu vergebenden Gouverneursposten der Nordmolukken und versucht,

32 In die gleiche Richtung zielen Vermutungen, wonach die der Golkar und insbesondere der Suharto-Familienahestehende halbkriminelle „Jugendorganisation“ Pemuda Pancasila für die Provokationen verantwortlichsei. Immerhin sollen ca. die Hälfte der bis Mitte Februar Verhafteten dieser Organisation angehört haben(siehe hierzu: Huge death toll in Maluku riots. in: http://www.gn.apc.org/tapol/151aHuge.htm).

33 Detailliert siehe hierzu: Gerry van Klinken. What caused the Ambon violence?. in: Inside Indonesia No.60, Oct-Dec. 1999, in: http://www.insideindonesia.org/edit60/ambon.htm sowie ein Interview mit Gerrryvan Klinken in ABC Radio National. (Explaining the Maluku Violence. 2.2.2000 in: http://www.indopubs.com/archives/0218.html). Gegen die – auch von Präsident Wahid vorgetragenen – eliten-zentrierten Erklärungen wendet van Klinken im Interview zurecht ein, daß „(t)he trouble with those theo-ries is that it tends to focus too much attention on powerful groups in the capital, and not enough on thedynamics on the ground ... especially in a place like Molucca, local dynamics are increasingly important,and these statements from President Wahid don't really reflect that new reality in Indonesia.“

34 Siehe: Cendana's Long Arm in the Ambon „War“?. in: Indonesia Political Watch Vol. II no. 2 (http://www.castleasia.com/ipw/b_issues/1999/ipw2/9.htm und ... ipw2/9_2.htm). Siehe auch: Huge death toll ... a.a.O.(Anm. 32).

35 Siehe hierzu: Human Rights Watch. World Report 1999: Indonesia and East Timor. in: http://www.hrw.org/hrw/wr2k/Asia-05.htm.

17

die Unzufriedenheit von traditionell unterdrückten Personengruppen so zu instrumentalisie-ren, daß dies seinen Bestrebungen hilft.36

Eine Mischung aus ökonomischen und religiösen Argumenten wird von religiösen Gruppensowohl auf der christlichen als auch auf der muslimischen Seite vorgebracht. Muslime stelleninsbesondere heraus, daß die christlichen Molukker den allmählichen Rückgang ihrer politi-schen, sozialen und ökonomischen Hegemonie und eine Gleichstellung muslimischer mitchristlichen Gruppierungen nicht akzeptieren könnten. Gerade die gegenwärtige Ära be-schleunigten gesellschaftlichen Wandels und die Orientierung der Reformära auf die Stärkungdes muslimischen Einflußes hätten das Bedrohungsgefühl so gesteigert, daß es sich in ge-walttätigen Unruhen und ethnischen Säuberungen Bahn gebrochen habe.37

Ähnlich argumentiert der Bischof von Maluku Petrus Canisius Mandagi,38 der drei aktiveGruppen ausmacht. Zum einen sieht er die Gefolgsleute des ehemaligen Präsidenten Suharto,die ihre Macht zurückerobern wollen; zum zweiten nennt er extremistische Muslime, die diePeriode des Wandels nutzen wollen, um den Christen und anderen nicht-muslimischen Min-derheiten die Macht zu entreissen; zum dritten agieren aus seiner Sicht Mitglieder der Streit-kräfte in destabilisierender Absicht, so daß sie, von der Politik gerufen, wieder an zentralePositionen der Staatsmacht zurückkehren können.

Demgegenüber sah die Vereinigung der christlichen Kirchen in Indonesien (PGI) Anfang2000 die Christen auf den (Süd-)Molukken durch einrückende muslimische Jihad-Kämpfer anLeib und Leben bedroht.39

Radikalere Muslimführer schließlich argumentieren – so absurd das in dem weitgehend mus-limischen Indonesien sein mag – genau umgekehrt, daß der Kampf auf den Molukken nur dererste Schritt im Versuch der Christen sei, die Muslime in Indonesien zu entmachten: „TheMuslims of Indonesia are going to be destroyed ... . It started in Maluku, and now it couldspread to other provinces. It's not impossible that it will reach Jakarta. We must be ready.“40

Schließlich finden sich Argumentationen, wonach das religiöse Konfliktpotential ernst ge-nommen werden muß und nicht einfach als Maske für ökonomische oder politische Motivla-gen der Parteien abgetan werden sollte. Das interkonfessionelle Konfliktpotential auf denMolukken sei über Jahrzehnte mittels traditioneller Mechanismen entschärft worden, die je-doch bei den in immer größerer Zahl ins Land strömenden Neuankömmlinge nicht mehr grif-

36 Maluku riots spread, 265 die in Halmahera. in: The Jakarta Post.com 31.12.1999. Ebenso: John McBerth.Beyond the Pale. in: Far Eastern Economic Review. 20.1.2000, S. 17. Zum Hintergrund der Unruhen aufden Nordmolukken siehe auch: Ester Indahyani Jusuf / Desideria Utomo, Roots of the North Malukuconflict, in: The Jakarta Post.com 25. und 26.1.2000.

37 So eine Gruppe islamischer Studenten: A Description of the Muslim Life in Maluku, a.a.O. (Anm. 29).

38 Siehe hierzu: Genocide incompatible with religion and faith, in: The Jakarta Post.com 17.1.2000.

39 In einer offiziellen Verlautbarung der PGI heißt es: „We consider this conflict, which has been given areligious label, as an extermination of the indigenous Maluku people along with their social institutions tobe replaced by another society whose form cannot yet be ascertained“ (PGI-Statement zitiert nach Eyewitt-ness Report of Atrocities in Ambon, in: Kabar-Irian 7.1.2000, http://www.kabaririan.com/news/msg00390.html.).

40 Reza Pahlevi zitiert nach Margot Cohen. Spite Islands. in: Far Eastern Economic Review, 20.1.2000, S. 16

18

fen. Praktizierte man früher die Strategie der „friedlichen Koexistenz“ (pela gandong),41 sowurden die Religionen in den letzten Jahren zunehmend getrennt. Das bis 1998 zudem durchdie harte Repressionspolitik der Regierung Suharto in Schach gehaltene Gewaltpotential derKonfliktparteien brach sich im offenen politischen Klima der Nach-Suharto-Ära weitgehendungehindert Bahn. Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen nutzten Reform und Demokrati-sierung als Einladung, um für Gewalt der Vergangenheit Revanche zu üben.42

Eine weitere Wendung läßt sich dieser Argumentation geben, wenn man den Konflikt als reli-giös überlagerten kulturellen Konflikt interpretiert, in dem Bevölkerungsgruppen mit ver-schiedenen Wirtschaftsethiken aufeinanderprallen. Hierzu gilt es, auf die Verschiedenheit derWirtschaftsethiken der feudalen javanischen Herrschaftsordnung und der muslimischen Han-delsstaaten an der Nordküste Javas und den anderen Inseln zwischen den Gewürzinseln (denMolukken) im Osten und Aceh im Westen hinzuweisen. Zentrale Orientierungen dieser Pesi-siran-Kultur (Küstenkultur), wie Direktheit, Aktivismus, individuelles Gewinnstreben undPrivateigentum, standen der feudal-bäuerlichen Kultur der Fürstentümer Zentraljavas diamet-ral gegenüber. Untermauert wurde diese kulturelle Differenz dadurch, daß die neue sozio-ökonomische Tradition der Handelsstaaten mit einer Betonung islamischer Werte einherging,die in Zentraljava trotz der Islamisierung des Reiches unter der Mataram-Dynastie nach 1581kein Pendant gefunden hatte.43 Diese Differenzen blieben solange ohne Belang, wie die ver-schiedenen Gruppen nicht in direkte Konkurrenz zueinander traten, sondern einander ergän-zende Rollen ausfüllen konnten. Zwei Pesisiran-Gemeinschaften, die Buginesen und Madure-sen, waren ausnehmend erfolgreiche Händler im prämodernen Indonesien. Teile dieser Völkerwurden im Rahmen von Transmigrationsprogrammen auf West-Kalimantan bzw. auf denSüdmolukken angesiedelt, wo sie die Chancen des Entwicklungsstaates angeblich bessernutzten als die traditionelle Bevölkerung. Gefühle kultureller Fremdheit und Neid auf die auf-stiegsorientierte Gruppe führten, so das Argument, schließlich zur offenen Gewalt nicht nurauf den Molukken in Form von Angriffen auf die Buginesen, sondern auch auf West-Kalimantan, wo sich (muslimische) Malayen und (christliche) Dayak, vereinzelt unterstütztvon ethnischen Chinesen, gegen die ökonomisch (vorgeblich) erfolgreichen Maduresen zu-sammengeschlossen haben.44 Freilich kippte die Konfrontation zwischen individualistischen

41 Tom McCawley. In the Middle of a War Zone. Asiaweek 21.1.2000, in: CNN.com asia now (http://cnn.com/ASIANOW/asiaweek/).

42 Siehe hierzu: Dewi Loveard. Cry for a Holy War. in: Asiaweek, 21.1.2000, in: CNN.com.asianow(http://cnn.com/ASIANOW/asaiweek/..e/2000/0121/nat.indon.holywar.html).

43 Siehe hierzu z.B. Olaf Schuman, Der Islam, in: Dahm/Ptak (Hg.). a.a.O. (Anm. 2), S. 434-453, besonders:S. 435-444.

44 Das immer wieder kolportierte Urteil über die ökonomisch erfolgreichen Maduresen auf Kalimantan istkaum stimmig. Zwar finden sich maduresische Kleinhändler, doch ist ihre Rolle in der Wirtschaft vonWest-Kalimantan im Vergleich mit den „ethnischen Chinesen“ und den aus Sumatra zugewandertenHändlern zweitrangig. Viele Maduresen leben immer noch (inzwischen in der dritten Generation!) in denursprünglich für sie eingerichteten Gemeinden, weitgehend ohne Kontakt zu den einheimischen Bevölke-rungsgruppen. Die Spannungen zwischen eingewanderten Maduresen und Dayak gehen bis ins Jahr 1950(!), also mehr als ein Jahrzehnt vor Aufnahme der staatlichen Transmigrationsprogramme zurück. 1968, alsdie ersten Maduresen im Rahmen staatlicher Transmigrationsprogramme auf West-Kalimantan angesiedeltwurden, kam es erneut zu größeren ethnischen Auseinandersetzungen. Weitere gewalttätige Konflikte bra-chen 1979, 1983 und 1993 aus. Siehe hierzu: Killings in many parts of Indonesia. in: Tapol Bulletin 152,May 1999 (http://www.gn.apc.org/tapol/152aKill.htm) und Edi Petebang, Tension between ethnic groupsobscures future, in: The Jakarta Post.com 15.2.2000.

19

Händlerethiken und traditionalistisch-kommunalistisch orientierten Gruppierungen auf denMolukken sehr schnell in eine religiöse Frontstellung zwischen islamischen und christlichenGemeinden.45

Zurückhaltend in der Erklärung der Gewaltexzesse bleiben ausgerechnet Vertreter nordmo-lukkischer Kirchenorganisationen, die letztlich keine Motive für die Gewalt angeben könnenund die Situation als ausnehmend konfus bezeichnen.46 Auch der lokale Vertreter des indone-sischen Rats der Ulemas (MUI: Indonesian Ulemas Council) stellte zum Jahreswechsel1999/2000 fest, daß er sich nicht vorstellen könne, was den Anlaß für die ungehemmte Aus-weitung der Gewalt auf die Nord-Molukken geliefert habe. Nichtsdestoweniger betonte er,daß die muslimischen Einwohner sich für die Niederbrennung eines privaten islamischenKrankenhauses rächen sollten.47 Obgleich die Ursachen der Gewalteskalation genauso unklarscheinen wie der Nutzen, der aus einer Fortsetzung gezogen werden kann, organisieren sichauf christlicher Seite Dozenten der christlichen Hochschule der Nordmolukken zum Straßen-kampf.48

Wie komplex derartige Auseinandersetzungen auch für die Zentralregierung und die Streit-kräfteführung in Jakarta sind, zeigt sich ebenfalls paradigmatisch auf den Molukken. Dortwarf die muslimische wie auch die christliche Seite den Streitkräften vor, nicht neutral umKonfliktminimierung bemüht zu sein, sondern in den Auseinandersetzungen Partei für denpolitischen Gegner zu ergreifen. Viele Beobachter gehen davon aus, daß die Auseinanderset-zungen zumindest von Teilen der Streitkräfte angefacht und mit Hilfe von Provokateuren amLeben erhalten bzw. eskaliert wurden, so daß die Regierung Wahid als inkompetent darge-stellt und mittelfristig zugunsten einer streitkräftefreundlicheren Regierung aus dem Amt ge-drängt werden könnte. Für all diese Vorwürfe finden sich jedoch kaum nachprüfbare Belege.

Festgehalten werden kann lediglich, daß Soldaten einzelner Einheiten auf der lokalen Ebenewährend der Unruhen den eigenen „Glaubensbrüdern“ zu Hilfe geeilt sind bzw. mit ihnengemeinsam Gewalttaten verübt haben. Auch die bewaffneten Milizen beider Seiten sind ver-einzelt von lokalen Einheiten von Militär und Polizei (gegen Entgelt?) mit Waffen versorgtworden.49 Vor Ort scheinen die Streitkräfte wie auch die zivilen Institutionen auf der Grund-

45 Für dieses Argumentationsmuster siehe Waruno Mahdi. Why is Indonesia not falling apart?. in:http://w3rz-berlin.mpg.de/~wm/Pap/KokYaUtuh.html.

46 Jürgen Soempiet, ein Vertreter der Masehi Injil Kirche im stark betroffenen Halmahera (GMIH), fragtzweifelnd: „This is just confusing. Speaking of ethnic races, North Moluccans are actually from one andthe same bloodline. Our forfathers are from the same familyline, one side became Christian, the other cho-se Islam. Our young ones are confused now. So, if you want to know what did happen, I need to know theanswer for that first. They said there were provokers, but where are they?“ (Jürgen Soempiet zitiert nach:Put at once an End to the fighting and Killings in Moluccas. in: Kompas Online 11.1.2000,http://www.kompas.com/kompas-cetak/0001/11/ENGLISH/put.htm).

47 TNI sends more troops to Maluku. in: The Jakarta Post.com 4.1.2000.

48 Explaining the Maluku violence a.a.O. (Anm. 33).

49 Siehe hierzu knapp: Human Rights Watch, http://www.hrw.org/press/2000/01/indo-0107.htm; detailliertund ausgeprägt pro-christlich der Bericht eines christlichen Priesters: Eyewitness Report of Atrocities inAmbon. in: Kabar-Irian 7.1.2000, http://www.kabar-irian.com/news/msg00390.html. Die lokal rekrutiertePolizei soll angeblich den Christen zu Hilfe kommen, während muslimische Militärs der muslimischenSeite beistehen sollen (Dini Djalal, The Great Divide, in: Far Eastern Economic Review 24.2.2000, S. 32-34).

20

lage personenzentrierter und häufig religiös unterfütterter Netzwerke zu funktionieren, dieüber die eigentlichen militärisch-institutionellen Grenzen hinausgehen und die Einheiten vorOrt mit ziviler Administration, lokaler Wirtschaft u.v.m. zusammenspannen.50 Dies aber isteine Entwicklung, die von der zentralen Streitkräfteführung in keinem Fall gewollt sein kann,zeigt sich doch darin, daß die Kohäsion der Institution derzeit ausnehmend labil ist. Die Visi-on informell agierender, von Oben kaum noch kontrollierbarer regionaler „Warlords“, die mitden lokalen zivilen Eliten ihre Interessen gegen die der Zentralmacht – egal ob politisch odermilitärisch – verteidigen, erscheint nicht allzu abwegig. Gegen eine Verwicklung der Streit-kräfte als Institution spricht auch das Engagement der zentralen Militärelite für eine Stabili-sierung der Situation auf den Molukken, was aber ausdrücklich nicht Komplizenschaft auflokaler Ebene ausschließt.

Kommunalistische Auseinandersetzungen – wie die auf den Molukken – haben eine enormeReichweite und können offensichtlich große Räume – etwa vom Ausgangsort Jakarta bis nachAmbon – überwinden. So fanden sich direkt nach der Zerstörung der christlichen Kirchen inJakarta auf Westtimor christliche Jugendliche zusammen, die ihrerseits aus Protest Moscheen,Läden und Wohnungen der muslimischen Bugis angriffen, die in den letzten Jahrzehnten ausSüdsulawesi zugewandert waren. Darauf wiederum reagierten Bugis auf Sulawesi mit derNiederbrennung einer christlichen Kirche.51 Diese Fähigkeit der Raumüberwindung verweistauf die Bedeutung transregionaler, auf ethnischer oder religiöser Basis organisierter Netzwer-ke, die nicht nur schnell und effizient Informationen übermitteln, sondern auch über eine gro-ße Mobilisationsfähigkeit zu verfügen scheinen.

So wenig Bedeutung die religiöse Kategorisierung der Bevölkerung der Molukken in der all-täglichen Interaktion der Vergangenheit gehabt haben mochte, so blieb sie doch über Jahr-zehnte als Schema zur Ordnung der sozialen Umwelt präsent. Allein die beständige Notwen-digkeit der Balancierung von Posten, Ressourcen u.v.m. zwischen den Religionsgemein-schaften zeigt ihre fortbestehende Bedeutung. In den Stufen der Eskalation von 1998 bis zumJanuar 1999 erwies sich, wie auch in den vielen Monaten danach, daß die gezähmt geglaubtenprimordialen Identitätszuschreibungen sich als letztbestimmend erwiesen. Christen und Mus-lime reorientierten ihr Handeln auf ihre primordialen Identitäten. Damit aber wurden die Kon-fliktstrukturen entlang der religiösen Grenzlinien dichotomisiert. Jeder Einzelne wurde in sei-ne kollektive Identität hineingezwungen. Neutrale und vermittelnde Positionen waren nichtmehr möglich, da ihnen der Geruch des Verrats der eigenen Gruppe anhaftete. Auch mußtejeder fürchten, unbeschadet der eigenen Einstellung, als Mitglied einer Gruppe kategorisiertund entsprechend behandelt zu werden. Beides zusammen, die Reorientierung auf primordialeIdentitäten und die Dichotomisierung der Konfliktstrukturen, resultierte in der Zerstörungfrüher gültiger Regeln des Konfliktaustrags und einer totalen Entgrenzung der angewandtenMittel.

50 Siehe hierzu z.B. Explaining the Maluku violence a.a.O. (Anm. 33).

51 Human Rights Watch, World Report 1999: Indonesia and East Timor, (http://www.hrw.org/hrw/wr2k/Asia-05.htm).

21

2.3 Aceh – Die Konflikthaftigkeit von Traditionen

Lassen sich auf den Molukken die Konfliktlinien grundsätzlich anhand religiöser Grenzenziehen, so hat ein derartiges Erklärungsmuster für das rein (und streng) muslimische Acehkeinen Bestand. Die Geschichte von Aceh, dem seit 1999 auch in den internationalen Medienprominenten Schauplatz sezessionistischer Bestrebungen und militärischer Repression, bietetein gutes Beispiel zur Illustration der Konflikthaftigkeit gegenläufiger religiöser, politischerund ökonomischer Traditionen. So findet sich auf Aceh eine relativ klar konturierte religiöseund sozio-politische Identität, durch die sich das Gros der lokalen Bevölkerung deutlich vonderjenigen des in der Republik Indonesien hegemonialen Java unterschieden sieht. Beim Grosder Bevölkerung von Aceh handelt es sich um „Santri-Muslime“, für die der Islam „der um-fassende kulturelle und potentiell politische Rahmen ihres Selbst- und Weltverständnisses“ist.52 Demgegenüber handelt es sich beim Gros der javanischen Muslime um sog. „abangan-Javaner“, deren „Religiösität [...] durch vorislamische und vorhinduistische Traditionen be-stimmt“ ist.53

Diese Unterschiede gehen auf eine unterschiedliche Islamisierungsgeschichte zurück. In Acehund in den Handelsstädten des nördlichen Java waren die religiöse und politische Ordnung imGefolge des Gewürzhandels zwischen den Molukken und Arabien sowie Indien schon seitdem 13. Jahrhundert islamisiert worden. Religions- und Herrschaftswechsel waren eng mit-einander verbunden, die vorher buddhistisch legitimierten Höfe wandelten sich zu Sultanaten.Die Legitimation ihrer Herrschaft erfolgte unter Rückgriff auf persische und indische „islami-sche Klassiker“. Demgegenüber wurde Zentraljava im 17. Jahrhundert unter König Agungzwar ebenfalls islamisiert, die neue Religion wurde jedoch so mit den alten hindu-javanischenZeremonien verkoppelt, daß ihr die Funktion der Verherrlichung des Königreichs zukam.Leitete sich in den nördlichen Sultanaten die politische Ordnung und damit die Legitimationder Herrscher aus der religiösen ab, rekurrierten die javanischen Mataram-Herrscher auf dasletzte hinduistische Großreich Majapahit und damit auf eine hinduistische genealogische Le-gitimation. Im einen Fall wurde die politische wie die soziale Ordnung aus dem Islam abge-leitet, im anderen Fall wurde der Islam in die bestehende Kultur inkulturiert und bekam einenPlatz in einer vorgegebenen hinduistisch-imperialen Ordnung zugewiesen. In den religiösenUnterschieden zwischen Santri und Abangan verwurzelt sind nur begrenzt kompatible politi-sche Paradigmen der Weltordnung. Religiöse Konflikte sind immer auch politische Konflikte,sind immer auch Konflikte über die legitime Ordnung des politischen Gemeinwesens unddamit über die relative Stellung und die Macht der verschiedenen Gruppen. Die unterschiedli-chen Konzeptionen der religiösen und politischen Identität korrespondieren mit unterschiedli-chen Wirtschaftsethiken.

Aceh war der westliche Außenposten der bis zu den Molukken reichenden Gruppe muslimi-scher Handelsstaaten, und die Bevölkerung, an zentraler Stelle natürlich die Händler, war vonder Pesisiran-Kultur (Küstenkultur) geprägt. Bis 1873 war Aceh ein unabhängiges muslimi-sches Sultanat, dann überfielen es holländische Truppen, um es zur Anerkennung der nieder-ländischen Oberhoheit zu zwingen. Zwar gelang es den Holländern, ohne größere Problemedie Hauptstadt Banda Aceh zu besetzen, doch folgte diesem militärischen Erfolg der dreiJahrzehnte währende „Aceh-Krieg“, der große Summen des Haushaltes der Kolonialmacht

52 Franz Magnis-Suseno, Indonesischer Islam: wohin?, in: Asien, Nr. 51, April 1994, S. 5-14 Zitat 6.

53 Magnis-Suseno ebenda, S. 6.

22

verschlang. Erst durch eigene counter-Guerilla-Truppen (die sog. marechaussee) konnten dieNiederländer bis 1902 den militärischen Widerstand der Bevölkerung von Aceh niederschla-gen.54 Trotz dieser Geschichte politischer Eigenständigkeit und des beharrlichen Widerstan-des gegen die niederländischen Fremdherrscher wurde die Idee der Republik Indonesien vonder politischen Elite Acehs 1945 einhellig unterstützt. Aceh erklärte in den Jahren nach derAusrufung der Republik Indonesien gerade nicht seine Unabhängigkeit, obgleich weder dieHolländer als Besatzungsmacht auf die Insel zurückkamen, noch die indonesische Republikdies mit militärischen Mitteln hätte verhindern können. Doch nahm die Distanz zur zentralenElite in Jakarta in den Jahren nach der Staatsgründung 1945 deutlich zu, weil die Zugeständ-nisse, die die nationalistische und säkular orientierte Elite auf Java den islamisch orientiertenNationalisten von Aceh und anderen außenliegenden Regionen gemacht hatten, stillschwei-gend wieder zurückgenommen oder gar nicht erst umgesetzt wurden. Die neue politischeOrdnung erwies sich zunehmend als eine fremde, „javanische“ Ordnung, in der sich die eige-ne vorgestellte Identität nicht repräsentiert fand. Es folgten Rebellionen, die teilweise erst inden 60er Jahren endgültig niedergeschlagen werden konnten. Sie können jedoch nicht als Un-abhängigkeitskriege gegen die Republik Indonesien begriffen werden, hatten sie doch grund-sätzlich nicht Sezession, sondern die Änderung der Natur des indonesischen Staatswesenszum Ziel. Die Aufständischen versuchten, den vorläufigen Sieg der Vision der abangan-javanischen Konzeption von Indonesien als einem säkularen Nationalstaat über die rivalisie-rende Vision der Santri-Muslime, die Indonesien als Islamstaat (Darul Islam) begründenwollten, mit militärischen Mitteln rückgängig zu machen. Die Auseinandersetzungen der 50erJahre waren ein Kampf zweier grundlegend verschiedener Paradigmen des Selbst- und Welt-verständnisses um die Hegemonie im sozialen und politischen Raum – aus diesem Kampfging damals die zentraljavanische Abangan-Kultur als Sieger hervor. Zwar wurde Aceh derProvinzstatus und das Recht, die Sharia anzuwenden, gewährt, doch wurden diese Zugeständ-nisse nicht schriftlich fixiert und in den Folgejahren nicht in die Praxis umgesetzt.

Wenn Präsident Abdurahman Wahid im Herbst 1999 Aceh das Angebot eines Referendumsüber die Einführung des islamischen Rechts machte, dann bezieht er sich genau auf diesenKonflikt, der in den 50er Jahren zwar vorläufig entschieden, aber nicht gelöst worden war.Die prominente Rolle, die er den muslimischen Lehrern (Pesantren ulema) im Diskurs überdie Zukunft Acehs zuweist, verdeutlicht, daß er darauf abzielt, den Faden der Diskussion dortwiederaufzunehmen, wo er im Gefolge der Gewalt Anfang der 50er Jahren abgerissen wordenist.55 Mit dem Referendumsangebot erkennt er gleichzeitig an, daß die bisherige indonesischePraxis als hegemoniale Oktroyierung eines fremden politisch-religiösen Paradigmas auf dieSantri-Kulturen verstanden und kritisiert werden muß.

Aus der Perspektive der seit Mitte der 70er Jahre aktiven Befreiungsbewegung für AcehGAM56 existiert kein Unterschied zwischen den holländischen und den indonesischen Herren.

54 Siehe hierzu: David Joel Steinberg (Hg.), In Search of Southeast Asia: A Modern History (revised edition),Honolulu (University of Hawai Press), 1985, S. 195-196. Frederica M. Bunge a.a.O. (Anm. 27), S. 26-28.Naval Intelligence Division. Netherlands East Indies Vol. II, o.O., November 1944, S. 91-95.

55 Hier sei auf die Konferenz der Religionsgelehrten Acehs (PUSA) von 1950 verwiesen, auf der diese ihreZukunftsvision formuliert hatten.

56 Abdulla Syahfei zitiert in: Vanessa Johanson, The sultan will be Dr Hasan Tiro, in: Inside Indonesia, No.60, Oct.-Dec. 1999, http://www.insideindonesia.org/edit60/gam1.htm).

23

Beide stehen für koloniale Unterwerfung und Unterdrückung. So skizziert beispielsweise Ab-dulla Syahfei, ein Regionalkommandeur der GAM, die Ziele der Befreiungsbewegung fol-gendermaßen:

„We are here to return the rights of the people of Aceh to the sovereignty stolen fromthem by the Dutch in 1873. Aceh has always been its own nation. [...] Our nation hasbeen attacked, oppressed, and raped by the Dutch and the Indonesians. [...] We fightbecause we are in our own nation [...] . Javanese are colonialists.“57

Nur folgerichtig streben die Freiheitskämpfer danach, den Status quo ante der politischenOrdnung vor der Eingliederung in das holländische Kolonialreich wieder herzustellen.58 FürDemokratie und Freiheit scheinen die Unabhängigkeitskämpfer der GAM nicht zu stehen. DieGAM räumt der Bevölkerung von Aceh nicht das Recht auf eine freie Entscheidung für odergegen einen Verbleib in Indonesien ein – sie wendet sich nicht nur gegen den Vorschlag einesReferendums, sondern verweigert der Bevölkerung auch das Recht auf Neutralität und be-droht sie mit Gewalt, wenn sie nicht aktiv für die GAM Partei ergreift. 59 Die GAM erweistsich damit als Gruppierung, die mit der staatlichen Unabhängigkeit für Aceh ein neuartigesZiel verfolgt, das von ihren „Vorläufern“ – den Rebellionen der 50er Jahre – nicht angestrebtworden war. Sie versucht, sich nichtsdestoweniger als Fortsetzung der Tradition auszugeben,um ihre Legitimität auch gegenüber den konkurrierenden lokalen Eliten zu erhöhen. WennAbdurahman Wahid nun mit dem Vorschlag eines Referendums zu religiöser Selbstbestim-mung und dem Angebot umfassender Autonomie selbst an die ursprüngliche Auseinanderset-zung in den 50er Jahren anknüpft und Acehs Recht auf eine weitgehend selbstbestimmte sozi-ale und politische Ordnung im Rahmen der indonesischen Republik anerkennt, dann ist diesesZugeständnis indirekt paradoxerweise sicherlich mitverantwortlich für die Eskalation derGewalttätigkeit auf Seiten der Befreiungsbewegung, greift er doch deren Existenzgrundlagean. Während die repressive Politik der Jahre seit 198960 in der Bevölkerung große Sympathie

Über die GAM ist wenig bekannt. Sie wurde im Dezember 1976 gegründet und blieb über Jahre in Acehselbst kaum populär. Ihr Führer, der „Staatschef“ (Wali Neugara) Chik di Tiro Mohammad Hasan lebt seitvielen Jahren in Schweden. In Aceh war er bis vor kurzem weitgehend unbekannt. Ein Teil der Führungs-elite der Organisation hält sich in Malaysia auf. Vor Ort scheint es weitgehend unklar zu sein, um welchePersonengruppe es sich bei der reinen GAM handelt und was es mit der Splitterfaktion der GAM oder derKopassus GAM auf sich hat, die angeblich von den Spezialeinheiten der indonesischen Streitkräfte ge-gründet worden ist.

57 Ähnlich auch Tengku Daud Yusuf, ein anderer lokaler Kommandeur der GAM, der den Kampf der GAMals Forsetzung der Triumphe der Geschichte Acehs seit den Zeiten von Sultan Iskandar Muda (1607-1636)versteht. Muda hatte versucht auch noch Malacca und Johore der Herrschaft von Aceh zu unterwerfen. (A-ceh fight now a propaganda war. in: Sidney Morning Herald (internet edition) 4.12.1999,smh.com.au/news/9912/04/world/ world12.html.

58 Auf die Frage nach der zukünftigen Ordnung eines unabhängigen Aceh antwortete ein GAM-Vertreter:„We will return to our rightful status as a sultanate. the sultan will be Dr Hasan Tiro, who is now residentin Sweden. He will return to rule Aceh. [...] Aceh will be ruled by the command of the sultan and by inter-national law.“ (Abdulla Syahfei zitiert in: Johanson a.a.O. (Anm. 56), S. 2).

59 So erklärte Ismail Syahputra, ein Sprecher der GAM, unmißverständlich: „The chance is still open forAcehnese to join us. If not, you'll end up being killed by either us or the security officers“ (Ismail Syah-putra zitiert nach: GAM rejects Gus Dur's offer of protection, in: The Jakarta Post.com 13.1.2000).

60 Zum dramatischen Wandel des politischen Klimas im Jahr 1989 siehe Leon Jones, Aceh's year of livingdangerously, in: Inside Indonesia Nr. 49 (http://www.insideindonesia.org/edit49/leon.htm).

24

für die Sache der GAM, wenngleich nicht unbedingt für die Organisation als solcher, geweckthat, zwingt die neue Politik Abdurahman Wahids dazu, die verschiedenen Ziele – Unabhän-gigkeit, Einführung islamischen Rechts und einer stark islamorientierten sozialen Ordnung,ökonomische Besserstellung, stärkere lokale politische Selbstbestimmung u.v.m. – zu ge-wichten. Die Aufhebung des DOM-Status 1998, der freilich schnell wieder aufgegebene Ver-such die Zahl der Sicherheitskräfte zu reduzieren und das offenere Klima seit dem Sommer1999 hatten schon erste Verschiebungen in der politischen Landschaft bewirkt, insbesondereeine offene Politisierung großer Teile der religiösen und politischen Elite, aber auch der in-tellektuellen Jugend. Dadurch war der Status der GAM als führende Kraft des Widerstandsbedroht. Die große Massendemonstration für die Unabhängigkeit Acehs führte zu einer weite-ren Schwächung der politischen Stellung der GAM, die ihren Status als exklusives Sprachrohrder politischen Opposition gegen das Regime verlor und im nunmehr öffentlichen Diskursüber die Zukunft Acehs zunehmend marginalisiert wurde. Das direkt nach dem Amtsantrittvon Präsident Wahid unterbreitete Angebot, sich mit den Führern aller sozialen Gruppen inAceh zu treffen und über mögliche Zukunftsoptionen für die von der Gewalt geschüttelteProvinz zu beraten, drohte endgültig einen Keil zwischen die gemäßigten weltlichen undkirchlichen Führer auf der einen und die GAM auf der anderen Seite zu treiben. Betrachtetman die seit Anfang 1999 praktizierte und seit dem Ende des Jahres 1999 noch forcierteStrategie der GAM – Attentate auf einzelne oder auf kleine Gruppen von Polizisten – vor die-sem Hintergrund, so scheint sie darauf ausgerichtet zu sein, Gegengewalt der Polizeitruppenzu provozieren, die sich gegen die unbeteiligte Zivilbevölkerung entlädt.61

2.4 Anti-chinesische Pogrome und ihre Geschichte

Wieder anderen Verlaufs- und Motivationsmustern folgen die mit erschreckender Regelmä-ßigkeit wiederkehrenden anti-chinesischen Ausschreitungen, die, wie im ersten Halbjahr1998, zu Pogromen mit Hunderten von Toten eskalieren können. Hier zeigt sich ein komple-xes Ineinander von ökonomisch motivierter Gewalt, die jedoch durchgängig rassistischen undpolitischen Stereotypen der Ausgrenzung folgt und noch dazu in der staatlichen Politik seitden fünfziger Jahren ihr Pendant findet. Nicht zuletzt kann man eine Instrumentalisierunganti-chinesischer Vorurteile durch Teile der staatlichen Administration beobachten, um in

61 Seit dem Ende des Regimes Suharto hat die GAM ihre Strategie geändert. Sie zielt inzwischen eindeutigauf eine Eskalation der Gewalt in der Provinz, und damit auf deren Unregierbarkeit ab. Es finden sich auchVorwürfe, daß die GAM bewußt mit Terrorakten gegen Soldaten und Polizisten Revanche- und Racheakteder Sicherheitskräfte provozieren will, so daß die Menschenrechtssituation in Aceh sich dermaßen ver-schlechtert, daß sich die internationale Gemeinschaft unter dem Banner der humanitären Intervention zumEingreifen auf Seiten der bedrängten Bevökerung und damit willentlich oder unwillentlich auf Seiten derUnabhängigkeitsbewegung gedrängt sähe. Eine internationale Dimension gewinnt der Konflikt zwischender GAM und dem indonesischen Staat noch dadurch, daß die GAM ihre neuen Offensiven nur dank einesin Malaysia gut ausgebildeten Korps neuer Kader starten konnte. Diese neuen Kader verfügen über die or-ganisatorische Kapazitäten, die notwendig waren, um durch gezieltes Handeln für zehntausende vonFlüchtlingen in Aceh zu sorgen. (siehe hierzu z.B. Aceh fight now a propaganda war a.a.O. (Anm. 56), AtiNubaiti. Sending off the sons to the unknown war in Aceh. in: The Jakarta Post.com 14.9.1999, HumanRights Watch. a.a.O. (Anm. 51).

25

Zeiten hoher innergesellschaftlicher Spannungen durch eine inszenierte Katharsis das poli-tisch-ökonomische System zu entlasten.62

Auf den ersten Blick waren die anti-chinesischen Ausschreitungen, die im Januar und Februar1998 über große Teile Indonesiens hinwegzogen, direkte Reaktionen auf die sich dramatischverschlechternde ökonomische Situation der Bevölkerung. Aufgrund des wirtschaftlichenZusammenbruchs hatten mehrere Millionen Menschen ihre Arbeitsplätze verloren. Der Ab-sturz der Landeswährung hatte zu dramatischen Preissteigerungen geführt, nochmals ver-schlimmert wurde die ohnehin extrem angespannte Situation durch die vom IWF erzwungeneAufhebung der staatlichen Stabilisierungsmaßnahmen für die Preise der wichtigsten Nah-rungsmittel. In dieser Situation explodierte die aufgestaute Spannung gegen die Objekte, andenen für die allgemeine Bevölkerung die Katastrophe symbolisch sichtbar zutage trat: diekleinen Läden für die Endverbraucher. Diese aber waren weitgehend in „ethnisch“63 chinesi-scher Hand. Plünderungen und Brandstiftung vernichteten in den ersten zwei Monaten desJahres 1998 große Teile des Vermögens der zumeist selbst nur mäßig wohlhabenden Laden-besitzer. Doch handelte der Mob häufig nicht autonom. Allenthalben finden sich Berichte vonunbekannten kleinen Gruppen junger Männer, die die Massen aufputschten und manchmalauch Angriffe gegen chinesisches Eigentum initiierten, nach dem Beginn der Plünderungenaber seltsamerweise weitgehend unbemerkt von der Stätte der Verwüstung verschwanden.Regelmäßig wurde auch von Sicherheitskräften berichtet, die dem Treiben des Mob tatenloszusahen. Auch haben Teile der militärischen Elite ganz offen und im Verbund mit radikalenislamischen Führern die ethnischen Chinesen der fehlenden Loyalität zum indonesischen Va-terland und zu den verarmten Massen bezichtigt und alles getan, um die ohnehin latent immervorhandenen Ressentiments weiter anzuheizen. Staatliche Institutionen scheinen, so legen dievielfältigen Darstellungen nahe, bewußt die Frustration und Wut der verarmenden Bevölke-

62 Anti-chinesische Ausschreitungen tragen, worauf nur selten hingewiesen wird, immer auch den Keim zurVerschiebung der Gewalt in anti-christliche Gewalttaten in sich, sind doch viele Chinesen christlichenGlaubens und findet sich vielerorten eine enge Verbindung zwischen Christen und Chinesen. Von musli-mischen Gruppen wurde insbesondere die Allianz zwischen Chinesen und prominenten christlichen Mit-gliedern der militärischen Elite, wie beispielsweise in der Errichtung des Center for Strategic and Internati-onal Studies unter der Leitung von General Ali Moerdopo und dem katholischen Oberbefehlshaber derStreitkräfte Benny Moerdani, ausnehmend kritisch gesehen. Chinesen galten nicht nur als zentrale Helferan der Seite des Suharto-Clans, sie alliierten sich auch mit den bis vor wenigen Jahren in der militärischenElite weit überproportional vertretenen christlichen Offizieren gegen die Forderungen nach einer stärkerislamischen Ausrichtung der staatlichen Ordnung.

Die Nähe der christlichen Religionsgemeinschaft zur chinesischen Minderheit wird auch in den Aus-schreitungen vom Frühjahr 1998 sichtbar, blieben die Ausschreitungen doch weitestgehend auf die musli-mischen Regionen und insbesondere auf Java beschränkt. In christlich geprägten Regionen (etwa auf denMolukken) findet sich keine anti-chinesische Gewalt.

63 Zwar kann man bei Teilen der chinesischen Gemeinschaft in Indonesien von Indonesiern chinesischerHerkunft sprechen, insofern, als sie ihre Ahnenlinie bis nach China zurückverfolgen können und auch inihrer neuen Heimat Indonesien nur untereinander geheiratet haben, doch gilt dies für andere Teile nicht. Dabis Ende des 19. Jahrhunderts nur Männer aus China emigrierten, waren diese zur Heirat indigener Frauengezwungen. Das ethnisch konzeptionalisierte Chinesentum dieser Bevölkerungsgruppe ist deutlich Kon-struktion, ist beständig wiederholte Selbst- als auch Fremdzuschreibung, nicht aber eine überprüfbare Tat-sache. Wenn hier in der Folge von ethnischen Chinesen oder chinesischstämmigen Indonesiern gesprochenwird, so gilt es dies zu berücksichtigen. In Indonesien ist es, wie in vielen anderen südostasiatischen Staa-ten in nicht unbeträchtlichem Maß eine Frage der Zuschreibung durch das Kollektiv, ob eine Person alsethnischer Chinese oder aber als Mitglied der indigenen Bevölkerung begriffen wird.

26

rung auf den traditionellen chinesischen Sündenbock gelenkt zu haben, um von den eigentlichVerantwortlichen, von der reichen ethnisch indonesischen (Pribumi-)Oligarchie, abzulenken.

Im Februar 1998 endeten die Gewaltexzesse gegen chinesische Ladenbesitzer abrupt. Stu-dentendemonstrationen in den nachfolgenden Wochen, die vereinzelt in gewalttätigen Ausei-nandersetzungen mit Sicherheitskräften endeten, lenkten die Unzufriedenheit auf die Regie-rung Suharto um. Immer deutlicher wurde die Verantwortung der Pribumi-Elite und der Su-harto-Familie thematisiert. Nach dem Mord an vier Studenten der Trisakti-Universität durchunbekannte Sicherheitskräfte am 12. Mai 1998 eskalierte und verschob sich die Aggressionwieder. Hatten sich die Demonstrationen der Studenten gegen die Regierung Suharto gerich-tet, so versank Jakarta nun in einer Gewaltorgie gegen die einheimischen Chinesen. In nurdrei Tagen wurden im Raum Jakarta über 1.000 Menschen, zumeist ethnische Chinesen, aufoffener Straße oder in ihren Häusern umgebracht,64 Hunderte von Chinesinnen oder Frauen,die chinesisch aussahen, vergewaltigt.65

Die offizielle Untersuchung der Vorfälle brachte zutage, daß an den meisten Orten eine emo-tionalisierte, aber noch inaktive Masse durch kleine Gruppen gut ausgestatteter Agitatoren,die die Emotionen anheizten und erste symbolische Akte der Gewalt ausübten sowie nichtselten auch die Molotowcocktails lieferten, zu den Gewaltexzessen angestiftet worden war.Die Sicherheitskräfte verhinderten weder die Plünderungen und Brandstiftungen noch Mordund Vergewaltigung.66

Obgleich die letzten Beweise fehlen, kann es kaum einen Zweifel geben, daß die Pogromevom 13. bis 15. Mai 1998 Ausdruck der Instrumentalisierung anti-chinesischer Vorurteiledurch die herrschende Pribumi-Oligarchie waren, die hoffte, mit der Auslösung der Gewalt-welle die eigene Position noch einmal stabilisieren zu können. Daß die Instrumentalisierungdes Mobs durch die Oligarchie so problemlos funktionierte und nicht, wie in anderen Fällen(etwa auf den Molukken), Gefahr lief, aus dem Ruder zu laufen, bedarf einer umfassenderenErklärung.

Alle anderen kommunalistischen Konflikte in der indonesischen Inselwelt können grundsätz-lich als Auseinandersetzung zwischen zwei Gegnern bzw. Feinden beschrieben werden –Feinde in dem Sinn, daß sie sich bekämpfen und Gewalt auf der einen normalerweise Gegen-

64 Die Zahlenangaben sind deutlich unterschiedlich. Der offizielle Abschlußbericht der Regierung geht nacheigenen Erhebungen von 1.308 Toten aus, von denen 1.190 verbrannt wurden. Demgegenüber spricht dieörtliche Reigerung von 463 Toten, die Polizei von 451 und die militärischen Behörden von 463 Toten. Dieniedrigeren offiziellen Zahlen werden von der Kommission damit erklärt, daß viele Tote von Verwandtenund Freunden von den Orten der Zerstörung weggeschafft worden sind – diese tauchen in den offiziellenStatistiken nicht auf (siehe: The Final Report of the Joint Fact-Finding Team (TGPF) on the May 13-15,1998 riot: Executive Summary. in: http://www.huaren.org/focus/id/111298-01.html).

65 Marzuki Darusman, der Vorsitzende des nationalen Committees für Menschenrechte, beschrieb die Ereig-nisse in unzweideutigen Worten: „Emphatically and without the slightest hesitation we here ascertain trulyand clearly that on those dates there occured mass rape of a group of women of Chinese descent in a man-ner which was systematic, wide-spread, contemptible and sadistic. It is impossible for these disjointedwords to illustrate the suffering of the victims, and therefore today we are gathered to jointly affirm theadmission that mass rape did take place on those days of social turbulence throughout the capital city ofJakarta.“ (National Committee on Human Richts: Jakarta mass rape was systematic. in: Kompas Online8.7.1998 in: http://www.huaren.org/focus/ id/070898-02.html).

66 Siehe: Final Report of the Joint Fact-Finding Team 1998, a.a.O, FN 64.

27

gewalt auf der anderen Seite auslöst. Demgegenüber handelt es sich bei der besonderen Formder kommunalistischen Gewalt gegen „Chinesen“ immer um einseitig ausgeübte Gewalt.„Ethnische Chinesen“ sind Opfer, aber nicht Gegner. „Ethnische Chinesen“ reagieren aufGewalttaten nicht mit Gegengewalt, sondern mit Flucht, mit dem Versuch, auch nach derschlimmsten ihnen angetanen Gewalt zur „Normalität“ zurückzukehren und die Zeit der Ex-zesse zu ignorieren. Dieses in Indonesien strukturell einzigartige Verhaltensmuster ermöglichtihnen zwar einerseits das Überleben in einer feindlichen Umwelt, macht sie jedoch anderer-seits zu idealen Objekten gewalttätiger Entladung in Zeiten extremer gesellschaftlicher Span-nungen. In diesem Sinn wirkte Gewalt gegen Chinesen in der modernen indonesischen Ge-schichte gänzlich anders als andere Formen kommunalistischer Gewalt vor 1998 nie destabili-sierend.

Betont werden muß, daß es bei aller Ähnlichkeit anti-chinesischer Ressentiments in den Län-dern Südostasiens in diesem Jahrhundert in keinem anderen Land der Region zu anti-chinesischen Pogromen nennenswerten Ausmaßes gekommen ist – in Ländern wie Thailandoder den Philippinen finden sich trotz mancher nationalistischen Rhetorik und zu Zeiten teil-weise offen anti-chinesischer Gesetzgebung keinerlei gewaltförmige Konflikte zwischen denBevölkerungsgruppen.67 Ganz anders dagegen in Indonesien, in dem die Politik der Instru-mentalisierung, Diskriminatierung, Isolation und anti-chinesischen gewalttätigen AggressionWurzeln nicht nur in der Moderne, sondern bis in die Ära der frühen Kolonialzeit aufweist.

Die Position der chinesischen Immigranten in den verschiedenen Regionen Südostasiens vom17. bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist – mit Ausnahme der Region des heutigen Malay-sia und der zentralen Teile Indonesiens – durch ein hohes Maß erfolgreicher Assimilation andie jeweiligen Gesellschaften gekennzeichnet. Diese Eingliederung der chinesischen Immig-ranten verdankt sich großenteils einer erfolgreichen Einheirat. Die indigenen Kulturen legtendieser Option der Assimilation keine (bestenfalls marginale) Hindernisse in den Weg, sie be-trachteten sie im Gegenteil sogar, wie in Thailand, durchaus mit Wohlwollen. Für die Frauen,die Chinesen heirateten, war dies nicht mit Statusverlust verbunden. Die Chinesen ihrerseitswaren in all diesen Gesellschaften bereit, sich an lokale Praktiken und Traditionen anzupas-sen, mit dem Resultat der weitgehenden Indigenisierung ihrer Kultur.

Gänzlich anders verlief die Eingliederung der frühen chinesischen Immigranten auf der indo-nesischen Hauptinsel Java.68 Einheirat war hier keine Option zur Assimilation an die lokale

67 Massaker an „Chinesen“ sind eine Erfindung europäischer Kolonialmächte: der Spanier im 16. und 17.Jahrhundert in Manila und der Niederländer im 18. Jahrhundert in Batavia. Anfang des 18. Jahrundertsfanden sich in Batavia ca 100.000 ethnische Chinesen, die auf Anweisung der Niederländisch OstindischenKompagnie 1734 deportiert werden sollten. Viele Chinesen entzogen sich durch Flucht in die Wälder. DieHolländer „thought to be rid of the menace by a general massacre of the Chinese, who were slain by thou-sands“ (Naval Intelligence Division a.a.O. (Anm. 54), S. 57; siehe auch knapp: Anderson a.a.O. (Anm. 28),S. 14, Mary Somers Heidhues. Chinesen in Südostasien, China und Südostasien. in: Dahm/Ptak (Hg.)a.a.O. (Anm. 2), 365-381).

68 Auf die Details der Geschichte der chinesischen Minderheit in Indonesien kann hier nicht eingegangenwerden. Siehe hierzu die immer noch paradigmatische Studie von Mary F. Somers Heidhues. Southeast A-sia's Chinese Minorities. Hawthorn, Victoria (Longman), 1974. Eine knappe Zusammenfassung bietet diegleiche Autorin 1999 ebenda. Siehe auch: Anette Bügener. Pioniere des Südmeers: Chinesen in Indonesien,Malaysia und Singapur. Dortmund, 1996. Die chinesische Minderheit im modernen Indonesien unterteiltsich grundsätzlich in zwei Gruppierungen. Zum einen die gerade vorgestellten Peranakan, zum anderen dieseit dem Ende des 19. Jahrhunderts eingewanderten sog. Totok (die reinen Chinesen). In diesen Immigrati-

28

Hochkultur, verbot doch der Islam die Heirat zwischen muslimischen Frauen und Ungläubi-gen. Notgedrungenerweise suchten sich die ausschließlich männlichen chinesischen Immig-ranten Frauen aus nicht-muslimischen Stämmen bzw. aus Bali – in jedem Fall Personen vongeringem Status und den Rändern der javanischen Gesellschaft. Nach wenigen Generationenfinden sich kaum noch Einheiraten, sondern beinahe ausschließlich Ehen zwischen den Nach-kommen der ersten Generation. Diese sog. Peranakan-Chinesen „became a stable, self-perpetuating group by the onset of the nineteenth century, marrying within the communityand assimilating new Chinese immigrants to their way of life.“69

Komplementär zu dieser prekären Art der Eingliederung der „Ungläubigen“ betonte die nie-derländische Kolonialmacht nochmals die Exklusivität der Chinesen als Gruppe von Frem-den. Die Kategorie der Chinesen ist auf Java eine niederländische Erfindung. Sie selbst sahensich in ihren kulturellen Selbstzuschreibungen als Hokkien, Hakka oder Teochiu. Die Katego-rie des Chinesen war ihnen ebenso fremd, wie den indigenen Javanern. Noch im sechzehntenund frühen siebzehnten Jahrhundert finden sich in den offiziellen Hofberichten zwar vielfälti-ge Erwähnungen prominenter chinesischstämmiger Personen, doch begriff man diese ledig-lich als Beamte und/oder Aristokraten und teilte sich nicht einer eigenständigen ethnischenKategorie zu.70 Unter niederländischer Ägide veränderte sich dies in den folgenden Jahrhun-derten dramatisch. So wurde es beispielsweise 1717 Chinesen untersagt außerhalb ihrerGruppe zu heiraten, und 1854 wurden sie insbesondere (aber nicht nur) zu Zwecken der Be-steuerung in eine spezielle Kategorie der „ausländischen Orientalen“ gefaßt, zwischenzeitlichwar ihnen der Erwerb von Land verboten worden. Von Staats wegen erwartete man, daß siesich im chinesischen Stil kleideten.71 Gleichzeitig instrumentalisierte die niederländischeKolonialmacht die chinesische Minderheit zu Kontroll- und Ausbeutungszwecken. Chinesenübernahmen die Eintreibung der Steuern und profitierten davon. Sie erhielten vom niederlän-dischen Staat Monopolrechte und garantierten diesem im Gegenzug gesicherte Einnahmen.Doch nicht nur der koloniale Staat, auch die indigenen Herrscher versicherten sich für derarti-ge Zwecke der Dienste der isolierten Minderheit. Nach der Aufhebung des Ansiedlungsver-botes für Chinesen auf dem Land übernahm diese Personengruppe darüber hinaus noch wich-tige Finanzierungsfunktionen für die ländliche Produktion und nicht selten deren Vermark-tung. Insbesondere in Nordjava verkaufte die Regierung zur Auffüllung der Staatskassen Mit-gliedern der chinesischen Minderheit in großem Umfang Landrechte – mit dem katastropha-len Effekt, daß 1935 ca. 40% allen privaten Landbesitzes in chinesischer Hand war.72 Damitwar diese Minderheit aus der Sicht der allgemeinen Bevölkerung an zentraler Stelle Symbolfür den Unterdrückungs- und Ausbeutungsapparat der kolonialen, aber auch einheimischenElite. Die fundamentale Abhängigkeit der Chinesen von ihren Auftraggebern konnte von Un-ten nicht gesehen werden. Dank der Dienste dieser Mittelsleute blieben die indigene wie die

onswellen kamen nicht nur wie in früheren Zeiten chinesische Männer, sondern auch Frauen nach Indone-sien mit der Folge, daß diese Gruppe viel stabiler als ihre Vorgänger in ihrer chinesischen Herkunftskulturverankert blieb. Die wahrnehmbaren Unterschiede zwischen den beiden Gruppen sind allerdings in denletzten Jahrzehnten beständig kleiner geworden – inzwischen finden sich kaum noch ethnische Chinesen,die in China geboren wurden.

69 Mary F. Somers Heidhues ebenda, S. 37.

70 Anderson a.a.O. (Anm. 28), S. 321.

71 Somers Heidhues a.a.O. (Anm.68), S. 38.

72 Somers Heidhues a.a.O. (Anm.68), S. 101; siehe auch James R. Rush, Opium to Java: Revenue Farmingand Chinese Enterprise in Colonial Indonesia, 1860-1910, Ithaca/London (Cornell University Press), 1990.

29

koloniale Elite weitgehend unsichtbar im Hintergrund. Der chinesische Geldverleiher undTax-Farmer war das ideale Objekt, an dem sich der Volkszorn in Krisenzeiten austobenkonnte.73 Noch dazu kam die schärfste Kritik an den chinesischen Handelspraktiken ausge-rechnet von Vertretern der europäischen Kolonialmächte, die im Rahmen der neuen „ethi-schen Politik“ ihr Herz für die Armen in den Kolonien entdeckten.

Die Vorurteile gegen die chinesische Minderheit wie auch die restriktive, anti-chinesischePolitik stellen bis heute einen wichtigen Bestimmungsfaktor des modernen indonesischenNationalstaates dar. Nicht nur bei der Besetzung Indonesiens durch japanische Truppen fin-den sich vielfältige anti-chinesische Gewalttaten. Auch schon direkt nach dem Abzug der Ja-paner im September 1945, d.h. in den ersten Monaten der neuen Republik, aber auch in dennachfolgenden Jahren der Auseinandersetzung mit den niederländischen Streitkräften (1946-1948), wurden häufig Chinesen zum Opfer rassistisch motivierter Gewalt durch die überallaus dem Boden geschossenen Milizen und sonstigen Jugendgruppen – durchgängig beteiligtesich jedoch auch die indigene Bevölkerung an den Gewalttaten. In den Folgejahren – undnicht erst in der Ära Suharto – instrumentalisierte die politische Elite wiederholt die heraus-gehobene Position der chinesischen Bevölkerung im Handelsbereich erfolgreich. 74 Der pro-pagierte ökonomische Nationalismus Indonesiens und der ideologische Niederschlag des Ost-West Konflikts verschlimmerten ihre prekäre Situation. Chinesische Kaufleute wurden weit-gehend von den für ihr Geschäft überlebensnotwendigen Fremdwährungen abgeschnitten.Viele mußten ihre traditionellen Geschäftsbereiche verlassen oder zumindest so tun, als ob siedies täten; durch die Einschaltung von indonesischen Strohmännern wurden die chinesischenGeschäftsleute freilich noch erpreßbarer. 1959 beschloß die Regierung, allen Ausländern (undunter die fielen auch alle chinesischstämmigen Indonesier) den Einzelhandel in ländlichenRegionen zu untersagen, gleichzeitig verkündete die Streitkräfteführung, daß fortan die regio-nalen Militärkommandeure ihre Territorien für Ausländer sperren konnten. Zwar wurden die-se Regelungen nicht überall gleich rigide durchgesetzt, doch folgte auf West Java die gewalt-

73 Wie die Entstehungsgeschichte der Sarekat Islam Bewegung in der Pasisir-Region Nordjavas nach 1910zeigt, kann aus primär negativem, anti-chinesischem Sentiment und entsprechender Agitation der Massenauch eine positive Bewegung der Identitätsbildung erwachsen. Sarekat Islam entstand als Bewegung derindigenen muslimischen (Batik-) Händler Nordjavas gegen die aggressive chinesische Konkurrenz – dergemeinsame Glaube war Symbol der In-Group-Bildung. In kürzester Zeit durchbrach diese Bewegung ihredurch ökonomische Interessen bestimmten Grenzen, Sarekat-Islam verbreitete sich in allen Schichten undkonnte schon fünf Jahre nach der Gründung 800.000 Mitglieder aufweisen. Die Organisation hatte sich voneiner anti-chinesischen Allianz islamischer Händler in die erste und stärkste (gemäßigt muslimische) natio-nalistische Bewegung niederländisch Ostindiens verwandelt (siehe hierzu z.B.: Naval Intelligence Divisi-on. a.a.O. (Anm. 54), S. 96- 101).

74 Schon 1951 griff der damalige Präsident Sukarno die chinesische Bevölkerung in unmißverständlichenWorten an:

„There are foreigners (!, P.K.) utilizing the people's difficulties to get as much profit as possible. [...] Go-vernment regulations have frequently been violated, outsmarted, avoided and sabotaged. As a result theydestroy the government's authority and our economic welfare, and endanger their own cause. As a result oftheir improper attitude, these foreigners have aroused a hostile attitude [...] have sown the seeds of racehatred, because the difference between rich and poor coincides incidentally with the differences in nationa-lities [...] It is very easy for such a social difference to turn into a racial controversy“ (Sukarno 17.11.1951zitiert nach Thompson / Adloff a.a.O. (Anm. 30), S. 7).Die hier zitierten Ausführungen Sukarnos sind in gewissem Sinn „zeitlos“. Sie finden ihr Pendant in denÄußerungen führender Politiker und Militärs vor den anti-chinesischen Pogromen vom Frühjahr 1998.

30

same Vertreibung von ca. 15.000 Chinesen – 100.000 Chinesen entschlossen sich 1960 dazu,Indonesien den Rücken zu kehren und ins kommunistische „Vaterland“ zurückzukehren. We-nige Jahre vorher war es indonesischen Staatsbürgern untersagt worden, „fremde Schulen“ –ein Euphemismus für die chinesischsprachigen (aber auch die holländischen) Schulen – zubesuchen. Die in den 50er Jahren noch einigermaßen kontrollierte Gewalt gegen ethnischeChinesen nahm in der Endphase des Sukarno-Regimes, in der Phase des dramatischen öko-nomischen Niedergangs, deutlich zu.75

Die chinesische Minderheit reagierte durchgängig mit einer Politik der Anlehnung an die Li-nie der Mächtigen, mit einem beständigen Appeasement und einer opportunistisch motivier-ten Unterstützung zunächst der Holländer, dann von Präsident Sukarno und der politischenLinken. Diese Unterstützung Sukarnos machte sie dann im Gefolge des Machtwechsels von1965/66 extrem verwundbar – die von der wichtigsten chinesischen Massenorganisation Ba-perki (Consultative Body for Indonesian Citizenship) betriebene Universität wurde niederge-brannt, die Organisation aufgelöst und viele ihrer führenden Mitglieder ins Gefängnis gewor-fen, einige ermordet. In der Folge setzte das neue Regime die bestehenden anti-chinesischenGesetze schärfer als bis dato durch und erlies neue Gesetze und Bestimmungen. Diese ver-ordneten beispielsweise die Ersetzung der chinesischen Selbstbezeichnung als Tionghua(Zhonghua) durch die negativ konnotierte Bezeichung Cina, auch durften chinesische Festenicht mehr gefeiert werden, Chinesen sollten ihre chinesischen Namen gegen indonesischeeintauschen.

Die von der Regierung geschürten und durch die offen anti-chinesischen Gesetze bestätigtenRessentiments brachen sich bis 1967 immer wieder in Unruhen Bahn – zuletzt in den großenUnruhen in Jakarta vom April 1967.76 In späteren Jahren kamen neue Gesetze hinzu, wonachauf den Ausweisen der chinesischstämmigen Indonesier deren Abstammung kenntlich seinmußte und keine chinesischsprachiger Publikationen (mit Ausnahme einer Zeitung) verbreitetwerden durften.77 Noch in den 80er Jahren schrieben im ländlichen Java viele indigene Indo-

75 Die oben im Zusammenhang mit dem Konflikt auf Sumba beschriebene Verschiebung des kognitivenRahmens durch die Teilnahme neuer Akteure mit anderen Interpretationsmustern und die daraus resultie-rende Verwandlung des Konflikts findet sich auch in prominenten anti-chinesischen Ausschreitungen jenerZeit. So eskalierten Studentenproteste gegen niedrige Gehälter für öffentliche Bedienstete im Mai 1963 inSukabumi und anderen Orten auf West Java in massiven Zerstörungen und Plünderungen – diese richtetensich jedoch gegen die Symbole des Wohlstands an sich. Erst als die allgemeine Bevölkerung von Zuschau-ern zu Teilnehmern der gewalttätigen Ausschreitungen wurde, zentrierte sich die Gewalt weitgehend aufdie chinesischstämmigen Indonesier. Zur Legitimationsgrundlage wurde nun weniger die soziale Proble-matik als vielmehr das unislamische Verhalten der Chinesen – etwa das Feiern des chinesischen Neujahrswährend des islamischen Fastenmonats Ramadan (siehe Somers Heidhues a.a.O. (Anm. 68), S. 101-105).

76 Das immer wieder behauptete Engagement der VR China in den Umsturzversuch vom 30. September 1965resultierte nicht nur in einer extrem anti-chinesischen Atmosphäre, sondern in vielen anti-chinesischenAusschreitungen und Toten, die freilich rein zahlenmäßig bei den über 500.000 Toten der anti-kommunistischen Raserei kaum ins Gewicht fielen.

77 Eine Liste der relevanten Bestimmungen und Gesetze findet sich in: http://www.huaren.org/focus/id/022899-01.html. Im Januar 2000 versprach die Regierung die anti-chinesischen Bestimmungen zuüberprüfen, ein Teil wurde inzwischen aufgehoben. So durften die Chinesen im Jahr 2000 zum ersten Malwieder öffentlich das chinesische Neujahrsfest feiern – viele Städte verboten freilich, aus Angst vor Ausei-nandersetzungen, öffentliche Umzüge.

31

nesier Pribumi (ethnischer Javaner) über ihre Wohnungs- bzw. Haustüren, um für den Fallvon Unruhen zu vermeiden fälschlicherweise als chinesisches Opfer identifiziert zu werden.78

Die Überlebensstrategien der chinesischen Minderheit blieben unter den Holländern, unterSukarno und Suharto gleich.79 Ihre kleine Zahl, ihre extreme Verwundbarkeit, ihre exponiertesozio-ökonomische Stellung resultierten in einer Suche nach Schutz durch die politisch undmilitärisch hegemonialen Mächte, denen sie im Gegenzug mit ihren ökonomischen Fähigkei-ten, mit „unbegrenzten“ Krediten u.v.m. zu dienen bereit waren. Die Macht der „Palast Ty-coone“80 war immer nur geliehene Macht. Sie gewannen ihre Reichtümer durch politischnicht nur abgesicherte, sondern auch aktiv geförderte Kartellierung und Monopolbildung inwichtigen Wirtschaftsbereichen. Dafür mußten sie den Mitgliedern der Pribumi-Oligarchie imGegenzug neben vielfältigen finanziellen Hilfestellungen auch ganz offiziell Anteile an ihrenImperien gewähren. So kontrollieren die Chinesen zwar ca. 70% der indonesischen Wirt-schaft,81 doch sind die berühmten chinesischen Konglomerate bei genauerer Betrachtung innicht wenigen Fällen „Partnerschaften“ zwischen ethnischen Chinesen und Mitgliedern derführenden Familien des Suharto-Regimes. Die Aktienmehrheit wird dabei generell von denchinesischen Familien gehalten.82 Aditjondro schlägt deshalb zu Recht vor, statt des ethni-schen den oligarchischen Charakter der indonesischen Wirtschaft zu betonen, in der eine klei-ne Zahl von Familien enorme Ressourcen kontrolliert.83 Die Natur der Kollaboration brachteeine totale Abhängigkeit der chinesischen von den politisch-militärischen Machtmitteln ihrerPribumi-Partner mit sich. Stürzten diese Mächte, bot sich die chinesische Minderheit, immernoch nicht gesellschaftlich integriert, als ideales Opfer für ein kathartisches Ausleben aufge-

78 Eine Indonesierin formulierte ihre Analyse des anti-chinesischen Hasses nach den Pogromen vom Mai1998 mit den Worten: „they are all the same, the same, the same. Those who are not the same are the ene-my, those who are not the same must be attacked, destroyed, purged.

Hatred is sowned and inherited from grandfather to child, to grandchild, to great-grandchild. Are they allstupid and accept it just like that, without a mind of their own? Hatred without reason that became empty,vacuum, only hatred for the sake of hatred only. And like a robot that can only be moved by hatred, theydid and took action that is no longer human. They lost their existence as human beings and tore the e-xistence of other human beings.“ (Novita Estiti. Rebuilding Indonesian-ness is a Must. in: Kompas,29.8.1999 in: http://www.huaren.org/ focus/id/082998-06.html).

79 Somers Heidhues skizzierte schon vor beinahe drei Jahrzehnten die Strategie, die unter Suharto den Auf-stieg der chinesischen Minderheit beförderte, ihre prekäre Situation absicherte und sie mit Suharto in denAbgrund riß. Sie faßte damals zusammen, daß „a small number has chosen to seek alliance with those ele-ments in the Indonesian power structure least unfavourable to Chinese: in practice, the non-Muslim seg-ments. [...] as a potentially vulnerable group, they cannot completely ignore the problem of allying with theholders of power. At present, only those with means can hope to cultivate favourable contacts behind thescenes with indigenous leaders, an individual alliance of wealth with power. These tjukongs, wealthy andinfluential Chinese businessmen, are those presently in the best position to represent or even defend com-munity interests“ (Somers Heidhues a.a.O. (Anm. 68), S. 85).

80 Anderson a.a.O. (Anm. 28), S. 315.

81 Diese Zahl bezieht sich aber allein auf die an der Börse notierten Unternehmen, nachdem sämtliche staatli-chen Industrien und Industrien unter ausländischer Kontrolle abgezogen wurden.

82 Eine gute Einführung in die Organisation des indonesischen „big business“ geben Mari Pangestu und FaridHarianto, Corporate Governance in Indonesia: Prognosis and Way Ahead, (http://www.democracy-market.org/).

83 George J. Aditjondro, The Chinese economic domination myth, 10.8.1998, in: http:www.huaren.org/focus/id/081098-07.htm.

32

stauter Frustrationen an. Diesem Schicksal fiel sie im Frühjahr 1998 einmal mehr zum Opfer.Bis heute lassen sich keine Anzeichen dafür finden, daß sich die diesem Zwang zur Wieder-holung zugrunde liegenden kollektiven Dynamiken verändern ließen.

Betrachtet man sich die Art der Einbindung der chinesischen Minderheit – ca. 3% der Bevöl-kerung – in die indonesische Gesellschaft, so erscheint sie geradezu als ein Paradebeispieleiner Diskriminierungsstrategie, die in der Sozialpsychologie mit dem Begriff des Tokenismbezeichnet wird. Als Tokenism versteht man eine soziale Strategie, „whereby a few capablemembers of a disadvantaged group are accepted into advantaged positions while access issystematically blocked for the vast majority of qualified disadvantaged group members.“84

Diese Strategie ermöglicht, ja sie ermutigt individuelles Mobilitätsstreben, schließt jedoch dieOption sozialen Wandels aus, durch die erst die prekäre strukturelle Position der betroffenenMinderheit verändert werden könnte.85 Die dominierende Pribumi-Elite erreicht mit dieserStrategie drei Zielsetzungen:

Sie kann das Potential sozialen und ökonomischen Mobilitätswillens in der chinesischenMinderheit optimal nutzen. Die kleine Gruppe chinesischstämmiger Wirtschaftsmagnate per-sonalisiert für aufstiegsorientierte Chinesen die Chance auf Erfolg als reale Möglichkeit. For-derungen nach sozialem Wandel werden die Spitze genommen, insofern es eine harmonischeVariante des Aufstiegs zu geben scheint, die den alternativen, aber potenziell kostspieligenund im Ergebnis ungewissen Weg über die kollektive Herausforderung des strukturellen ge-sellschaftlichen Status quo dramatisch entwertet. Diese alternative Option findet darum nichtzuletzt bei den erfolgreichen Führern und den ihnen nachstrebenden aufstiegsorienterten Chi-nesen der chinesischen Community ihre entschiedenen Gegner. Diese bestätigen in ihremindividuellen Handeln nolens volens die normative Ordnung der indonesischen Gesellschaft,in der sie als ethnische Gruppe einen ausnehmend prekären Platz einnehmen.

Die Pribumi-Elite stärkt durch die Einbindung prominenter Chinesen ihre hegemoniale Stel-lung, insofern deren erfolgreiche individuelle Mobilität unabdingbar mit der Eingliederung inein System der Abhängigkeit verbunden ist. Je mehr die einzelnen Chinesen aufsteigen, um somehr haben sie zu verlieren, ohne daß sie (abgesehen von Kapitalflucht u.ä.) autonomeSchutzmaßnahmen ergreifen könnten.

Tokenism beläßt die Chinesen als isolierte Minderheit, welche in Phasen der Krise als idealesOpfer genutzt werden kann. Die ethnischen Chinesen sind Außenseiter, und gleichzeitig il-lustrieren ihre reichen Vertreter beständig ihre Nähe zum System. Sie wirken eminent mäch-tig und sind ohnmächtig zugleich. Die Nähe ihrer Führer zur und ihre Abhängigkeit von derpolitischen Macht bilden die Garantie dafür, daß diese Gewinner der bestehenden Arrange-ments die Verlierer – die einfachen Chinesen, die in den Pogromen geopfert werden – zukontrollieren trachten.

Diese Konstellation politischer Herrschaft, mit der spezifischen Rolle der ausgewählten chi-nesischen ökonomischen Elite und mit dem Außenseiterplatz für die chinesische Minderheit,

84 Taylor/Fathali a.a.O. (Anm. 7), S. 149.

85 Es handelt sich dabei nicht um die Strategie der Assimilation, wobei die dominierende ethnische Gruppe esindividuellen Mitgliedern anderer Gruppen erlauben würde, sich zu integrieren. Assimilation heißt, daßdiese neuen Mitglieder mit dem Übergang in die hegemoniale Gruppe ihre kulturelle Identität aufgeben –genau das tun aber die ethnischen Chinesen nicht, es wäre ihnen im indonesischen Kontext auch nichtmöglich.

33

erweist sich als ideales Arrangement für Zwecke der Verschiebung kollektiver Frustrationenauf die stigmatisierte Outgroup, die als Symbol der Macht fungiert und als solches attackiertwird, gleichzeitig jedoch aufgrund ihrer Verortung im gesellschaftlichen System wehrlosesOpfer ist, so daß die Katharsis der aufgestauten Aggression und Frustration optimal ausgelebtwerden kann. Dies funktioniert auch deshalb so gut, weil das eigentliche Objekt der Aggres-sion der sozial unterpriviligierten Klassen – die mächtigen Pribumi-Familien – in gewissemSinn als Mitglieder der gleichen „Ingroup“ – der Pribumi – gelten, wohingegen ihre Stellver-treter – die reichen Chinesen – nicht nur als Symbole von Klassengegensätzen, sondern dar-über hinaus von ethnischen Gegensätzen fungieren. Damit aber sind die Arrangements ka-thartischer Gewalt die gleichen, die schon unter den holländischen Kolonialherren zur An-wendung kamen. So analysierte einer der ersten Kommunisten Indonesiens Semaun anti-chinesische Ausschreitungen als funktionierenden Mechanismus der Verschiebung: „for thepoor ... hatred of rich Javanese was tempered by their common religion; hatred of the Dutchsuppressed because of the colonial regime's police power; while hatred of the Chinese fortheir wealth was unabated.“86

3. Bestimmungsfaktoren der Gewalt

3.1 Innerer Kolonialismus

Der Umgang des indonesischen Staates mit den Bürgern der nach Unabhängigkeit bzw. Au-tonomie strebenden Regionen bleibt weitgehend unverständlich, wenn man nicht auf die bisheute ungelöste Frage nach der indonesischen Nation eingeht. Zwar wurde diese in der Aus-einandersetzung mit den niederländischen Kolonialherren territorial (weitgehend eindeutig)bestimmt, doch entspricht dem Bewußtsein eines indonesischen Staatsgebietes nicht eingleichartiges Bewußtsein von der Gleichberechtigung aller Bürger, unabhängig davon ob essich bei ihnen um Javaner, Maduresen, Minangkabau, Dayak oder aber Mitglieder der viel-fältigen Stammesgesellschaften West Papuas handelt. Zwar gelten die außenliegenden Pro-vinzen als integrale Teile Indonesiens, deren indigenen Bevölkerungen sind jedoch auf derkognitiven Landkarte der hegemonialen javanischen Elite nicht als Mitbürger eines gemein-samen Vaterlandes kodiert.

Schon mit den in der Verfassung von 1945 niedergelegten ersten der fundamentalen FünfPrinzipien (panca sila), denen zu folgen jeder Indonesier verpflichtet ist (dem Zwang zumGlauben an einen Gott), wurde ein hegemoniales Urteil über die animistischen Kulte undviele andere religiösen und sozialen „primitiven“ Praktiken gefällt, die eben nicht als legitime,staatlich anerkannte Religion galten; als solche zählten nur die Hochreligionen. Bis heutewerden die indigenen Bevölkerungen der außenliegenden Provinzen in offiziellen Regie-rungspublikationen, aber auch in der Presse als Primitive gezeichnet, deren Lebensweise undWiderständigkeit eine Bedrohung der nationalen Stabilität darstellen.87 Der indonesische Staat

86 Somers Heidhues a.a.O. (Anm. 68), S. 106-107.

87 Siehe hierzu am Beispiel der Tobelo auf Halmahera (Nord-Molukken): Christopher R. Duncan, SavageImagery: Government and Mass Media Depictions of the Forest Tobelo in Indonesia, (Zusammenfassungin: http://www.aasianst.org/absts/1999abst/SE/se-78.htm).

34

erweist sich zu einem nicht unbeträchtlichen Maß als ein imperiales System, in dem Teile derAußenprovinzen des Reiches notfalls auch mit Gewalt einverleibt und kolonisiert werden. Diestaatliche Assimilationspolitik zeigt, daß man die Anderen in ihrer selbstbestimmten Identitätnicht als Teil der Nation akzeptieren kann, oder um mit Charles Taylor zu sprechen: „ImGrunde wird gesagt: So, wie ihr seid oder euch selbst begreift, seid ihr hier nicht willkom-men; darum werden wir euch ummodeln.“88

3.1.1 Entwicklung als koloniales Projekt

Die indonesische Nation war nie ein gemeinsames Projekt aller Völker, Volksgruppen,Ethnien und Religionen dieses riesigen und disparaten Territoriums, sondern weitgehend einneo-koloniales Projekt einer javanischen Elite. Auch das moderne nationbuilding folgt einemimperialen kognitiven Muster, das früheren Expansionsbemühungen javanischer Dynastienzugrunde gelegen hat und dem auch der Kampf des indonesischen Nationalhelden Prinz Di-ponegoro im frühen 18. Jahrhundert gegen die Holländer folgte. Die damaligen Herrscherverstanden die Idee der Einigung Javas nicht im Sinn eines indonesischen (oder auch nur ja-vanischen) Nationalismus, sondern als die Unterwerfung Javas unter die eigene Herrschaft.Das Konzept Indonesien war dem „indonesischen Freiheitskämpfer“ Diponegoro so fremdwie das der Freiheit.89

Hatte Sukarno am Anfang seiner berühmten Panca Sila-Rede vom 1.6.1945 noch zweiBlickwinkel auf die Nation aufscheinen lassen, den der Nation als einer aus gemeinsamerGeschichte erwachsener „Schicksals-“ bzw. „Charaktergemeinschaft“ und den der Nation alseines auf die Zukunft orientierten Projektes von Menschen, die den Wunsch nach Einheit ver-spüren, so blieb im Verlauf der Rede von dem der Zukunftsperspektive inhärenten Freiheits-gedanken kaum noch etwas übrig. Den politischen Formeln des Nationalismus und Internati-onalismus trat mit traditionellen javanischen Prinzip sozialer Organisation – der Einmütigkeit(mufakat), die mittels Beratung (permusjawaratan) herzustellen ist – ein für die Organisationpolitischer Herrschaft elementares und wirkungsmächtiges Konzept zur Seite. Der indonesi-sche Staat sollte sich als Gotong rojong-Staat – als Staat der gegenseitigen Kooperation –konstitutieren, in dem alle für die gemeinsame Zielsetzung ihr Bestes geben sollten. Daß ab-weichende Meinungen Bestand haben könnten, daß Teile der großen einheitlichen Nationnicht den Wunsch nach Teilnahme verspüren könnten, war in diesem Konzept nicht vorgese-hen. Die ideologische Konstruktion der Kontrolle der Macht durch Beratung brach in kürzes-ter Zeit in sich zusammen. Übrig blieb allein die Einmütigkeit, die zunehmend mit dem Wil-len des Führers identifiziert wurde. So konnte sich Sukarno – wie andere autoritäre Führer vorund nach ihm –als „Mouthpeace of the people of Indonesia, as President-Great Leader of theRevolution“ titulieren. In seinen Ansprachen vor den Massen am Tag der Revolution (17.8.)zelebrierte er diese Einheit von sich selbst und der Revolution. Wenn er vor die Massen trat,dann führte er aus seiner Sicht

88 Charles Taylor, Glaube und Identität: Religion und Gewalt in der modernen Welt, in: Transit 16 (Winter1998/99), S. 28.

89 Benedict Anderson, Indonesian Nationalism Today and in the Future, in: new left review Nr. 235,May/June 1999, S. 5.

35

„a two-way conversation [...] between my Ego and my Alter Ego. A two-way conver-sation between Sukarno-the-man and Sukarno-the-People, a two-way conversationbetween comrade-in-arms and comrade-in-arms. A two-way conversation betweentwo comrades who in reality are One! [...] the Seventeenth of August address is a dia-logue between the Great Leader of the Revolution and the Revolution – your Revolu-tion, my Revolution.“90

Partizipation, Beratung und die Idee einer emanzipatorisch verstandenen gemeinsamen Zu-kunft aller indonesischen Volksgruppen, die noch unter dem offiziellen Motto der Republik„Einheit in Verschiedenheit“ (Bhinneka Tunggal Ika) symbolisch zum Ausdruck gebrachtworden waren, verschwanden unter der Knute des herrscherlichen Willens, der allein denWeg und die Ziele für die Nation wußte.

Nach Sukarnos visionärem Autoritarismus folgte der technokratische Autoritarismus Suhar-tos, der die Entwicklung der indonesischen Inselwelt mit einem Ausbau des entsprechendenBehördenapparates anzugehen versuchte. Gleichwohl blieb die Prärogative der Einheit undder allwissenden Zentrale in Jakarta die gleiche. Die Entwicklung der außenliegenden Provin-zen erfolgte unter dem Primat von Sicherheit und Ordnung.

Die koloniale bzw. imperiale Entwicklungsideologie des indonesischen Staates gehört ähnlichwie beim europäischen Imperialismus untrennbar mit der Bereitschaft zur Anwendung vonGewalt gegen die Subjekte staatlicher Herrschaft und Entwicklungsbestrebungen zusammen.Die überlegene Gruppe setzt ihre „zivilisatorische Mission“ nötigenfalls auch gewaltsamdurch. Schon Emile Durkheim betonte, „daß eine Wechselwirkung zwischen der Vorstellungzivilisatorischer Überlegenheit und Gewalttätigkeit besteht.“91 Die Argumente, die mit A-vantgarde-Konzepten wie der gelenkten Demokratie bzw. Pancasila-Demokratie, den exten-siven Migrationsprogrammen und der zentralistischen Entwicklungsplanung auch gegen denWillen der lokalen Gemeinschaften vor Ort einhergehen, erinnern stark an die um die Jahr-hundertwende von weißen Eliten immer wieder beschworene „Last des Weißen Mannes“, derden benachteiligten und von despotischen traditionellen Herrschern unterdrückten Völkernder Welt neue Standards der Moral und des Verhaltens beibringen mußte. Damals wurdenEroberungskriege, die sich bei starkem Widerstand nicht selten in Vernichtungskriege wan-delten, als Kriege gegen inhumane Herrscher zum langfristigen Wohl von deren Untertaneninterpretiert. Bis heute wird die auch gewaltsame Durchsetzung staatlicher Politiken gegenden Widerstand lokaler Bevölkerungsgruppen nicht wesentlich anders mit überlegenen Wis-sen und Moral der Herrschenden legitimiert.

Das indonesische Entwicklungsregime basiert notwendigerweise auf einem Konzept der Un-gleichheit. Die emanzipatorische Dimension des Entwicklungsgedankens wurde zugunsteneines egoistischen Modernisierungsgedankens aufgegeben, der die Politik am Nutzen für dieInteressen der Metropole und der oligarchischen politischen Elite ausrichtet.92 Der indonesi-

90 Sukarno. The Revolution of Mankind [August 17, 1963], in: Roger M. Smith (Hg.), Southeast Asia: Do-cuments of Political Development and Change, Ithaca/London (Cornell University Press), 1974, S. 203-208, Zitat S. 204.

91 Emile Durkheim zitiert nach von Trotha a.a.O. (Anm. 8), S. 9-55, hier: S. 11.

92 Dies wird von Vertretern der entwicklungsbedürftigen Minderheiten auch entsprechend kritisiert. So betontStephanus Djuweng, ein Sprecher der Dayak, daß es in bezug auf die Vorgehensweise und Effekte keinenUnterschied zwischen Kolonialismus und Entwicklung gebe. „Development projects in Indonesia, as a-

36

sche Staat, der sich unter Suharto explizit Entwicklung als zentrales Ziel staatlicher Politik aufdie Fahnen geschrieben hatte, strebt zwar danach, die zurückgebliebenen Bevölkerungen derAußenprovinzen zu modernisieren, doch tut er dies nur insofern und insoweit und in derForm, die bestmöglich den Interessen des Zentralstaates und der ihn tragenden Gruppen ent-spricht. Er errichtet Schulen, sorgt für Infrastruktur und kümmert sich um die medizinischeVersorgung. Doch mit seiner paternalistischen Attitüde, mit der die rückständige Bevölkerungauf den Weg in die Moderne angeleitet werden soll, wiederholt er den kolonialen Blick.93 Bisvor kurzem warf die indonesische Regierung – wie früher die niederländischen Kolonialher-ren den Indonesiern – den Osttimoresen wie auch anderen „renitenten“ Minderheiten in An-betracht des staatlichen entwicklungspolitischen Engagements Undank vor. Folgt man demArgument von Anderson, zeigt sich darin eine „profound incapacity to 'incorporate' the EastTimorese, an unacknowledged feeling that they are really, basically, foreign.“94 Zu einemnicht unbeträchtlichen Teil ist es gerade der Blick von der Metropole auf die Völker in deninneren Kolonien, der ihrer Vielfalt erst Einheitlichkeit gibt.

„This exactly parallels the late colonial Netherlands East Indies, where the colonizedknew they were all 'natives' together in their rulers' eyes, no matter what island, ethni-city or religion they belonged to. A profound sense of commonality emerged from thegaze of the colonial state.“95

Die Tendenz, die „unterentwickelte“ Bevölkerung zum Objekt staatlicher entwicklungspoli-tischer Manipulation zu machen, setzt sich auch nach der Kolonialzeit fort. Sie findet ihr mo-dernes Pendant unter Suharto, als Entwicklung ihrer politischen Dimension entkleidet wurde.

round the world, only marginalise the local peoples and deprive them of their own land and resources. ...with the arrival of development projects, the Dayaks were marginalised, and collecitve riches were repla-ced by individual riches“ (Stephanus Djuweng, Development is an extension of colonialism, in: Inside In-donesia, http://www.insideindonesia.org/edit47/juweng.htm).

Zu einem ganz ähnlichen Urteil kommt John Rumbiak, ein Sprecher der Völker West Papuas, der in bezugauf die staatlichen Entwicklungsprojekte feststellt, daß „[t]hese people [indigenious peoples in West Papua,P.K.] all had potential, but it was stifled by the presence of big projects. [...].

Above all, I see a strong security approach everywhere in the big projects that bring in so much income forthe government.“ (John Rumbiak, We've lived here thousands of years, in: Inside Indonesia, http://www.inside indonesia.org/edit47/rumbiak.htm).

93 Bis in die Begrifflichkeiten wiederholt sich die koloniale Haltung. Bezeichneten die niederländischen Ko-lonialherren Frieden und Ordnung (Rust en orde) sowie Aufbau (Opbouw) als zentrale Anliegen kolonialerHerrschaft, so folgte ihnen das Suharto-Regime der Neuen Ordnung (Orde Baru) mit dem Ziel der Ent-wicklung (Pembanguan).

94 Benedict Anderson, Imagining East Timor, in: Arena Magazine Nr. 4, April-Mai 1993, (im Internet in:http://www.ci.uc.pt/Timor/imagin.htm).

95 Anderson a.a.O. (Anm. 94). Die Erfahrung der Osttimoresen unterscheidet sich in diesem Punkt kaum vonder der Bevölkerung von West Papua. Diese wird vom Bischof von Jayapura, der Hauptstadt von West Pa-pua, folgendermaßen zusammengefaßt: „the Irianese began to feel that actually they had not been treated asfellow compatriots. they felt they had been colonized and that their dignity had been degraded. [...] thisgroup has never considered themselves part of the Malay race. [...] There is also a feeling that the dignityof the Irianese has been debased. [...] When an outsider comes to Irian, for example, he will be afraid thathe will meet savage cannibals. This must be downgrading to the Irianese. They feel that their dignity hasbeen trampled on and therefore they want their independence“ (Leo Laba Ladjar zitiert nach: New era ofopenness fuels Irianese hopes, in: The Jakarta Post.com 20.12.1999).

37

Die technokratischen Modernisierungstheorien des Westens ermöglichten es, Entwicklung alsrein ökonomische Modernisierung und technokratisch und rational steuerbaren Wandel zufassen. Damit wurde Politik als Auseinandersetzung konfligierender Interessen entbehrlich,sie konnte als Entwicklungshemmnis delegitimiert werden. Die Erfindung der ständischenRegierungspartei Golkar und der Zwangsvereinigungen der muslimischen bzw. nicht-muslimischen Parteien, das Verbot von Parteitätigkeit auf der lokalen Ebene und ähnlicheMaßnahmen sind Ausdruck dieser technizistischen und elitären Entwicklungsideologie, in derscharf zwischen wissenden Führern und unwissender Masse geschieden wird.

Aus dieser Perspektive betrachtet mußte Suharto nicht deshalb zurücktreten, weil er kein De-mokrat war und einer Demokratisierung entgegengestanden hat, sondern weil er die Pflichten,auf deren Erfüllung die Legitimität seiner Herrschaft bestanden hat, nicht mehr erfüllenkonnte. Die legitimatorische Grundlage des Suharto-Regimes war Pembangunan (Entwick-lung), hatte doch Suharto für sich die Bezeichnung des Bapak Pembangunan (Vaters derEntwicklung) reklamiert.96 Solange das Regime Wohlstandswachstum für eine genügendeZahl von Bürgern sicherstellen konnte, war sein Bestand nicht gefährdet. Erst als das Ver-sprechen von Modernität und Fortschritt (maju) 1998 auch auf den Hauptinseln Java und Su-matra offensichtlich nicht mehr eingelöst wurde, als sich plötzlich wieder eine Vielzahl vonIndonesiern an der Armutsschwelle wiederfanden, verlor das autoritäre Regime seine Legiti-mität. Der Vater der Entwicklung mußte abtreten.97

3.1.2 Sprache und politische Identität

Sowohl auf Seiten des quasi-kolonialen Entwicklungsstaates wie auch auf der Seite seinerKritiker in den inneren Kolonien vollzieht sich die eigene Identitätsbildung insbesondere überdie bewußte Auswahl bzw. Konstruktion verbindlicher Traditionen und Symbolsysteme. Anprominenter Stelle ist hier in bezug auf Osttimor die Sprache selbst zu nennen. So finden sichdort bis zum Rückzug der portugiesischen Kolonialherren zwölf verschiedene Sprachen, dieihrerseits in ca. 35 Dialekte und Subdialekte aufgespalten werden können – zusammengehal-ten wurde diese Vielfalt durch die portugiesische Amtssprache, die jedoch nur ein verschwin-dend kleiner Teil der Osttimoresen (weniger als 1%) sprach. Tetum, eine allgemein verstan-dene lokale Sprache, fungierte als lingua franca für die timoresische Bevölkerung. Nach demEinmarsch 1975/76 initiierte der indonesische Staat eine Bildungsoffensive im rückstandigen

96 Anna Allott / Rachel Harrison / Ulrich Kratz (1999). Understanding Languages of Modernization: ASoutheast Asian View. in: Modern Asian Studies Bd. 33 Nr. 3, 1999, S. 581-602.

Dem Vater (Bapak) gegenüber stehen die Anak buah (Untertanen), die ihm moralisch, finanziell und sozialuntergeordnet sind. Beide Seiten sind sich gegenseitig verpflichtet. Während der Anak buah seinen Bapakbedingungslos unterstützen und seine Anweisungen unbedingt ausführen muß, kann der Bapak im Gegen-zug Schutz, finanzielle Unterstützung sowie moralisch und ideologische Führung erwarten. (Benedict An-derson, Java in a time of Revolution: Occupation and Resistance, 1944-1946. Ithaca/London, 1972, S. 43);zum Bapakismus der Streitkräfte siehe knapp: Bernhard Dahm, Das indonesische Heer und die Politik -Vor dem Hintergrund der Guerillatradition auf Java, in: Bernhard Dahm / Rita Weyand (Hg.), Das Militärin ASEAN-Staaten auf der Grundlage unterschiedlicher soziokultureller Voraussetzungen, Hamburg (In-stitut für Asienkunde), 1993, S. 98-115.

97 Siehe hierzu auch: Benedict Anderson, A Javanese king talks of his end, November 1997 in: http://www.irja.org/politics/king.htm.

38

Osttimor. Die Zahl der Schulen, in denen die Schüler in der neuen Nationalsprache BahasaIndonesia unterwiesen werden, stieg sprunghaft an.

Schaubild 3: Schulbildung in Osttimor 1976 und 198698

1976 1986

Grundschulen (n)

Schüler (n)

Lehrer (n)

47

13.501

499

498

109.844

2.978

höhere Schulen (n)

Schüler (n)

Lehrer (n)

2

315

10

90

20.299

399

Ziel dieser progressiven, scheinbar entwicklungsorientierten Bildungspolitik ist aber nur be-grenzt die Integration der Timoresen in die indonesische Nation über das Mittel einer gemein-samen Sprache und einer verbesserten Bildung. Vielmehr kann die Sprachpolitik der indone-sischen Regierung als integraler Bestandteil eines Programmes der Entwicklung durch und fürdie bessere Regierbarkeit der Osttimoresen interpretiert werden.99 In diesem Sinn ist sie wieauch die Entwicklungspolitik im allgemeinen Teil staatlicher Sicherheitspolitik.100

Explizit sichtbar wird die politische Bedeutung von Sprache auch bei der Benennung vonProvinzen und Städten. So beeilte sich Indonesien nach dem Abzug der Holländer, seine Er-werbung West Papua in Irian Jaya und deren Hauptstadt Port Numbay in Jayapura umzube-nennen. Der Vertreter des Forums für Versöhnung in Irian Jaya, Herman Awam, hält denNamenswechsel von West Papua in Irian Jaya für einen starken Beweis „of the government'scolonial policy to cleanse the West Papuan people who declared their independence on Dec.1.1961.“101 Für die Bedeutung, die der Sprache in der inneren Kolonialisierung zukam, sprichtauch, daß die neue politische Elite unter Präsident Wahid zum Jahreswechsel 1999/2000 dieBestrebungen nach einer eigenen politischen Identität für West Papua durch die Rücknahmedieser Umbenennung implizit anerkannte.

Doch nicht nur die indonesische Regierung benutzt die Sprache zu Zwecken der Identitätspo-litik, auch die osttimoresische Opposition konstitutiert sich zu großen Teilen über die Spra-che. So entstammt ihre Führungselite weitgehend der portugiesischsprachigen Minderheit underklärte nach dem indonesischen Einmarsch das Portugiesische bis auf weiteres zur offiziellenSprache eines unabhängigen Osttimor.102 Im gleichen Sinn agierte die katholische Kirche, die

98 Lutz, Nancy Melissa, Colonization, Decolonization and Integration: Language Policies in East Timor,Indonesia. 3.5.1995, in: http://www.ci.uc.pt/Timor/language.htm.

99 Lutz ebenda, S. 5.

100 Lutz a.a.O. (Anm. 98), S. 4.

101 Irian provincial council visits House to demand independence, in: The Jakarta Post.com 17.12.1999.

102 In dieser Entscheidung signalisiert sie freilich nicht gerade Volksnähe, muß doch das Portugiesische alsSprache einer einheimischen Elite gelten, die schon zum damaligen Zeitpunkt für weit über 90% der Be-völkerung unverständlich war.

39

bis 1981 Portugiesisch als Kirchensprache und im Gottesdienst benutzte. Als die indonesischeRegierung sie 1981 zur Verwendung der indonesischen Sprache zwingen wollte, weigerte siesich und ersetzte das Portugiesische durch die lokale lingua franca Tetum. Sprache ist für bei-de Seiten eine Waffe zur Kontrolle bzw. ein Mittel der Identitätsbildung.

Gerade in der Auseinandersetzung mit dem Zentralstaat, sei es um die Durchsetzung der eige-nen Sprache oder um die Akzeptanz der darin zum Ausdruck kommenden kulturellen Orien-tierungen, gewinnen die vielfältigen Bevölkerungsgruppen in den äußeren Provinzen einegemeinsame anti-koloniale Identität als Osttimoresen oder Papua. Der Kampf um die Spracheist ein Kampf um kulturelle Hegemonie, in dessen Verlauf sich erst die eigene, gegen dieHerrschaftsansprüche des indonesischen Staates gerichtete kollektive Identität herausbildet.Beide Seiten, sowohl die mit der Waffe von eigenständiger Sprache und Kultur kämpfendenMinderheiten als auch die eine hegemoniale Sprache durchsetzende Zentralmacht arbeiten mitdem gleichen Mittel der Ethnurgie, indem sie Sprache als Mittel der Definition ethnischerIdentität (als Osttimorese oder aber Indonesier) politisieren. Sprache mutiert zu einem zent-ralen Bestandteil der symbolischen Verfaßtheit zweier konkurrierender gesellschaftlicherOrdnungen. Jeder Diskurs ist damit notwendigerweise politischer Kampf.

3.1.3 Transmigrasi

Auch die Wurzeln der immer wieder kritisierten indonesischen Transmigrasi-Politik reichenbis weit in die Kolonialzeit zurück. Mit ihrer neuen „ethischen Politik“ entdeckten die nie-derländischen Kolonialherren ihre Fürsorgepflicht gegenüber der einfachen Bevölkerung deskolonialen Kerngebiets auf Java und boten dieser die Möglichkeit eines Neuanfangs auf ande-ren Inseln von niederländisch Ostindien (zunächst de facto beinahe ausschließlich auf Sumat-ra). Dieser Neuanfang wurde zumindest in den ersten Jahren der Kolonisationspolitik von1905 bis 1912 finanziell großzügig gefördert. Nach 1912 erhielten die Siedler immerhin nochjeweils einen Hektar Land, freien Transport bis zu ihrer neuen Heimat sowie Geld, um ihreSchulden an ihrem alten Wohnort zu begleichen, darüber hinaus wurden ihnen Kredite zurVerfügung gestellt. Die staatliche Migrationsspolitik verfolgte neben den entwicklungs- bzw.bevölkerungspolitischen freilich auch ökonomische Ziele – die Ansiedlung folgte generelldem Plantagenbau und der territorialen Ausweitung der niederländischen ökonomischen Inte-ressen in Ostindien. Nicht zuletzt sollte auch die innere Sicherheit durch die Ansiedlungengefördert werden.

Bis 1940 waren ca. 200.000 Menschen im Rahmen dieser Migrationsprogramme von Java inandere Regionen Indonesiens umgesiedelt worden. Trotz der geringen Zahl gabes ausgeprägteSpannungen mit der einheimischen Bevölkerung, weil die Siedler – durchgängig wohnhaft inEnklaven – Fremdkörper in der neuen Umgebung blieben. Die neu aufgebauten Dörfer wur-den aus den traditionalen politisch-geographischen Räumen herausgeschnitten und mit einereigenen, autonomen Verwaltungsstruktur nach javanischem Muster versehen, was ein all-mähliches Zusammenwachsen unmöglich machte.103 Schon während der Kolonialzeit finden

103 Siehe hierzu J.M. Hardjono, Transmigration in Indonesia, Kuala Lumpur, 1977, S. 16-22; siehe auch NavalIntelligence Division a.a.O. (Anm. 54), S. 155-157.

40

sich gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Migranten und der einheimischen Bevölke-rung in allen Siedlungsgebieten.104

Die Transmigrasi-Politik des unabhängigen Indonesien läßt sich wie die Politik der Koloni-almacht als eine Politik der imperialen Kontrolle und Durchdringung der Peripherie durch diehegemoniale Macht beschreiben. So unterschiedlich die Migrantengruppen im einzelnen zu-sammengesetzt sein mögen, so handelt es sich doch zahlenmäßig vor allem um Personen vonder Hauptinsel Java (z.T. auch von Madura), die auf die außenliegenden Provinzen verteiltwerden. Transmigrasi erweist sich aus der Perspektive der außenliegenden Provinzen als inte-graler Bestandteil einer Javanisierungsstrategie, mit der indigene Organisationsformen, sozi-ale Konventionen und kulturelle Praktiken allmählich erstickt werden sollen. Immerhin ist es,in den Worten eines früheren Transmigrationsministers, offizielles Ziel der Transmigrati-onspolitik Indonesiens „to integrate all the ethnic groups into one nation ... the different ethnicgroups will in the long run disappear because of integration [...] and there will be one kind ofman [...]“.105 Der neo-koloniale Charakter der Transmigrationspolitik wird auch darin sicht-bar, daß ein Teil der Migranten, aber insbesondere der anderen Bürger, die (z.b. als Staatsbe-dienstete) aus den indonesischen Metropolen an die Peripherie versetzt werden, ihren Aufent-halt in den inneren Kolonien ganz im Sinne früherer Kolonialbeamter interpretieren. Ihre Ori-entierung bleibt auf ihre Herkunftsregion gerichtet, und sie verstehen ihren Aufenthalt in derPeripherie als temporär. Eine emotionale Anbindung an die lokale Gesellschaft ist eher dieAusnahme denn die Regel.106 Widerstand gegen die Migranten ist damit Widerstand gegeneine erzwungene kulturelle Assimilation, ist Widerstand gegen eine Politik der Kolonisierung,die langfristig auf die Javanisierung der indigenen Bevölkerungen der außenliegenden Pro-vinzen abzielt.

Die Gewalt zwischen den verschiedenen ethnisch bzw. religiös definierten Gruppen hat indiesem Sinn nicht nur eine ethnische, religiöse und ökonomische Dimension der lokalenKonkurrenz, sondern darüber hinaus eine Dimension des Kampfes um kulturelle und ökono-mische Selbstbestimmung gegenüber den Kontroll- und Herrschaftsambitionen der zentralenpolitischen und militärischen Instanzen.

Konfliktverschärfend kommt hinzu, daß seit Jahren ohne jegliche Planung Transmigration imGefolge ethnisch oder religiös motivierter Gewalt zur Lösung der Probleme vor Ort ange-wandt wird. Tausende von Personen, die in ihrer Heimat bzw. in den Regionen, in die sie ein-gewandert waren, Opfer von Verfolgung geworden oder aber vor gewalttätigen Ausschreitun-gen geflohen waren, wurden in immer neuen Aktionen in andere friedliche Regionen desLandes umgesiedelt – manchmal nur für kurze Zeit, oft jedoch wurden Jahre daraus; eineRückkehr in die alte Heimat kam nicht mehr in Betracht. Damit erweist sich die indonesischeTransmigrasi-Politik als Rezept für ein Desaster. Sie produziert beinahe notwendigerweiseökonomische und politische Konkurrenz zwischen der angestammten Bevölkerung und derGruppe der Migranten, die noch dazu zum Teil in den zumindest zeitweisen Genuß staatlicher

104 Siehe hierzu z.B. das Kapitel 4 der detaillierten Studie von Fadjiri Alihar, Singkil: Ein Zuwanderungs- undKolonisationsraum in Süd-Aceh, Nord Sumatra, Indonesien, (Diss. Univ. Kassel), 1996.

105 Transmigrationsminister, zitiert nach http://www.cs.utexas.edu/users/cline/papua/transmigration.htm.

106 Siehe hierzu z.B. die Kritik des Führers der Unabhängigkeitsbewegung für ein freies West Papua MosesWerror (Interview with OPMRC Chairman Mr. Moses Werror, in: http://www.irja.org/politics/opmi.htm)und des Bischofs von Jayapura Leo Laba Ladjar (New era of openness ... 1999, a.a.O., FN 95).

41

Fördermaßnahmen kommt, die der angestammten Bevölkerung nicht zugänglich gemachtwerden.

Nichtsdestoweniger handelt es sich bei der bis heute praktizierten Transmigrationspolitik umdie Fortführung und Ausweitung einer Praxis des kolonialen Staates, sie „kept more or less tothose of the Dutch colonial government.“107 Wenn heutzutage die gewalttätigen Auseinander-setzungen zwischen ethnischen Dayak und eingewanderten Maduresen auf Kalimantan be-klagt und die defizitäre Transmigrationspolitik der indonesischen Regierung dafür verant-wortlich gemacht wird, so gilt es zu berücksichtigen, daß die erste Ansiedlung von Maduresenauf Kalimantan auf das Jahr 1938 datiert.

Für die frühen Versuche der Integration Indonesiens unter den Holländern gilt das Gleichewie für die der ordnungspolitisch, kulturell und personell javanisch dominierten Republik:Integration wurde durchgängig als Unterordnung und Eingliederung der rückständigen Be-völkerungsgruppen in eine ihnen von außen auferlegte Ordnung begriffen und entsprechendpatriarchalisch-autoritär durchgesetzt. Die Zwänge, die die alten Identitäten und sozialenStrukturen der indigenen Bevölkerungen der äußeren Provinzen bedrohten, produzierten inbeiden Fällen revivalistische Gegenbewegungen. Der Widerstand gegen die frühere Koloni-almacht unterscheidet sich grundsätzlich nicht von dem gegen die Republik Indonesien. Eshandelt sich durchgängig um kulturelle Konfrontationen, „deren erstes Opfer die versuchteAssimilationspolitik wurde.“108

Standen in der Auseinandersetzung der vielfältigen Völkerschaften gegen die Holländer dietraditionellen Eliten gegen die fremden Modernisierer, so wandelte sich diese Frontstellung inden Auseinandersetzungen während der Republikzeit. Hier konkurrierten über lange Zeit eineweitgehend urbane, javanische, nationalistisch und a-religiös orientierte Elite und eine traditi-onale, ländliche und nicht selten auch religiös motivierte Elite miteinander. Die Kraft der tra-ditionalen Autoritäten beruht auf Weltbildern, die mit denen der urbanen, nationalistischenElite kaum etwas gemeinsam haben, die im Gegenteil oft als Gegenkonzepte gegen den vonder Elite propagierten modernen Staat begriffen werden müssen. In diesen Gegenkonzeptenwurden die Autorität des modernen Staates, die von ihm ausgehenden Zwänge zur Integrationund Assimilation in Frage gestellt. Sie bildeten einen sichtbaren Ausdruck dafür, „daß dieIntegrationswilligkeit, die Bereitschaft der Aufgabe von essentiellen Teilen der eigenen Iden-tität ... nicht bestand und bis heute nicht besteht.“109

3.1.4 Innerer Kolonialismus als Herrschaftsstrategie: zur Problematikdes Gerechtigkeitsdefizits

Eine ganz eigene Zielsetzung bekommt das Phänomen des inneren Kolonialismus, wenn manes vor dem Hintergrund sozialpsychologischer Theorien zur Interaktion zwischen Gruppeninterpretiert. In diesem Zusammenhang scheint ein Blick auf Theorien der Gerechtigkeit vonNutzen. Diese gehen davon aus, daß die Menschen grundsätzlich rational zwischen verschie-denen Handlungsoptionen auswählen und bei ihrer Beurteilung der eigenen Position innerhalb

107 Hardjono a.a.O. (Anm. 103), 23.

108 Bernhard Dahm. Kulturelle Traditionen und politische Entwicklungen in Südostasien. in: Asien Nr. 39,April 1991, 5-20, Zitat: 16.

109 Dahm a.a.O. (Anm. 108), 16.

42

der Gesellschaft wie auch bei der Beurteilung der Stellung der eigenen Gruppe das Verhältniszwischen eingebrachter Leistung und erhaltenem Gewinn abschätzen, um dann in einem Ver-gleich mit den entsprechenden Verhältnissen der anderen, an der Interaktion beteiligten Indi-viduen bzw. Gruppen die Verteilungsgerechtigkeit zu beurteilen. Individuelles wie auchGruppenverhalten hängt aus dieser Sicht ganz wesentlich davon ab, für wie gerecht die Betei-ligten die Verteilung halten. Gerecht sind Verhältnisse dann, wenn das Verhältnis von Leis-tung (Input) und Gewinn (Outcome) für alle Beteiligten gleich ist. Dabei wird nicht ange-nommen, daß die Einschätzung des Wertes von erbrachten Leistungen und erhaltenem Ge-winn rationalen Standards genügt. Sie ist im Gegenteil in hohem Maß von subjektiven Per-zeptionen und affektiven Faktoren abhängig. Eine von einem Beobachtungsstandpunkt be-trachtet ungerechte Verteilung kann von einer anderen Perspektive vollständig gerecht sein,hängt doch die Frage nach der Gerechtigkeit von der subjektiven Bewertung durch die Betrof-fenen selbst ab.

Das subjektiv empfundene Gefühl der Ungerechtigkeit einer bestehenden Ordnung wird alsemotional und kognitiv belastend erlebt und erfordert zumindest den Versuch der (Wieder-)Herstellung einer subjektiv als gerecht empfundenen Situation. Dieser Versuch kann prinzi-piell auf zwei Arten erfolgen: (1) Man kann versuchen, die Input/Outcome Relation einer oderaller betroffenen Parteien so zu verändern, daß sie sich angleichen, und (2) man kann dieStrategie der psychologischen Herstellung der Gerechtigkeit wählen; d.h. man wertet die bis-her eingebrachten Leistungen bzw. erhaltenen Gewinne so um, daß sie sich zu einem gerech-ten Arrangement zusammenfügen. Bevorteilte Gruppen haben ein offensichtliches Interessedaran, daß die in der bestehenden Ordnung benachteiligten Gruppen die zweite der Optionenwählen, und werden ihr Möglichstes tun, um entsprechende Umwertungsprozesse und damitsymbolische Spannungsauflösung zu unterstützen. Doch auch sie selbst, so die theoretischeAnnahme, müssen auf die ungerechte Situation reagieren, ist doch ihre bevorzugte Stellungansonsten mit dem Makel der Illegitimität behaftet – ein gefährliches Einfallstor für Forde-rungen nach radikalen Änderungen der Ordnung. Genau deshalb streben herrschende Grup-pen, die einen überproportionalen Nettogewinn (Input/Outcome) aus den bestehenden Ver-hältnissen ziehen, danach, die Asymmetrie durch symbolische Manipulation, durch eine Um-wertung der eingebrachten Leistung oder aber der erhaltenen Gewinne in ein wieder „gerecht“balanciertes Verhältnis zu verschieben. Zentrale Strategien sind hierbei (a) die Abwertung dereingebrachten Leistungen der benachteiligten Gruppen und (b) die Aufwertung der eigeneneingebrachten Leistungen.110

Der Bezug dieser Überlegungen zu den obigen Ausführungen über den inneren Kolonialismusin Indonesien wird deutlich, wenn man sich die Gewinnverhältnisse der kolonialen Durch-dringung Indonesiens unter der niederländischen, aber auch der republikanischen Herrschaftvor Augen hält. Nicht nur das niederländische Modell kolonialer Durchdringung läßt sich alsklare Ausbeutung der Peripherie (Niederländisch Ostindien) zugunsten der Metropole (Nie-derlande) charakterisieren, auch der republikanische Staat entwickelt im wesentlichen dieMetropole (Java) auf Kosten der Peripherie. Hinzu kommt, daß von dieser Ausbeutungsituati-on zumindest seit Mitte der 70er Jahre durch monopolistische Arrangements und intra-bürokratische bzw. bürokratisch-unternehmerische Kollusion in zunehmendem Maße eine an

110 Einführend zu sozialpsychologischen Theorien der Gerechtigkeit speziell unter Bezug auf Interaktion zwi-schen Gruppen siehe z.B. Taylor / Moghaddam a.a.O. (Anm. 7), S. 95-118; Robert A. Baron/Donn Byrne.Social Psychology: Understanding Human Interaction. New York, 1981, 392-405.

43

der Bevölkerung gemessen kleine Zahl von Gruppierungen in hohem Maß profitierte. Diepaternalistische Entwicklungsideologie dient an zentraler Stelle der Legitimation der asym-metrischen Gewinnverteilung, sie stellt eine Strategie der psychologischen Wiederherstellungder Gerechtigkeit dar.

Die Abschöpfung großer Teile der erwirtschafteten Profite durch die Eliten der Metropolewird unter Zuhilfenahme der paternalistischen Entwicklungsideologie als gerecht ausgegeben,weil diese ein überproportionales Engagement in den Entwicklungsprozeß eingebracht hätten,andererseits der Input der lokalen Bevölkerung minimal sei, sie also auch keinen – gemessenam Input – überproportionalen Gewinn erwarten dürfe. Diese Strategie wird beispielsweisesichtbar in der beständigen Wiederholung der Doppelfunktion (Dwi-Fungsi) der Streitkräfte,durch die ihnen eine umfassende gesamtgesellschaftliche, politische und ökonomische Kon-troll- und Steuerungsfunktion, auch und gerade im Sinne einer Entwicklungsinstanz, zuge-schrieben wurde. Diese Funktionszuweisung diente nicht allein dazu, den Streitkräften eineallumfassende Macht- und Kontrollposition zu erhalten. Mit der symbolischen Überhöhungder Streitkräfte und ihres Anteils an der Entwicklung und Modernisierung des ganzen Landesrechtfertigten sie auch die enormen Payoffs der zivilen, von den Streitkräften gemanagtenAufgaben (Industrien, landwirtschaftliche Produktionsanlagen u.v.m.) als legitime Kompen-sation für entsprechende Leistungen. Parall dazu wurden die Leistungen der indigenen Bevöl-kerungen der außenliegenden Provinzen minimiert: man charakterisierte die Bevölkerung alszurückgeblieben, sie bedürfe der Führung, sei ungebildet und der Hochsprache kaum mächtig.Diese Menschen trügen kaum eigene Leistungen zur Entwicklung bei, sondern müßten selbstentwickelt werden, eine Leistung, die voll und ganz auf den Schultern der (von den Arrange-ments profitierenden) Eliten lag. Bei derartig geringen eigenen Leistungen dürften die Ge-winnerwartungen folgerichtig nicht zu hoch geschraubt werden.

Die Definitionsgewalt über die Wege und Ziele der Entwicklung verblieb bei den Eliten derMetropole. Daß die Minderheiten ein eigenes Recht auf einen selbstbestimmten Weg habenkönnten, durfte nicht thematisiert werden – damit wäre die Legitimität der zentral bestimmtenOrdnung in Frage gestellt worden.

3.2 Traditionen politischer Gewalt

Der moderne indonesische Staat wurde zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auf Gewalt undTerror errichtet. Gewalt war schon ein zentrales Mittel der kolonialen Durchdringung der in-donesischen Inselreiche gewesen. Mit zum Teil drakonischen Maßnahmen strebte die Koloni-almacht Niederlande in den dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts danach, die nationalistischeBewegung zu zerschlagen. Das zwar nur dreijährige, für die weitere Geschichte jedoch zent-rale japanische Zwischenspiel (1942-1945) zeichnete sich ebenfalls durch ein hohes Maß anGewalt und eine zunehmende gesellschaftliche Durchdringung mit gewaltförmigen Organisa-tionen sowie eine mobilisatorische Ideologie des bewaffneten anti-imperialistischen (d.h. ge-gen die westlichen Mächte gerichteten) Kampfes aus. Gewaltsam verlief auch der Weg in dieUnabhängigkeit (1947-1949), als die von den Japanern aufgebauten und später von den Re-volutionären übernommenen Streitkräfte (Tentara Nasional Indonesia: TNI) in einem mehr alszweijährigen Guerillakrieg gegen die Holländer kämpften. Doch nicht nur die Auseinander-setzung mit dem äußeren Gegner, sondern auch die mit dem innenpolitischen verlief gewalt-förmig. Viele lokale Rebellionen – die prominenteste ist zweifellos die kommunistische Ma-

44

diun-Rebellion von 1948 – wurden mit brutaler Gewalt beendet. Auch die Versuche verschie-dener Gruppierungen auf West-Java und Sumatra (Aceh), einen islamischen Staat an Stelleder säkularen Republik zu errichten, wurden in jahrelangen Kleinkriegen niedergeschlagen.111

Nach einer Phase relativer Ruhe in der Mitte der 50er Jahre intensivierte sich der Einsatz mi-litärischer Gewaltmittel im Gefolge der Ausrufung des Ausnahmezustandes im März 1957wieder. De facto übernahmen die Streitkräfte in vielen Außenregionen des indonesischen In-selstaates die Administration. Die junge Republik unterdrückte mit Waffengewalt lokale Auf-stände, die nicht selten unter der Führung lokaler Militärkommandeure standen (wie bei derBildung einer Gegenregierung in Sumatra und Nordsulawesi 1958). Die gesellschaftliche Po-larisierung verschärfte sich in den Jahren des Ausnahmezustands nochmals deutlich. Im Ge-folge der Niederschlagung eines angeblich kommunistisch initiierten Putschversuchs 1965,bei dem sechs Generäle ermordet worden waren, wurden innerhalb weniger Monate von Mili-zen unter aktiver Beteiligung von Armee-Einheiten mindestens 500.000 Kommunisten undderen Anhänger umgebracht. In den folgenden Jahrzehnten finden sich wiederholt Beispielefür den Einsatz von Terror zur Durchsetzung politischer Ziele, so in den Jahren 1983 bis1985, als Todesschwadrone von Polizei und Militär mehrere Tausend Kriminelle ermordeten.Ein erdrückendes Ausmaß nahmen Gewalt und Terror in den Außenprovinzen an, die wieWest Papua und Osttimor z.T. erst Jahrzehnte nach der Konstituierung der Republik Indone-sien mit Waffengewalt in den Staat aufgenommen worden sind. So sollen im seit 1969 indo-nesisch kontrollierten West Papua (Irian Jaya) bis 1980 ca. 300.000 Menschen ermordet wor-den bzw. verschwunden sein – bei einer Einwohnerzahl von ca. 700.000 bis 1 Million.112 DieInvasion Osttimors kostete 1975/76 wahrscheinlich ca. 50.000 Menschen das Leben, in denJahren bis 1980 sollen im Zusammenhang mit den Anti-Guerilla-Maßnahmen der indonesi-schen Regierung insgesamt 200.000 Menschen, d.h. knapp ein Drittel der Bevölkerung, dasLeben verloren haben – der größte Teil von ihnen ist in Konzentrationslagern verhungert oderan Krankheiten gestorben.113

Schon ein derart rudimentärer Blick verdeutlicht, daß Terror und Gewalt als Mittel der Politikdurchgängig und über die gesamten Jahrzehnte der Unabhängigkeit zur Anwendung kamen.Insofern ist Richard Tanter zuzustimmen, daß der weltweit beachtete Terror des Jahres 1999in Osttimor nicht ungewöhnlich für indonesische Verhältnisse war.114 Doch wird Terror inden meisten Fällen nur zu einem geringen Teil von den Streit- bzw. Sicherheitskräften selbstausgeübt. Vielmehr gelingt es immer wieder, einzelne Bevölkerungsgruppen als Handlangerder Gewalt zu instrumentalisieren.115 So fielen die meisten Opfer der Gewaltwelle von

111 Siehe hierzu: Dahm a.a.O. (Anm. 96).

112 Detaillierte Schilderungen militärischer Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung in Papua finden sich bei-spielsweise auf zwei regimekritischen Homepages (http://www.converge.org.nz/wpapua/humanrights.html;http://www.irja.org).

113 In ihrer Auseinandersetzung mit den Guerilla der Fretilin setzten die indonesischen Streitkräfte – wie übri-gens auch in West Papua – Napalm ein und bombardierten Dörfer aus der Luft (siehe hierzu z.B. BenedictAnderson. a.a.O. (Anm. 94); siehe auch die Homepages der kritischen Gruppen zu West Papua (Anm.112).

114 Richard Tanter. The Indonesian Intelligence State Revisited. in: Bulletin of Concerned Asian Scholars in:http://csf.colorado.edu/bcas/campaign/tanter.html, S. 3.

115 Tanter (ebenda, S. 5) stellt fest, daß „in the early New Order period anti-Sukarno student groups, and Chi-nese and Catholic groups played a key role in breaking the power of Sukarno and the left, in addition to the

45

1965/66 nicht Soldaten, sondern ihren muslimischen Nachbarn und insbesondere den Jugend-organisationen islamischer Gruppierungen und anderen anti-kommunistischen studentischenAktivisten zum Opfer. Das Gros der Provokateure bei den anti-chinesischen Unruhen vomFrühjahr 1998 dürfte nicht direkt den Sicherheitskräften entstammen, sondern einer der viel-fältigen para-militärischen und nicht selten halb-kriminellen Milizen, die Parteien, Große Fa-milien und indonesische Konzerne, wahrscheinlich aber auch einige internationale Unterneh-men, wie der amerikanische Multi Freeport auf West Papua, finanzieren.116 Im November1998 brachte die Regierung zum Schutz der Beratenden Volksversammlung gegen die pro-testierenden Studenten über 100.000 zivile „Wachen“ – vielfach mit angespitzten Bambusstä-ben bewaffnet – nach Jakarta. Diese wurden vor allem von Mitgliedern milizförmiger Ju-gendorganisationen, wie den Golkar-nahen Pemuda Panca Marga und Pemuda Pancasilasowie konservativen muslimischen Gruppierungen, gestellt. Unter Suharto (aber auch nochunter seinem Nachfolger Habibi) wurden vielfältig nicht nur bestehende zivile Organisationeninstrumentalisiert, sondern von staatlichen Institutionen selbst staatsnahe paramilitärischeEinheiten aufgebaut, wie z.B. in Osttimor, wo die Streitkräfte eine große Zahl von Milizenorganisierten, bewaffneten und trainierten. Diese hatten in den Jahren vor der Unabhängigkeithäufig die alltägliche Schmutzarbeit für das Militär übernommen. Nachdem das Ergebniss desReferendums im September 1999 verkündet worden war, ließen insbesondere diese Gruppie-rungen ihrem über Jahre aufgebauten destruktiven Potential freien Lauf. Ähnliches wurde,wenngleich weitgehend erfolglos, Anfang der 90er Jahre in Aceh versucht, als die ländlicheBevölkerung in Milizen zur „Verteidigung des Staates“ (Bela Negara) organisiert wurde.

Staatliche Institutionen sind also nicht die einzigen oder auch nur die prominentesten Exeku-toren der Gewalt. Wo immer möglich oder opportun nutzen sie die „Dienste“ paramilitärischorganisierter Gruppen. Doch auch kommunalistische Gewalt scheint sich, wenngleich teilwei-se spontan, so doch um Mobilisationskerne – kleine Gruppen gewaltbereiter und organisierterAktivisten – zu zentrieren. Diese milizförmigen, oft staats- bzw. politiknahen Banden, die vonden unterschiedlichsten Gruppen für ihre Zwecke eingespannt werden, findet man überalldort, wo sich Gewalt äußert. Selbst Glaubensgemeinschaften haben, wie die staatlichen Insti-tutionen und Parteien, eigene Gruppierungen, die für Sicherheit zuständig sind, aber ebenauch oft autonom als Gewalttäter auftreten.117

All diese Organisationen legitimieren sich in der Tradition der im Gefolge der Revolution von1945 aus dem Boden geschossenen Jugend-Bewegung (Pemuda). Die mobilisierte und orga-nisierte Jugend bot damals mit ihrer Strategie der bewaffneten anti-imperialistischen Revolu-

huge Islamic organizations. These groups provided considerable resources, material, moral and political tosustain and coak black operations.“

116 Die zunehmende Privatisierung staatlicher Gewalt seit der Entscheidung von 1988, wonach strategischeIndustrien einschließlich der großen internationalen Konzerne, wie Freeport in West Papua und Mobil Oilin Aceh, eigens abgestellte Schutztruppen erhalten sollten, verwandelte Teile der Armee de facto in privateMilizen im Dienste ökonomischer Gruppierungen. Der allmähliche ökonomische Machtverlust der Streit-kräfte zugunsten ziviler „Cronies“ des Suharto-Clans in den 90er Jahren führte dazu, daß die Streitkräfte inden Regionen zunehmend auf irreguläre Methoden der Finanzierung zurückgriffen. In der Folge konnte diezentrale Militärführung gegenüber vielen Einheiten kaum noch Kontrolle ausüben.

117 Als Beispiel sei die der Nahdlatul Ulama des jetzigen Präsidenten Abdurahman Wahid nahestehende Ansorgenannt. Letztere ist für tausende politischer Morde an Kommunisten oder ihren Sympathisanten in denJahren 1965/66 verantwortlich, als sie, wie viele andere muslimische Organisationen, an der Seite der Ge-neräle um Suharto bereitwillig an der physischen Liquidierung der Linken mitwirkte.

46

tion – egal ob kommunistisch oder islamisch orientiert – und ihrer autonomen, dezentralenOrganisation in paramilitärische Einheiten (badan perjuangan) eine Alternative zur Diploma-si-Strategie der revolutionären Elite um Sukarno und Hatta. Die Diplomasi-Strategie der Elitezielte auf die Einbindung der traditionellen Eliten und die Akeptanz der Republik Indonesiendurch die wichtigsten internationalen Mächte – und damit im wesentlichen auf die Begren-zung der Revolution auf ihre nationale Komponente. Demgegenüber betonten die Pemuda,daß die Revolution nicht allein national, sondern auch sozial sein müsse. Damit trat der be-waffnete Kampf (perjuangan) als prononcierter Bestandteil der Revolutionsstrategie in denVordergrund. Zwar waren die Pemuda im Guerilla-Kampf gegen die niederländischen Versu-che der Wiedereroberung Indonesiens zwischen 1946 bis 1948 ebenso aktiv wie schon in denersten Wochen nach der Kapitulation der Japaner in Auseinandersetzungen mit britischenTruppen, doch richtete sich das Gewaltpotential der Pemuda-Bewegung nicht nur nach außen,sondern auch gegen Teile der eigenen Bevölkerung, die entweder, wie die traditionellen poli-tischen Eliten, als Gegner der Revolution galten oder aber eine traditionell exponierte Stel-lung innehatten, wie die ethnischen Chinesen. Viele in ihren Reihen starben, ihr Besitz wurdenicht selten zerstört. Aus dieser Bewegung und aus den darin aufgegangenen Resten der Petaund anderer japanisch organisierter (para-)militärischer Organisationen, d.h. jenseits jeglicherauch nur rudimentärer Kontrolle von Jakarta, entwickelten sich die Keimzellen der später un-ter großen Mühen zentralisierten neuen Streitkräfte der Republik Indonesien. Die Traditiondes bewaffneten Kampfes nach außen, aber auch gegen Feinde der Ordnung im Inneren, derlegitimerweise politischen Rolle militärischer Einheiten und die persönliche Loyalität zu denFührern der lokalen Einheiten bildeten den Kernbestand der Ideologie der frühen indonesi-schen Streitkräfte.

Das Wort Pemuda (Jugend) ist in Indonesien bis heute eine emotional stark – und auch posi-tiv – aufgeladene Metapher. Immer noch ist eine auch gewaltbereite Strategie des Wandelsaufgrund der Kompromißlosigkeit, Opferbereitschaft und des hohen moralischen Anspruchesihrer ursprünglichen Protagonisten in den Jahren 1945/46 mit einem beträchtlichen Maß anLegitimität verbunden, das die Milizen bis in die Gegenwart – unbeschadet des vollständiganderen Kontextes – zur Legitimation ihres eigenen Handeln bestmöglich nutzen. Gewaltan-wendung ist damit in vielen Bereichen ein durchaus opportunes Mittel der Durchsetzung po-litischer Ziele und gesellschaftlicher Werte.

Die moderne Geschichte Indonesiens läßt sich auch als eine Geschichte der Habitualisierungvon Gewalt lesen. Jede Generation wird aufs neue in scheinbar immer wiederkehrende Musterder Gewaltsamkeit hineinsozialisiert – sei es als Opfer, als Täter oder auch als Zuschauer.118

Der politische, ökonomische und soziale Raum wird beständig neu als gewalthaltiger Raumbestimmt. Immer wieder werden die Rollen der Gewaltarrangements – Täter, Opfer, Beob-achter – und die damit verbundenen Identitätsbildungsprozesse aktualisiert. In Indonesien gibtes keinen sozialen Raum frei von dem Schatten der Gewalt, so wie es keine Zeit vor der Ge-walt gibt. Gewalt ist alldurchdringend und nicht mehr an die sie einmal auslösenden Motiveund Zwecke gebunden. Die vor Jahrzehnten in Gang gesetzte Dynamik der Gewalt hat überdie vielen Akte der Gewalt zu einer Deformierung sozialer Kategorisierungsmuster und sozi-aler Interaktion zwischen Gruppen geführt.

118 Staatliche Gewalt korrumpiert, worauf Benedict Anderson hinweist, nicht nur die Täter, sondern auch vieleOpfer dieser Gewalt: „There are plenty of prisoners who, seeing their captors as extortionists, sadists, andeven executioners, tend to follow their example“ (Anderson a.a.O. (Anm. 89, S. 11)).

47

Mit dieser „Vergesellschaftung“ der Gewalt korrespondiert auch die Art der Gewaltausübung.Bei aller scheinbaren Instrumentalität der staatlichen Gewalt gegen Minderheiten bleibt fest-zuhalten, daß dem Gros der Gewalt – auch der staatlichen – keine oder doch nur sekundärnüchterne Effizienzkriterien zugrunde liegen. Gewalt in Indonesien folgt oft weniger einemrationalen Nutzenkalkül, sie wird nicht sparsam und diszipliniert eingesetzt, sondern erliegt innicht unbeträchtlichem Maß der Eigengesetzlichkeit gewaltsamer Exzesse, die auf eine Ver-ausgabung aus sind. Sie haben nicht den Nutzen im Blick, sondern maximieren die Gewalt –zum Schaden aller.

3.3 Die Mitverantwortung der großen Demokratien

Ein ganz wesentlicher Aspekt für die Gewaltbereitschaft des indonesischen Staates gegenüberallen Personengruppen, die ein höheres Maß an Autonomie oder aber Unabhängigkeit für ein-zelne Regionen einforderten, ist die jahrzehntelange Unterstützung oder zumindest still-schweigende Tolerierung dieser Politik durch die westliche Staatengemeinschaft, allen vorandurch die USA, den seit dem Putsch Suhartos von 1965 wichtigsten Verbündeten Indonesiens.1957/58 hatten die USA mit Waffenlieferungen und Bombern (einschließlich der dazugehöri-gen Besatzungen) die Versuche von Rebellen auf Sumatra und Sulawesi unterstützt, das un-bequeme Sukarno-Regime zu stürzen.119 Da diese Versuche nicht von Erfolg gekrönt wurden,engagierten sich die USA seit 1958 beim Aufbau einer indonesischen Militärakademie(SESKOAD) und halfen beim Auf- und Ausbau der bis heute existenten militärischen Infra-struktur bis hinab auf die Dorfebene mit. Es ist genau diese Infrastruktur, die der Armee einenunvergleichlichen Zugriff auf die politischen Geschicke des Landes gab und gibt. Obgleichdie US-Regierung 1963 erklärte, fortan an Indonesien keinerlei Entwicklungshilfe mehr zuliefern, stoppte sie de facto nur die zivile Hilfe, die militärische wurde unverändert fortgeführt– mit dem Effekt der Stärkung der Position der Armee gegenüber den politischen Institutio-nen. Es ist vielleicht auch mehr als nur ein Zufall, daß der de facto Sturz Sukarnos 1965 nurein Jahr bzw. wenige Monate nach der Entscheidung zur Verstaatlichung der britischen bzw.US-amerikanischen Investitionen in Indonesien erfolgte – eine Entscheidung, die von der Re-gierung Suharto auch prompt wieder zurückgenommen wurde.120

119 Die wichtigsten Studien hierzu sind: Audrey R. Kahin/George McT. Kahin, Subversion as Foreign Policy –The Secret Eisenhower and Dulles Debacle in Indonesia, New York (The New Press), 1995 und KennethConboy/James Morrison, Feet to the Fire: CIA Covert Operations in Indonesia, 1957-1958, Annapolis(Naval Institute Press), 1999.

120 Zum Engagement der USA beim Sturz Sukarnos siehe z.B. Peter Dale Scott, The United States and theOverthrow of Sukarno, 1965-1967, in: Pacific Affairs, Sommer 1985, 239-264 (auch in: http://www.pir.org/scott.html). Gegen die Version, wonach Suharto mit seinem Handeln 1965 einen kommunis-tisch geführten Coup niedergeschlagen habe, wendet sich auch Oberst Latief, einer der Coupteilnehmer(siehe hierzu: Greg Poulgrain, Who plotted the 1965 coup?, in: Inside Indonesia No. 57, January-March1999, in: http://www.insideindonesia.org/edit57/poulg.htm). Eine Bibliographie zum Coup von 1965 findetsich auf der Homepage der indonesischen Menschenrechtsorganisation Tapol (http://www.gn.apc.org/tapol/biblio/_65coup.htm).

48

1965 lieferten die USA Schwarze Listen mit den Namen von mehreren Tausend kommunisti-schen Funktionären und Sympathisanten an das indonesische Militär121 und trugen damit zurVernichtung der Linken in den nachfolgenden Massakern bei. In den Folgejahren stabilisier-ten sie ihren strategischen Verbündeten in Südostasien mit Waffenlieferungen und der Aus-bildung von Offizieren. Sie brachten auch die wichtigsten Nationen der Welt in der Intergo-vernmental Group for Indonesia (IGGI) zur koordinierten ökonomischen Unterstützung desRegimes zusammen. Die Besetzung Irian Jayas 1962/63 und die von der UNO abgesegnete„Abstimmung“ über dessen Anschluß an Indonesien 1969 wurde ebenso begrüßt wie die Be-setzung Osttimors 1975 – die Alternative eines unabhängigen, unter der Herrschaft der Freti-lin sozialistischen Osttimor war für die USA, die gerade Vietnam verloren hatten, nicht trag-bar.122 Die amerikanische Waffenhilfe wurde trotz massiver internationaler Kritik am men-schenverachtenden Vorgehen der indonesischen Einheiten deutlich verstärkt. Noch im Jahr1976 wurden die ersten „Bronco“ Bodenkampfunterstützungsflugzeuge ausgeliefert, die inden folgenden Jahren gegen die inländischen Insurgentenbewegungen zum Einsatz kommensollten. Hatte der Wert der US-Waffenverkäufe 1974 noch bei ca. 12 Millionen US$ gelegen,so stieg er im Jahr 1975 steil auf über 57 Millionen US$ an – das war wohlgemerkt zu einerZeit, als die USA offiziell alle Hilfe an Indonesien eingestellt und tatsächlich alle zivile Ent-wicklungshilfe suspendiert hatten. Während der Carter-Präsidentschaft lieferten die USAdurchschnittlich Militärgüter im Wert von 60 Millionen US$ pro Jahr.123 Die Vereinten Nati-onen, die den indonesischen Einmarsch in Osttimor verurteilten, wurden soweit möglichdurch die US-Diplomatie handlungsunfähig gehalten. Der spätere Senator Daniel PatrickMoynihan resümierte über seine damalige Arbeit als amerikanischer UN-Vertreter:

„The United States wished things to turn out as they did, and worked to bring this a-bout. The Department of State desired that the United Nations prove utterly ineffectivein whatever measures it undertook. This task was given to me, and I carried it forwardwith no inconsiderable success.“124

121 Siehe hierzu z.B.: Kathy Kadane, Ex-agents say CIA compiled death lists for Indonesians, States NewsService 1990 (in: http://www.pir.org/kadane.html). Kadane zitiert den damaligen Indonesienexperten imamerikanischen Außenministerium Howard Federspiel mit den Worten: „No one cared, as long as they we-re Communists, that they were being butchered ... . No one was getting very worked up about it.“ Sieheauch: Scott ebenda, knapp: Frank Richardson. The U.S.: A party to mass murder?. in: The Jakarta Post.com13.1.2000 und 14.1.2000.

122 Einen Tag vor Beginn der indonesischen Invasion Osttimors hatten der amerikanische Präsident Ford unddessen Sicherheitsberater Kissinger Jakarta besucht. Philipp Liechty, ein damaliger Beamter der CIA in Ja-karta, resümierte hierüber später: „They came and gave Suharto the green light ... . The invasion was de-layed two days so they could get the hell out. We were ordered to give the Indonesian military everythingthey wanted. I saw all the hard intelligence; the place was a free fire zone. Women and children were her-ded into school buildings that were set alight – and all because we didn't want some little country beingneutral or leftist at the United Nations.“ (zitiert nach John Pilger, Jakarta's godfathers, in: The Guardian,7.9.1999, in: http://www.zmag.org/ pilgerjakarta.htm).

123 Siehe hierzu z.B. William D. Hartung / Jennifer Washburn, A Short Background on U.S. Arms Sales toIndonesia, in: http://www.cdi.org/armstradedatabase; Jennifer Washburn, Twisting Arms, in: The Progres-sive 1.5.1997 in: http://www.britannica.com.

124 Daniel Patrick Moynihan zitiert nach Sunil Sharma, 200,000 Skeletons in Richard Holbrooke's Closet,22.3.1999 in: http://www.zmag.org/crisescurevts/sunil.htm.

49

Auch nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation blieb die Stabilität Indonesiens eines derzentralen Ziele der US-Asienpolitik. Diesem Ziel wurden bislang noch immer alle anderenkonkurrierenden Ziele – etwa die Wahrung der Menschenrechte – untergeordnet. Die USAverharrten, nicht unähnlich Großbritannien, aber auch Australien (bis zur opportunistischenPolitikwende vom Januar 1999), solange auf einer Politik der Unterstützung des autoritärenSuharto-Regimes und der indonesischen Streitkräfte und insbesondere ihrer gegen innereFeinde gerichteten Spezialeinheiten (Kopassus), als dies nicht im eigenen Land in sichtbarenWiderspruch zur politischen Öffentlichkeit geriet. Ausgerechnet während der Clinton-Präsidentschaft erreichten die Waffenlieferungen trotz massiven Widerstands des Kongressesund vorgegebener Empörung über indonesische Menschenrechtsverletzungen einen neuenHöchststand von ca. 115 Millionen US$ pro Jahr. Den Spielraum, den die USA als Waffenlie-ferant gehabt hätten, wird deutlich, wenn man sich bewußt macht, daß ca. 90% der Waffen,die bei der Invasion in Osttimor zur Anwendung kamen von den USA geliefert worden wa-ren. Noch Anfang bis Mitte der 90er Jahre kamen über 50% der indonesischen Waffen ausden USA. Selbst nachdem die offizielle Politik in den USA gegen die vielfältigen Menschen-rechtsverletzungen in Indonesien und speziell gegen das Verhalten der indonesischen Truppenin Osttimor Stellung bezogen hatte, beharrte die Administration im Pentagon auf der Unter-stützung der indonesischen Streitkräfte. So wurde im Gefolge eines Massakers in Osttimor,bei dem ca. 270 Menschen von Sicherheitskräften erschossen worden waren, zwar vom US-Kongress im Oktober 1992 beschlossen, daß Indonesien zukünftig keine Hilfe unter dem Pro-gramm für Internationale militärische Ausbildung und Training (International Military Edu-cation and Training IMET)125 erhalten sollte, gleichwohl führte das Pentagon seine Unterstüt-zung unter der Bezeichung Iron Balance bis zum Frühjahr 1998 am Kongreß vorbei fort.126

Im Rahmen des geheimen Programms wurden auch die berüchtigten Kopassus-Einheiten instädtischer Guerillakriegsführung, Scharfschießen, psychologischer Kriegführung und Über-wachung geschult. Die Waffenhilfe wurde bis ins Jahr 1999, teilweise ebenfalls am Kongressvorbei, unverändert fortgesetzt.127 Doch nicht nur die USA, auch Großbritannien unterstütztetrotz der von Außenminister Robin Cook propagierten neuen, an der Einhaltung der Men-

125 IMET wird gemeinschaftlich getragen vom Verteidigungsministerium, dem Aussenministerium und ein-zelnen militärischen Einheiten, wie dem Army Training and Doctrine Command (TRADOC)

(Richardson, J.J., Strange Bedfellows: US Aid to Indonesia. 26.6.1999, S. 3. in: http://motherjones.com/east_timor/features/usaid.html).

126 Das Bestehen des Programms wurde im März 1998 aufgedeckt. Nach scharfen Reaktionen aus dem Kon-gress ließ im Mai 1998 das Pentagon verlauten, daß es bis auf weiteres ausgesetzt sei (Richardson 1999a.a.O. (Anm. 125), S. 4; Vulliamy/Barnett „US trained the butchers of Timor“. London Obeser-ver/Guardian 19.9.1999 1999, S. 2 in: http://www.lbbs.org/CrisesCurEvts/Timor/ustrained.htm; Back-ground on East Timor and U.S. Policy (http://www.etan.org/timor/BkgMnu.htm).

127 Im April 1999 wurde dem Oberkommandierenden der US-Pazifikflotte Admiral Dennis Blair der Auftraggegeben, den indonesischen Streitkräften die US-amerikanische Position in bezug auf die offene Ausbil-dung und Bewaffnung von Milizen auf Ost-Timor zu übermitteln. Auf einem Treffen mit dem Chef der in-donesischen Streitkräfte Wiranto hat er jedoch, so der amerikanische Militärattaché in Jakarta Oberst Jo-seph Daves in einem Telegramm, „told the armed forces chief that he looks forward to the time when [thearmy will] resume its proper role as a leader in the region. [...] He expects that approval will be granted tosend a small team to provide technical assistance to police and [...] selected TNI personnel on crowdcontrol measures“ (Joseph Daves zitiert nach Allan Nairn, US Complicity in Timor. http://www.thenation.com/issue/990927/0927nairn.shtml). Indonesische Offiziere deuteten die Unterredung, so AllanNairn, als grünes Licht zur Fortführung der Milizoperationen.

50

schenrechte orientierten Außenpolitik (ethical foreign policy) bis ins Jahr 1999 unverändertdie indonesischen Streitkräfte mit militärischer Ausbildung und Waffen. Schon seit Jahr-zehnten sind die indonesischen Steitkräfte mit britischen Hawk-Kampfflugzeugen ausgerüs-tet. Im November 1996 wurde die Lieferung von 16 neuen Kampfjets von der konservativenRegierung genehmigt. Die ersten zwei davon wurden im April 1999, drei weitere noch imSeptember 1999, d.h. nach der Katastrophe in Osttimor, ausgeliefert. Weitere Ausrüstungsge-genstände, die in den letzten Jahren nach Jakarta geliefert wurden, umfassen leichte Panzerund Wasserwerfer.128 Trotz parlamentarischer Anfragen im Zusammenhang mit den Massen-demonstrationen und brutalen anti-chinesischen Ausschreitungen im Mai 1998 hielt die briti-sche Regierung daran fest, daß die Fortsetzung der Waffenlieferungen an Indonesien nicht imWiderspruch zur neu formulierten und mit großer Fanfare verkündeten ethischen Außenpoli-tik stehe.129 Das erst im September 1999 verhängte Waffenembargo der EU währte nicht lan-ge. Schon im Januar 2000 – während auf den Molukken Hunderte ums Leben kamen, wäh-rend der Kampf zwischen der GAM und den indonesischen Sicherheitskräften auf Aceh eska-lierte – sah John Battle, ein führender britischer Ministerialbeamter, ganz korrekt voraus, daßdas EU-Embargo keine Chancen auf Verlängerung habe. Er stellt fest:

„East Timor has been positively sorted out and there is not, I don't think, the will toextend the embargo. [...] What we believe is that we need now to be underpinning ra-ther than undermining Indonesia at this important time: helping build Indonesia's y-oung democracy...We want to develop relations with President Wahid's governmentthat addresses human rights, and promotes trade and commerce [...] .“130

Ende Januar 2000 konnten die Waffenlieferungen nach Jakarta wieder aufgenommen werden,ihnen stand kein Embargo mehr entgegen, wenige Tage später nahmen die USA Teile ihresTrainingsprogrammes für indonesische Offiziere wieder auf.

3.4 Die Dynamik der Gewalt in den letzten Jahren

Die bisherige Analyse konzentrierte sich auf die historische Genese der Gewalt und die lang-fristig wirksamen kollektiven Rahmungen, die Gewaltanwendung denk- und damit auchpraktizierbar machen. Mit dem kognitiven Muster des inneren Kolonialismus, der Traditionder Gewalt und ihrer Habitualisierung als normale gesellschaftlich-politische Praxis bis hinzur Stabilisierung und Bestätigung von Kognition und Praxis durch das politische Handelnder führenden Weltmächte konnten zentrale gewaltfördernde und langfristig stabile Rahmun-gen herausgearbeitet werden. Nun gilt es noch einmal auf die anfänglich aufgeworfene Fragenach der dramatischen Zunahme der Gewalt ausgerechnet im Moment des Zusammenbruchs

128 Siehe hierzu: Vulliamy/Barnett 1999 a.a.O. (Anm. 126), S. 2-3; Hugo Young, Stop selling UK arms to thecruellest regimes on earth, in: The Guardian 9.9.1999 http://www.newsunlimited.co.uk/indonesia/Story/0,2763,80656,00.html); The International Arms Trade to Indonesia, in: The Guardian 9.9.1999(http://www.newsunlimited.co.uk/indonesia/Story/0,2763,80705,00.html).

129 Brian Brady, Minister Rules out Arms Export Ban on Indonesia, 14.5.1998 in: http://www.cdi.org/armstradedatabase.

130 John Battle zitiert nach: EU unlikely to renew RI arms embargo: British minister. in: The Jakarta Post.com15.1.2000, siehe auch: John Aglionby, UK minister defends arms sales to Indonesia, News Unlimited in:http://www.newsunlimited.co.uk/indonesia/Story/0,2763,124121,00.html).

51

der autoritären Ordnung und der Hinwendung zur Demokratie zurückzukommen. Die Frage,warum viele Menschen gerade jetzt bereit scheinen, für ihr „falsches Bewußtsein“ Gewaltanzuwenden, aber auch zu erleiden, ist mit der Analyse der langfristig wirksamen zentralenBausteine der gesellschaftlichen und politischen Kultur nur zum Teil beantwortet. Not tut eineAntwort, die die sozialpsychologische Konstellation der letzten Jahre mit der inneren Logikkollektiver Gewaltprozesse verknüpft.

Ausgangspunkt für die Exzesse der Gewalt der letzten Jahre war, wie anfänglich schon ange-merkt, daß die Bevölkerung Indonesiens in den letzten Jahren gleich in zweifacher Hinsichteine vollständige Verunsicherung erfuhr. Zum einen driftete Indonesien spätestens seit 1996für alle sichtbar in eine politische Krise – das Regime Suharto neigte sich seinem Ende zu,ohne daß auch nur in Ansätzen absehbar gewesen wäre, wie der Herrschaftswechsel in gere-gelten Bahnen ablaufen könnte. Die von einzelnen Demonstrationen und kleineren Gewalt-ausbrüchen begleitete, zwar verunsichernde, doch noch nicht allzu dramatische Diskussionüber die Ablösung des Herrschers und die Optionen des Übergangs wurde im Herbst 1998durch den plötzlichen Zusammenbruch der indonesischen Wirtschaft in der Asienkrise in ih-rer Natur vollständig verwandelt – alle sicher geglaubten Gewißheiten waren mit einemSchlag hinweggespült. Das in den letzten Jahrzehnten immer gewisser werdende Gefühl, daßEntwicklung und Modernisierung nur eine Frage der Zeit sind, erwies sich mit einem Schlagals Illusion. Das kollektive Selbstbild des „aufstrebenden Tigers“ und der Glaube an die Ver-heißungen einer besseren Zukunft fielen wie ein Kartenhaus in sich zusammen, ohne daß sicheine genügende Erklärung finden ließ. Das Schicksal schien zugeschlagen zu haben, und jederEinzelne wie auch das Kollektiv fanden sich in vollständiger Ohnmacht wieder. Dies wirdauch symbolisiert durch die Erniedrigung des bis dato omnipotenten Suharto, der unter demscharfen Auge des neuen Herrn Camdessus den Unterwerfungsvertrag unterzeichnen mußte,mit dem Indonesien im Gegenzug gegen IWF-Kredite die vielfältigen damit verknüpften Be-dingungen umzusetzen versprach, obgleich diese die nationale Souveränität in Teilbereichender Politik zu Makulatur machen. Damit waren Suhartos Schicksal und das seines Regimesbesiegelt.

Diese weitestgehende Aushöhlung der Macht und symbolische Erniedrigung Suhartos ver-stärkten die politische Unsicherheit, fehlte doch in Indonesien ein Vorbild für einen geregel-ten Amtswechsel. Das Prinzip der Nachfolge im Sinne eines Austausches des politischen Per-sonals bei gleichzeitigem Fortbestand der Institutionen ist weder traditional indigen verankert,noch finden sich in der modernen Geschichte Indonesiens Vorläufer.131 Regimewechsel, solehrt die moderne Geschichte Indonesiens, waren eminent gewaltsame Unternehmungen, beidenen das ganze Land aufgewühlt wurde und Tausende von Menschen ums Leben kamen.Zeiten des Umbruchs – die Revolution von 1945/46 ebenso wie die Krise im Gefolge derWahlen von 1955 oder aber die Jahre vor dem Putsch von 1965 – erwiesen sich bislang alsZeiten der Massenmobilisation und –agitation, als Zeiten politischer Morde und bewaffneterKämpfe zwischen Hunderten von autonom agierenden Gruppierungen. Zeiten des Umbruchs

131 Suksesi (succession) ist, wie Benedict Anderson bemerkt, ein westliches Wort, für das kein javanischesÄquivalent existiert (Anderson a.a.O. (Anm. 97)). Anderson betont, daß ein neuer König auf der Basis vonBlutverwandtschaft oder aber durch Gewalt an die Macht kommt und in der javanischen Geschichte keinKönig jemals freiwillig die Macht abgegeben und als König zurückgetreten sei (lengser keprabon). Durch-gängig habe der Machtwechsel Zwang beinhaltet, nicht selten vielfachen Mord.

52

waren Zeiten der Angst, Zeiten, in denen jegliche Sicherheit, auch die am Leben zu bleiben,verloren gegangen war.

In diesen Zeiten halten sich die Menschen an dem fest, was ihnen ein Höchstmaß an Sicher-heit verspricht. Ethnische, religiöse und andere primordiale Identitäten,132 die in Phasen derStabilität, der Ruhe und Ordnung kaum noch von Bedeutung erschienen, spielten sie doch imalltäglichen Austausch mit den Nachbarn einer anderen Ethnie, eines anderen Glaubens kei-nerlei sichtbare Rolle mehr, werden wieder zu zentralen Kategorien der Identitätsbildung. Dievollständige Politisierung der Gesellschaft und die von politischen Aktivisten aller Couleurerzwungene Parteinahme zugunsten einer der konkurrierenden Gruppen erwirkten eine Ver-änderung der Wahrnehmung der politischen Auseinandersetzung. Selbst da, wo Politik früherals die Suche nach tragbaren Kompromissen gesehen werden konnte, verwandelt sie sich zu-nehmend in ein Nullsummenspiel, in dem jedes Nachgeben nicht allein eine Verschlechterungder eigenen Position bedeutet, sondern als erster Schritt hin zur eigenen Vernichtung begrif-fen werden kann. Differenzierte, einzelfallorientierte und erfahrungsgesättigte Urteile werdenzunehmend überlagert von fundamentalen Kategorisierungen nach dem Freund-Feind Sche-ma.

Alldurchdringend in einer derartigen Situation ist die Angst. Die Angst des Soldaten in Acehvor dem unbekannten Feind, der ihn immer und überall anspringen, verletzen oder sogar tötenkann, die Angst des einfachen Bürgers vor dem willkürlichen Terror der Sicherheitskräfte, vorfalschen Bewegungen, die bei verängstigten Soldaten den Reflex des Schiessens auslösenkönnten, die Angst vor der Gewalt der Guerilla, die auch die eigene Bevölkerung nichtschont, die Angst der Christen und Muslime auf Ambon vor dem Unbekannten, vor demGrauen brennender Häuser und abgeschlagener Köpfe, die Angst davor immer und überallOpfer werden zu können, der Verlust eines jeden Ortes, der (zumindest relative) Sicherheitversprach.

Auf die Bedeutung, die die Angst, Opfer zu werden, für die Bereitschaft spielt, selbst Gewaltanzuwenden, weist Sundhausen am Beispiel eines Scharfschützen hin. Unter bezug auf Ju-goslawien betont er: „Die systematisch geschürte Genozid-Angst erzeugt schließlich eine Ge-nozid-Mentalität, in der sich Erlösung, Befreiung und Beglückung begegnen.“133

Elias Canetti hebt hervor, daß die Bildung der kriegerischen Masse darauf aufbaut, daß sichjedes einzelne Mitglied einer Gruppe wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe für be-droht hält.

„Die Bedrohung besteht darin, daß jemand sich ein Recht zubilligt, einen zu töten. Je-der einzelne auf der eigenen Seite steht unter derselben Drohung: sie macht alle gleich[...] . Tausend Leute, von denen jedem einzeln, aber im selben Augenblick gesagt

132 Ausdrücklich gilt es anzumerken, daß mit dem Begriff der primordialen Identitäten kein Anspruch auf einewie auch immer geartete Naturgegebenheit derartig gefaßter Identitäten verbunden ist. Zum Ausdruck ge-bracht wird damit lediglich die beobachtbare Tatsache, daß sich Menschen in extremen Krisensituationenauf derartige Identitäten zurückziehen, wohingegen andere, die evtl. im alltäglichen Dasein von weitausgrößerer Bedeutung waren, kaum noch aktualisiert werden. In diesem Sinn handelt es sich um tieferliegen-de Identitäten, die auch dann noch bzw. gerade wieder greifen, wenn andere Identitäten ihre wahrneh-mungs- und handlungsleitende Funktion längst eingebüßt haben.

133 Holm Sundhausen, Ethnonationalismus in Aktion: Bemerkungen zum Ende Jugoslawiens, in: Geschichteund Gesellschaft 20. Jg., Heft 3, Juli-Sept. 1994, S. 419.

53

worden ist: ›Du sollst sterben‹, tun sich zusammen, um die Todesgefahr abzuwenden.[...] Sobald sie sich einmal konstituiert haben, ist die oberste Absicht jeder dieser Mas-sen, sich als Gesinnung und Aktion zu erhalten. [...] Ihr Todableiter ist der Feind, undalles, was sie zu tun haben, ist, ihm zuvorzukommen.“134

In einem kognitiv derartig strukturierten politischen Raum bedarf es nur noch eines Funkens,um einen kaum mehr begrenzbaren Steppenbrand der Gewalt zu entfachen. Dieser Funkekann zufälliger Natur sein, der Brand aber auch „gezielt“ gezündet werden. Für letzteresspricht, daß Gewalt zunächst von kleinen Gruppen angewandt wird. Diese Initial-Gewalt fun-giert vor allem als Kommunikationsmittel, durch das die alltäglichen Wirklichkeitsdeutungenverunsichert und neue, konfliktförmige an ihre Stelle gesetzt werden. Sie zielt also nicht aufdie Inhaltsebene der Politik, sondern auf die Destabilisierung ihrer kognitiven Strukturierung.Die einmal entfachte Gewalt folgt dann ihrer eigenen Logik, sie gebiert sich beständig neu, isttotal, nicht mehr instrumentell. Die eskalierende Gewalt ist kaum aus rationalen Ursachenabzuleiten, denn der „Schlüssel zur Gewalt ist in den Formen der Gewalt selbst zu finden“.135

In der Angst vor der Gewalt baut sich in jedem Einzelnen ein immer stärkeres Spannungspo-tential auf, das, wenn es unerträglich zu werden droht, zur Entladung drängt, ein Prozeß, derim Kollektiv erlebt, zu einem Gefühl der Erleichterung führt. Es ist die kollektive Entladung,in der erst die Masse, ein Geschöpf mit einer eigenständigen Logik, entsteht. In der Entladungaber liegt der Keim zum Zerfall der Masse, zur Rückkehr in die jeweils eigene, individuelleAngst. Deshalb muß die Masse den Prozeß der Entladung immer neu initiieren. „Nur der Zu-wachs der Masse hindert die ihr Angehörigen daran, unter ihre privaten Lasten zurückzukrie-chen.“136

Die Gewaltwelle in Ambon im Jahr 1999 und ihre Ausweitung auf die Nord-Molukken umdie Jahreswende 1999/2000 sind wie auch die früheren Gewaltexzesse im Zusammenhang mitder Einführung des DOM-Status in Aceh im Jahr 1989 oder auch die mörderische Politik derindonesischen Streitkräfte im Gefolge der Invasion Osttimors im Jahr 1975 weniger durchrationale Kosten-Nutzen-Analysen der Gewalt zu verstehen, als vielmehr durch einen genauenBlick auf die Gewaltdynamiken selbst.

So läßt sich die Dauerhaftigkeit der Gewalt auf den Molukken im Vergleich zur episodischenGewalt gegen die chinesische Minderheit gerade aus den inneren Dynamiken der Gewaltplausibel erklären. Hierzu ist ein weiterer Blick auf Canettis Massenanalyse von Nutzen. Inbeiden Fällen handelt es sich um Gewaltphänomene, die von offenen Massen ausgehen, d.h.von Massen, die zur Selbsterhaltung der beständigen Erneuerung bedürfen. In beiden Fällenhandelt es sich um Hetzmassen. Diese bilden sich, um zu zerstören und zu töten. Die Hetz-masse „ist aufs Töten aus, und sie weiß, wen sie töten will. Mit einer Entschlossenheit ohne-gleichen geht sie auf dieses Ziel los; es ist unmöglich, sie darum zu betrügen. Es genügt, die-ses Ziel bekanntzugeben, es genügt zu verbreiten, wer umkommen soll, damit eine Masse sichbildet.“137

134 Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt am Main (Fischer), 1980, S. 82f.

135 Von Trotha. a.a.O. (Anm.8), S. 20.

136 Canetti a.a.O. (Anm. 134), S. 18.

137 Canetti a.a.O. (Anm. 134), S. 54.

54

Im Fall der anti-chinesischen Pogrome fehlt der Masse jedoch die Möglichkeit des dauerhaf-ten Selbsterhalts. Sie ermüdet in der Entladung – die Pogrome laufen in Tagen aus. Ganz an-ders ist dies im Fall der Gewaltexzesse auf den Molukken. Dort hat sich im CanettischenSprachgebrauch eine Doppelmasse entwickelt, d.h. es stehen sich zwei, aufeinander bezogeneMassen gegenüber, die sich gegenseitig am Leben halten. Beide wollen dem Tod zuvorkom-men.138

Eine „Binnenperspektive“ ermöglicht es, die Gewaltanwendung und deren Eskalation inMord, Folter und Massaker nicht nur instrumentell, sondern auch psychologisch aus der Per-spektive der Täter als eine existentielle sinnliche Erfahrung zu verstehen. Darüber hinauskann man sich damit auch der Wirkungsweise der Gewalt als erinnerungsmächtiger Wirklich-keit, als einer erinnerten kollektiven, aber auch individuellen Identität annähern. Aus der Er-innerung wie aus der Imagination der Gewalt gebiert sich neue Gewalt.

„Das Massaker [...] ist reine Gewalt – nichts sonst. Von Anbeginn hat die Aktion keinZiel jenseits ihrer selbst. Zwar können die Befehlshaber mit einem Gemetzel irgend-welche Zwecke verfolgen. Sie lassen Menschen in großer Zahl töten, um andere Men-schen in Angst und Schrecken zu versetzen und ihrem Regime unangreifbare Geltungzu verschaffen. [...] Massaker eignen sich als Instrument der Ordnungsmacht, aber e-benso statuieren sie ein Exempel für die Macht der Revolte, des Aufstands, für dieneue Freiheit. [...] Und dennoch, was immer als Zweck vorgegeben oder zugeschrie-ben wird, für den Gewaltverlauf sind derlei Ziele und Funktionen selten von Bedeu-tung. [...] Die Gleichförmigkeit der Massaker beruht nicht auf der Identität der Zwe-cke, sondern auf der universalen Dynamik absoluter Gewalt. [...] Der kollektive Akti-onsexzeß löst sich von politischen oder sozialen Intentionen ab. [...] Auch das Gemet-zel ist reine Praxis. Daher der innere Zwang zur Erfindung immer neuer Grausamkei-ten. Der rasche Tod würde das Massaker schlagartig beenden. In der Quälerei undVergewaltigung jedoch, im Martern und Verbrennen dehnt sich die Gewaltzeit aus.[...] Die Kreativität der menschlichen Bestialität ist aller Fesseln ledig. [...] die Praxisdes Massakers folgt einer Gewaltökonomie der Verausgabung. Ihre Ziele sind nichtSieg und Macht, sondern das Blutfest, das Feuerwerk der Explosion. [...]

Das Blutfest verschafft den Tätern eine neue gemeinsame Identität. Indem jeder so istwie der andere, ist er nicht mehr der, der er war. [...] Denn das Massaker ist jene wie-derkehrende Form der Gewalt, in welcher die Menschen all ihre Destruktivkräfte ent-fesseln dürfen, um für kurze Zeit den langersehnten utopischen Zustand zu verwirkli-chen, den Zustand absoluter Freiheit und Gleichheit, Einheit und Ganzheit.“139

In Zeiten des Erzitterns (kegelisahan), in denen die traditionelle Ordnung aus der Bahn gera-ten ist und in denen die üblichen Verfahrensweisen ihre Selbstverständlichkeit verloren ha-ben, fällt der Einzelne auf traditionelle Identitäten zurück, die ihm Sicherheit und Beistand zugarantieren scheinen. Dies sind dann Religion und Ethnie, bzw. Ethnonationalismus. An ihrenGrenzen entlang verlaufen die Exzesse der Gewalt. Die Gewalt wiederum prägt die Menschen– Opfer wie Täter – und Gesellschaften auf lange Jahrzehnte. Nicht nur die direkt von derGewalt Betroffenen sind gezeichnet, sondern alle Mitglieder dieser Gesellschaften, in denenzeitweise das ganz alltägliche Leben zum Schlachtfeld wurde. Die solchermaßen geformte

138 Canetti a.a.O. (Anm. 134), S. 84.

139 Sofsky a.a.O. (Anm. 8), S. 177-190.

55

Kultur der Gewalt140 wirkt über lange Zeiten fort. Spuren der Gewalt werden von den Men-schen noch über Jahre und Jahrzehnte weitergetragen, auch wenn die scheinbaren Ursachender Gewalt längst überwunden zu sein scheinen: „violence [...] cast ripples that reconfigurethe lives of both the peretrators and victims in dramatic ways.“141 Deshalb kann die Gewaltauch nach Jahren des Friedens wiederkehren.

4. Abschließende Betrachtungen

Anders als in Thailand und den Philippinen steht in Indonesien die Frage der kollektiven I-dentität immer noch auf der Tagesordnung. In der jahrzehntelangen Phase der Repressionunter Suharto war für alle sozialen Organisationen – und d.h. auch alle politischen und religi-ösen Organisationen – die Pancasila-Ideologie verbindlich.142 Mit dem Zusammenbruch derNeuen Ordnung Suhartos stellt sich nun, unter den Bedingungen einer nur begrenzt hand-lungsfähigen Zentralregierung, die Frage nach der Identität der eigenen Gruppe, aber auch despolitischen und sozialen Gemeinwesens in aller Schärfe. Die unterschiedlichen vorgebrachtenIdentitätskonstruktionen implizieren notwendigerweise verschiedene politische und ökonomi-sche Ordnungsmuster. Die allenthalben hervorbrechenden und zum Teil auch gewaltsam aus-getragenen Identitätskämpfe sind untrennbar mit Kämpfen um politische und ökonomischeMacht und um die gesellschaftliche Ordnung verknüpft. Die komplexen Überlagerungen es-sentiell transnationaler (z.B. religiöser) und subnationaler (insbesondere ethnischer) Identitä-ten, die Unklarheit darüber, inwieweit kulturelle (ethnisch, bzw. religiös begründete), ökono-mische und politische Identitäten unabhängig voneinander gedacht und gelebt werden kön-nen, der immer noch weitgehend unbestimmte Inhalt der indonesischen im Unterschied zurjavanischen Identität sind in Indonesien weder unter Sukarno noch in den Jahrzehnten derSuharto-Diktatur inhaltlich angegangen worden. Es wurden auch keine praktikable Regeln fürdie Auseinandersetzung um die Identitäten selbst und ihr Verhältnis zueinander erarbeitet.Das Suharto-Regime reagierte, schärfer noch als sein Vorgänger, mit einer oktroyierten Ord-nung, der sich alle gesellschaftlichen Gruppen unterwerfen mußten – unbeschadet ihrer dra-matisch unterschiedlichen normativen und kognitiven Strukturierungen des sozialen Raumes.Zwar hat Sukarno 1945 und in den Jahren danach mit den Panca Sila versucht, für die indo-nesische Nation normative Fundamente zu errichten, doch verloren diese in den letzten Jahr-zehnten, gerade weil sie zur allgemein verbindlichen Staatsdoktrin und zur legitimatorischenGrundlage einer Diktatur mutierten, ihre normative Kraft. Der offizielle Leitgedanke des in-donesischen politischen Systems „Einheit in der Verschiedenheit“ (Bhinneka Tunggal Ika)war schon unter Sukarno zunehmend in Richtung auf den Einheitsgedanken ausgelegt wor-den. Wenn die Neue Ordnung (Ordre Baru) Suhartos in vielfältiger Hinsicht wegen ihrer Ent-

140 Zum Konzept der Kultur der Gewalt siehe z.B. die vielfältigen Beiträge in Kumar Rupesinghe/MarcialRubio C. (Hg.), The Culture of Violence, Tokyo/New York/Paris (United Nations University), 1994.

141 Carolyn Nordstrom, Warzones: Cultures of Violence, Militarisation and Peace, The Australian NationalUniversity Research School of Pacific Studies Peace Research Centre, Working Paper, Nr. 145, Februar1994, S. 12.

142 Diese Bestimmung wurde im November 1998 wieder abgeschafft. Damit bleibt die Pancasila zwar weiter-hin die normative Grundlage des Staatswesens, doch werden gesellschaftliche Organisationen nicht mehrauf ihre Unterstützung verpflichtet.

56

politisierung der Politik als „modernization theory made flesh“143 charakterisiert werdenkann, dann läßt sich die gegenwärtige Unordnung als Suche nach einer Neubestimmung derindonesischen Identität begreifen. Zentrale, in den frühen Jahren der Republik ungelöste Fra-gen, die heute erneut auf den Nägeln brennen, sind die nach dem Verhältnis zwischen zentra-ler und regionaler Politik und damit zusammenhängend die nach der normativen Reichweitedes Zentralstaats.

Bislang war Identitätspolitik in Indonesien immer ein javanisch dominiertes Projekt „von O-ben“, das die anderen indonesischen Völker in einen vorgedachten Rahmen einzubindenstrebte. Zentral wird sein, ob dieses Projekt so umgedeutet werden kann, daß es seine neo-koloniale und neo-imperiale Attitüde verliert. Hierbei ist ein wichtiger erster Schritt, daß Teileder politischen Elite in letzter Zeit bedeutend vorurteilsfreier über mögliche föderative Alter-nativen zum unitären Staat nachdenken und sich nach großen Anlaufschwierigkeiten aucheine Umsetzung der Autonomieregelungen abzeichnet. Doch muß auch die zentrale Frage derIntegration der derzeit nach Autonomie bzw. Unabhängigkeit strebenden Teile Indonesiensangegangen werden, da ansonsten erfolgreiche Autonomieregelungen den Keim zu einemwachsenden normativen Bedeutungsverlust der nationalen Politikebene in sich tragen. Ein„wertloser“ nationaler Bezugsrahmen kann keine Grundlage für eine „wertvolle“ Identitätbilden – sehr schnell würde seine Existenzberechtigung in Frage gestellt. In diesem Zusam-menhang wiegt es besonders schwer, daß es in über fünf Jahrzehnten der Republik immernoch nicht gelungen ist, die Frage des politischen Status des Islam einer Lösung wesentlichnäher zu bringen. Zwar ist keine Mehrheit für einen islamischen Staat in Sicht, doch wider-spricht dies nicht einer zunehmenden Islamisierung von Staat und Gesellschaft. Damit tauchtjedoch das Gespenst einer nun nicht mehr javanischen, sondern islamischen hegemonialenIdentität und deren Bereitschaft zu Toleranz gegenüber Andersgläubigen auf.

Zentral für die Zukunft Indonesiens ist nicht so sehr die derzeit dramatische (sezessionisti-sche) Gewaltentwicklung in Aceh, als vielmehr, ob und wie die vielfältigen Formen kommu-nalistischer Gewalt in Regionen eingehegt werden können, in denen bislang keinerlei ernstzu-nehmende Unabhängigkeitsbestrebungen laut geworden sind. Die Eskalation der Gewalt aufAceh ist, bei klugem politischem Konfliktmanagement, ein Übergangsphänomen. Um dieMehrheit der lokalen Bevölkerung für den Verbleib Acehs in Indonesien zu gewinnen, sindweitreichende ökonomische, politisch-administrative und kulturelle Autonomieregelungendurch Jakarta notwendig. Dies kann und muß unter Einbindung der traditionalen Eliten, ins-besondere der muslimischen religiösen Lehrer (Pesantren Ulema), und der gemäßigten Intel-lektuellen geschehen. Beide Gruppen hat der neue Präsident Wahid bislang ziemlich erfolg-reich zwar noch nicht auf, doch zumindest in die Nähe seiner Seite gezogen. Für die wichti-gen Meinungsführer in Aceh, wie auch für die politische Elite in Jakarta muß sich in der Ent-wicklung des Diskurses erweisen, daß die bisherige Nullsummenlogik des Konflikts zuguns-ten einer Win-win-Konstellation überwunden werden kann. Hierzu muß Jakarta freilich plau-sibel machen, daß die neuen Konzepte politischer Integration Acehs in Indonesien für beideSeiten größere Gewinne mit sich bringen als eine Sezession. Jede Annäherung der gemäßig-ten politischen Lager in Aceh untergräbt die Stellung der Befreiungsbewegung GAM. DieGAM und andere Propagandisten einer radikalen Lösung werden dadurch zunehmend isoliert– worauf sie erwartungsgemäß mit einer Verschärfung und Ausweitung des bewaffneten

143 Patrick Smith, What Does it Mean to be Modern? Indonesia's Reformasi, in: The Washington Quarterly,Bd. 22, Nr. 4, August 1999, S. 47-64, Zitat: S. 51.

57

Kampfes reagieren. Die Verschärfung des bewaffneten Kampfes ist somit als Symptom derSchwäche zu interpretieren. Mit jeder Annäherung zwischen den gemäßigten Führern und dernationalen Elite in Jakarta sinken die Optionen der GAM. In Anbetracht der dramatisch wach-senden Zahl der Toten, die inzwischen auch die Sicherheitskräfte zu verzeichnen haben, mußPräsident Wahid daran gelegen sein, die staatlichen Sicherheitskräfte soweit unter Kontrollezu bekommen, daß diese nicht mit gewalttätigen Reaktionen gegenüber der unbeteiligten Be-völkerung an der Wurzel das zarte Pflänzchen des Vertrauens schädigen, das auf der Ebeneder politisch-religiösen Eliten zaghaft erste Blüten zeigt. Der Politik muß es gelingen, einebreitestmöglich angelegte und in Anbetracht der noch zu erwartenden Gewalt robuste Koaliti-on der gemäßigten Kräfte zu errichten. Der Westen sollte bewußt die Kräfte zu unterstützen,die für eine gemäßigte Islamisierung der öffentlichen Ordnung in Aceh eintreten.

Die staatliche Bereitschaft zur Gewaltsamkeit und die Habitualisierung einer gewaltförmigenPolitik wurden durch die Unterstützung, die die Diktatur in der Auseinandersetzung mit ihrenGegnern durch die großen westlichen Demokratien erfahren hat, immens befördert. Diemächtigsten Staaten der Welt beteiligten sich aus opportunistischen strategischen und ökono-mischen Gründen mit finanzieller und personeller Unterstützung aktiv am Aufbau der militä-rischen Organisation, die dann die zivile, von der Großmacht jedoch nicht geliebte Regierungstürzte. Sie unterstützten über Jahrzehnte aktiv eine Militärdiktatur und tolerierten jede Formund jedes Ausmaß staatlicher Gewalt. Sie lieferten den Streitkräften die zur Bekämpfung in-nerer Feinde notwendigen Waffen, bildeten sie für den Kampf gegen jede Form innerer Op-position aus und erstellten sogar selbst Listen unerwünschter und damit zu eliminierenderPersonen. So ist es kaum verwunderlich, daß die dergestalt immer wieder in ihrem Macht-und Herrschaftsanspruch bestätigte politisch-militärische Elite (und sei es allein aus opportu-nistischen Gründen) die Reduzierung der Gewaltanwendung und die allmähliche Demokrati-sierung des politischen Systems bis in die jüngste Vergangheit nicht für notwendig gehaltenhat. Wie schon beim Sturz von Ferdinand Marcos in den Philippinen agierte die westlicheStaatengemeinschaft auch in Indonesien bis zuletzt als Stabilisator des autoritären Regimes.Erst in der letzten Stunde der Diktatoren, 1986 auf den Philippinen bzw. 1998 in Indonesien,wechselte man aus opportunistischen Gründen die Seite.

Das Gegenstück zum Opportunismus ist freilich nicht moralischer Rigorismus. Dieser kann,wie der Fall Osttimor illustriert, in die Katastrophe führen, wenn, unter Berufung auf den ü-berragenden moralischen Imperativ der freien Selbstbestimmung der Völker eine einmal ein-geschlagene Politik auch dann noch weiter verfolgt wird, wenn allen klar sein muß, daß diekonstitutiven Bedingungen der Freiheit noch nicht einmal in rudimentärer Form gegeben sind.Der Fall Osttimor ist ein Paradebeispiel für eine „Chronik eines angekündigten Todes“, in derjeder kommen sehen konnte, was kommen würde, es aber keiner kommen sehen wollte undim Nachhinein alle jegliche Mitverantwortung leugnen. Als Lehre sollte aus dieser lokalenKatastrophe zumindest gezogen werden, daß man sich der Grenzen der Demokratisierungsfä-higkeit einer dramatisch zerrissenen Gesellschaft bewußt bleiben muß. Die hastige Einfüh-rung demokratischer Verfahrensweisen in einer Gesellschaft, die immer wieder dramatischeRückfälle in gewaltförmige Konfliktbearbeitung erfährt, trägt nicht unbedingt zur Befriedungbei, solange die formalen Strukturen nicht durch ein einigendes normatives und kognitivesBand, durch eine „demokratische politische Kultur“ unterfüttert werden. Kultureller Wandelaber ist ein langsamer Prozeß, er braucht allgemein akzeptierte Wegmarken, an die ange-knüpft werden kann. Um diese Bausteine für eine Demokratisierung der Politik zu finden, giltes zuvorderst, unter den traditionellen Mechanismen politischer Artikulation und Partizipation

58

zu suchen, auch wenn so formal nicht demokratisch scheinen mögen. Der Westen kann hieraktiv kaum behilflich sein, doch sollte er entsprechende Versuche unterstützen und nicht mitDemokratie-Rhetorik kritisieren. Traditionalistische, staatlich vermittelte Friedensrituale zwi-schen kämpfenden ethnischen und religiösen Gruppierungen, lokale Praktiken der Aussöh-nung nach kommunalistischer Gewalt gilt es ebenso zu unterstützen wie Versuche, die islami-schen Rechtsgelehrten als normative Führer einer Gemeinde in den politischen Prozeß einzu-binden und an politischen Entscheidungen partizipieren zu lassen, wie dies zumindest in An-sätzen von Präsident Wahid im Falle Acehs versucht wird.

Beachtet werden muß des weiteren, daß die konkurrierenden Rezepte der intellektuellenWortführer in Jakarta nicht unbedingt die Realität in den vielfältigen Regionen des Landesspiegeln. Gerade in der Konkurrenz der Intellektuellen, die die Verschiedenheit der eigenenund fremden Identitäten deutlicher und gegensätzlicher artikulieren (können) als die Masseder Bevölkerung, steckt eine eigene Gefahr der Eskalation und Verschärfung latenter Unter-schiede. Wie Hanf zurecht hervorhebt, mobilisieren die intellektuellen Eliten nicht selten ihrepotenziellen Unterstützergruppen, ohne gleichzeitig durch Rekurs auf ein gemeinsames über-geordnetes Verständnis der Regeln legitimen Konfliktaustrags integrierend zu wirken.144

Auch hier kann ein Rekurs auf Traditionen des Konfliktmanagements einer Deeskalation för-derlicher sein als der Versuch, der Mobilisation durch kulturell nicht unterfütterte demokrati-sche Strukturen die Spitze zu nehmen.

Darüber hinaus wäre der Westen gut beraten, wenn er die eigenen Profite diktatorischer Un-terdrückung in Indonesien offenlegte. Immerhin wurde Aceh, wie auch West Papua, nur zueinem Teil direkt von der indonesischen Metropole ausgebeutet, einen zumindest gleich gro-ßen Anteil an der Ausbeutung und einen nicht unbeträchtlichen Anteil an den praktiziertenMenschenrechtsverletzungen tragen internationale Konzerne, denen im Gegenzug gegengroßzügige Alimentation der politisch-militärischen Elite vor Ort und in Jakarta umfassendeAusbeutungsrechte zugestanden wurden. In Anbetracht der jahrzehntelangen Auseinander-setzungen um die Praktiken von Mobil Oil in Aceh und Freeport in West Papua muß das ger-ne vorgebrachte Argument, wonach es sich um international gültige Verträge handele, dieauch von einer neuen, nun demokratisch legitimierten Regierung einzuhalten seien, besten-falls als legalistische Ausflucht charakterisiert werden. Eine solche opportunistisch motivierteHaltung ist weder dazu angetan, die Chancen auf kooperative Konfliktlösungen zu maximie-ren, noch die Glaubwürdigkeit der westlichen Demokratien zu erhöhen.

144 Hanf a.a.O. (Anm.10), S. 136.