Politische Studien Nr. 385 Die Ästhetische Bildung

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53. Jahrgang • September/Oktober 2002 • ISSN 0032-3462 POLITISCHE STUDIEN Atwerb-Verlag KG Hans-Georg Wieck Politische Studien-Zeitgespräch zu notwendigen Schlussfolgerungen und Konsequenzen aus den Anschlägen vom 11. September Dieter Blumenwitz Mit den Benes ˇ -Dekreten nach Europa? Jasper Wieck Pax Americana oder Weltinnenpolitik? Die internationale Ordnung in der Legiti- mationskrise Schwerpunktthema: Die ästhetische Bildung mit Beiträgen von Georg Braungart, Walter Grasskamp, Monika Hohlmeier, Stefan Krimm und Ingo Rentschler 385 Zweimonatszeitschrift für Politik und Zeitgeschehen Hanns Seidel Stiftung eV

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53. Jahrgang • September/Oktober 2002 • ISSN 0032-3462

POLITISCHES T U D I E N

Atwerb-Verlag KG

Hans-Georg WieckPolitische Studien-Zeitgespräch zunotwendigen Schlussfolgerungen und Konsequenzen aus den Anschlägenvom 11. September

Dieter BlumenwitzMit den Benes-Dekreten nach Europa?

Jasper WieckPax Americana oder Weltinnenpolitik?Die internationale Ordnung in der Legiti-mationskrise

Schwerpunktthema:

Die ästhetischeBildungmit Beiträgen von

Georg Braungart,Walter Grasskamp,Monika Hohlmeier,Stefan Krimm undIngo Rentschler

3 8 5

Z w e i m o n a t s z e i t s c h r i f t f ü r P o l i t i k u n d Z e i t g e s c h e h e n

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Reinhard C. Editorial: „Deutschland – Allein Meier-Walser zu Haus“– Rot-Grün hat die trans-

atlantischen Beziehungen beschädigtund Berlin international isoliert ....... 5

Hans-Georg Wieck Politische Studien-Zeitgespräch mitdem ehemaligen Präsidenten desBundesnachrichtendienstes zu not-wendigen Schlussfolgerungen undKonsequenzen aus den Anschlägenvom 11. September......................... 11

Schwerpunktthema: Die ästhetische Bildung

Monika Hohlmeier Ästhetische Bildung – Grundlage der Persönlichkeitsentwicklung ..... 19

Stefan Krimm Ästhetische Bildung – eine Zukunftvoller Möglichkeiten ...................... 24

Ingo Rentschler Wahrnehmen – Werten – Handeln:Biologische Grundlagen einer ästhetischen Bildung...................... 28

Walter Grasskamp Kunst als Ressource? Kulturelle Kompetenz als neues Leitbild ........ 43

Georg Braungart Ästhetische Sensibilität und sprach-liche Herausforderung des Subjekts.Verhaltensstile – Formempfinden –ästhetische Disziplin ...................... 57

Inhalt

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Dieter Blumenwitz Mit den Benes-Dekreten nachEuropa?........................................... 71

Jasper Wieck Pax Americana oder Weltinnen-politik? Die internationale Ordnung in der Legitimations-krise ................................................ 82

Michael Rühle Zur Reform der NATO .................... 89

Peter L. Das „Timor-Experiment“: EinMünch-Heubner Modell für künftige UN-Interven-

tionen? ........................................... 94

Das aktuelle Buch ...................................................... 105

Buchbesprechungen ...................................................... 107

Ankündigungen ...................................................... 114

Autorenverzeichnis ...................................................... 115

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Außenpolitik, so erfahren Studierendeder Politikwissenschaft bereits währendder Einführungsvorlesung im erstenSemester, eigne sich in aller Regel weitweniger zur parteipolitischen Instru-mentalisierung als etwa Wirtschafts-,Finanz- oder Sozialpolitik, zumal au-ßenpolitische Entscheidungen nichteinzelne Gruppen, sondern die Nationals Ganzes beträfen. Ein vergleichswei-se konsensualer Bereich sei die Außen-politik auch deshalb, weil alle staats-tragenden Parteien in einer Demokratiedas gemeinsame Interesse besäßen, dieaußenpolitischen Ziele des eigenenStaates durch angemessene und die in-ternationalen Konsequenzen des eige-nen Handelns berücksichtigende Maß-nahmen zu verwirklichen.

Gerhard Schröder und Rot-Grün habengezeigt, dass es auch anders geht. Ineinem beispiellosen Akt der partei- bzw.wahltaktisch motivierten Instrumen-talisierung deutscher Außenpolitik wur-den während der heißen Phase des

Bundestagswahlkampfes Kriegsängsteentfacht, die wichtigsten VerbündetenBerlins brüskiert, die transatlantischenBeziehungen schwer beschädigt undDeutschland international isoliert. DieKontraproduktivität und Unverant-wortlichkeit der Schröder’schen Krisen-inszenierung kommt in vielfacher Wei-se zum Ausdruck:

1. Von „UneingeschränkterSolidarität“ zu „Ohne Uns“

Die pauschale Weigerung GerhardSchröders, sich an einer militärischenIntervention im Irak – selbst im Falleeines entsprechenden neuen Sicher-heitsratsbeschlusses der UNO – zu be-teiligen, verkörperte einen, Washingtonebenso wie die europäischen PartnerBerlins vor den Kopf stoßenden Allein-gang, der selbst Schröders ParteifreundHans-Ulrich Klose zu der Bemerkungveranlasste: „Da sträuben sich einemAußenpolitiker die Haare.“

Editorial:„Deutschland – Allein zu Haus“

Rot-Grün hat die transatlantischen Beziehungen

beschädigt und Berlininternational isoliert

Reinhard C. Meier-Walser

Politische Studien, Heft 385, 53. Jahrgang, September/Oktober 2002

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Reinhard C. Meier-Walser6

Noch nicht einmal ein Jahr zuvor,unmittelbar nach den Terrorattackengegen das World Trade Center und das Pentagon im September 2001, hat-te Schröder in einer Regierungser-klärung im Deutschen Bundestag sym-bolträchtig von der „uneingeschränk-ten Solidarität“ Berlins mit den USAgesprochen. Hinter vorgehaltener Handhatten Insider jedoch damals bereitserhebliche Zweifel geäußert, was die Qualität und Reichweite dieser Solidaritätsgeste anbetraf. WährendSchröder sich unter dem Eindruck der schockierenden Bilder aus NewYork und Washington vor der Welt-öffentlichkeit nämlich als wackererKämpfer gegen den internationalenTerrorismus in Szene setzte, brachte er im kleinen Kreis alsbald die Be-fürchtung zum Ausdruck, „dass derBush jetzt irgendetwas in Gang setzt,was uns alle mit in den Schlamasselhineinzieht“1.

Insofern verkörpert Schröders, auf dieFormel vom „deutschen Weg“ ge-brachte Abkoppelung von der US-amerikanisch geführten Anti-SaddamKoalition keine 180-Grad-Kehrtwen-dung deutscher Außenpolitik, wiemanche Beobachter erkannt habenwollen. Vielmehr zeigt sich in derRetrospektive, dass schon die Geste der „uneingeschränkten Solidarität“ ein Signal ohne Substanz war, aus-gesandt unter dem Eindruck, dass es im Inland wie im Ausland gut ankom-men würde. Als Schröder aber denEindruck gewann, dass die USA ihnbeim Wort nehmen und seine Zusageauf die Probe stellen könnten, beganner Präsident Bushs Irak-Politik als„Abenteuer“ zu bezeichnen, an dem dieBundesregierung sich nicht beteiligenwerde.2

2. Transatlantisches Klima„vergiftet“

In ihrer von offenkundigem Populis-mus getragenen Amerika-Kritik beließes die Bundesregierung jedoch nicht bei Gerhard Schröders, anlässlich desAuftaktes der heißen Phase des SPD-Wahlkampfes am 5. August in Han-nover medienwirksam verkündetenAbsage an eine militärische Interven-tion im Irak („Davor kann ich nurwarnen, das ist mit uns nicht zu ma-chen“), sondernd man scheute selbstvom Griff in die unterste Schubladepolitischer Propaganda nicht zurück.Wenige Tage vor der Bundestagswahlmarkierte schließlich Bundesjustiz-ministerin Herta Däubler-Gmelin beieiner Diskussionsveranstaltung mitBetriebsräten im baden-württembergi-schen Derendingen den Gipfel der ver-balen Entgleisungen gegen die US-Ad-ministration und ihren Präsidenten.Laut einem Bericht des „SchwäbischenTagblatts“ erläuterte die Ministerin die Irak-Politik Washingtons mit denWorten, Präsident Bush wolle „vonseinen innenpolitischen Schwierig-keiten ablenken. Das ist eine beliebteMethode. Das hat auch Hitler schon gemacht“.

Während Washington die wenige Ta-ge zuvor von SPD-Fraktionschef Lud-wig Stiegler gezogenen Vergleiche zwi-schen dem Berliner US-Botschafter Coats und dem ehemaligen sowje-tischen Statthalter in der DDR, Abras-simow, sowie zwischen George Bushund „Princeps Caesar Augustus“ nochwohl wollend als Wahlkampfgetöseabgetan hatte, sorgte Frau Däubler-Gmelins ungeheuerliche Vorhaltung inden USA jedoch für offene Empörung.Sogar die Sicherheitsberaterin des ame-

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rikanischen Präsidenten, CondoleezzaRice, eine exzellente Deutschlandken-nerin und zurückhaltende Diploma-tin, sprach daraufhin ebenso wieVerteidigungsminister Donald Rums-feld von einer „vergifteten Atmosphä-re“, zumal erkannt worden war, dassFrau Däubler-Gmelins Ausfälle eine „lo-gische Konsequenz“3 von Schrödersantiamerikanischer Wahlkampfstrate-gie darstellten.

Dass aus den Reihen der deutschenBundesregierung ausgerechnet der Präsident der Vereinigten Staaten, dieEuropa von Hitler befreit, nach demSieg gegen das nationalsozialistischeRegime den demokratischen Aufbauund die wirtschaftliche Prosperität derjungen Bundesrepublik gewährleistetsowie deren Integration in die west-liche Sicherheitsgemeinschaft voran-getrieben haben, mit Hitler verglichenwurde, zeugt von einem frappierendemMaß politischer Dummheit und Ver-antwortungslosigkeit, die für den ab-soluten Tiefstand der deutsch-ameri-kanischen Beziehungen verantwortlichist.

Vertretern der Bundesregierung sollteeigentlich auch in Erinnerung sein,dass der Name Bush untrennbar mitder konstruktiven und für das Schick-sal Europas prägenden Rolle der Verei-nigten Staaten in der Umbruchsphaseder Weltpolitik Ende der 80er / Anfangder 90er-Jahre verknüpft ist. GeorgeH.W. Bush, der damalige amerikanischePräsident und Vater des heute amtie-renden amerikanischen Staatsober-haupts, erkannte die historische Chan-ce zur Überwindung der weltpoliti-schen Ost-West-Konfrontation und ge-staltete als Präsident der westlichenFührungsmacht das unblutige Ende des

Kalten Krieges entscheidend mit. Un-vergesslich bleibt, dass George H.W.Bush sich „persönlich und auch gegenmassive internationale Widerstände mitgroßem Engagement dafür einsetzte,dass Deutschlands Einheit in Freiheitnach jahrzehntelanger Teilung vollen-det werden konnte“4. Unvergesslichbleibt ferner, dass Präsident Bush seni-or Deutschland damals sogar Partner-schaft „in leadership“ angeboten unddadurch die besondere Nähe und Be-deutung der Beziehungen zwischenWashington und Bonn unterstrichenhatte – eine „Special Relationship“, de-ren nachhaltige Beschädigung GerhardSchröder und seine Regierung mit ihrenantiamerikanischen Tiraden und per-sönlichen Invektiven gegen den Prä-sidenten des wichtigsten Bündnispart-ners Deutschland billigend in Kaufgenommen haben.

3. Verhängnisvolles Signal aus Berlin

Die politische Verantwortungslosigkeit,die in der Opferung außenpolitischerInteressenlagen und internationalerGlaubwürdigkeit der Bundesrepublikauf dem Altar des Bundestagswahl-kampfes zum Ausdruck kommt, mani-festiert sich nicht zuletzt in der fatalenKonsequenz der Schwächung der in-ternationalen Drohkulisse gegen denirakischen Diktator. Indem GerhardSchröder, sein Außenminister und seinVerteidigungsminister mit ihrer Ver-weigerungshaltung sowohl den USA als auch Deutschlands europäischenPartnern in den Rücken fielen und den Aufbau einer glaubwürdigen, den Irak zum Einlenken bewegendenDrohkulisse behinderten, stärkten siedie Haltung Saddam Husseins gegen

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die UNO und erschwerten die Mög-lichkeit einer friedlichen Durchsetzungder einschlägigen UNO-Resolutionen.

„Da die Haltung Berlins den Zweifelzuließ, dass der Westen die Durch-setzung der UN-Beschlüsse notfallsauch mit Waffengewalt erzwingen wer-de, erschwerte der Kanzler das, was er allen Bekundungen nach anstrebt: eine politische Lösung des Konflikts.“5

Schröders, mit Blick auf pazifistischgesinnte Wählerschichten konzipierter„deutscher Weg“ trug insofern nichtnur nicht zur Erhaltung des Friedensbei, sondern er „förderte objektiv dieKriegsgefahr“.6

4. Lob aus Bagdad für Schröder und Co.

Während die Rot-Grüne Politik derIsolierung Deutschlands und die damitverbundene Schwächung der Druck-kulisse der Weltgemeinschaft auf denIrak in den Hauptstädten der Bünd-nispartner Berlins mit Fassungslosig-keit zur Kenntnis genommen wurde,lobte der irakische Vizepräsident TahaJassin Ramadan den deutschen Au-ßenminister für seine ablehnende Hal-tung gegenüber der amerikanischenIrak-Politik und das staatliche iraki-sche Fernsehen freute sich über die„Weitsicht“ der deutschen Regierung, etwa die Bemerkung des frisch gebacke-nen Verteidigungsministers Peter Struck,wonach vom Irak keine Bedrohung ausgehe. Am Tag nach der Bundestags-wahl brachte Bagdad seine Genugtuung darüber zum Ausdruck, dass GerhardSchröder Bundeskanzler bleiben würde.

Aus der Sicht der irakischen Führungspielte die deutsche Bundesregierung

mit ihrer Obstruktionspolitik eineverdienstvolle Rolle, indem sie denamerikanischen Präsidenten und seineRegierung als Abenteurer und Kriegs-treiber darstellte und gleichzeitig dieGefährlichkeit Saddam Husseins undseines Massenvernichtungswaffen-Po-tenzials herunterspielte. Und dies, ob-wohl kein Zweifel an Saddam HusseinsSkrupellosigkeit bestehen kann, wie dieInvasionen im Iran und Kuwait, dieRaketenangriffe gegen Israel, der Ein-satz von Giftgas gegen das eigene Volkmit Tausenden von Toten und die kon-tinuierliche Missachtung von UNO-Resolutionen belegen.

Welche enormen Gefahren vom Irakfür den Weltfrieden ausgehen, hat erstAnfang September wieder eine Analy-se des renommierten InternationalenInstituts für Strategische Studien (IISS)mit Sitz in London gezeigt. Der Stu-die zufolge, die durch eine am 24. Sep-tember vorgestellte Geheimdienstana-lyse der britischen Regierung wiederumbestätigt wurde, hat Bagdad nach wievor ein zentrales Interesse am Aufbaueines Nuklearwaffenarsenals. Wenn esdem Irak gelänge, auf dem interna-tionalen Schwarzmarkt an spaltbaresMaterial zu gelangen, dann sei er in derLage, innerhalb weniger Monate Atom-waffen herzustellen. Bereits jetzt ver-füge der Irak über größere Beständebiologischer Kampfstoffe (z.B. Anthrax)und sei in der Lage, jederzeit weiteregroße Mengen biologischer Wirkstoffeherzustellen.

Bei chemischen Waffen geht das IISSdavon aus, dass der Irak mehrere hun-dert Tonnen Senfgas und große Men-gen verschiedener Nervengase wie Sa-rin, Zyklosarin und VX gelagert hatund die Produktion weiterer chemi-

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scher Kampfstoffe kurzfristig wiederaufnehmen kann.

An Fernlenkgeschossen stehen SaddamHussein neben Kurzstreckenraketen vomTyp „Al Samoud“ auch „Al Hussein“-Ra-keten mit einer Reichweite von 650 kmzur Verfügung, mit denen er Israel, Sau-di-Arabien, die Türkei, Iran oder Kuweitangreifen und diese Raketen mit biolo-gischen oder chemischen Sprengstoffenbestücken kann.

Angesichts dieser Erkenntnisse musssich derjenige, der die Warnungen vorder Gefährlichkeit des Irak ignoriert undgleichzeitig den kompromisslosen KursWashingtons gegenüber Bagdad torpe-diert, fragen lassen, wer, wenn nicht dieUSA, willens und fähig ist, seine Ver-bündeten zu schützen, falls Bagdadeines Tages in der Lage sein sollte, auch Westeuropa anzugreifen. GerhardSchröder sollte zumindest nach demEnde des Wahlkampfes daran denken,dass die Deutschen sich „mehr vor demirakischen Diktator und seiner Vorliebefür Massenvernichtungswaffen fürch-ten müssen als vor der vermeintlichenIrrationalität und Kriegslüsternheit einerzwei Jahrhunderte alten Demokratie“7.

5. Schröders neutralistischer Nationalismus

Die deutsche Politik, so resümiert der Historiker Michael Stürmer nach dem Ende des Bundestagswahlkampfes,steht vor dem „Trümmerhaufen ihrerauswärtigen Beziehungen – außer viel-leicht zum Tyrannen von Bagdad“8.

Bemerkenswert ist in diesem Zusam-menhang einerseits die politische Skru-pel- und Verantwortungslosigkeit des

Bundeskanzlers und seiner Regierung,die zu Gunsten einer kurzfristigenMobilisierung linker Wählerschichtenlangfristige vitale Interessen der Bun-desrepublik aufs Spiel gesetzt haben.Was anderes als ein „Tabubruch“, sofragt in diesem Zusammenhang dieNeue Zürcher Zeitung, ist die „gravie-rende und bewusst herbeigeführteStörung des deutsch-amerikanischenVerhältnisses zu Gunsten von ein paarbilligen Stimmen im Endspurt der SPD-Kampagne?“9

Bemerkenswert ist zum anderen Schrö-ders Unverfrorenheit, den USA undihrem Präsidenten Unilateralismus,Isolationismus und Missachtung derBündnispartner vorzuwerfen undgleichzeitig mit der Formel „überexistenzielle Fragen der deutschenNation wird ausschließlich in Berlinentschieden“ in einen deutschen „Son-derweg“ einzuschwenken, der als „lin-ker Wilhelminismus“ (Michael Stür-mer) eine gefährliche Kombination ausNeutralismus und Nationalismus ver-körpert.

Mit diesem, aus innen- bzw. partei-politischem Opportunismus gespeis-ten Kurswechsel hat die Bundes-regierung einen außenpolitischenFlurschaden ungekannter Tragweiteverursacht: In der UNO hat Deutsch-land erheblich an Gewicht verlo-ren, weil es ein geschlossenes Vorgehender Weltorganisation einerseits zuvereiteln und sich gleichzeitig sei-ner internationalen Verantwortung zu entziehen suchte. Die Beziehun-gen zwischen Deutschland und denUSA sind so schlecht wie noch nie, während Berlin im Kreise der eu-ropäischen Partner gleichzeitig iso-liert ist. Wenn Schröder und Fischer

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tatsächlich daran gelegen gewesenwäre, Washington von einem Allein-gang abzuhalten, dann hätten sie eine

Europäisierung suchen müssen, keine„Extratour ins Abseits“. Dieser strate-gische Fehler „wiegt schwer“.10

Anmerkungen1 Zitiert nach: Der Spiegel, 15.9.2001.2 Vgl. Der Kanzler setzt sich ab, in: Frank-

furter Allgemeine Zeitung, 12.9.2002.3 Neue Zürcher Zeitung, 24.9.2002.4 Aus der Laudatio für George H.W. Bush

anlässlich dessen Auszeichnung mit demvon der Hanns-Seidel-Stiftung verliehe-nen Franz Josef Strauß-Preis 1999.

5 Kohler, Berthold: Mit hochroten Köp-fen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,18.9.2002.

6 Brok, Elmar: Schröder fördert die Kriegs-

gefahr, in: Die Welt, 18.9.2002. In die-sem Sinne auch Naumann, Klaus: Schrö-ders deutscher Irrweg, in: Die Welt,13.8.2002.

7 Kohler, Berthold: Schröders Krieg, in:Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.8.2002.

8 Stürmer, Michael: Die europäische Illu-sion, in: Die Welt, 24.9.2002.

9 Neue Zürcher Zeitung, 24.9.2002.10 Frankenberger, Klaus-Dieter: Extratour ins

Abseits, in: Frankfurter Allgemeine Zei-tung, 19.9.2002.

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Politische Studien: Vor allem in denUSA hat sich die Diskussion um den11. September in einer Weise ent-wickelt, die ein Versagen der Nach-richtendienste suggeriert. Haben dieNachrichtendienste tatsächlich ver-sagt, oder sind Anschläge, wie die vom11. September, grundsätzlich nicht vor-hersagbar?

Hans-Georg Wieck: Die von Osamabin Laden angeführte terroristische Or-ganisation El Qaida war vor dem 11.September 2001 bekannt. Nach denvon Osama bin Laden organisiertenAnschlägen gegen die US-Botschaftenin einigen afrikanischen Staaten imJahre 1998 unternahmen die USA Ra-ketenangriffe gegen eine chemischeFabrik im Sudan und gegen Ausbil-dungslager in Afghanistan. Im Lichtedieser und anderer Terrorakte gegenamerikanische Einrichtungen in denletzten Jahren, z.B. gegen Kriegsschiffesowie Kasernen, aber auch gegen das

Welthandelszentrum kann man mitguten Gründen davon ausgehen, dassdie Geheimdienste aller direkt oder in-direkt betroffenen Staaten bemüht wa-ren und bemüht bleiben, im Interesseder Sicherheit des eigenen Landes undim Rahmen der internationalen Zu-sammenarbeit zwischen den Dienstenmit großer Intensität die internatio-nalen Aktivitäten der von bin Ladengeführten El Qaida-Organisation auf-zuklären – auch am Vorabend der An-schläge vom 11. September 2001. Die-se Anstrengungen sind nach dem 11.September in jeder Hinsicht intensiviertworden.

Die Tatsache, dass mehrere Araber –meist aus Saudi-Arabien – an Flug-schulen in den USA Pilotenunterrichtnahmen, war der amerikanischen Bun-despolizei – FBI – bekannt geworden.Es ist erstaunlich, dass diese und an-dere Erkenntnisse der Ermittlungsbe-hörden, ja auch der Justiz, ganz offen-

Politische Studien-Zeitgesprächmit dem ehemaligen Präsidentendes Bundesnachrichtendienstes zunotwendigen Schlussfolgerungen

und Konsequenzen aus denAnschlägen vom 11. September

Dr. Hans-Georg Wieck, geboren 1928 in Hamburg, trat nach sei-nem Studium der Geschichte, Philosophie und des öffentlichenRechts 1954 in das Auswärtige Amt ein. Seine Laufbahn führte ihn1974 als Botschafter nach Teheran, 1977 nach Moskau und nachIndien. 1980 wurde er zum Leiter der Deutschen Ständigen Ver-tretung bei der NATO in Brüssel ernannt. Von 1985–1990 hatte erdas Amt des Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes inne.

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sichtlich nicht zu vertiefenden Recher-chen und zur Beratung darüber mit an-deren US-Geheimdiensten und mit in-ternationalen Partnerdiensten geführthaben. Bei solchen Konsultationenwäre wahrscheinlich auch die Auf-merksamkeit auf die in Hamburg ge-schaffenen Komponenten des Terroris-musnetzes gelenkt worden. Es hat auchwenige Tage vor den Anschlägen nochHinweise auf große Ereignisse aus demTerrorismuslager gegeben, die aber hin-sichtlich des Zeitpunkts und der Zielevage geblieben waren.

Der internationale Terrorismus bedientsich der klassischen Formen des Unter-grundkampfes bis hin zum Mittel dermenschlichen Bombe. MenschlicheBomben können in und mit beliebigenVerkehrsmitteln eingesetzt werden. Die-se Beliebigkeit macht zu einem großenTeil die Gefährlichkeit des heutigen Ter-rorismus aus. Gleichwohl kann durchgezielte Suche und gezielte Gegen-schläge den noch aktiven Teilen derBin-Laden-Strukturen die Fortführungihrer Aktivitäten erschwert und dieGefahr von neuen Terroranschlägen ge-mindert werden. Die Terroristen müs-sen zum eigenen Schutz ihre Abschir-mungsmaßnahmen verstärken. Ausdem Mosaik an Informationen über dasEl Qaida-Netz, die von den in Gefan-genschaft geratenen Taliban- und AlQuada-Mitgliedern zu bekommen wa-ren, dürften die USA ein ziemlich um-fassendes Bild der Strukturen der Bin-Laden-Organisation, der Netze und derArbeitsweise bei der Vorbereitung vonAnschlägen gewonnen haben. Auch diePersonenidentifizierung dürfte erhebli-che Fortschritte gemacht haben.

Mit Recht ertönt immer wieder der Rufnach besserer Koordination zwischen

nationalen Diensten innerhalb einesLandes und zwischen den Diensten ver-schiedener Staaten. In den USA wird ei-ne mit großen Vollmachten ausgestat-tete Sicherheitsbehörde im Range einesMinisteriums geschaffen. In Deutsch-land wird diese Frage auch diskutiert.Manche sprechen von der Notwendig-keit, ein „Bundesamt für ÖffentlicheSicherheit“ zu schaffen, das dann wohlauch in die föderale Struktur des Ver-fassungsschutzes und der Kriminalpo-lizeien eingreifen und eine Verstärkungder Kompetenzen des Bundeskriminal-amtes mit sich bringen würde. Wahr-scheinlich wird es zum Ausbau der Ko-ordinationseinrichtungen und zu einerVerbesserung des allseitigen Zugriffs aufErmittlungsdateien kommen. Der BND-Chef spricht von der Bildung problem-bezogener Runder Tische aller Beteilig-ten. Der Wille zur intensiven undsubstanziellen Zusammenarbeit zwi-schen den Diensten und den Ermitt-lungsbehörden muss immer wieder vonden Leitungsebenen eingefordert undin der Realität demonstriert werden,um den zentrifugalen Kräften der ei-genständigen Bürokratien nachhaltigentgegenzuwirken, die sich in ihrerEigenständigkeit bedroht fühlen.

Weder durch Gesetz noch durch aka-demische Studien lässt sich aber dieKombinationsgabe erzwingen, die beiden Beteiligten benötigt wird, umZusammenhänge zwischen scheinbarunverbundenen Ereignissen oder In-dikationen erkennen zu können. Sol-che Kombinationskapazitäten kön-nen dann gefördert werden, wenn inden Ermittlungsbehörden und in den Geheimdiensten regelmäßig eine offene Aussprache zwischen Leitungund Arbeitsebene über die Bewertungvon spezifischen Erkenntnissen aus

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der operativen Beschaffung herbeige-führt wird.

An eine Erfahrung aus dem KaltenKrieg kann angeknüpft werden: Wäh-rend des Kalten Krieges war ein sehrkomplexes System von Indikatoren er-arbeitet worden, mit dessen Hilfe ausTätigkeiten staatlicher und nichtstaat-licher Institutionen im Raum des War-schauer Pakts auf militärische Mo-bilmachungsmaßnahmen geschlossenwerden konnte (z. B. Verstärkungen,Verlegungen, Aktivierung der Zivilver-teidigung). Die erfolgreiche Früherken-nung von sowjetischen Angriffsvorbe-reitungen war von ausschlaggebenderBedeutung für die Herstellung der west-lichen Verteidigungsbereitschaft in Eu-ropa.

Im Vergleich zu den militärischenFrühwarnsystemen der Nordatlanti-schen Allianz ist es sicherlich schwerer,etwas Vergleichbares an Frühwarn-kapazität in Bezug auf die mit anderenals mit staatlichen Strukturen arbei-tenden El Qaida-Aktivitäten aufzubau-en. Aber Verbesserungen der gegen-wärtigen Lage sind nötig und möglichum sicherzustellen, dass Nachrichtenwie die über die Ausbildung saudischerStaatsangehöriger als Piloten in denUSA mehr als nur ein Achselzuckenauslösen.

Das Bundeskriminalamt hat beispiels-weise über Jahre hinweg ein verfeiner-tes, nämlich analysegestütztes Erfas-sungsnetz für mafiagesteuerte Akti-vitäten aufgebaut, das aus der Analyseeinzelner Straftaten wie Diebstahl, Er-pressung, illegaler Handel und Geld-wäsche gespeist worden ist. Eine großeZahl erkannter Straftaten konnteschließlich einer begrenzten Zahl von

grenzüberschreitend tätigen Mafia-Organisationen zugeordnet werden.

Politische Studien: Zahlreiche Exper-ten haben als Konsequenz der An-schläge vom 11. September eine Wie-deraufwertung von HUMINT (humanintelligence) und mehr Bescheidenheithinsichtlich der Möglichkeiten vonSIGINT (signals intelligence) gefordert.Wie stehen Sie zu diesem Thema undwelche entsprechenden Konsequenzenwurden in den westlichen Dienstenmöglicherweise bereits gezogen?

Hans-Georg Wieck: Sicherlich sindallen Ortens die Anstrengungen ver-stärkt worden, mit menschlichen Quel-len in die inneren und äußeren Kreiseder Terroristischen Organisationen ein-zudringen. Das ist – aus verschiedenenGründen – kein leichtes Unterfangen.Ein nachrichtendienstlich gestütztesEindringen in die streng abgeschotte-

Hans-Georg Wieck: Angesichts der gewaltigenHerausforderungen des modernen internationa-len Terrorismus „sind Haushaltssperren Gift fürGeheimdienste“.

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ten Strukturen ist fast nur auf der Basispersönlicher Kennverhältnisse möglich.

Es sollte nicht der Eindruck entstehen,dass im Kampf gegen den internatio-nalen Terrorismus etwa auf die Fern-meldeaufklärung verzichtet werdenkönnte. In Deutschland sind schonKonsequenzen gezogen: Heute sindAufklärungsmaßnahmen gegen reli-giöse Zentren möglich, die wegen einertatsächlichen oder vermuteten Asso-ziation mit terroristischen Aktivitätenauffällig geworden sind. Im Vereins-recht wurde das Religionsprivileg ge-strichen, das den Einrichtungen reli-giöser Gemeinschaften in gewissemRahmen Schutz vor polizeilichen undindirekt vor nachrichtendienstlicherAusforschung gab. Nachrichtendienst-liche Aktivitäten sind jetzt auch bei Ak-tionen möglich, die sich gegen Völker-verständigung und das friedlicheZusammenleben richten. Die Bun-desregierung hat ein personelles Ver-stärkungsprogramm für die Nach-richtendienste und die Strafverfol-gungsbehörden beschlossen, das mög-licherweise den Abwärtstrend in denHaushalten der Geheimdienste zumStehen bringt und mittelfristig auchweitere Haushaltsverstärkungen in spe-zifischen Bereichen möglich machenwird.

In den USA hat die Akzeptanz von Ein-griffen in die Menschenrechte derBürger erheblich zugenommen – fastschon in bedrohlichem Ausmaß. In ei-nem Land wie den USA mit einergroßen Tradition der Zivilgesellschaftund ausgeprägter Abneigung gegen denübermächtigen Staat wird es an einerGegenbewegung gegen die Herstellungeines Polizeistaates nicht fehlen. Viel-leicht wird diese Gegenbewegung

schon bei den im November 2002 statt-findenden Wahlen zum Repräsentan-tenhaus und für ein Drittel aller Sena-toren erkennbar werden.

Politische Studien: Es gibt hier unddort in der einschlägigen Literatur Hin-weise darauf, dass terroristische Orga-nisationen in den Besitz von Massen-vernichtungsmitteln gekommen seinkönnten (z.B. Joseph Bodansky in sei-nem Buch über Bin Laden, in demauch der Besitz nuklearer „suitcasebombs“ durch Terroristen als wahr-scheinlich geschildert wird). Wie großschätzen Sie ein solches Risiko auf-grund der Ihnen vorliegenden Er-kenntnisse ein?

Hans-Georg Wieck: Auf dem „Markt“illegalen Waffenhandels gibt es unend-lich viele Angebote von waffengrädi-gem Uran. Wer vermag die Spreu vomWeizen zu trennen? Das Gebiet ist zueiner Spezialwissenschaft mit Mafia-komponenten und mit Geheimdienst-aktivitäten geworden. Wann und wosich hinter diesem Nebelschleier etwasReales verbirgt, lässt sich nicht in ab-stracto erklären, sondern ergibt sich ausder Analyse aller relevanten Indikato-ren im Einzelfall. Bücher wie das vonJoseph Bodansky bieten ein weitgehendspekulativ verdichtetes Bedrohungs-szenario. Sie haben aber den heilsamenNebeneffekt, dass staatliche Einrich-tungen, vor allem Geheimdienste,Polizeien und wissenschaftliche Ein-richtungen, diese Bereiche möglicherGefahren für die internationale Staa-tengemeinschaft weiterhin intensiv ver-folgen. Die internationale Zusammen-arbeit auf diesem Feld ist – unabhängigdavon, dass es auch Pannen gegebenhat – recht intensiv. Aber natürlich gibtes bei solchen Büchern auch einen ak-

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tuellen Unterhaltungswert und Ver-kaufszahlen. Wie das Anthrax-Sym-ptom zeigt, bestehen terroristische Gefahrenpotenziale nicht nur im nu-klearen Bereich, sondern auch in vie-len Bereichen der Chemieproduktion.

Politische Studien: Wie gut funktio-niert inzwischen die Kooperation west-licher mit russischen Diensten und wiegroß ist die Gefahr, dass seitens der Rus-sen unter dem Etikett des „Kampfes ge-gen Terrorismus“ Desinformation, z.B.hinsichtlich des Charakters des Kriegesin Tschetschenien, getrieben wird?

Hans-Georg Wieck: Nach dem 11. Sep-tember hat die Zusammenarbeit zwi-schen den Nachrichtendiensten derUSA und anderer westlicher Länder mitden russischen Diensten erheblich zu-genommen. Dabei ist das politische In-teresse der Russischen Föderation zuberücksichtigen, terroristische Kompo-nenten aus dem islamischen Funda-mentalismus, die in Tschetschenienoperieren, zu eliminieren. Es mangeltnicht an westlichen Interventionen beider russischen Regierung zu Gunstender Beachtung humanitärer Grundsät-ze und an westlicher Hilfe für die ge-plagten Menschen im Kriegsgebiet vonTschetschenien.

Politische Studien: Wie groß ist derSchaden einzuschätzen, den der inter-nationale Terrorismus durch die Ver-drängung der Taliban von der Macht inAfghanistan erlitten hat und wo sehenSie möglicherweise ähnlichen Hand-lungsbedarf bzw. terroristische Rück-zugs- und Ruheräume, die es unterKontrolle zu bringen gilt?

Hans-Georg Wieck: Afghanistan stehtder El Qaida-Organisation als Basis für

die Ausbildung von Terroristen nichtmehr zur Verfügung. Die El Qaida-Or-ganisation ist dadurch erheblich ge-schwächt worden, dass sie nicht mitGewissheit feststellen kann, was durchGefangenenbefragung in Guantanamoüber ihre Organisation, ihre Ziele, ihreProgramme sowie ihre finanziellen Res-sourcen und weltweiten Verbindungenzur Kenntnis der USA gelangt ist. ImGrunde muss die El Qaida davon aus-gehen, dass ihre gesamte Struktur kom-promittiert ist und daher völlig neu auf-gebaut werden muss. Abgesehen vomafghanisch-pakistanischen Grenzgebietstehen nur schwer zugängliche Land-striche in Afrika sowie schwache Staats-strukturen in Nahmittelost zur Verfü-gung, die El Qaida-Ausbildungslagerund -Kommandostellen in schwerzugänglichen Landstrichen duldenmüssten. Der Nachweis solcher Lagermüsste von westlichen Geheimdiens-ten erbracht werden. Dann könntennationale Behörden mit ausländischerUnterstützung agieren. Schwieriger istes, untätige Agenten und El Qaida-Kämpfer, die in einem arabischen Um-feld in Ruhestellung gehalten werden,ausfindig zu machen.

Politische Studien: Gibt es tatsächlich„harte“ Information darüber, dass Staa-ten wie Iran, Nordkorea und Irak einmilitärisches Nuklearprogramm betrei-ben und wie groß schätzen Sie die Ge-fahr ein, dass nukleare Waffen, die in absehbarer Zeit in der Hand von„Problemstaaten“ sein könnten, in dieVerfügungsmacht von Terroristen fal-len könnten?

Hans-Georg Wieck: Der Informations-stand der westlichen Dienste und Re-gierungen über irakische Entwicklungs-und Rüstungsanstrengungen auf den

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Gebieten der Massenvernichtungswaf-fen sowie von Trägerraketen war amVorabend des ersten Golfkrieges nichtschlecht und dürfte auch nach der er-zwungenen Ausreise der UN Inspek-teure ein recht zuverlässiges Niveaugehalten haben. Freiwillig werden Staa-ten, falls es denn solche überhaupt gibt,die illegal an nuklearen und an ande-ren Massenvernichtungswaffen arbei-ten, ihren Wissensstand und ihre Tech-nologien nicht mit unzuverlässigen ElQaida-Strukturen teilen oder an sie wei-tergeben wollen. Allerdings – Raub undDiebstahl, also illegaler Transfer vonTechnologien und Materialien kannnicht ausgeschlossen werden.

Politische Studien: Gerade im Kampfgegen den Terrorismus werden dieNachrichtendienste nicht nur um dieErprobung neuer Methoden und Orga-nisationsprinzipien nicht herumkom-men, sondern auch nicht um dieAufwendung größerer finanzieller Mit-tel. Glauben Sie, dass angesichts zu-nehmender Mittelverknappung die Ef-fektivität des unverzichtbaren Kampfesgegen den Terrorismus unter Haus-haltssperren leiden wird?

Hans-Georg Wieck: In Zeiten wie den heutigen, in denen es schwer

erfassbare und grenzüberschreitendarbeitende terroristische Gegner gibt,die „menschliche Bomben“ und be-liebige Verkehrsmittel einsetzen kön-nen, sind Haushaltssperren Gift fürGeheimdienste und andere an der Er-fassung und Bekämpfung solcherGefahren beteiligte staatliche Einrich-tungen. Im Gegenteil: ZusätzlicheMittel müssten aufgebracht werden,um im Verbund der internationalenNachrichtendienste als Partner weiter-hin akzeptiert zu werden. Diese Part-nerschaft ist gleich bedeutend mit demZugang zu Erkenntnissen andererDienste. Dieser internationale Opti-mierungsprozess setzt aber auch quali-fizierte Beiträge der eigenen Dienste beidiesem meist bilateral, aber gelegent-lich auch multilateral geführten Aus-tausch voraus.

Am Vorabend der Bundestagswahlenam 22. September 2002 wären dieNachrichtendienste in Deutschland gutberaten, ein finanziell realisierbares Pro-gramm auszuarbeiten, dessen Umset-zung ein absolutes Minimum dessendarstellt, was notwendig ist, um im We-ge international betriebener Koopera-tion und Früherkennung terroristischeGefahren frühzeitig, zumindest recht-zeitig, abwenden zu können.

Die Fragen stellten Dr. Reinhard C. Meier-Walser, Leiter der Akademie fürPolitik und Zeitgeschehen sowie Chefredakteur der Politischen Studien derHanns-Seidel-Stiftung e.V., München und Prof. Dr. Klaus Lange, Referent fürInternationale Sicherheitspolitik der Akademie für Politik und Zeitgesche-hen der Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München.

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Schwerpunktthema

Die ästhetische Bildung

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Politische Studien, Heft 385, 53. Jahrgang, September/Oktober 2002

1. Einleitung

In der von Jürgen Mittelstraß herausge-gebenen „Enzyklopädie Philosophie undWissenschaftstheorie“ steht unter demStichwort „Ästhetik“: „Der Gegenstandder Ästhetik, der Sinn der zu ihrem Auf-bau benötigten Wörter und die Geltungihrer Sätze bedürfen nach wie vor dergrundsätzlichen Klärung.“ Das klingt et-was müde und ratlos. Offenbar steckt ei-ne lange und nicht immer fruchtbareDiskussion hinter solchen Feststellun-gen. Und da wird heute über „ästheti-sche Bildung“ als einen neuen Ansatzfür die Arbeit an den Gymnasien ge-sprochen! Aber vielleicht muss man dieDinge auch etwas pragmatischer an-packen, wenn man weiterkommen will.

Das griechische „aìsthesis“ meint dieLehre von der sinnlichen Wahrneh-mung. Heute verwenden wir den Be-griff zumeist im Zusammenhang mitKunst und Schönheit. Verbunden da-mit ist immer, und das wird durch diemoderne Hirnforschung bestätigt, dieWahrnehmung und die Nutzung be-stimmter Muster, ja Bilder, die gewis-sermaßen Ordnung, eine gute Ordnungin die un-glaubliche Vielfalt der auf unseinströmenden Eindrücke bringen.

Ästhetik hat es, so verstanden, immermit dem Erkennen und Anwenden vonMustern im scheinbaren Chaos zu tun,sie ist sozusagen eine ganz wesentlicheHilfe bei den Prozessen von Wahrneh-mung, Erkenntnis und Wertung. Undsie hat es in diesem Sinne immer mitdem „Schönen“ – nicht dem Kitschi-gen, dem Sentimentalen, dem Überla-denen zu tun, sondern mit dem Pas-senden und dem Gelungenen. Es gehtalso nicht um aufgesetztes schmücken-des Beiwerk in einer Welt, welche in al-lem Funktionalität und Effektivität an-strebt, sondern um einen Kernbereichvon Bildung, den auch die BayerischeVerfassung meint, wenn sie die Schu-len verpflichtet, den ihr AnvertrautenAufgeschlossenheit für alles Gute, Wah-re und Schöne zu vermitteln.

Und von daher können wir auch diemanchmal zu hörende Frage beant-worten, ob wir die Schulzeit denn nichtviel stärker für die Vermittlung ganzpraktischer und vor allem: praktischnützlicher Kenntnisse und Fertigkeitenbrauchen. Als Kultusministerin erhalteich jede Woche zwei, drei neue Anre-gungen für das, was den Schülern indiesem Sinne auch noch beigebrachtwerden soll oder muss.

Ästhetische Bildung – Grundlage der

Persönlichkeitsentwicklung

Monika Hohlmeier

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Aber: Einen platten Gegensatz desNützlichen zu den genannten Wertenzu konstruieren, hat mit Erziehung undBildung nichts zu tun. Sie sind ja in ers-ter Linie Persönlichkeitsbildung unddiese kann als ganzheitliche Aufgabenur gelingen, wenn wir die Dinge zu-sammen sehen und sinnvoll integrie-ren. Nicht um einen Anachronismushandelt es sich beim Nachdenken überdie Konturen einer ästhetischen Bil-dung in der Schule, sondern um diezeitgemäße Interpretation eines über-zeitlich gültigen Verfassungsauftrags.

Nun könnte man unter dem Eindruckdes 11. September aber dennoch sagen,das sei zwar ehrenwert, aber ein Signalzum falschen Zeitpunkt, ja ein illusio-nistisches Unterfangen, nämlich einedas Chaos und die Sphäre des Aggres-siven, ja Bösen verdrängende „Suchenach der heilen Welt“.

Ich glaube, es ist gerade umgekehrt!Differenzierte Wahrnehmung und Sinnfür das Angemessene sind zu jeder Zeitund an jedem Ort die einzigen Mittelgegen Fanatismus, grobe Vereinfachungund Gewalt – weltpolitisch wie in derSchule. Die Antwort muss also eherheißen: Gerade jetzt! – oder: Wanndenn, wenn nicht jetzt! Ich weiß michjedenfalls mit denen einig, die unterdem Eindruck der letzten Wochen dasbesondere Potenzial des Ästhetischenund seine Bedeutung für eine gelin-gende Erziehung und Bildung ehernoch höher einschätzen und seine um-fassende Bedeutung nachdrücklich be-haupten.

Somit beschäftigen wir uns heute imÜbrigen auch gar nicht einfach mit ei-nem allgemeinen Begriff der „Ästhetik“,sondern mit dem Begriff der „ästhe-

tischen Bildung“. Das ist eine Ein-schränkung und gleichzeitig eine Prä-zisierung – nämlich im Hinblick aufdas, was Erziehung und Schule leistenkönnen und leisten sollen. Diese Präzi-sierung steht im Zusammenhang mitdem Wissen, dass Erziehung heute, woder Konsens über das „Schöne“ und das„Gute“ scheinbar verloren zu gehendroht, mehr denn je Wertevermittlungund damit Lebensgrundlagen anbietenmuss, weit über eine bequeme und un-verbindliche Form der Vor- und Nach-mittagsbetreuung hinaus. Und derästhetischen Bildung kommt genau da-bei eine entscheidende Rolle zu.

2. Zustand der Gesellschaft alsäußerer Anlass für die Beto-nung der ästhetischen Bildung

„Ästhetische Bildung“ meint – somöchte ich einmal ganz pragmatischformulieren – die bewusste, pädago-gisch begründete Hinführung und Be-fähigung der Schüler zur Wahrneh-mung von differenzierter Gestaltung,Harmonie und Schönheit in ihrem un-mittelbaren wie in ihrem kulturell ver-mittelten Umfeld. Ziel ist gerade nichtdas Ausblenden von Brüchen undSchönreden von Spannungen im Sin-ne der Beschreibung einer „heilenWelt“. Die Schüler sollen vielmehrästhetisches Urteilsvermögen erwerben,vorhandene Anlagen zu eigenständi-gem Gestalten entwickeln und ange-messenes Verhalten üben.

Der Hintergrund ist unter anderemFolgender: In dem Maße, in dem inmodernen Industriegesellschaften dieFamilie als Gestalterin der Umwelt undinsbesondere der Freizeit der Kinderzurücktritt, wird die Lebenswelt der

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Schüler von den Medien geprägt, derenWirkung als „Miterzieher“ in den letz-ten Jahrzehnten ständig zugenommenhat. Der tägliche Zeitansatz für Me-dienkonsum übertrifft teilweise deut-lich den für innerfamiliäre Kommuni-kation. Auch in Sendezeiten, zu denenKinder fernsehen, sind viele Program-me inhaltlich geprägt durch Gewalt-darstellung und Voyeurismus bis hinzur ungeschminkten Ausbreitung inti-mer Details vor dem Publikum der sogenannten „Talkshows“. Selbst wennman nicht grundsätzlich die Medienzum Sündenbock für gesellschaftlicheFehlentwicklungen machen will, ist esbeunruhigend, dass Sendungen vonausgeprägter Geschmacklosigkeit, wiebeispielsweise „Big Brother“, zuneh-mend die Erlebniswelt unserer Kinderprägen. Die Computer-Spiele habensich in den letzten Jahren dem Trendangeschlossen. Formal dominiert hierwie dort Lautes und Grelles.

Kinder und Heranwachsende brauchenjedoch, um sich wohl fühlen zu kön-nen, nicht nur positive Umweltbedin-gungen (also die Qualität von Luft,Wasser, den Schutz von Fauna undFlora etc.), sondern – weit stärker, weilunmittelbarer wirksam – die Erfahrungdessen, was man früher unter dem Be-griff „Schönheit“ zusammengefasst hat,in ihrer realen wie medialen und ge-danklichen Umgebung. Der positiveEinfluss der ästhetischen Gestaltungvon Arbeitsplätzen und Betriebsatmos-phäre ist in der Wirtschaft unumstrit-ten, in der Schule harrt er in einemumfassenderen Sinne der Wiederent-deckung.

Natürlich verbinden wir damit den Be-reich der Ästhetik, der Lehre vom an-gemessenen Wahrnehmen, mit dem

der Ethik, der Lehre vom angemesse-nen und richtigen Handeln. Aber ichdenke, dies ist – vor allem in der Schule – anders auch gar nicht mög-lich. Mit einem Wort: Die ästhetischeBildung wird hier nicht mit dem inter-esselosen Wohlgefallen aufhören, siebeinhaltet auch Dimensionen des Wer-tens und des Handelns. Heute sagenwir neudeutsch soziale Kompetenz,wenn wir ausdrücken wollen, dass je-mand es versteht, sich gegenüber sei-nen Mitmenschen so zu verhalten, dasser sie nicht ständig vor den Kopf stößt,dass er sie als Persönlichkeiten achtet,dass er sich und andere nicht ausgrenzt,sondern in der Lage ist, mit ihnen zu-sammenzuarbeiten oder gar, sie zu mo-tivieren. Hintergrund ist aber immer ei-ne differenzierte, emotional gestützteWahrnehmung – seiner selbst, seinerMitmenschen und seiner Umwelt.

Dabei geht es mir nicht darum, plattenBenimmunterricht einzuführen, alsoAnleitungen zum richtigen Verhaltenin der Gruppe oder der Gesellschaft, ob-wohl ein vernünftiges Benehmen sehrviel für sich hat und manches „Kon-flikttraining“ ersparen würde. Aber ichmeine eben nicht bloß den Erwerb be-stimmter, gewissermaßen technisch an-wendbarer Fertigkeiten für bestimmteSituationen, sondern eine Art von Per-sönlichkeitsbildung, welche die Fun-damente für angemessenes Verhaltenganz allgemein legt.

3. Überarbeitung der Lehrpläneals schulinterner Anlass fürdie Betonung der ästhetischenBildung

In der Pressemitteilung vom 2. März2001 habe ich betont, dass eine gelun-

Ästhetische Bildung – Grundlage der Persönlichkeitsentwicklung

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gene Persönlichkeitsentwicklung die in-tensive Begegnung mit der Sphäre dif-ferenzierter Gestaltung voraussetzt, dieman früher unter dem Begriff des„Schönen“ gefasst hat. Ich sehe es alswichtige Aufgabe unserer Schulen an,das ästhetische Wahrnehmungs- undUrteilsvermögen der Jugendlichen zustärken und es aus den schon darge-stellten Gründen auch auf den Bereichder Kommunikation auszuweiten. Fürden schulischen Bereich müssten wiralso genau genommen von einer ästhe-tisch-kommunikativen Bildung spre-chen.

Mit ihrer Verankerung im künftigenLehrplan der Gymnasien wollen wirdeshalb auch mehr erreichen als dieAnleitung zum Genießen – aber natür-lich auch das, und zwar in reflektierterForm, in Abgrenzung zum blindenKonsumieren vorgefertigter und aufden kleinsten gemeinsamen Nenner ge-brachter Inhalte.

4. Um was geht es im Einzelnen?

● Erstens geht es um die Fähigkeitzum differenzierten Wahrnehmenvon bildender Kunst, Musik und Li-teratur, damit die Fähigkeiten, unserreiches kulturelles Erbe in seinemWert zu erkennen sowie am kultu-rellen Leben der Gegenwart teilzu-nehmen und es später mitzugestal-ten, bewusster und nachhaltigerwerden. Verbunden damit ist dieEntwicklung expliziter und im-pliziter Maßstäbe zur Beurteilungvon Qualitäten, ja von Qualität ansich.

● Zweitens geht es um kreatives Tunin den genannten Bereichen – ohne

das nachhaltiges Lernen ohnehinnicht möglich ist, konkret also umdas Gewinnen unmittelbarer Erfah-rungen beim bildnerischen, musi-kalischen und sprachlichen Gestal-ten und – damit verbunden – umdie Entwicklung positiver Erfahrun-gen und Einstellungen in diesem fürdie Persönlichkeitsbildung so un-verzichtbaren Bereich.

● Drittens geht es um die aktive Ge-staltung der eigenen Persönlichkeitund ihres Verhältnisses zu Welt undGesellschaft. Wir haben Erziehenund Bilden in der Vergangenheitvielleicht ein wenig zu sehr als ei-nen Prozess wahrgenommen, beidem den Schülern von außen, vomLehrer, von der Schule etwas ver-mittelt wird. In Wirklichkeit aberhandelt es sich dabei um die Bewäl-tigung von Aufgaben, die Lebenund Entwicklung an die Schüler alsHeranwachsende, erwachsen Wer-dende stellen. Diese Aufgaben müs-sen soweit wie möglich selbststän-dig bewältigt werden und die Schuleleistet dabei alle nur erdenklicheHilfe, aber auch nicht mehr als das.Die ästhetisch-kommunikative Bil-dung soll in diesem Zusammen-hang die Schülerinnen und Schülerfür sich selbst und für andere sensi-bilisieren, sie in neuer Weise selbst-bewusst und gestaltungsfähig ma-chen.

Wir stellen heute fest, dass Jugendlicheoft wie gebannt auf ihr Aussehen, ihreKleidung und ihre Wirkung auf andereachten. Ein Teil der Faszination durchLifestyle-Elemente, ja sogar der immerwieder zu beobachtende Marken-Feti-schismus, lässt sich mit Sicherheit dar-aus erklären. Auch dahinter stecken

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ter, letztlich aber doch außengesteuer-ter „coolness“.

Die Schlagworte von der Gesprächskul-tur, oder Streitkultur usw., meinen sienicht alle dasselbe: sich in persönlichenoder öffentlichen Situationen angemes-sen zu verhalten? Auch der Austrag vonMeinungsverschiedenheiten ist – genaugenommen – eine ästhetische, letztlichdas Chaos strukturierende Frage. Näm-lich eine der angemessenen Wahr-nehmung, der Beachtung von Regelnund des Einsetzens eines ausgebildeten Repertoires an sprachlichen, körper-sprachlichen und verhaltensmäßigenReaktionen.

Ästhetische Bildung – Grundlage der Persönlichkeitsentwicklung

fundamentale ästhetische Bedürfnisse.Wenn es uns gelänge, die hier deutlichwerdenden Impulse aufzugreifen, ernstzu nehmen und produktiv zu machen,hätten wir einen wichtigen Schritt ge-tan. In diesem Zusammenhang spieltdas Kommunikative eine entscheiden-de Rolle. Wer gelernt hat, sich anderenangemessen mitzuteilen, wer in der La-ge ist, sich und seine Reaktionen ein-zuschätzen, wer seinen Wert nicht überdie Aufkleber an seiner Kleidung oderdie Marke seiner Turnschuhe zu defi-nieren versucht, sondern seiner selbstsicher ist und dies auch im kommuni-kativen Verhalten umsetzen kann, derwird mehr erreichen als mit aufgesetz-

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Politische Studien, Heft 385, 53. Jahrgang, September/Oktober 2002

1. Zur Bedeutung der ästheti-schen Bildung für den Unter-richt des Gymnasiums

„In unserer Gesellschaft sind vielfältigeAnzeichen vorhanden, dass die Wahr-nehmung und das Denken die ihnennach mehrtausendjähriger Traditionzukommenden Rollen vertauscht ha-ben. Ob das Denken gegenüber derWahrnehmung das höhere Vermögenist, kann als nicht mehr gesichert gel-ten. Es ist heutzutage nichts billiger, alssich im Begrifflichen zu bewegen, Be-scheidwissen, Meinungen ‚vertreten’,Denken, Lesen, Reden, Diskutieren – alles das erfordert nicht die geringsteMühe, es vollzieht sich von selbst (…)Genau hinzusehen, das Empfindbareabzutasten wird zu einer seltenerenLeistung, die sich der Klugheit nähert,welche ja das Unformulierte abzuhörenvermag.“1 So äußerte sich der interna-tional anerkannte Berliner Erziehungs-wissenschaftler Christoph Wulf 1991in seiner Untersuchung zur Mimesis inder ästhetischen Bildung.

Mittlerweile sind zehn Jahre vergangen,und was Wulf damals sagte, hat in derinformierten Gesellschaft derer, die sichmit Bildung und Erziehung beschäfti-

gen, fast unmerklich immer stärker anZustimmung gewonnen. An der Uni-versität Hamburg wurde Mitte der 90er-Jahre ein von der DFG mit 3,4Mio. DM gefördertes interdisziplinäresProjekt „Graduiertenkolleg ÄsthetischeBildung“ begonnen. Gegenwärtig wer-den in einer ganzen Reihe von Kom-missionen am Staatsinstitut für Schul-pädagogik und Bildungsforschung dieLehrpläne des Gymnasiums grund-legend überarbeitet, mit der kultusmi-nisterlichen Weisung, in diese neuenLehrpläne ein Gesamtkonzept „Ästhe-tische Bildung“ zu integrieren. Erfor-derlich erscheint am Beginn des 21.Jahrhunderts, dessen Gymnasium wirmit den neuen Lehrplänen mitentwer-fen, die Formulierung eines Gesamt-konzepts zur ästhetischen Bildung alseiner Zusammenfassung und Neustruk-turierung der in verschiedenen Fächernvorhandenen Ansätze. Das Rad soll al-so nicht neu erfunden werden, die vor-handenen Aspekte aber integriert, be-wusst gemacht und mit einem neuenImpuls versehen werden. Dieser Impulssoll das Vorhandene aufgreifen undneue Erkenntnisse der fachwissen-schaftlichen und pädagogisch-psycho-logischen Forschung einbeziehen undfruchtbar machen. Das Konzept soll in

Ästhetische Bildung – eine Zukunft voller

Möglichkeiten

Stefan Krimm

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den neuen Lehrplänen für das Gym-nasium eine schulart- und altersstu-fenangemessene Formulierung finden.Im Hinblick auf die große Zahl jungerLehrer, die in den nächsten Jahren ein-gestellt werden, handelt es sich bezüg-lich des Profils dieser Schulart um einelängerfristige Weichenstellung.

Das Konzept sollte zumindest folgendeElemente enthalten

● Authentische Begegnung mit Berei-chen besonders intensiver ästheti-scher Gestaltung in Kunst, Musikund Literatur. Angesichts der stei-genden Abstraktionen und Entsinn-lichungen im Alltag kommt einerFörderung des Wahrnehmungs- undErkenntnisvermögens, der Aisthesiserhöhte Bedeutung zu. Es geht da-bei um Sensibilisierung und Schu-lung der Wahrnehmung, aber auchum Kriterien der Qualitätsbeurtei-lung, um reflektierte Genussfähig-keit und Geschmacksbildung.

● Zur authentischen Begegnung ge-hört das gestalterische Tun: sprach-liches Gestalten (kreatives, gestal-terisches Schreiben), Zeichnen, Malen, Gestalten mit Werkstoffen(technisches und künstlerischesWerken), musikalisches Gestaltenund darstellerisches Gestalten wieetwa in Theater- und Medienpro-duktionen.

● Eine wesentliche Dimension ästhe-tischer Bildung ist aber auch ihrBeitrag zur Persönlichkeitsbildung.Gemeint sind personale, soziale und dabei vor allem kommunikati-ve Kompetenzen: Sprechschulung(Deutsch, Szenisches Lernen undDramatisches Gestalten, sprachlicheFächer), Förderung von Selbstbe-wusstsein und Erwerb eines Verhal-

tensrepertoires in Gruppe, Klasseund Gesellschaft.

2. Charakter und Ziele derästhetischen Bildung

● Ästhetische Bildung ist ein Themader Schule/des Gymnasiums, abernicht nur der Schule. Es geht so-wohl den wissenschaftlichen Be-reich an wie natürlich auch den derGesellschaft insgesamt, in der dieSchüler heranwachsen.

● Ästhetische Bildung ist ein Themagrundsätzlich aller Fächer. Im Zen-trum aber stehen sicher Kunsterzie-hung, Musik und Deutsch. Schuleund Lehrplanmacher bedürfen derfachlichen Unterstützung aus denBezugswissenschaften, zu denen ne-ben den unmittelbaren auch – bes-ser: gerade auch – Psychologie undHirnforschung gehören

● Schule und Lehrplanmacher brau-chen neben der wissenschaftlichenUnterstützung aber auch das bis indie interessierte Öffentlichkeit rei-chende interdisziplinäre Gespräch.Und Ästhetische Bildung kann vorOrt nur gelingen, wenn sich Lehrer,Eltern und Schüler des damit ver-bundenen Anliegens bewusst sindund es mittragen.

Ästhetische Bildung bildet mindestensseit Schillers Briefen „Über die ästheti-sche Erziehung des Menschen“ einThema der deutschen philosophischenund pädagogischen Tradition und ei-ner teilweise ermüdenden Diskussionmit außerordentlich vielen Facetten.Man muss diese Diskussion im Hinter-kopf haben, kann aber die idealistischePosition Schillers nicht einfach nocheinmal 1:1 aufnehmen, als ob in der

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Zwischenzeit nichts geschehen wäre.Wie alle großen Texte, bis hin zur Bi-bel, muss er immer wieder neu gelesenund verstanden werden. Die Welt hatsich geändert, die Menschen habensich geändert. Und wir sind vielleichtauch im Laufe der letzten beiden Jahr-hunderte etwas stärker desillusioniertworden. Beispielsweise wissen wir seitKierkegaard und Nietzsche, Baudelaireund Oscar Wilde, dass das als „schön“Empfundene und das Gute nicht so oh-ne weiteres zusammengehen.

Es geht auch gar nicht einfach nur umdas „Schöne“, sondern vor allem umFragen der Wahrnehmung. Auf die Hil-fe der Künste kommt es dabei allerdingsentschieden an, auch wenn man sichnicht der Hoffnung hingeben kann,dass Kunst von sich aus erzöge und bes-ser machte.

Richtig aber ist sicher, dass Kunst se-hen, hören, sensibel wahrnehmen undlaute, leise und Zwischentöne unter-scheiden lehrt. Richtig ist wohl auch,dass sie sich in Klängen, Farben, Pro-portionen, Bildern, Gedichten und Ge-schichten auf Bereiche des Menschenbezieht, die einfachen Doktrinen un-zugänglich sind. Bereiche, die von ei-ner geprägten Form aus sich ständigentwickeln und schließlich den Men-schen als sich selbst mitformendes In-dividuum ausmachen. Und richtig istwohl auch, dass differenzierte Wahr-nehmung empfänglicher, aufgeschlos-sener, mitteilungsfähiger, mit einemWort menschlicher und mitmenschli-cher in einem tieferen Sinne macht.

Es ist an der Zeit, in der Schule die Dis-kussion um das Ästhetische als Hilfe beidem schwierigen Geschäft der Lehrer –nämlich Heranwachsenden bei ihrem

Weg zu sich und in die Gesellschaft zuhelfen – wieder aufzunehmen. Unddies gerade auch, weil in der öffentli-chen Diskussion über das Gymnasiumdie Frage nach dem unmittelbaren Nut-zen dessen, was diese Schulart lehrtund beibringt zur Standardfrage ge-worden ist. Utilitaristisches Denken lie-fert dabei die drängendsten Impulseund die oftmals nicht hinterfragten,hingenommenen Maßstäbe. Das We-sentliche hierzu wurde schon in denAthenäums-Fragmenten gesagt, an de-nen August Wilhelm Schlegel und Fried-rich Schleiermacher mitgearbeitet ha-ben: Es gibt ökonomische Schwärmerund Pantheisten, die nichts achten alsdie Notdurft und sich über nichts freu-en als über ihre Nützlichkeit. Wo siehinkommen, wird alles platt und hand-werksmäßig, selbst die Religion, dieAlten und die Poesie, die auf ihrerDrechselbank nichts edler ist als Flachs-hecheln2.

Bildung am Gymnasium kann abernicht Abrichten für unmittelbareZwecke sein, sondern sie muss sich aufdie ganze Persönlichkeit beziehen, jadiese zunächst einmal als solche wahr-nehmen und – in bestimmten Grenzen– bei ihrer Formung mithelfen. Die öf-fentlichen Ratgeber überbieten sichWoche für Woche in neuen Ratschlä-gen, was man in der Schule noch un-bedingt braucht, um in einer Welt derraschen und effektiven Nutzung vonRessourcen aktionsfähig zu werden.Dies muss man umkehren. Die Theseist, dass die eigentliche Ressource –wenn man diesen Begriff überhaupt ge-brauchen will – die Menschen sind –auch für ein menschenwürdiges Zu-sammenleben. Und dass über all demErwerb von Kenntnissen, Fertigkeitenund Fähigkeiten der Kern, die Persön-

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lichkeit nicht vergessen werden darf.Für diesen Kern aber sind – das zeigenselbst die Diskussionen um das neueFußballstadion in München, die über-bordende Bedeutung gelungenen De-signs für geschäftlichen Erfolg undselbst die Arbeitsplatzforschung – ästhe-tische Dimensionen von außerordent-licher Bedeutung.

Man sollte sich dranmachen, sie wiederstärker ins Bewusstsein zu heben, mitall ihren vielfältigen Möglichkeiten und

Denkanstößen. Denkanstöße geradeauch für die hoch qualifizierten Lehrer,die in den Lehrplankommissionen sit-zen und mit ihrer Arbeit die Weichenstellen für eine auf Grund der ge-genwärtigen Personalentwicklung sehrgroße neue Generation junger Lehrerund für die Entwicklung des ganzenbayerischen Gymnasiums im erstenDrittel des neuen Jahrhunderts, dennso lange etwa werden die jetzt in großenZahlen an die Schulen kommendenLehrer in ihrem Beruf aktiv sein.

Anmerkungen1 Wulf, Christoph: Mimesis in der ästheti-

schen Bildung, in: Kunst und Unterricht.Zeitschrift für Kunstpädagogik 151 (April1991). S.16–18, dort S.16.

2 Zitiert nach Jürgen Oelkers, Zürcher Vor-

lesung zur Ästhetischen Bildung, Ma-nuskript Zürich 2001, S.172, „Notdurft“meint Bedarf am Notwendigsten, so-wohl des Leibes wie des Lebens. (Oel-kers).

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Politische Studien, Heft 385, 53. Jahrgang, September/Oktober 2002

1. Ästhetik heute

Wenn es um das Schöne und Erhabenegeht, nehmen Dichter und Denker ex-treme Positionen ein. Friedrich Schillersagt in seinen Briefen ‘Über die ästhe-tische Erziehung des Menschen’, „dassdie Gleichgültigkeit gegen Realität unddas Interesse am Schein eine wahre Er-weiterung der Menschheit und ein ent-schiedener Schritt zur Kultur (…)“sind1. Der englische Philosoph HerbertSpencer sieht dagegen ein halbes Jahr-hundert später die Schönheit jeder bio-logischen Art als äußere Entsprechungihrer mentalen und physischen Stärke.2

Schillers berühmte Schrift aus dem Jahr1795 radikalisiert eine Auffassung vomBegriff des Geschmacksurteils, dieImmanuel Kant fünf Jahre zuvor mitseiner Kritik der Urteilskraft begründethatte. Dort schrieb der Philosoph, dass„das ästhetische Urteil einzig in seinerArt sei und schlechterdings keine Er-kenntnis (auch nicht ein verworrenes)vom Objekt gebe, welches letztere nurdurch ein logisches Urteil geschieht“3.Hans-Georg Gadamer4 legt in seiner

Hermeneutik dar, wie Kant hier mitdem überkommenen Begriff des Ge-schmacks gebrochen hat. Bezeichnetedieser seit Gracián ein weitgespanntessinnliches Urteilsvermögen, so wurdeer nun auf das ästhetische Urteil, unddas Ästhetische zugleich auf das Kunst-schöne, eingeschränkt. Kant konnte sodem Geschmacksurteil einen eigenenOrt unabhängiger Gültigkeit verschaf-fen, dies aber nur um den Preis derEinengung des Begriffs der Erkenntnisauf den Vernunftgebrauch. TheodorAdorno verweist auf die Folgen diesesdenkerischen Kraftaktes, wenn er sagt:„Kunst komplettiert Erkenntnis um dasvon ihr Ausgeschlossene“5.

Die Wirkung von Kants Ästhetik war inder deutschen Geistesgeschichte nichtauf die Umprägung philosophischerBegriffe beschränkt. Davon sprichtGadamer, wenn er den Geburtsfehlerdes bürgerlichen Bildungsideals mitden Worten kennzeichnet: „Wo dieKunst herrscht, da gelten die Gesetzeder Schönheit und werden die Grenzender Wirklichkeit überflogen“6. Wennwir lesen, dass selbst Meldung erstat-

Wahrnehmen – Werten – Handeln:

Biologische Grundlagen einerästhetischen Bildung

Ingo Rentschler

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tende Offiziere den Kommandeur einesdeutschen Panzerbataillons nicht da-von abbringen konnten, im Bunker inStalingrad auf seinem Klavier Beetho-vens Pathétique zu spielen, dann wis-sen wir, dass solche Bildung ihre Wir-kung gehabt hat.7

Die Tatsache, dass es heute in den Me-dien und in der Industrie ein immerlebhafter werdendes Interesse an demThema der Ästhetik gibt, wird mandagegen kaum als eine Spätfolge desbürgerlichen Bildungsideals wertenwollen. Hier geht es um Verkaufs-förderung, und zwar, wie die Touris-musforscherin Romeiss-Stracke meint,nicht nur im Warenverkehr, sondernauch in der Lebensführung: „In dernachindustriellen Gesellschaft trägt sich das Individuum als Lebensunter-nehmer selbst zu Markte. Da bleibt dereigene Körper die einzige Konstante.“8

Die bereits totgesagten sozialdarwinis-tischen Klischees des 19. Jahrhundertszeigen sich so erneut im Leitbild desoptimierten Menschen, das nicht nurdie Wellness-, Fitness- und Beauty-Woge in Gang hält,8 sondern auch dieDebatte um die Ethik von Präimplan-tationsdiagnostik und Gentechnik be-stimmt.9

Der Autor des Sozialdarwinismus warHerbert Spencer, der mit seinem Haupt-werk, den ‘First Principles’ (1861), welt-weiten Ruhm erlangt hatte. Bereits1852, sieben Jahre vor dem Erscheinenvon Charles Darwins ‘Origin of Spe-cies’, hatte er in einem Artikel (Deve-lopment Hypothesis) den Begriff des‘survival of the fittest’ geprägt. Sir Pe-ter Medawar, ein führender Naturwis-senschaftler der Moderne, sieht Spen-cer daher als den Größten unter denen,die ein metaphysisches System auf na-

turalistische Prinzipien zu gründensuchten, aber eben doch als Philoso-phen im Jahrhundert der Dampfma-schine.10 Angesichts der faktischenRenaissance seiner Ideen müssen wiruns aber fragen, ob unser Fortschrittgegenüber Spencers Menschenbildnicht vor allem im Verzicht auf Meta-physik besteht. Kann also ästhetischeBildung heute mehr als Spencer minusMetaphysik sein? Ich suche hier zuantworten, indem ich in Teil 1 zeige,dass die klassische Triade philosophi-scher Erkenntnistheorien, Sinnlichkeit,Vorstellung und Verstand, in der Hirn-forschung neue Gültigkeit gewinnt. Teil 2 bringt Hinweise darauf, dass esohne Werte im Gehirn nicht von derSinnlichkeit und Imagination zum Verstehen kommen kann. Teil 3 istschließlich der These gewidmet, dassdas Handeln für diesen Übergang glei-chermaßen unverzichtbar ist.

2. Wahrnehmung

2.1 Wahrnehmen und Erkennen

Was Wahrnehmung ist, machen wiruns mit Ludwig Wittgenstein11 anhandeiner einfachen Zeichnung (Abbildung1) klar. Zunächst bemerken wir, dasswir mit ihr einen Linienzug vor Augenhaben. Der Philosoph bezeichnet die-sen Vorgang als Sehen1. Die Neuro-physiologie lehrt, dass dabei ein Signalempfangen wird, das von der Netzhautdes Auges zum primären Sehzentrumam hinteren Pol der Hirnrinde gelangt.Im Verlauf einer Operation am Ge-hirn, die der Patient wach und ohneSchmerzempfindung miterleben kann,lässt sich dieses Zentrum elektrischreizen. Der Patient sieht dabei leuch-tende Punkte, Linien, Kreise, Zacken-

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bänder in grellen Farben und Flam-menzungen vor sich. Diese Erschei-nungen sind als Grundelemente derBildwahrnehmung aufzufassen.

Die Rindenareale der mehr als 30sekundären Sehzentren, die auf dasprimäre Sehzentrum folgen, erstreckensich in den Scheitellappen und bis inden vorderen Pol des Schläfenlappensdes Gehirns hinein. Die Areale desScheitelhirns dienen der räumlichenWahrnehmung und der Steuerung vonBewegung, die des Schläfenhirns derWahrnehmung von Objekten. Reiztman den Schläfenlappen im Verlaufneurochirurgischer Eingriffe, so siehtder Patient komplexe Bildmuster undzuweilen ganze Szenen vor sich: An-brandende Meereswogen, sich aufbäu-mende Pferde, eine Gruppe von Kin-dern, die sich winkend nähern. Daskönnte Anlass zu der Vermutung ge-ben, dass es im Gehirn eine zentraleProjektionsleinwand gibt, auf welcherdie Sehzentren in einer Art Überblend-verfahren das Bild der Welt erzeugen.Wahrnehmung wäre dann das Be-trachten dieses Bildes durch die grünenMännchen des Bewusstseins. Leiderweit gefehlt, denn eine solche Zentral-einheit der Wahrnehmung gibt esnicht. Um zu verstehen, wie wir den-noch ganze Szenen wahrnehmen kön-

nen, wenden wir uns WittgensteinsWahrnehmungsweise Sehen2 zu: DenLinienzug aus Abbildung 1 können wirauch als etwas sehen, zum Beispiel alsden Kopf eines Hasen oder einer Ente.

Für das Verstehen des Sehens2 sind dieÜberlegungen des Frankfurter Neuro-physiologen Wolf Singer und des Ma-thematikers David Mumford von derHarvard Universität aufschlussreich12.Diese Hirnforscher haben sich ange-sichts von neuroanatomischen und -physiologischen Befunden gefragt,warum es zwischen den visuellen Hirn-arealen mindestens ebenso viele Da-tenlinien wie innerhalb der einzelnenAreale gibt. Würden diese Areale als un-abhängige Recheneinheiten arbeitenund nur gelegentlich die Endergeb-nisse ihrer eigenen Berechnungen an die nächste Instanz weiterreichen, sobräuchte es zwischen ihnen keine Da-tenautobahnen mit Gegenverkehr zugeben. Singer und Mumford schließendaraus, dass das Erkennen und Verste-hen der Sehwelt nicht durch das An-sprechen einzelner Sehzentren, sonderndurch die kollektive Aktivierung desgesamten Netzwerks der visuellen Hirn-rindenareale zu Stande kommt. Mit an-deren Worten, die Welt im Kopf erstehtaus dem neuronalen Zusammenspielder Hirnareale so, wie eine Beethoven-Sinfonie aus dem musikalischen Zu-sammenspiel der Orchestermusiker ent-steht.

Auf diesen Grundlagen hat Mumfordeine Theorie der Wahrnehmung ent-wickelt, die sich in wesentlichen Zügenmit dem deckt, was derzeit zum Thema‘Innere Sicherheit’ in der Zeitung zulesen ist: Ankommende Sinnesdatenoder erste Ermittlungsergebnisse wer-den im Zwischenhirn auf eine Art

Abbildung 1: Hasenente (nach Jastrow, 1915)

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Wandtafel geschrieben. Höhere Arealeder Hirnrinde schreiben ihre Hypothe-sen oder Verdachtsmomente über dieWelt ebenfalls dort an. Gibt es beimVergleich der Daten von unten (bottomup) und von oben (top down) keiner-lei Übereinstimmung, so werden dieEingangsdaten als belanglos verworfen.Interessant wird die Sache, wenn es ei-ne teilweise Übereinstimmung gibt. Dieursprünglichen Hypothesen müssendann modifiziert und erneut mit denSinnesdaten verglichen werden. DieserProzess wiederholt sich so lange, bis alleZweifel beseitigt sind. Ist jedoch dieÜbereinstimmung der Daten von Be-ginn an gegeben, dann sind die Sin-nesdaten wiederum uninteressant, weilsie nur bereits vorhandenes Wissen be-stätigen.

Damit ist erkennbar geworden, dasssich Mumfords neurowissenschaftlichinspirierte Wahrnehmungstheorie weit-gehend mit dem deckt, was Kantgelehrt hat. Nach ihm müssen dieSinnesdaten nach Maßgabe apriorischerKategorien oder Ideen geordnet wer-den, damit Erkennen möglich ist. DieWahrnehmungslehre der heutigenHirnforschung findet zu diesem Sche-ma zurück, setzt aber an die Stelle vonIdeen erlernte Konzepte. Lernen wirddamit zur wichtigsten Wahrnehmungs-leistung. Diese Einsicht ist für unsereAlltagspsychologie so wenig selbstver-ständlich, wie sie es für weite Teile dermodernen Hirnforschung ist.13 Die fa-belhafte Leichtigkeit, mit der wir unse-re Sehwelt erkennen, lässt das visuelleErkennen viel eher als naturgegeben er-scheinen. Das wird deutlich, wenn wiretwa aus dem Wohnraum eines Land-hauses auf einen See hinaus blicken.Dessen Uferlinien sind nur durch dieFensteröffnungen unmittelbar sichtbar;

wir sind jedoch der Gegenwart desganzen Sees gewiss, denn die Ergän-zung der Bildausschnitte gelingt unsmühelos durch das, was die Psycholo-gie Kontextwissen nennt, also durchzuvor gemachte Erfahrungen.

Komplexe und gänzlich unvertrauteSzenen, wie sie etwa medizinischeRöntgenbilder für uns sind, können wiraber nicht auf Anhieb verstehen. EinArzt benötigt drei bis fünf Jahre, bis erin der Kunst der radiologischen Dia-gnostik ein annehmbares Leistungs-niveau erreicht. Das Kontextwissen, daser erwirbt, besteht aus einer Verbin-dung anatomischer, klinischer undbildlicher Erfahrungen, die es ihm er-laubt, in den Schwärzungsverteilungenvon Röntgenbildern diagnostisch be-deutsame Teile auszumachen. Durchdas Erfassen von deren jeweiliger Er-scheinungsweise und wechselseitigemBezug kann er dann seinen Befund for-mulieren. Die Notwendigkeit des Ler-nens der Wahrnehmung wird uns alsoerst angesichts unvertrauter Bilder undSzenen bewusst.

2.2 Bildliche Vorstellungen

Zur Erklärung der Wahrnehmung ha-ben wir bisher angenommen, dasshöhere Hirnareale in den Dialog mit ei-nem Zwischenspeicher für Sinnesdatentreten, der Nachrichten aus der Sehweltfür die weitere Bearbeitung bereithält.Mumford selbst hatte ihn eine Wand-tafel genannt. Jetzt denken wir an dieMöglichkeit, dass auf Grund der mas-siven Vernetzung der Hirnareale derAuftakt für die Sinfonie der Wahrneh-mung auch von innen kommen kann;eines der höheren Hirnareale legt dazueine erste Botschaft unten im Zwi-

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schenspeicher oder auf der Wandtafelab. Wie Mumford im Verlauf seiner an-sonsten streng mathematisch formu-lierten Ausführungen sagt, könnte sichdas im Traum, in der Meditation, beimLösen von Problemen, beim techni-schen und künstlerischen Entwerfensowie beim Entwickeln von Hand-lungsstrategien ereignen. Alle dieseTätigkeiten des menschlichen Geis-tes greifen auf Gedächtnisinhalte, oder,wie es die Tiefenpsychologie ausdrückt,auf Unbewusstes zurück, und sie er-zeugen Vorstellungsbilder.

Nun steht der Träumer nicht geradehoch im Kurs bei denen, die für eineziel- und anwendungsorientierte Aus-bildung junger Menschen plädieren.Das rührt daher, dass Vorstellungsbil-dern der Ruch von Selbstbetrug undWirklichkeitsferne anhaftet. Es wäreaber ein verhängnisvoller Irrtum, dasWachrufen und Weiterentwickeln vonVorstellungsbildern als eine Art ‘multi-mediales self-entertainment’ abtun zuwollen. Aus Vorstellungsbildern erste-hen Probewelten, innerhalb derer wiruns nicht nur für geeignete Hand-lungsfolgen entscheiden können, son-dern die uns darüber hinaus das Ab-wägen der Folgen möglicher Hand-lungsweisen gestatten. Dazu bedarf esim Gehirn allerdings noch der Funk-tion einer weiteren Struktur, von derbislang noch nicht die Rede war, näm-lich des Frontalhirns. Das ist der Teilder Hirnrinde, dessen Reifung nachneuesten Erkenntnissen der anato-mischen Forschung erst im Grund-schulalter des Menschen voll einsetztund sich bis mindestens in die dritteLebensdekade erstreckt. Auf den letzte-ren Sachverhalt werden wir im Zusam-menhang mit der Frage nach dem Han-deln zurückkommen. Wir halten aber

hier schon fest, dass der Reichtum anVorstellungsbildern die Voraussetzungschöpferischen Handelns ist – und zwarin der Beziehung zwischen Menschenebenso wie in Wissenschaft und Technik.

2.3 Biologische Grundlagen male-rischer Darstellungsformen

Die Neurophysiologie untersucht, wieBildinformation in den visuellen Area-len der Hirnrinde verarbeitet wird. AufGrund ihrer Befunde können wir mitdem Computer simulieren, wie dieseAreale Bilder „sehen“. Die Ergebnissesolcher Simulationen haben zuwei-len verblüffende Ähnlichkeit mit be-stimmten malerischen Darstellungs-formen (Abbildungen 2 und 3). Das hatuns zu der Vermutung geführt, dass derWechsel malerischer Stilrichtungen da-her rühren könnte, dass der Künstlerseine Aufmerksamkeit unbewusst aufdas eine oder das andere Sehzentrumder Hirnrinde richtet. Wir haben sieerstmals in neurowissenschaftlichemKontext geäußert14 und sie wurde in-zwischen von anderen Neurowissen-schaftlern aufgegriffen15. Die These voneiner hirnphysiologischen Grundlagedes künstlerischen Schaffens ist abernicht völlig neu. Sie findet sich sinn-gemäß schon in der berühmten Schrift‘Die gegenstandslose Welt’ von KasimirMalevich, die 1927 im Bauhaus-Verlagerschienen ist. Dort spricht der russi-sche Wegbereiter der malerischen Mo-derne über drei Möglichkeiten schöp-ferischer Aktivität, nämlich die deserfindenden Ingenieurs, des gestalten-den Künstlers und des reproduzieren-den Technikers. Die Ursache dieser un-terschiedlichen Qualität der Aktivität,so Malevich, liegt in „einem variablenVorstellungsvermögen, das als Resultat

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Abbildung 2: Portrait der Schauspielerin Sara Bernhardt (2a) Original von Nadar (2b): Bandpass-gefilterte Version als Simulation einer neuronalen Darstellung des Originals in der primären Sehrin-de des Primatengehirns (aus Rentschler, I. & Barth, E., 1996, Så skapar hjärnan bilder. Forskningoch Framsteg, Stockholm, 7, 58–63)

Abbildung 3: Boote. Photographisches Original (3a) und dessen Rekonstruktion aus einer simu-lierten Darstellung im Kode hyperkomplexer Nervenzellen in der Sehrinde von Primaten (3b)

(2a) (2b)

(3a)

(3b)

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einer mechanischen Übertragung der(…) Umgebung durch unsere Sinne,unter Beteiligung des einen oder desanderen Gehirnzentrums, verschiedenausfallen kann“16.

3. Werte

Unserer These von der Existenz biolo-gischer Grundlagen der Ästhetik ist derKunsttheoretiker Rudolf Arnheim mitdem Argument entgegengetreten, dass„jeder Versuch, die formalen Eigen-schaften oder den Inhalt der Kunst mitden physischen Eigenschaften des Or-ganismus in Verbindung zu bringen,nur Universalien, aber keine individu-ellen Unterschiede, nur objektive Tat-sachen, nicht aber die subjektive Inter-pretation betreffen kann“17.

Arnheim ist demnach der Meinung,das Gehirn sei eine Art Konzertflügel,für dessen unveränderliche akustischeEigenschaften die Firma Steinway &Sons garantiert. Unabhängig von denobjektiven Eigenschaften des Instru-mentes hätte der Pianist dann tatsäch-lich die Freiheit, darauf eine künstle-risch bedeutsame oder eine dilettan-tische Interpretation zur Aufführung zubringen. Arnheims Annahme geht aberinsofern an der Wirklichkeit des Ge-hirns vorbei, als es bei diesem keineTrennung von subjektivem Erleben undobjektiven Bedingungen gibt. Vor al-lem die neuen Verfahren der Hirnfor-schung zur funktionellen Bildgebungzeigen in aller Deutlichkeit, dass jedeForm subjektiven Erlebens im Gehirnseine objektive, das heißt, physiologi-sche Entsprechung hat. Wenn aus sol-chen Befunden allerdings der Schlussgezogen wird, subjektives Erleben seimit ihnen schon als die Aktivierung

und Modifikation neuronaler Prozesseerklärt, so ist das Unfug.

Zur Überprüfung von Arnheims Ein-wand haben wir uns die Frage gestellt,ob, und wenn ja, wie, Lernen das ästhe-tische Urteil beeinflusst.18 Zu ihrerBeantwortung haben wir sechzehncomputergraphisch erzeugte Bildmus-ter (Abbildung 4) verwendet, derenStruktur in zwei Dimensionen syste-matisch variiert und so einen Form-kreis ergibt. Ausschlaggebend für dieseWahl war die Tatsache, dass diese Bild-muster für unsere Probanden ebensoreizlos wie unvertraut und außerdemzu Beginn der Experimente kaum un-terscheidbar waren. Durch paarweisesDarbieten der Bilder wurden Profile derästhetischen Präferenz ermittelt. Derenstatistische Analyse erwies eine ausge-prägte Abhängigkeit der Präferenz-urteile von zwei objektiv messbarenBildeigenschaften, nämlich denen derAchsensymmetrie und der Muster-komplexität. Die letztere ist dabei et-was willkürlich durch den Übergangvon der Einfachstreifung zur Doppel-streifung definiert. Den ersten Präfe-renztest absolvierten die Probandennoch ohne Vorwissen über die Bild-muster, während sie vor dem zweitenPräferenztest im Mensch/Maschine-Dia-log die Zuordnung der Bildmuster zuvier vorgegebenen Musterkategorienlernen mussten.

Das Ergebnis der Studie war insofernerstaunlich, als sich zeigte, dass derSymmetriefaktor der Präferenz sich un-ter der Einwirkung des Lernens nichtändert. Er bleibt vom Erwerb katego-rialen Wissens über die Testbilder un-beeinflusst. Das entspricht der TheseKants, dass das Geschmacksurteil überObjekte unabhängig von der entspre-

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chenden Erkennungsleistung ist. DerKomplexitätsfaktor der Präferenz än-derte sich dagegen massiv durch Ler-nen, was nach Kant nicht sein dürf-te. Eine solche Abhängigkeit des Ge-schmacksurteils von der Erfahrung ken-nen wir aber alltagspsychologisch sehrwohl und zwar von der individuell sehrunterschiedlichen Bevorzugung male-rischer Stile der Kunstgeschichte sowie,wohl noch ausgeprägter, von den Er-scheinungen der Mode.

Es gibt also Bestandteile des Ge-schmacksurteils, die unabhängig von

der Erfahrung, vermutlich genetischvorprogrammiert und im Sinne Arn-heims universell oder objektiv sind. An-dere Bestandteile wie die Bevorzugungvon Einfachheit oder Komplexität sinddagegen das Ergebnis von Lern- oderBildungsvorgängen und als solche in-dividuell und subjektiv.

Was aber hat das ästhetische Präferenz-urteil mit der Frage nach Werten zutun? In der Zeitspanne zweier Millio-nen Jahre, in der die Evolution das Ge-hirn des Homo sapiens gebildet hat,ging es für ihn um nicht weniger alsLeben und Tod. Ist das ein Ast, der Haltbietet, oder eine Schlange, die beißt? Ist das essbar oder wird es mich ver-giften? Das Vermögen des Gehirns,schnelle Entscheidungen im Hinblickauf das richtige Verhalten zu treffen,ließ Homo sapiens überleben. Es ent-schied über Flucht oder Kampf, überNahrungssuche, über Partnerwahl undFortpflanzung. Ich glaube mit demamerikanischen Experten für Entschei-dungstheorie und Sicherheitspolitik,George E. Pugh19, dass der biologischeUrsprung menschlicher Werte die Be-wertung von Sinneseindrücken im Hin-blick auf überlebensrelevante Ent-scheidungen ist.

Es ist dann zu fragen, was das Präfe-renzurteil als biologischer Elementar-sinn mit dem Geschmacksurteil überdas Kunstschöne zu tun hat. Ich ver-weise dazu auf den Essay ‘Psycho-Ana-lysis and the History of Art’ des un-längst verstorbenen Kunsthistorikers Sir Ernst Gombrich20. Er stellt dort ei-nen Bezug zwischen dem Gang derKunstgeschichte und der Theorie desSymbolismus des Freud-BiographenErnest Jones her. Jones zufolge ist derFortschritt des menschlichen Geistes

Abbildung 4: Formkreis. 16 Grauwertbilder alsTest- und Lernmuster (4a) sowie deren Grau-wertprofile (4b). (Quelle: vgl. Anm.18)

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das Ergebnis zweier Prozesse: Zum ei-nen verlagern sich das Interesse unddas Verstehen ohne Unterlass von ein-facheren auf komplexere Ideen hin;zum anderen werden zuvor für wahrgehaltene Symbolsysteme als bloßeAbbilder der Wahrheit erkannt. Höher-stehende und sozial bedeutsamere Wer-tesysteme des Menschen können so auseinfacheren, biologisch im Individuumverankerten, hervorgehen – und daskann auch für die ästhetische Bewer-tung von Werken der Kunst gelten. Sol-che Entwicklungen von Wertesystemenhat, wie zuvor angedeutet, Pugh21 ausder Sicht der Regeltheorie komplexerSysteme und der Soziobiologie darge-stellt.

4. Handeln

4.1 Bennys Video

Von Michael Haneke, dessen Film ‘DieKlavierspielerin’ vor einiger Zeit in denKinos lief, gibt es ein frühes Werk,‘Bennys Video’22: Der zwölfjährigeBenny, von seinen wirtschaftlich erfolg-reichen Eltern allein gelassen, richtetsich ein Medienzimmer als Lebensweltein. Dort hinein kann das Weltgesche-hen nicht durch offene Fenster, son-dern nur durch eine Videokamera he-reindringen. Bei einem Besuch auf demLand wird der Junge Zeuge einerSchlachtung, wobei er einen Bolzen-schussapparat an sich nimmt. In derDisco lernt er später ein Mädchen ken-nen, das er in sein Medienzimmer ein-lädt. Da es sich dort langweilt, zeigtihm Benny die Pistole. Er richtet siespielerisch gegen sich und fordert dieBesucherin auf abzudrücken. Sie wei-gert sich, worauf Benny sie feige nennt.Das Spiel kehrt sich um und als das

Mädchen nun Benny feige nennt,drückt er ab. Sie bricht blutüberströmtzusammen.

Der Medienphilosoph Raphael Capur-ro hat diese schreckliche Geschichte imHinblick auf das Höhlengleichnis Pla-tons gedeutet.23 Ich beschränke michauf die Feststellung, dass Bennys Hand-lungskatastrophe biologisch folgerich-tig ist. Die Wahrnehmung der Welt undderen emotionale Bewertung durch denMenschen haben sich in Jahrmillionennicht für ein Multimedia-Kino im Kopfentwickelt. Die Wahrnehmung dientvielmehr, wie wir gesehen haben, derSteuerung von Verhalten, und Emotio-nen liefern die Kriterien dafür, welcheHandlungen es wert sind, vollbracht zuwerden. Emotionen wiederum sind dasEcho des Gedächtnisses für die sozialenFolgen des Handelns. Wenn Benny al-so in der Passivität des Medienzimmersseine Handlungswelt verliert, dann ver-liert er mit ihr auch die Fähigkeit, dieFolgen seines Handelns zu bewerten.Das ist im Zeitalter von Bildschirmwel-ten also nicht nur das Problem vonBomberpiloten.

4.2 Erkennen und Begreifen

Was die Bedeutung des Handelns fürdas Wahrnehmen und Erkennen an-geht, so kommt Bischof Berkeley24 inseinem berühmten ‘Treatise on a NewTheory of Vision’ (1709) zu demSchluss, der Tastsinn sei der Lehr-meister des Gesichtssinns. Er beziehtsich dabei auf den Umstand, dass dasNetzhautbild des ruhenden Auges kei-ne direkte Tiefeninformation liefert.Räumliche Verhältnisse sind daher nurdurch selbsterzeugte Körperbewegun-gen oder durch die Bewegung der Seh-

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dinge zu erfassen. In ähnlicher Weisewar Jean Piaget der Ansicht, das Kinderwerbe in seiner sensomotorischenEntwicklungsphase, also bis zum Altervon zwei Jahren, durch Wahrnehmenund manuelles Begreifen das ontologi-sche Konzept des Objektes.25 Inzwi-schen glaubt die Entwicklungspsycho-logie jedoch, dass Piaget das kognitiveLeistungsvermögen von Kleinkindernunterschätzt hat. Bereits vier Monatealte Säuglinge, die zur Koordinationvon Augen- und Handbewegungennoch nicht fähig sind, verfügen überein Objektkonzept, das möglicherwei-se angeboren ist.26 Der Gesichtssinn do-miniert auch, wenn Erwachsene dieGröße eines Objektes schätzen, vondem sie auf Grund experimentellerTricks widersprüchliche Seh- und Tast-eindrücke haben. Dazu kommt die neuroanatomische Tatsache, dass diezuvor erwähnten primären und sekun-dären visuellen Zentren mehr als dieHälfte der Fläche der Hirnrinde von Pri-maten einnehmen. Es ist also keinWunder, dass sich in der Wahrneh-mungspsychologie die Ansicht durch-gesetzt hat, der Sehsinn sei nicht nurdominant, sondern auch gegenüberden anderen Sinnen weitgehend auto-nom.27

Es gibt jedoch eine Kluft zwischen denForschungsansätzen der Psychologieeinerseits und denen der Sprach- undComputerwissenschaften andererseits.Die Psychologie versteht das Erkennendurchweg als eine Leistung der aristo-telischen Kategorisierung: Ein Objektgehört dann zu einer gegebenen Kate-gorie oder Klasse, wenn es mindestensein Attribut besitzt, das es mit allen an-deren Klassenmitgliedern gemeinsamhat. Für die Linguistik ist dagegen seitRyle28 und Wittgenstein29 klar, dass der-

artige Kategorien in der Sprache dieAusnahme sind. Ihre Kategorien sindhäufig polymorph, das heißt, durch ei-ne Anzahl von Regeln zu beschreiben,von denen ihre Elemente jeweils nureinen bestimmten Teil erfüllen. Leis-tungen des Bilderkennens, welche dieBildung polymorpher Objektklassenund deren sprachliche Beschreibungverlangen, bezeichnet man daher in derTechnik als Bildverstehen oder Bild-interpretation, die damit verbundenenKlassifikationsleistungen als solche dersyntaktischen Mustererkennung.30 DasBildverstehen ist also eine höhere Hirn-leistung als das bloße Unterscheidenvon Bildern anhand einzelner Merk-male.

Wir haben uns daher in einer weiterenReihe von Untersuchungen die Fragegestellt, ob im Gegensatz zum einfa-chen Unterscheiden von Bildern dasmenschliche Bildverstehen vom hapti-schen Erkundungshandeln beeinflusstwird. Als Testobjekte wählten wir hierdrei molekülartige Kugelmodelle ausStyropor (Abbildung 5). Zwei von ih-nen sind spiegelsymmetrisch, unter-scheiden sich also wie der linke und derrechte Handschuh. Von diesen Model-len wurden computergraphisch 22 Bild-ansichten aus unterschiedlichen Per-spektiven erzeugt (Abbildung 6). DieVersuchspersonen hatten die Zuord-nung dieser Ansichten zu den drei Ob-jektklassen im Mensch/Maschine-Dia-log zu lernen.

Der Witz der Untersuchung lag nun inder Bildung von zwei Gruppen vonProbanden, die mit unterschiedlichemVorwissen über die 3D-Objekte in dasLernexperiment eintraten. Die eine, vi-suelle Gruppe, hatte vor dem Lernendie Gelegenheit, die Bilder der Testob-

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jekte am Computer-Bildschirm durchBetätigen der Maus kontinuierlich hin-und herzuwenden. Die zweite, hapti-sche Gruppe, konnte die körperlichenKugelmodelle, das heißt die 3D-Objek-te, vor dem Lernen durch aktives Ma-nipulieren erkunden. Die Abbildung 7zeigt ganz rechts die Untersuchungser-gebnisse, die an Medizinstudenten ge-wonnen wurden. Sie erweisen, dass dieGenauigkeit der Erkennung von 3D-Objekten bei der Gruppe mit hapti-scher Vorerfahrung deutlich besser alsbei der Gruppe mit nur visuellem Vor-wissen ist. Die Abbildung zeigt darüber

hinaus die Ergebnisse einer Entwick-lungsstudie, an der 45 Schulkinder ausder dritten und vierten Grundschul-klasse (Altersstufen 8–9 und 9–10 Jah-re) sowie aus der achten Gymnasial-klasse (12–13 Jahre) teilgenommenhaben.31 Jede Altersgruppe bestand aus15 Kindern, die wiederum gleichmäßigden drei zuvor genannten Formen desVorwissens zugeordnet waren.

Das Ergebnis der Entwicklungsstudiezeigt für das Erlernen des Bildverste-hens eine Umkehrung der von Berke-ley und Piaget vorausgesagten Verhält-

Abbildung 6: Jeweils vier Ansichten der Kugelobjekte, wie sie zum bildkategorialen Lernen undzum Testen von Generalisierungsleistungen verwendet wurden.

Abbildung 5: Ansicht dreier Kugelobjekte, von denen das zweite und das dritte Rechts/Links-Ver-sionen voneinander sind.

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nisse: Die 8- bis 9-Jährigen haben nichtnur keinen Vorteil vom manuellen Be-greifen der Kugelobjekte, sondern siesind dadurch sogar gehemmt. Bei den9- bis 10-Jährigen zeigt sich dann einleichter Vorteil des tätigen Begreifens,der aber erst bei den 12- bis 13-Jährigenmit dem der Erwachsenen vergleich-bar wird. Das bedeutet, dass das Bild-verstehen im Gegensatz zur einfachenBildunterscheidung durch das hand-greifliche Erkunden der im Bild darge-stellten körperlichen Objekte gefördertwird. Diese Verstärkung des visuellendurch das haptische Begreifen ist je-doch im Grundschulalter kaum underst langsam zunehmend zur Zeit desEintritts in die gymnasiale Altersstufe

möglich. Die zuvor erwähnten Ergeb-nisse der Neuroanatomie machen eswahrscheinlich, dass die Ausbildungdieser visuo-haptischen und mögli-cherweise sogar supramodalen Hirn-funktion der spät einsetzenden undsich bis in das Erwachsenenalter hi-nein erstreckenden Reifung des Fron-talhirns zuzuschreiben ist.

5. Schlussfolgerungen

Die Ergebnisse unserer Überlegungenentsprechen zunächst den Gedankendes Bischofs Berkeley zur Entstehungder Gesichtswahrnehmung, die er mit folgenden Worten zusammenfasst:

Abbildung 7: Mittlere Erkennungsleistungen für die Kugelobjekte aus Abb. 5 von jeweils fünf Pro-banden, die einen vorgegebenen Zyklus des bildkategorialen Lernens durchlaufen haben. GraueBalken: Visuelle Vorerfahrung vor dem Eintritt in das Lernen durch mausgetriebene Drehung derObjektansichten am Computerbildschirm. Schwarze Balken: Haptische Vorerfahrung durch freieManipulation der körperlichen Objektmodelle vor dem Lernen. Fehlerangaben: Mittlere Fehler derMittelwerte (N=5). Altersangaben für die Probanden: 8–9 Jahre = 3. Grundschulklasse, 9–10 Jah-re = 4. Grundschulklasse, 13–14 Jahre = 8. Gymnasialklasse. > 20 Jahre = Medizinstudenten.Gleiche Anzahl männlicher und weiblicher Probanden (Quelle: vgl. Anm. 31)

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„Aus all dem können wir, wie ich mei-ne, mit Recht schließen, dass die ei-gentlichen Objekte des Sehens eineuniversale Sprache des Schöpfers derNatur bilden, durch die wir unterrich-tet werden, wie wir unsere Handlungeneinrichten müssen, um die Dinge zu er-reichen, die für die Erhaltung und dasWohlbefinden unseres Leibes nötigsind, wie auch zur Vermeidung all des-sen, was ihm nachteilig und schädlichsein kann. Es ist die Information jenerObjekte, durch die wir bei allen Unter-suchungen und Lebensverrichtungenhauptsächlich geleitet werden. Und dieArt und Weise, wie sie uns die Objekte,die sich in einer Entfernung befinden,bezeichnen und kenntlich machen, istdieselbe wie die der Sprachen und Zei-chen auf Grund menschlicher Verein-barung, die ja die bezeichneten Dingenicht auf Grund natürlicher Ähnlich-keit oder Identität suggerieren, sondernnur auf Grund einer gewohnheits-mäßigen Verknüpfung zwischen ihnen,zu deren Beachtung uns die Erfahrunggeführt hat“32.

Mit dieser Auffassung vom Gegenstandder Wahrnehmung zeigt sich uns Ber-keley als der eigentliche Urheber einerLehre, die von der heutigen Psycholo-gie mit dem Begriff der ökologischenOptik33 gekennzeichnet wird. Von derTradition des englischen Empirismusgeprägt, sah er den Beginn des Wahr-nehmungsvorganges jedoch, ebensowie nach ihm Kant, in der Aufnahmeeinfacher und beziehungsloser Ein-drücke, denen Bedeutung erst durchden Verweis auf ein zu Bezeichnendesentsteht. In entsprechender Weise warfür Berkeley die Sprache aus zunächstsinnlosen Elementen, den Lauten, auf-gebaut, die durch Assoziation mit Er-fahrungen Bedeutung erlangen. Das

waren die Voraussetzungen, die ihneine Verwandtschaft zwischen der Ge-sichtswahrnehmung und dem Ver-stehen der Sprache annehmen ließen.

Die Philosophie des 20. Jahrhundertsbrachte mit dem Aufkommen der sym-boltheoretischen Betrachtungsweise desmenschlichen Denkens eine Abkehrvon der empiristischen Tradition. Siehat tiefe Spuren in der Linguistik undschließlich im allgemeinen Verständ-nis vom Wesen sprachlicher Leistun-gen hinterlassen, die seither als unver-zichtbarer Ausweis von Bildung gelten.Denker wie Ludwig Wittgenstein34 undAlfred North Whitehead35 wolltenihren strukturalistischen Ansatz aberkeineswegs auf das beschränken, wo-von man sprechen kann. Für White-head sind Verknüpfungen oder Rela-tionen Grundbedingungen des Wahr-nehmungsvorganges und nicht etwas,das von der menschlichen Vernunft an-sonsten strukturlosen Empfindungenhinzugefügt wird.36 Diesen Ansatz hatGeorge Spencer Brown in brillianterWeise dadurch formalisiert, dass er ei-nen mathematischen Kalkül zur Be-schreibung der Form aus Kontext-zusammenhängen geschaffen hat.37

Anders als die Linguistik hat sich je-doch die Wahrnehmungspsychologiedieser Entwicklung bislang versagt, sodass die sog. Theorie der dualen Kodie-rung sinnlicher Erfahrungen in sprach-liche und bildliche Formen dort so gutwie keinen Widerspruch findet.38

Unsere Befunde zum menschlichenBildverstehen, die auf Anstöße aus derDisziplin der technischen Signalver-arbeitung zurückgehen, rücken die Gesichtswahrnehmung aber wieder indie Nähe sprachlicher Leistungen. Daskönnte man als eine Grenzveränderung

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zwischen wissenschaftlichen Provinzenabtun, wenn diese Befunde nicht auchnoch das geflügelte Wort ins Wankenbrächten, nach dem ein Bild mehr alstausend Worte sagt. Bilder teilen einentieferen Gehalt offenbar nur dem mit,der das Lesen von Bildern wie eine ei-gene Sprache gelernt hat, und solchesLernen wird durch aktives Probehan-deln in den späten Jahren der Kindheitnachhaltig gefördert.

Es ist also gut, dass in der Grundschul-pädagogik heute große und erfolgrei-che Anstrengungen zur Förderung despraktischen und alle Sinne erreichen-den Lernens unternommen werden. Esist jedoch weniger gut, die Gymnasial-stufe fast ausschließlich der Vermitt-lung abstrakter Wissensinhalte zu wid-men und aus ihr eine Universität imVerdünnungsverhältnis 1:10 machenzu wollen. Wie wir gezeigt haben,braucht der junge Mensch zeitgleichmit der Phase der Pubertät Formen desLernens, die das Vorstellungsvermögenfördern und körperliches Erkundungs-handeln einschließen. Möglicherweisekann die Weichenstellung zwischen re-produktiver und kreativer Intelligenz

sonst nicht nachhaltig genug in der an-gestrebten Richtung vollzogen werden.

Wenn wir in diesem Sinne die ästheti-sche Bildung als eine Sache des wahr-nehmungsbasierten Handelns und dieSinne einbeziehenden Lernens begrei-fen, dann gehen wir über den kantischeingeengten Ästhetikbegriff hinaus. ImSinne der Hermeneutik Gadamers rücktdamit die Abgrenzung in den Mittel-punkt des Interesses, die Aristoteles inseiner Nikomachischen Ethik zwischendem theoretischen Wissen der Wissen-schaft, der Episteme, und dem sittli-chen Wissen, der Phronesis, vornimmt:Mit dem Wissen der Episteme steht derMensch Sachverhalten gegenüber, dieer lediglich feststellt. Das Wissen derPhronesis kann und soll sein eigenesTun leiten.39

In diesem Sinne sollte die ästhetischeBildung heute auf die Rückbindungvon Wahrnehmung und Wissen an dasrechte Tun, und damit, wiederum imSinne der Gadamerschen Hermeneutik,auf die Vermittlung der klassischen Auffassung von Ethik gerichtet wer-den.40

Anmerkungen1 Schiller, F.(1795): Über die ästhetische Er-

ziehung des Menschen, in einer Reihevon Briefen, 26. Brief, München 1975.

2 Spencer, H. (1854): Personal Beauty,http://prof.mt.tama.hosei.ac.jp/~hhira-no/academia/spencer2.htm

3 Kant, I. (1790): Kritik der Urteilskraft, Er-ster Teil, §15, Philosophische Bibliothek,Bd.39a, Felix Meiner, Hamburg 1924.

4 Gadamer, H.-G.: Hermeneutik I, Wahrheitund Methode, Tübingen 1996, Kap.1.2.

5 Adorno, Th.W.: Ästhetische Theorie,Frankfurt a. M. 1970, S.87.

6 Gadamer, H.-G., Hermeneutik I, S.88.7 Beevor, A.: Stalingrad, London 1998, S.

283.8 Yin-Yang für Millionen, in: Die Zeit,

40/2001,http://www.zeit.de/2001/40/Wirtschaft/print_200140_wellness.html

9 Frühwald, W.: Der „optimierte Mensch“.Über Gentechnik, Forschungsfreiheit,Menschenbild und Zukunft der Wissen-schaft, in: Forschung & Lehre 8/2001, S.402–405.

10 Medawar, P.: The Art of the Soluble, Lon-don 1967.

11 Wittgenstein, L.: Bemerkungen über diePhilosophie der Psychologie, in: Schrif-ten, Bd.8, G.E.M. Anscombe / G.H. vonWright (Hg.), Frankfurt a.M. 1982.

12 Mumford, D.: On the computational ar-chitecture of the neocortex II. The role ofcortico-cortical loops, Biological Cyber-netics 66, 1992, S.241–251.

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42 Ingo Rentschler

13 Rentschler, I./Caelli, T./Bischof, W./Jütt-ner, M. (Hg.): Special Issue on: Object re-cognition and image understanding bybrain and machines, Spatial Vision 13,2000, No.2–3.

14 Rentschler, I./Herzberger, B./Epstein, D.(Hg.): Beauty and the Brain – BiologicalAspects of Aesthetics, Basel 1988.

15 Zeki, S. : Inner Vision, Oxford 1999.16 Malevich, K.: Die gegenstandslose Welt,

München 1927, Nachdruck: Mainz 1980,S.29.

17 Arnheim, R.: Beauty and the Brain: Bio-logical Aspects of Aesthetics, Leonardo 231990, S.144–145 (dt. Übersetzung IR).

18 Rentschler, I./Jüttner, M./Unzicker, A.: In-nate and learned components of humanvisual preference, Current Biology 9 1999,S.665–671.

19 Pugh, G.E.: The Biological Origins of Hu-man Values, London 1978.

20 Gombrich, E.H.: Psycho-Analysis and theHistory of Art, in: Meditations on aHobby Horse – and other Essays on theTheory of Art, London 1973, S.30–44.

21 Pugh, G.E.: The Biological Origins ofHuman Values, London 1978.

22 Haneke, M.: Benny’s Video, Absolut Me-dien 932

23 Capurro, R.: Höhleneingänge. PlatonsHöhlengleichnis als Metapher des infor-mationstechnologischen Zeitalters, 1996,http://machno.hbi- stuttgart.de/~capur-ro/homepage.htm

24 Berkeley, G. (1709): An Essay Towards aNew Theory of Vision, 3rd ed., Dublin.1734, §54.

25 Piaget, J./Inhelder, B.: Die Entwicklungdes inneren Bildes beim Kind, Frankfurta.M. 1979.

26 Spelke, E. S. : Perceptual knowledge ofobjects in infancy, in: J. Mehler./M. Gar-

rett/E. Walker (Hg.), Perspectives on Men-tal Representation, Hillsdale N.J. 1982, S.409–430.

27 Rock, I./Haris, Ch.: Vision and Touch, in:Perception: Mechanisms and Models.Readings from Scientific American, SanFrancisco 1972.

28 Ryle, G.: The Concept of the Mind, Lon-don 1951.

29 Wittgenstein, L.: Philosophical Investi-gations, Oxford 1968 3rd ed.

30 Caelli, T./Bischof, W.: Machine Learningand Image Interpretation, New York 1997.

31 Rentschler, I./Jüttner, M./Osman, E./Mül-ler/A./Caelli, T.: Visuo-haptic mental representations for visual 3D-object recognition (zur Veröffentlichung ein-gereicht); Jüttner, M./Rentschler, I.: Imagery in multi-modal object learning.Commentary on Pylyshin. Behavioraland Brain Sciences, in Druck.

32 Berkeley, G. (1734), An Essay, §147.33 Gibson, J.J.: Die Sinne und der Prozeß der

Wahrnehmung, Bern 1973.34 Wittgenstein, L.: Tractatus logico-philo-

sophicus, London 1922.35 North Whitehead, A.: Symbolism. Its

Meaning and Effect. Barbour-Page Lectu-res, University of Virginia 1927,http://website.com/alan/symbolism.html

36 Lachmann, R./North Whitehead, A. (Hg.):Kulturelle Symbolisierung, Frankfurt a.M. 2000, S.7–53.

37 Spencer Brown, G.: Laws of Form, Lon-don 1969.

38 Garner, A./Oakhill, J.: Thinking and Rea-soning, Oxford 2001.

39 Gadamer H.-G., Hermeneutik I, S.317–329.40 Sabine Gross, Madison/Wisconsin, und

Alexander Müller, München, sei für Ver-besserungsvorschläge zu diesem Manus-kript gedankt.

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Politische Studien, Heft 385, 53. Jahrgang, September/Oktober 2002

1. Einführung

Das Thema ist die Zukunft der Kunst-erziehung. Jedes Gespräch über die Zu-kunft ist aber auch ein verkapptes Ge-spräch über die Gegenwart und ihre –meist unbegriffenen – historischen Vor-aussetzungen. Man kann die Zukunftnicht diskutieren, ohne die Vergan-genheit vor Augen zu haben. Deswegenwird der enthusiastische Utopist überkurz oder lang zum nüchternen Histo-riker – das ist der Joschka-Fischer-Effektfür Geisteswissenschaftler.

Ohnehin hat es nur dann Sinn, die Zu-kunft einer Institution zu erörtern,wenn man mit den Visionen auch dieChancen ihrer Durchsetzbarkeit be-denkt, sonst bleibt es ein Sandkasten-spiel. Über ihre Durchsetzbarkeit lerntman allerdings nichts aus den Utopienselbst, sondern aus der Geschichte ih-res notorischen Scheiterns. Deshalb istdie Geschichte das Zentralorgan derUtopie.

Zudem ist es undankbar, über die Zu-kunft zu schreiben, denn sie hat ein zuschnelles Verfallsdatum. Nichts altertschneller als die Zukunft: Schon imVerkünden der Gedanken werden sie

Makulatur, jedenfalls in der schnell-lebigen Moderne. Wer gestern nochschnelllebig mit zwei l schrieb, sieht jaheute schon alt aus.

Das rasche Verfallsdatum der Zukunfthat die utopie-selige Moderne selber ineine wohlverdiente Krise gebracht. Aus-druck dieser Krise war die Ausrufungder Postmoderne, die nicht mehr überdie Zukunft sprechen wollte, sonderndie Vergangenheit rehabilitierte. DieseRevision hat gezeigt, wie viele kulturelleMöglichkeiten die verschleißintensiveModerne im Handumdrehen in Ver-gangenheit verwandelte, ohne derenPotenziale wirklich genutzt und zu En-de diskutiert zu haben.

Die Postmoderne hat den Blick aufdiese unabgerufenen Potenziale derGeschichte fokussiert und dabei denskeptischen Verdacht lanciert, die Ge-schichte könne mehr ungenutzte Mög-lichkeiten auf Vorrat halten, als die Zu-kunft sie bereithält. Darin steckt einewichtige Anregung, nämlich die Ideeder Rettung der Kultur vor der Ge-schichte, wie sie schon in der Philoso-phie Walter Benjamins eine zentraleRolle spielt. In einer pointierten Cha-rakterisierung dieser Geschichtsphilo-

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sophie hat Jürgen Habermas von Ben-jamins „semantischem Materialismus“gesprochen, der vorschnell verworfeneLebensentwürfe und Existenzdeutun-gen zu bewahren versucht.

Benjamins Idee der Rettung beruht aufder Erkenntnis, dass die geistigen Res-sourcen nicht beliebig erweiterbar sind.Von den materiellen Ressourcen habenwir das inzwischen mühsam gelernt,wenn wir auch immer noch weit davonentfernt sind, daraus die nötigen Kon-sequenzen zu ziehen. Von den geisti-gen Ressourcen, um diese unangemes-sene Bezeichnung weiter zu benutzen,wissen wir das erst seit kurzem. Aber„Sinn“ ist, um eine Formulierung vonHabermas zu verwenden, „Sinn ist ei-ne knappe Ressource“ und darf deswe-gen nicht so bereitwillig verschwendetwerden, wie die Moderne es tat. Dahergilt wohl: Geschichte allein macht zu-kunftsfähig.

Damit bin ich Ihnen im Folgenden denNachweis schuldig, dass es lohnt, sichim Hinblick auf die Zukunft der Kunst-erziehung mit deren Geschichte zu be-schäftigen. Ich möchte diesen Nach-weis im ersten Teil meines Aufsatzesmit der Geschichte der Kunsterziehungführen, aber mit einem eher unbe-kannten Kapitel. Es geht nicht um Ge-schichte der schulischen Kunsterzie-hung, sondern um ihr Verhältnis zuraußerschulischen Kunstvermittlung.Dabei werde ich den Gedanken nahezu bringen versuchen, dass die schuli-sche Instrumentierung der Kunst nureinen Teil der gesellschaftlichen Inte-ressen repräsentiert, die sich auf dieKunst richten.

Im zweiten Teil werde ich an einemkonkreten und aktuellen Beispiel sol-

che Interessen benennen, die sich aufdie Kunst richten und für die schu-lische Form des Kunstunterrichts vonBelang sein könnten. Dieses Beispielstammt aus der Kulturarbeit der Wirt-schaft. Zunächst geht es also um dasSpannungsverhältnis zwischen derschulischen und der außerschulischenKunsterziehung, dann um das Span-nungsverhältnis von Kunsterziehungund Wirtschaft.

2. Das Spannungsverhältnis zwischen der schulischen und außerschulischen Kunst-vermittlung

Bis zum Beginn des 20. Jahrhundertshaben nur diejenigen einen regelrech-ten Kunstunterricht erhalten, die auchselber Künstler werden wollten. Dieseserste Kapitel der Geschichte des ins-titutionalisierten Kunstunterrichts istnicht so schlecht erforscht wie viele an-dere, denn der Hamburger Kunsthis-toriker Wolfgang Kemp hat der Ge-schichte des Zeichenunterrichts einesseiner Bücher gewidmet.

Von diesen frühen Zeichenschulen ha-ben zwei Typen in standardisierter Formüberlebt: die Kunstakademien sowie dieehemaligen Werkkunst- und Kunstge-werbeschulen, die heute in der Regel inden Fachhochschulen angesiedelt sind.Daneben gibt es aber noch eine dritteForm, die in der Geschichtsschreibungund Theorie der Kunsterziehung kaumeine Rolle spielt, obwohl sie die ältes-te ist. Ich meine den künstlerischen Privatunterricht. Er wurde und wirddurch freie Schulen, Privatinstitute undAmateurvereine angeboten, die einweißer Fleck in der Geschichtsschrei-bung der Kunsterziehung sind.

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Während die Kunstakademien undKunstgewerbeschulen zwei Formen derProfessionalisierung darstellen, wa-ren und sind die vielfältigen privatenInitiativen überwiegend an den Ama-teur gerichtet, den Liebhaber. In derModerne hat dieser Amateur keingroßes Ansehen mehr, aber im 18. Jahr-hundert spielte er nahezu unangefoch-ten die bedeutendste Rolle im Umgangmit der Kunst.

Heutzutage kommt die professionelleForm der Kunsterziehung aus den Uni-versitäten und Kunstakademien, aberihre historischen Wurzeln hat sie maß-geblich in der Bildungskultur des Ama-teurs oder – um einen heute nochweniger angesehenen, ehemals aberebenfalls ruhmreichen Begriff zu ver-wenden – des Dilettanten.

Der künstlerische Privatunterricht istein ganz besonderes Modell des Unter-richts, weil er freiwillig besucht wird –im Zuge der allgemeinen Schulpflichtist Unterricht ja immer seltener einefreiwillige Veranstaltung gewesen. DerPrivatunterricht wurde und wird zumgroßen Teil von denjenigen nachge-fragt, die nicht professionelle Künstleroder Kunsterzieher werden wollen. Die-ser gewissermaßen inoffizielle Kunst-unterricht hat sich neben der staatlichreglementierten Professionalisierungvon Kunsterziehern an Akademien undUniversitäten bis heute erhalten. Sol-che freien Kunstschulen gab und gibtes in zahlreichen Varianten, aber ge-meinsam ist ihnen, dass ihre freiwilli-gen Benutzer dafür zu zahlen haben.Diese Zahlungsbereitschaft ist ein be-deutsamer soziologischer Index für dasInteresse an der Praxis der Kunst. Indieser Nachfrage gibt sich nämlich eingesellschaftliches Interesse an der Kunst

zu erkennen, das sich nicht in derBerufsqualifikation erschöpft, wie sieansonsten zum dominanten Motiv derstaatlichen Schulen geworden ist.

Freie Kunstschulen haben um die Wen-de zum 20. Jahrhundert floriert undzwar gerade in München und sie bil-deten wichtige Einkommensquellen fürdie professionalisierten Künstler, dieAkademieabsolventen sowie auch füreinige Professoren. Einige dieser Pri-vatschulen waren Vorschulen für dieAkademie (so etwa die berühmte Azbe-Schule, in der Kandinsky sich für dieAufnahmeprüfung vorbereitete). Dochdie meisten waren – und sind – regel-rechte Privatschulen mit gemischtemPublikum, das sich hier in seiner Frei-zeit und meist auch nur für seine Frei-zeit qualifizierte.

Bekanntlich hat Kandinsky dann auchselber eine solche Privatschule gegrün-det und geleitet, wo er Gabriele Mün-ter kennen lernte. Das war kein Zufall,denn das Privatschulmodell stand da-mals schon im Ruch einer Hobbyaus-bildung für junge Damen des geho-benen Bürgertums, die Klavier undFranzösisch schon konnten und nunauch noch die Aquarelltechnik erler-nen wollten. Bildungselemente, diehauptsächlich von Frauen nachgefragtwurden, galten in der Moderne nochweniger als die Interessen des männli-chen Amateurs, auch wenn die Nach-frage nach solchen gebildeten Frauendavon unberührt blieb.

Die Bedeutung der künstlerischen Pri-vatschulen für die Frauen war um dieJahrhundertwende allerdings ambiva-lent, denn ihnen war der Weg zur pro-fessionellen Kunstausbildung an denKunstakademien verwehrt. Bis in die

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ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhundertshinein waren Privatschulen und Verei-ne für viele Künstlerinnen die einzigeMöglichkeit der Professionalisierung,wofür ich hier nur das Beispiel vonKäthe Kollwitz anzuführen brauche.

Erst zu Beginn des 20. Jahrhundertsfanden Frauen nicht nur als Akt-modelle und Gaststudenten, sondernauch als vollwertige Studenten Zugangzu den Akademien; 1919 erteilte derbayerische Staat seine offizielle Voll-studienerlaubnis für Frauen an derMünchner Akademie. Eine polnischeStudentin hatte diesen Mangel übrigenszuvor dadurch kompensiert, dass sieunter dem Namen ihres Bruders und inMännerkleidern an unserer Akademiestudierte.

Das schlechte Ansehen der Privatschu-len hat sicher mit dem statistisch ver-mutlich weit überwiegenden Anteilweiblicher Nutzer zu tun gehabt. Weilsie von der Professionalisierung offi-ziell ausgeschlossen waren, konnte undwollte man ihnen keine ernsthaftenAbsichten, sondern nur eine gehobeneFreizeitbeschäftigung unterstellen: DerAusschluss aus der Professionalisierungwurde durch das Vorurteil des Hobby-charakters verharmlost. In der hohenNachfrage nach privatem Kunstunter-richt zeigt sich aber seit dem 18. Jahr-hundert ein Bündel von Motivationen,das in der Geschichte der Kunsterzie-hung nur selten berücksichtigt wird.Lässt sich die Geschichte des offiziellenUnterrichts leicht schreiben, weil Do-kumente produziert, zentralisiert undarchiviert werden, so ist die Geschich-te des dezentralen, privaten und unko-ordinierten Laienunterrichts ein weißesFeld und wird es in vielerlei Hinsichtauch bleiben müssen. Das ist schade,

denn ich behaupte, dass der missach-tete Laienunterricht für ein Motiv desUmgangs mit der Kunst steht, das imoffiziellen Kunstunterricht an denSchulen längst marginalisiert ist. Nen-nen wir es die Suche nach Glück. Die-ses Motiv führt nicht immer zu bemer-kenswerten Ergebnissen im Sinne derkünstlerischen Qualität, aber es reprä-sentiert eine erhebliche Qualität desUmgangs mit Kunst.

Ich behaupte, dass das Hauptmotiv fürdie einst enorme Nachfrage nach frei-em Kunstunterricht ein spezifischer„pursuit of happiness“ gewesen ist, wieer nur in der amerikanischen, nichtaber in der deutschen Verfassung ga-rantiert ist, ein Verlangen nach einemspezifischen Glück, das nur im Umgangmit der Kunst zu erwerben war und ist.In der einst hohen Nachfrage nach pri-vatem Kunstunterricht ist schon frühetwas anderes gesucht worden als dieProfessionalisierung in einer Berufswelt.Vielmehr ging es um die theoretischewie praktische Teilhabe an einem we-sentlichen Bereich der Kultur, um dieEntwicklung des Kunstverständnissesim Nachvollzug ebenso wie um die Bil-dung der Sinne und Emotionen, denGebrauch der Sinnesorgane und diekreative Koordination des Körpers, dieauch dann beglückend sein können,wenn es die Ergebnisse nicht sind.Dieses Glück kann, im Gegensatz zuden Arbeitsergebnissen der profes-sionalisierten Kunst, nur eine beschei-dene Öffentlichkeit beanspruchen,sollte aber eine größere Aufmerksam-keit in der Theorie der Kunsterziehungfinden. Für die Kunsterziehung ist dasGlück aber nur selten ein Thema, undso hat sie eines der Hauptmotive ihrerEntstehung nicht ausreichend verstan-den.

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Das Angebot einer zivilen Glückser-fahrung lässt sich noch als Motiv derKunsterziehungsbewegung verstehen,die um die Jahrhundertwende die Ein-führung des Schulfaches Kunst vorbe-reitete. Denn ein Motiv dieses Angebo-tes war es, das bis dahin bürgerlichePrivileg des freien Kunstunterrichtesaufzuheben und es zu demokratisieren.Nun traten an die Stelle der rein pri-vatwirtschaftlichen zahlreiche kosten-lose Angebote, zu deren Pionieren et-wa der Hamburger MuseumsdirektorAlfred Lichtwark zählte, der auch zu Be-ginn des 20. Jahrhunderts zu den Mit-begründern der deutschen Kunster-ziehungsbewegung gehörte. Nun solltediese Teilhabe nicht mehr nur ein Pri-vileg bürgerlicher Damen sein, sonderneine Art Volksbildung werden. Diesersinnliche Bildungsgedanke fand seineForen zunächst außerhalb der Schu-le: Museen und Kunstvereine warenvorübergehend die öffentlichen Orteund Organisationsknotenpunkte einerVolksbildung, die erst danach zum ins-titutionalisiertem Kunstunterricht inden allgemeinen Schulen führte.

Museen, Kunstvereine und Privatschu-len sind also vor und neben der Schu-le das Organon eines Kunstunterrichtsgewesen, der in seinen pädagogischenDimensionen freilich unterdefiniert warund gleichsam naturwüchsig funktio-nierte. Die große Streuung seiner For-men und Adressaten ist mit dafür ver-antwortlich, dass er heute nur vongeringer historischer Überprüfbarkeitist. Aber es spricht für sich, dass einanderer Mitbegründer der deutschenKunsterziehungsbewegung, der Hage-ner Unternehmer und KunstsammlerKarl Ernst Osthaus, am Jahrhundertan-fang zunächst ein Museum für dieseVolksbildung gründete, das Folkwang-

Museum, und erst Jahre später aucheine Schule, die Folkwang-Schule; dasist offenbar die Reihenfolge der Eta-blierung des Kunstunterrichts als eindemokratisches Unternehmen. Erstdurch die Forderung nach einem brei-ten Laienunterricht haben sich die zu-vor disparaten Formen des Kunst-unterrichts in der Kunsterzieher-bewegung fusioniert und dann flä-chendeckend und schichtenübergrei-fend die Schule erreicht und derenStundentafel beeinflusst.

Bei diesem Übergang, das wäre meinekritische These, sind aber wichtige Ur-sprungsimpulse verloren gegangen undOpfer einer falsch verstandenen Pro-fessionalisierung geworden. Denn inder Theorie der Kunsterziehung ist dasGlück nur selten ein Thema. Sie hatsich im Verlauf ihrer Professionalisie-rung beinahe nur noch auf die schuli-sche Form der Kunsterziehung kon-zentriert und deren Vorläufer undKonkurrenten zunehmend ignoriert.

Das ist aber nicht die einzige Schwächeder kunstpädagogischen Fachliteratur.Auch aus anderen Gründen hege icheinen großen Argwohn gegen sie. Dashat erstens mit ihrer Lesbarkeit zu tun.Ich finde, Lesbarkeit und Verständlich-keit sind die Höflichkeit des Intellek-tuellen, und daran gemessen haben wires bei der Pädagogik oft mit einer un-höflichen Wissenschaft zu tun; daranhat ihre Umwidmung zur Erziehungs-wissenschaft nicht viel verbessert. Hin-zu kommt eine eher unbefriedigendeForschungslage. Viele Detailstudien, diein Ansatz und Niveau höchst unter-schiedlich sind, liegen vor, aber einekritische Gesamtschau steht noch aus,in der die Ideengeschichte der Kunst-erziehung insgesamt strukturiert und

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diskutiert würde. Zwar hat die Kunst-erziehung in den Sechzigerjahren da-mit begonnen, ihre eigene Geschichtekritisch zu reflektieren, aber diese Un-ternehmen waren ihrerseits durchausnicht ideologiefrei. Die Kritiker derKunsterziehung haben zwar, wie hierzu Lande nur zu üblich, fleißig die Ideo-logien der anderen kritisiert, die eige-nen aber kaum reflektiert.

Hauptsächlich gründet mein Argwohnaber auf der Erkenntnis, dass man esbei den Theoretikern der Pädagogik inder Regel mit Praxisflüchtern zu tunhat. Wie viele Schulpädagogen wa-ren erleichtert, als sie es mit Hilfe ih-rer Schriften geschafft hatten, an eineHochschule wechseln zu dürfen undnicht mehr in der Schule lehren zumüssen? Wie wenige waren, wie Hart-mut von Hentig, dazu bereit, dasFlüchtlingsprivileg der Hochschullehreauszuschlagen und selber an der Schu-le zu lehren, über die man schreibt? Istman ein guter Pädagoge, wenn manüber Pädagogik nur lehrt, schreibt undforscht, ohne sie auch täglich zu be-treiben? Ich habe es mir angewöhnt,schulpädagogischer Literatur nur nochdann zu trauen, wenn ihr Autor eineSchulpraxis reflektiert, in der er steht.

Das meine ich durchaus nicht so hä-misch, wie es sich vielleicht anhört,denn ich rede auch über mich selber.Auch ich bin Praxisflüchtling, weil ichnach erfolgreichem Abschluss meinerReferendarzeit die Entscheidung gefällthabe, eine damals noch sichere An-schlussstelle als Studienassessor für ei-ne unsichere Tätigkeit als Journalistund Kunstkritiker auszuschlagen. Da-bei hatte ich nach dem Ersten Staats-examen tatsächlich Lehrer werdenwollen, weil mich die künstliche Pra-

xisferne der Universitäten zunehmendentnervte. Seither habe ich den höch-sten Respekt vor der Tätigkeit des Leh-rers, weil ich mich, ehrlich gesagt, nicht dafür ausgesehen habe, das zuschaffen, was andere seit Jahren schaf-fen. Weil ich selber erlebt habe, was esheißt, pro Morgen rund hundertsech-zig verschiedene Gesichter nahezu pau-senlos von vorne zu sehen und sie,meist gegen ihren trägen Willen, mitWissen zu konfrontieren und an-schließend auch noch gerecht zu be-noten, zolle ich jedem, der das täglichdurchsteht, unbesehen schon meinerein sportliche Bewunderung.

Als bekennender Praxisflüchtling redeich daher nicht ohne Not über Pädago-gik. Wenn ich dann doch einmal überPädagogik reden muss, dann darf ichmir vielleicht die Freiheit erlauben, einpaar unbequeme Gedanken vorzubrin-gen, denn auch die fehlen mir in derpädagogischen Fachliteratur. Zudem istdie akademische Schulpädagogik im-mer so furchtbar von ihrer Umsetzbar-keit überzeugt, auch das erklärt sichdurch ihre strukturelle Praxisferne.

Es hat mir jedenfalls – und damit kom-me ich zum Thema des Glücks zurück– sehr zu denken gegeben, dass meinehemaliger, viel zu früh verstorbenerKollege Rudolf Seitz sein Heil schließ-lich auch außerhalb der Schule suchte.Denn seine „Schule der Phantasie“ warja nicht nur eine Bereicherung derBildungslandschaft, sondern auch dieKritik einer Gegengründung. Individu-elle Schulgründungen sind aber in derGeschichte der Pädagogik immer diezuverlässigsten Indikatoren für die Kri-se der Normalschule gewesen. In ihnenkehrt das verdrängte Erbe der Privat-initiativen zurück und wird zur Her-

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ausforderung der Institution. Rudi Seitz,ein kleiner Mann mit einem großenHerzen, hat dabei nicht nur sein per-sönliches Glück gesucht, sondern dasder Kinder (und auch anderer Laien).Ist das Glück der Kunst in unserer Zeitnur noch in der kritischen Form einerGegengründung eine pädagogisch dis-kutable Idee?

Ich habe dieses Thema vor kurzem ein-mal bei einer öffentlichen Podiums-diskussion in unserer Akademie ange-sprochen, worauf mir von einem nurwenig jüngeren Kurator vorgeworfenwurde, ich predigte ja nun schon seitJahren nur noch neo-konservativeIdeen. Dabei hatte ich beim Glück eheran Marcuse gedacht, an beide übrigens,Herbert wie Ludwig. Nun soll HerbertMarcuse, wie man immer wieder hört,weder ein besonders glücklicher nochfür seine Mitmenschen beglückenderMensch gewesen sein – das muss einPhilosoph, der über das Glück nach-denkt, auch nicht sein. Aber LudwigMarcuse verdanken wir eines derwenigen Bücher zur Geschichte desGlücks, einen historischen Exkurs un-ter den Voraussetzungen der Moderne.

Aus dem Podiums-Missverständnis ha-be ich den Schluss gezogen, dass sichauch in der Kunstvermittlung inzwi-schen eine gewisse Angestelltenmen-talität breit gemacht hat, die man mitErinnerungen an den ursprünglichenZweck des ganzen Unternehmens nurprovozieren kann.

Nun ist das Glück sicherlich keineAusbildungs-, sondern eine Bildungs-erfahrung. Wie – nach einem Wort vonHarry Rowohlt – die Freiheit nur echtist ohne Gebrauchsanweisung, kanndas Glück kein Lernziel sein, freilich

aber auch nicht der übliche Lusthakender Motivationsphase. Es ist eine He-rausforderung der Schule, in derenTheorie und Praxis es immer wenigereine Rolle spielt. Das hat vor allem mitder seit Jahrzehnten schleichenden Ver-drängung des musischen Unterrichtesvon der Stundentafel zu tun, einer fa-talen Entwicklung, bei der die Schuleihre Bildungsaufgabe zunehmend ihrenAusbildungsaufgaben opfert.

Aby Warburg hat angesichts der Be-deutung der Kunstgeschichte von den„Menschenrechten des Auges“ gespro-chen, angesichts des musischen Unter-richts kann man analog von den Men-schenrechten der Sinne reden, die es zubeachten gilt. Für sie ist nicht nur derKunst- und Musikunterricht zuständig,sondern auch die Literatur und derSport. Aber hier sind die Verhältnisselängst aus dem Gleichgewicht.

Was den Musikunterricht angeht, kannman in Bayern glauben, dass seine Mar-ginalisierung nicht so gravierend ist,weil ein flächendeckendes System vongebührenpflichtigen Musikschulen inhalbkommunaler und halbprivater Trä-gerschaft existiert. Als ich vor Jahrenvon Nordrhein-Westfalen nach Bayernwechselte, hat es auch mich beein-druckt, wie gut dieses System funktio-niert. Aber es kann keine Alternative,sondern nur eine Ergänzung zum mu-sischen Unterricht der Schulen sein.Wie gut die freien Musikschulen auchsein mögen, man kann den Musikun-terricht deswegen nicht aus den Schu-len outsourcen; das hat ja offenbarauch keiner vor.

Aber wie steht es um die Kunst? IhremBedeutungsrückgang in der Stundenta-fel entspricht kein System freier Kunst-

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schulen, das eine solche Entwicklungauffangen würde, und das wäre aucheine falsche Forderung. Das Outsour-cing des musischen Unterrichts hättein der Kunst ohnehin keine vergleich-bare Perspektive, weil Musik allgemeinund traditionell auch Vereinssache ist,Kunst dagegen nur in den privilegier-ten Schichten. Der Abbau des musi-schen Unterrichts würde also genau diePrivilegien wieder aufbauen, um derenAbbau willen die Kunsterziehungsbe-wegung entstand.

Es ist aufschlussreich, diese Entwick-lung im Kontrast zum Schulsport zusehen. Obwohl gerade der Laiensporttraditionell Vereinssache ist und Ama-teure hier ein weitaus höheres Ansehengenießen als in allen Künsten, lässt dieSchule von ihrer Lehrbereitschaft indiesem Fach weniger nach als bei den im klassischen Sinne musischenFächern. Das hat viele Gründe, aberauch den, dass sich die Schule beimSport in der Pflicht einer Nachwuchs-sicherung sieht, die sie bei der Kunstimmer weniger wahrnehmen will. Da-bei sind in der Kunst, wie in jedemanderen Fach auch, Glücks- und Er-folgserfahrungen des Unterrichts maß-geblich für spätere Professionalisie-rung. Im Sport weiß man, wie früh dieNachwuchsförderung einsetzen muss –gerade angesichts des gegenwärtigenZustands unserer Fußball-National-mannschaft –, in der Kunst setzt mandagegen offenbar auf die Hoffnung,dass die Meister vom Himmel fallen.Das ist eine nicht nachvollziehbare Be-nachteiligung gegenüber dem Sportund auch der Musik.

Übrigens auch gegenüber der Litera-tur, die im allgemein qualifizierendenDeutschunterricht ihren krisensicheren

Platz gefunden hat. Aber auch hier zeigtsich – etwa am Beispiel des vorbildli-chen „Weilheimer Literaturpreises“, denFriedrich Denk und seine Kollegen amdortigen Gymnasium etabliert haben –dass es mehr als nur des Unterrichts be-darf, um den musischen Fächern anden Schulen angemessene Perspektivenzu eröffnen. Das ist für die Kunsterzie-her nicht neu, denn sie werden an denSchulen immer auch als kostenloseSchulfest-Ausstatter und Orientierungs-Designer verschlissen, doch schlägt sichdas nur selten im Ansehen ihres Unter-richts an den Schulen nieder.

3. Das Spannungsverhältnis von Kunsterziehung undWirtschaft

Dagegen hat die Kunst traditionell undheute wieder ein hohes Ansehen in derWirtschaft, womit ich zum zweiten Teilmeines Beitrages komme, zum Ver-hältnis von Kunst und Wirtschaft.

Ich habe vor zwei Jahren die Chanceaufgegriffen, die wenig bekannte Men-talitätsgeschichte des Verhältnisses vonKunst und Wirtschaft einmal an einemkonkreten Beispiel zu untersuchen. Siebot sich, als der „Kulturkreis der deut-schen Wirtschaft“ – ein eingetragenerVerein im Bundesverband der Deut-schen Industrie, dem BDI – sein Ju-biläum vorbereitete. Mein MitarbeiterWolfgang Ullrich und ich haben dasArchiv dieses Kulturkreises und andereQuellen daraufhin befragt, ob sich ander Nahtstelle zwischen Kultur- undWirtschaftsförderung Aufschlüsse dar-über finden lassen, welche Erwartun-gen eine so prägende soziale Kraft wiedie Wirtschaft mit der Kunst und ihrerFörderung verbindet.

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Es wird den Leser am wenigsten über-raschen, dass es vor allem erzieherischewaren, sowohl betriebsinterne wie ge-radezu volkspädagogische. Wir habendie Ergebnisse dieses kurzfristigen For-schungsprojektes über nicht-schulischeKunstvermittlung inzwischen, als Fest-schrift zum 50-jährigen Jubiläum desKulturkreises unter dem Titel „Mäzene,Stifter und Sponsoren. Ein Modell der Kulturförderung“ vorgelegt. Ichmöchte die Ergebnisse dieser Recher-che knapp zusammenfassen, um hiereinen Überblick zu geben, welchemWandel dieses Verhältnis unterworfenwar und welche Konsequenzen sichdaraus für den schulischen Kunstun-terricht ergeben.

„Die Wahrung deutschen Kulturerbesund die Fortentwicklung deutschenKulturschaffens“, das war die Grün-dungsaufgabe des Kulturkreises, so hätte sie übrigens damals auch in derPräambel eines jeden ministeriellenLehrplanerlasses stehen können. Siesollte sich aber nicht so einfach ver-wirklichen lassen, wie es den Gründer-vätern vielleicht erschienen sein mag.

Zwei Begriffe spielten dabei in denFünfzigerjahren die Schlüsselrolle, einästhetischer und ein eher ethischer:Qualität und Leistung. Leistung war denUnternehmern der Nachkriegszeit eineebenso plausible Wiederaufbauparolewie dem Rest der Gesellschaft undkonnte somit beinahe unbegründet ein-gefordert, ja vorausgesetzt werden.

In den Gründungsjahren konnte esnoch selbstverständlich wirken, dass„Kultur als Ausdruck der Persönlichkeitauch zu den Leistungsgrundlagen in-dustriellen Schaffens gehört“ – womitzunächst vor allem die Unternehmer

selbst gemeint waren und das An-gestelltenmilieu ihrer Verwaltungs-elite.

Schwerer tat man sich dagegen mit der Qualität; geradezu rührend ist esmanchmal zu lesen, wie man diesenLeitbegriff zu präzisieren versuchte. Sosehr man, rein sportlich gesehen, denMut bewundern muss, sich auf einesolche Kriteriendebatte einzulassen, sobefremdlich ist, dass dabei jeglichesRisikobewusstsein zu fehlen schien.Man gewinnt den Eindruck, dass derKulturkreis die künstlerische Avant-garde fördern wollte, ohne dass dieRevolution bereits nachvollzogen wor-den war, die sie im ästhetischen Den-ken bewirkt hatte. Das war sicher auchan den Schulen noch lange der Fall.

Sofern dieser Umsturz thematisiertwurde, erschien er als ein negativesPhänomen. So resümierte man auf derJahrestagung 1953 die Lage einiger-maßen konsterniert: „Wir lieben dasHelle nicht mehr, sondern das Grelleoder das Dunkle; das Klare nicht mehr,sondern das Verworrene; das Begreif-liche nicht mehr, sondern das Un-verständliche. Wir wollen nicht mehrerhoben, sondern beunruhigt sein,nicht mehr getröstet, sondern gequält“,klagte der Gründungsvorsitzende Her-mann Reusch. Man sieht, schon damalswar es mit dem Glück nicht weit her.

Der im gleichen Jahr geäußerteWunsch, „Ins Gültige Heimfinden“ –ein für die Fünfzigerjahre typischerWunsch – konnte wohl gerade in derFörderung der modernen Kunst nichtauf Erfüllung hoffen. Deshalb cha-rakterisierte der langjährige Geschäfts-führer Gustav Stein die Mentalität der50er-Jahre eher nüchtern: „Wir haben

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erkannt, dass zu den vielen Pflichten,die der Industrie als tragender Schichtdes Volkes zukommen, auch die weite-re übernommen werden musste, sichmit den Problemen, die uns in der mo-dernen Kunst begegnen, auseinanderzu setzen.“ Diese entbehrungsreicheAbsage an den bequemen Genuss undden Feierabendkonsum ist sympto-matisch für die Fünfzigerjahre, weilStein hier sogar die Kunstrezeption derLeistungsethik zuordnete. Neben Qua-lität und Leistung spielten die Leit-begriffe Freiheit, Verantwortung undErziehung die dominante Rolle in denKulturkreis-Diskussionen der Fünf-zigerjahre.

Erst gegen Ende der Fünfzigerjahre, alssich der Kulturkreis auch auf die zeit-genössische Kunst, also vor allem aufdie abstrakte, einließ, verdichtet sicheine Analogisierung von Kunst undUnternehmertum. Nun erblickte manin der Ausdrucksfreiheit des Künstlersdas Gegenstück zur Handlungsfreiheitdes Unternehmers. Die gemeinsameGestaltungsfreiheit wurde zum neuenSchlüsselbegriff für eine wechselseitigeErhellung beider Bereiche.

Wie wichtig man die erzieherische Rol-le der Kunst auch in der Sicht derjeweiligen Betriebe einschätzte, zeigt,dass zahlreiche von ihnen, etwa Sie-mens, eigene Kulturdezernenten imBetrieb beschäftigten, die ein umfang-reiches betriebsinternes Kulturangebotorganisierten, z.B. Werksbibliothekenaufbauten und Werks-Chöre sowie Lai-entheatergruppen unterhielten undAusstellungen veranstalteten. Die Kunstsollte schon damals einen prägendenEinfluss auch auf die Mitarbeiter einesWerkes haben und nicht nur auf des-sen Besitzer.

Je mehr man sich freilich im Verlaufder Sechzigerjahre auf die zeitgenössi-sche Kunst unter dem Leitbegriff derFreiheit einließ, desto eher wurde manihr Opfer. Die Unternehmer gerietennun als die „führende Geschmacksträ-gerschicht“ in die Kritik derer, die siein den Fünfzigerjahren noch mit großerResonanz hatten fördern können. Nungalt nicht länger die abstrakte Kunst alsAusdruck der Freiheit, sondern einepermanente Kritik.

Die Fördertätigkeit des Kulturkreiseswurde nun unter einen generellenIdeologieverdacht gestellt und – vorallem auf dem Feld von Literatur undbildender Kunst – zunehmend auch alsManipulationsmaßnahme verstanden.Der Kulturkreis galt nun als Teil desEstablishments, gegen das die späteren„68er“ seit Mitte der Sechzigerjahre zuFelde zogen. Der durchaus auch zurSelbstkritik aufgelegte Kulturkreis warmitten in eine gesellschaftspolitischePolarisation geraten, die ihn so über-raschte, dass er darauf erst einmal miteiner konservativen Kehre reagierte undRückversicherung bei Kardinälen, Ge-nerälen und Bundeskanzlern suchte,die nun als Tagungsredner auftraten.

Aber ausgerechnet das konservativsteProjekt der Sechzigerjahre, die „StiftungRegensburg“, sollte sich als zukunfts-weisend herausstellen: Auf Anregungdes Münchner Akademieprofessors SepRuf forderte der Kulturkreis 1963 dieErhaltung, Sanierung und Neudefini-tion der Altstadt von Regensburg undstellte damit die autogerechte Stadt inFrage.

Hätte er dafür Partner unter den Kunst-erziehern der Sechzigerjahre gefunden,die in jenen Jahren, wie ich aus eigener

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Erfahrung weiß, stolz darauf waren, ih-re Schüler auf die längst diskreditier-ten Bauhaus-Ideale einzuschwören? Injenen Jahren wurden Schul-Kartonshochgezogen, deren Seelenlosigkeit, jaUnmenschlichkeit ich zwar noch nichtals Schüler, aber spätestens dann gründlich begriffen habe, als ich selberin einem solchen Schul-Karton unter-richten musste.

Zunächst jedoch gerieten die Leit-begriffe der Fünfzigerjahre – Qualitätund Leistung – in eine breite Anse-henskrise, denn die rasch prospe-rierende Wohlstandsgesellschaft hatteihre erste Generation in eine Freiheitentlassen, mit der alle Beteiligtenzunächst einmal kräftig überfordertwaren.

Auf diese Entwicklung reagierte vonSeiten des Kulturkreises als erster derBankier Jürgen Ponto, der 1973 in einerprogrammatischen – und übrigensnoch heute lesenswerten – Rede einenneuen Leitbegriff für das Verhältnis von Kunst und Wirtschaft definierte,das Risiko. Durch verschiedene Aspek-te hindurch verfolgte Ponto das Themaeiner besonderen geistigen Beziehungzwischen Künstler und Unternehmer,die er nicht einfach in einem Frei-heitsbegriff beschwört, den jeder aufseine Weise auslegen kann. Über dieAnalogie von künstlerischer und un-ternehmerischer Gestaltungsfreiheithinausgehend, plädierte er vielmehr fürein neues tertium comparationis imVerhältnis von Kunst und Wirtschaft –das existenzielle Risiko, das beide Be-rufsfelder auszeichnet. Pontos Akzen-tuierung des Risikos war ein neuerSchritt in der wechselseitigen Defini-tionsgeschichte von Kunst und Wirt-schaft.

Seine Rede gehört zu den erstrangi-gen Dokumenten der Entwicklungsge-schichte des Verhältnisses von Kunstund Wirtschaft, weil er die Kunst vonden üblichen Funktionszuschreibungenzu entlasten versuchte und den Künst-ler zugleich als freien Gegenspieler undpolitischen Partner des Unternehmersbetrachtete.

Aber auch Ponto verfolgt damit einebestimmte Absicht. Er suchte im Künst-ler vor allem einen Partner im gemein-samen Kampf gegen Kollektivismusund Planungswirtschaft, die ja damalsauch unter westdeutschen Intellek-tuellen durchaus ihre Sympathisan-ten hatten. Auf die Unterstützung derKünstler bei der Verteidigung der westdeutschen Nachkriegsverhältnissekonnte er umso mehr hoffen, als dieseihnen erstmals optimale Bedingungenfür ihre Arbeit, nämlich die Freiheit desAusdrucks garantiert hatten.

Ponto sah sich als Diagnostiker einerZäsur, nämlich dem Ende der Nach-kriegszeit, die ein Wendepunkt auch imSelbstverständnis des Kulturkreises seinmusste und durch seine Ermordungauch wurde. Dass Ponto 1973 schonauch um sein Leben geredet hatte,macht seinen Vortrag zu einem Do-kument eigenen historischen Rangs –das war nicht das Risiko gewesen, daser gemeint, vielleicht aber schon erahnthatte.

Pontos Ansichten fanden wenig Ge-folgschaft, denn die Kunstförderung derUnternehmer geriet in dieser Zeit ineine Krise, weil der Typ des persönlichidentifizierbaren und eigenständighandelnden Eigentümer-Unternehmersvom Manager abgelöst wurde, derseinem Vorstand und Aktionären ge-

Kunst als Ressource? Kulturelle Kompetenz als neues Leitbild

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genüber verantwortlich ist, dem heuti-gen ‘share-holder’. Das musste in eineKrise der Kulturförderung führen, undso wurde statt Pontos neuer Freiheits-definition durch das Risiko eine ande-re Funktionszuschreibung zum Leit-motto des Kulturkreises. In einer Redeüber „Musen und Management“ un-ternahm nämlich Hans-Günther Sohl1975 den Versuch einer Modernisie-rung des Kulturverständnisses, dessenTerminologie und Denkmuster nochheute wirksam sind.

Angesichts der Legitimationskrise kul-tureller Ausgaben forderte Sohl eineAufwertung der innerbetrieblichen Kul-turarbeit, die sich wieder stärker an dieMitarbeiter richten sollte. Vom kul-turellen Engagement der Industrieversprach er sich nicht nur die damalsdiskutierte „Humanisierung des Ar-beitsplatzes“. Vor allem interessiertenihn wieder die „positiven Rückwirkun-gen auf das Verhältnis des Einzelnen zuseiner Arbeit“ und zu seinem Betrieb,die Identifikation.

Sohls Überlegungen gingen damit we-niger in die Richtung einer breiterenKulturvermittlung als vielmehr einerallgemeinen Leistungsverbesserung: Erbegriff Kultur als brachliegende Res-source, die für die Identifikation mitdem Betrieb, vor allem aber für die in-tellektuelle Weiterqualifikation der Mit-arbeiter genutzt werden sollte.

Das klang insgesamt ebenso progressivwie die Forderungen, denen HilmarHoffmann damals gerade öffentlicheResonanz zu verschaffen begann –sprichwörtlich mit dem Titel seines1979 herausgegebenen Buches „Kulturfür Alle“. Sohls Überlegungen warensomit 1975 hochaktuell. Aber anders

als die sozialdemokratische und ge-werkschaftliche war seine Umwidmungder Kulturarbeit eher eine betriebswirt-schaftliche Version: Das oberste Zielmusste naturgemäß die Optimierungdes Unternehmensziels sein, weswegendie Kulturarbeit „in richtiger Relationzum eigentlichen Unternehmenszweckgesehen“ werden sollte: „Keine noch sogute Kulturarbeit vermag rote Zahlenschwarz zu machen – auch rein optischnicht“.

Das war eine spürbar neue Sprache inden Reden und Veröffentlichungen desKulturkreises, die sich deutlich von derEmphase unterscheidet, mit der in denFünfzigerjahren das Nachkriegsbünd-nis von Politik, Wirtschaft und Kulturbeschworen worden war. Sohl leitetedamit eine Kehrtwende ein, die seitherdas Verhältnis von Kunst und Wirt-schaft bestimmt, nämlich die Deutungder Kunst als eine intellektuelle Res-source für das mentale Elitetraining vonManagern und die breitenwirksameIdentifikation der Mitarbeiter. Nun-mehr wurden die Wachsamkeit derWahrnehmung, die Unkonventiona-lität von Entscheidungen und dieLockerung des Habitus’ als Managertu-genden bestimmt, die sich aus demUmgang mit Kunst generieren lassen.Die moderne Kunst mit ihren ganzenRevolutionsversprechen sollte nun fürdie Sprengung der Charakterpanzer desFührungspersonals aktiviert werden, die sich als kontraproduktiv erwiesenhatten.

Diese betriebswirtschaftliche Defini-tion der Kunst hat der zeitgenössischenKunst enorm genützt. Ihr Verkaufser-folg an Banken, Versicherungen undandere Unternehmen sowie ihr Erfolgbei Sponsoren hat auch mit einem

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Erwartungshorizont zu tun, in demman sich von der Kunst nicht nur einehohe Öffentlichkeitswirksamkeit – imSinne eines Imagegewinns – verspricht,sondern auch eine Wirkung nach in-nen, einen Mentalitätswandel der Mit-arbeiter. Seither sind UnternehmenGroßkunden der Kunst, schon an denAkademien. Wie es früher Malklassenund Bildhauereiklassen gegeben hat,die ihre Produktion auf die Nachfrageund Aufträge der Kirchen ausrichteten,kann man mittlerweile, wie mein Mit-arbeiter Wolfgang Ullrich in seinemBuch „Mit dem Rücken zur Kunst“, denVerdacht äußern, dass ein großer An-teil der gegenwärtigen Kunstproduk-tion sich von vornherein auf die Nach-frage von Banken und Unternehmenausrichtet.

Aber das ist nur die eine Seite der Ent-wicklung, die andere versteht man erst,wenn man sich die Rolle der Kunst in-nerhalb der Betriebe vor Augen führt:Kunst gilt als Ressource für die perma-nente Erziehung der Wirtschaftseliten,kulturelle Kompetenz als besondereQualifikation.

Viele Kritiker des Sponsoring haben diese interne Funktionsbestimmungüberhaupt nicht mitbekommen. Ichkann sie an einem Beispiel illustrieren,dem „Kunstpreis Ökologie“, den dieKüchengeräteabteilung der AEG jähr-lich vergibt.

Die AEG war das erste Unternehmen,das bereits Anfang der Achtzigerjahreökologische Überlegungen für die Pla-nung seiner Modellreihen aufgegriffenhat. Der Grund dafür war nicht etwaeine Unterwanderung des Vorstandesdurch die Grünen, sondern ein reinwirtschaftlicher. Man befürchtete näm-

lich bei der AEG, der Staat könne, wiefür die Autos, in Zukunft neue ökolo-gische Richtlinien auch für Küchen-geräte erlassen, was angesichts desBeitrages von Kühlschränken zur Zer-störung der Ozonschicht durchaus zuerwarten war. Das Unternehmen konn-te und wollte es sich nun nicht leisten,während der langjährigen Entwick-lungszeit neuer Modellreihen mit ihrenenormen Vorlaufkosten von neuenpolitischen Vorgaben überrascht zuwerden. Deshalb versuchte man, sievorwegzunehmen. So bildete sich einvages ökologisches Bewusstsein unterden Managern, das aber auf den pas-siven Widerstand der technischen Be-triebselite traf, bei den Ingenieuren.Um diese für das Projekt zu gewinnenund im gesamten Unternehmen einUmdenken zu fördern, richtete manden „Kunstpreis Ökologie“ aus, weilman die Kunst für das passende Vehi-kel hielt, dem neuen Gedanken einenDurchbruch auch bei der technischenIntelligenz des Betriebes zu verschaf-fen.

So jedenfalls beantwortete man mirmeine Frage nach dem notorischenWiderspruch von Kunstförderungdurch die Wirtschaft, warum nämlichfür den Kunstpreis nur rund 25.000DM zur Verfügung standen, für seineVerleihung in der Kongresshalle einesKölner Nobelhotels aber Hunderttau-sende: Sie wurden ausgegeben, um dieMeinungsführer der technischen Intel-ligenz – sowie natürlich auch die desVertriebsnetzes! – in den neuen Pro-duktionsgedanken einzubinden.

Dieses Beispiel zeigt, dass die Tendenz,Kunst für interne und externe Un-ternehmensziele einzusetzen, nichtdurchweg so affirmativ ist, wie sie oft

Kunst als Ressource? Kulturelle Kompetenz als neues Leitbild

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lichen Folgen der Unternehmenszieleunreflektiert bleiben.

So hat man an einer der europaweit füh-renden privaten Wirtschaftshochschu-len, der in St. Gallen, damit angefangen,das Studium generale wieder einzu-führen, was im Kulturkreis auch als Mo-dell für andere private Wirtschafts-hochschulen diskutiert wird. Das wahreStudium generale beginnt aber in denSchulen, in denen der musischen – oder,wie man heute sagt – der ästhetischenErziehung auch wieder ein neuer Stel-lenwert zugemessen werden muss.

Was folgt aus alldem für den Kunst-unterricht in der Schule? Zunächst, dassKunst außerhalb der Schulen als Res-source von enormer Bedeutung ange-sehen wird; weiterhin, dass die Funk-tionszuschreibungen für die Kunst sichaußerhalb der Schule möglicherweiseschneller ändern als innerhalb, jeden-falls andere Akzente setzen, die in diekunstpädagogische Literatur kaum Ein-gang finden, aber hohe Beachtung ver-dienen; dann, dass es gerade die rela-tive Autonomie der Kunst ist, die sie fürdas Elitetraining wertvoll macht; zu-letzt aber auch, dass ihre Funktionszu-schreibung nur einen Teil ihres Poten-zials ausmacht, das vielleicht erst dannwirklich ausgeschöpft ist, wenn es nichtnur der Arbeit dient, sondern auch demGlück. Deshalb sollte sich die Theorieder Kunsterziehung mit dem Glückvielleicht etwas mehr Arbeit machen.

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angesehen wird. Es zeigt aber auch,welches enorme pädagogische Poten-zial die Wirtschaft der Kunst zutraut,die an ihrem Stammplatz, den Schulen,an den Rand zu geraten droht.

Ich habe es noch als Schüler erlebt, wiedie Marginalisierung des Musischen be-gann, und zwar an einem Gymnasium,das als Experimentierschule Mitte derSechzigerjahre mit eigenen Modellender Oberstufenreform experimentierendurfte, bevor diese eingeführt wurde.Damals habe ich das vergebliche Enga-gement meiner Kunsterzieher dafür er-lebt, bei dieser Reform der musischenErziehung einen stärkeren Stellenwerteinzuräumen. Sie haben dabei verloren,aber offenbar Recht behalten.

Wohlgemerkt, sie plädierten nicht fürein musisches Gymnasium, das eben-so wichtig wie untypisch ist und erstdann vorbildhaft sein kann, wenn esdie Regelschule nicht ergänzt, sondernverändert. Denn musische Erziehungist nicht nur Elitetraining, sondern All-gemeinbildung.

In der Wirtschaft gilt diese Allgemein-bildung als rares Gut mit hoher Nach-frage, als kulturelle Kompetenz, dienicht nur ein betriebsinternes Leitbildsein soll, sondern auch ein Antidotzum – man entschuldige den hartenBegriff – Fachidiotentum, das amschlimmsten dort wirkt, wo es nicht be-merkt wird und die gesamtgesellschaft-

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Politische Studien, Heft 385, 53. Jahrgang, September/Oktober 2002

1. Einführung

Dieser Beitrag hätte mit kulturpessi-mistischen Bemerkungen beginnenkönnen. Sie hätten enthalten: eine Kla-ge über den Mangel an Stilempfindenbei heutigen Studenten; eine Jeremia-de darüber, wie wenig die Germanis-tikstudenten an Gedichtinterpretation,an Formanalysen und ästhetischer Vir-tuosität interessiert sind; eine Klageüber die schlechten Schreibfähigkeiten,wie man etwa an Examensklausurensehen kann; auch Bemerkungen überden Mangel an Sensibilität beim Brief-schreiben, die sich zeigt, wenn man E-Mails mit der Anrede ‘Hallo Prof.’ be-kommt – oder wenn ein Student, dereinen Termin nicht wahrnehmen kann,dann wie folgt begründet: „Ich weiseSie darauf hin, dass ich nächste Wocheim Skiurlaub bin und deshalb meineHausarbeit nicht abholen kann.“ – Sol-che und ähnliche Klagen sind sichernicht neu und auch nicht originell.Deshalb ein anderer Ansatz.

Ästhetische Sensibilität hat mit indivi-dueller Bildung zu tun (dieser Aspektwird von Friedrich Schiller zu Zeiten

der deutschen Klassik in mehrerenSchriften intensiv herausgearbeitet), sieist aber auch ein zentrales Element derjeweils historischen Ausprägung einerGesamtkultur. Ästhetische Bildung ist,so die These dieses Beitrags, also nichtnur ein Wert, der den Einzelnen in sei-ner Individualität perfektioniert, son-dern vor allem eine kulturelle Kompe-tenz, die für die jeweilige Kultur inallen ihren Dimensionen und Ebenen– also nicht nur für die Hochkultur –essenziell ist. Das soll im Folgenden indrei Schritten demonstriert werden:

● Stil und Verhalten (der ‘Höfling’); ● Formempfinden (Paul Fleming und

Friedrich Hölderlin); ● Ästhetische Disziplin und Bezie-

hungsreichtum oder: die Rolle derEinbildungskraft (Lessings „Laoko-on“ und seine Aktualität)

2. Stil und Verhalten (der ‘Höfling’)

I. Im Zeitalter des Absolutismus gab esein Sozial-Ideal, das weit über die höfi-sche Sphäre hinaus prägend war: den

Ästhetische Sensibilität und sprachliche Herausforderung

des SubjektsVerhaltensstile – Formempfinden –

ästhetische Disziplin*

Georg Braungart

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58 Georg Braungart

Höfling. Der Höfling ist ein Sozialtypus,wie er heute wieder aktuell sein könn-te. Nicht wegen scheinbar kriecheri-schem Verhalten und Schmeichelei.Dies gehört zur formelhaften Hofkritikseit es Höfe gibt. Hier geht es um etwasanderes, um ein umfassendes Stilemp-finden. Denn nur mit ihm konnte derHöfling am Hof bestehen. Seine sozia-le Existenz war davon abhängig, ob esihm gelang, seine Gesamterscheinungmit einer sprachlich angemessenen,d.h. eleganten und nicht ausuferndensprachlichen Präsentation zu verbin-den. Das sprachliche Verhalten war inder höfischen Kultur in einen umfas-senden Verhaltenskontext eingebettet.

Besonders schön präsentiert wird die-ses Ideal im „Cortegiano“ des GrafenBaldesar Castiglione (1478–1529), er-

schienen 1529. Schlüsselbegriff sei-nes Ideals sprachlich-gesellschaftlicherSelbstdarstellung ist die ‘sprezzatura’,die man als ‘eine gewisse Art von Läs-sigkeit’ umschrieben hat: Alles was derHofmann im gesellschaftlich-geselligenRahmen tut, soll nicht den geringstenAnschein des Anstrengenden, Schwie-rigen, Gekünstelten haben. Die Kunstist es gerade, die Kunst zu verbergen.Das gilt ganz besonders für das Spre-chen und Schreiben. Ein zweites Werkder abendländischen Höflingslehre isthier zu erwähnen, denn es ist nicht zu-letzt eine illusionslose und bis heute ak-tuelle Analyse der Konkurrenzsituationin hierarchischen Sozialkonfiguratio-nen: das Handorakel (1647) des spani-schen Jesuiten Baltasar Gracián (1601–1658). Dieses Werk demonstriert bereitsin seiner Form, was es vom Sprachver-halten des Höflings erwartet: eine knap-pe, bisweilen etwas verrätselnde Aus-drucksweise, die nie weitschweifig wirdund immer viel nachzudenken gibt.

Der Aphorismus 160 (hier in der kon-genialen Übersetzung von Arthur Scho-penhauer) zieht vielleicht am pointier-testen die Summe von Graciáns Modellsprachlicher Selbstbehauptung in derextrem verdichteten und von Konkur-renz geprägten höfischen Gesell-schaftsstruktur: „Aufmerksamkeit aufsich im Reden: wenn mit Neben-buhlern, aus Vorsicht; wenn mit an-dern, des Anstands halber. Ein Wortnachzuschicken ist immer Zeit, nie einszurückzurufen. Man rede wie im Testa-ment: je weniger Worte, desto wenigerStreit. Beim Unwichtigen übe man sichfür das Wichtige. Das Geheimnisvollehat einen gewissen göttlichen Anstrich.Wer im Sprechen leichtfertig ist, wirdbald überwunden oder überführtsein.“1

Abbildung 1: Der Höfling: Compliment undReverenz an einen Herrscher. (Aus einem Zere-monialwerk des 17. Jahrhunderts).

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Sprachliche Sensibilität heißt hier auch:Die Gefährlichkeit, die Wirksamkeit derSprache beachten, sprachliche Disziplinüben um des gesellschaftlichen Frie-dens und der eigenen Selbstbehaup-tung willen. So entwickelt der Höfling,wie ihn Gracián konzipiert, ein ganzesRepertoire raffiniert-indirekter Kom-munikation, die ihn befähigt, schädli-chen Konfrontationen aus dem Weg zugehen, Konkurrenten aus dem Feld zuschlagen und – was in der Spätphasehöfischer Konversationskultur immerwichtiger wird: Sich nicht lächerlich zumachen.

3. Formempfinden (Paul Fleming und FriedrichHölderlin)

Eine der wichtigsten Dimensionen derBeschäftigung mit Literatur ist die Ent-wicklung von Sensibilität für sprachli-che Formen und Strukturen. Kaumsonst irgendwo wird das Formempfin-den auf derart komplexe Weise geschultwie in der Poesie, besonders der Lyrik.Was ist Formkompetenz, und wofür istsie gut? Diese Frage soll anhand zweierBeispiele zur Diskussion gestellt wer-den, die besonders gut zeigen, inwie-fern Gedichte als ‘Struktur-Erlebnisse’anzusehen sind und so eine ungeheu-re Präzision in der Wahrnehmung, inder Beschreibung, im Ausdruck verlan-gen.

Paul Fleming (1609–1640), einer derwichtigsten deutschen Barockdichter,starb am 2. April 1640, noch nicht ein-unddreißig. Auf dem Krankenbett, dasscheint quellenmäßig gut belegt zusein, schuf er die Grabschrift auf sichselbst, die zu seinen berühmtesten Ge-dichten gehört.

Herrn Pauli Flemingi der Med. Doct.Grabschrifft /

so er ihm selbst gemacht in Hamburg /den xxiiX. Tag

deß Mertzens m. dc. xl. auff seinemTodtbette

drey Tage vor seinem seel: Absterben

Ich war an Kunst / und Gut / und Standegroß und reich.

Deß Glückes lieber Sohn. Von Eltern guter Ehren.

Frey; Meine. Kunte mich aus meinenMitteln nehren.

Mein Schall floh überweit. Kein Landsmann sang mir gleich.Von reisen hochgepreist; für keiner Mühe bleich.

Jung / wachsam / unbesorgt. Man wird mich nennen hören /

Biß daß die letzte Glut diß alles wirdverstören.

Diß / Deütsche Klarien / diß gantzedanck’ ich Euch.Verzeiht mir / bin ichs werth / Gott /Vater / Liebste / Freunde.

Ich sag’ Euch gute Nacht / und trette willig ab.

Sonst alles ist gethan / biß an das schwartze Grab.Was frey dem tode steht / das thu er seinem Feinde.

Was bin ich viel besorgt / den Othem auffzugeben?

An mir ist minder nichts / das lebet / als mein Leben.2

Schon von der Konstellation her ge-sehen ist dies eines der großen Ereig-nisse in der Literaturgeschichte – etwaneben Petrarca auf dem Mont Ventouxoder Goethe in Sesenheim zu sehen.Solche Augenblicke enthalten natürlichimmer auch ein Moment der Stilisie-rung, auch der Selbststilisierung. DasBesondere an ihnen aber ist die un-

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auflösliche Einheit von Fiktion undRealität, von Faktizität und ästheti-schem Arrangement. Wenige Faktensind hier immerhin verbürgt: Von ei-ner fiebrigen Infektion bettlägerig ge-macht, schreibt oder diktiert der ArztFleming – er weiß also, was ihm droht– ein Vermächtnis in Form einer Grab-schrift auf sich selbst.

In der Wahl des Genres treffen sichzwei Traditionen, die des seit der Anti-ke bekannten Grabepigramms und diedes Gedichtes vom Typus ‘ad se ipsum’– ‘auf sich selbst’. Sie war etwa auch inder Variante ‘de se aegrotante’ – ‘übersich selbst in der Krankheit’ – im Hu-manismus und im Barock bekannt, hataber ebenfalls in der Antike ihre Vor-bilder. Zu den Prämissen des Textesgehört die durch den Tod des Autors imNachhinein beglaubigte biografisch-existenzielle Betroffenheit.

Es handelt sich um ein für die deutscheTradition durchaus korrektes Sonett mitvariierenden Reimen in den beidenQuartetten, dem umarmenden Reimim zweiten Teil, wodurch die beidenTerzette miteinander verklammert sind,und schließlich mit dem Paarreim amSchluss, der auch hier eine sentenzar-tige Einsicht in Form einer rhetorischenFrage formuliert. In klassizistischerManier durchgängig realisiert ist derZeilenstil, auch die Mittelzäsur desAlexandrinerverses wird praktisch im-mer eingehalten.

Doch ganz so klassisch-normerfüllendist der Text dann doch nicht. Da findetsich zum einen an drei Stellen ein frei-er Umgang mit dem jambischen Me-trum, in Vers 3 (Frey; Meine. Kuntemich aus meinen Mitteln nehren), inVers 6 (Jung / wachsam / unbesorgt)

und schließlich in Vers 9, dem erstenVers des ersten Terzetts (Gott / Vater /Liebste / Freunde). Diese Abweichun-gen sprechen in ihrer Signifikanz fürsich: Es gibt in jambischen Versen kei-ne nachdrücklichere Art der Hervorhe-bung als die Platzierung einer bedeu-tungsschweren Silbe gerade in einerSenkung. Im Genre der Grabschrift hatwie hier die Häufung von Hebungen inKombination mit sehr kurzen Sätzen ei-ne zusätzliche Pointe. Denn damit wirdder für Inschriften angemessene Stilrealisiert, der nicht nur durch die anti-ken Vorbilder, sondern auch in der Re-naissancepoetik gefordert wird: der ‘stilus lapidarius’, der Lapidarstil desSteinmetzen. Und lapidar formuliertder Sprecher dieser Zeilen, wenn erselbstbewusst – und gattungskonform– die Bilanz seines Lebens zieht.

Die zweite Normdurchbrechung findetsich ebenfalls im dritten Vers. Er ist dereinzige, in dem die Mittelzäsur nichtnur nicht realisiert, sondern deutlichüberspielt wird. In diesem Vers sindalso die Normabweichungen konzen-triert, und es ist kein Zufall, dass genaudieser Vers von der Freiheit und Selbst-mächtigkeit des Individuums spricht –in der natürlich das stoische Autarkie-Ideal mitschwingt. In der Durchbre-chung des Metrums wird genau dasrealisiert, wovon der Text handelt:Autonomie.

Die beiden Terzette setzen sich von derselbstbewussten Lebensbilanz der Quar-tette ab. Auch die Konventionen derGrabschrift werden durchbrochen,denn es wird ein drittes verbreitetesGenre evoziert: der Abschied ‘an dieumstehenden Freunde’. Wiederum instoischer Tradition stehend, aber auchin barocker Manier, inszeniert der Text

Georg Braungart

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61Ästhetische Sensibilität und sprachliche Herausforderung des Subjekts

den Tod als letzten Auftritt auf der Büh-ne des Lebens, genauer: als das eigen-verantwortete Abtreten von dieser Büh-ne. Noch im Tod will das Subjekt sichals selbstmächtig zeigen. Das Sterbenerscheint hier, wie Wilhelm Kühlmannunlängst formuliert hat, als ‘heroischerAkt’.3

Nicht – wie eigentlich zu erwarten – dieSchluss-Sentenz fasst und erschließtnun den letzten Sinn des Gedichts. Die-ser Sinn – und das ist im Zusammen-hang dieses Beitrags besonders hervor-zuheben – liegt im Gedicht selbst alsästhetischem Gebilde.

Das ist keine erbaulich-zerknirschteTrostschrift, von christlicher ‘humilitas’gerade nur eine leichte Andeutung. DasGedicht formuliert die selbstbewussteBilanz eines Dichters, die im Vollzugselbst Dokument und Beglaubigung sei-nes Ruhmes ist. Der poetische Text inseiner künstlerischen Qualität ist hierder Garant der Unsterblichkeit. Nichtdie christliche Hoffnung auf das Jen-seits wird als Trostargument herange-zogen, sondern die im Text zur Realitätkommende Gewissheit des Nachruh-mes durch die ästhetische Leistung: dieUnsterblichkeit horazischer Prägung.Die Grabschrift ist Paul Flemings ‘mo-numentum aere perennius’: „Man wirdmich nennen hören“.

Fleming, von dem es unzählige religiö-se Gedichte gibt, bemüht hier also kei-ne spezifisch christlichen Trostgründe.Doch es wäre verfehlt, darin besonde-re Modernität zu sehen. Die Topoi, aufdie zurückgegriffen wird, sind uralt. Indiesem Gedicht ist Subjektivität nichtprimär als Einrücken des Individuumsin ein weltanschaulich-philosophischesModell propagiert, sondern auch als

unterordnender und dabei doch zu-gleich Selbstmächtigkeit beglaubi-gender Akt des Subjekts realisiert: AlsErfüllung einer Formidee, als umspie-lende Realisierung der Ordnung des So-netts, die viel mehr als nur ein hinder-liches Formschema ist.

Der Umgang mit poetischen Normenzeigt exemplarisch die im deutschenBarock charakteristische Variante des Umgangs mit – sprachlichen undaußersprachlichen – Normen über-haupt: Sie werden variierend erfüllt, siewerden umspielt. Das ist ein durchausfreier, aber ebenso affirmativer Umgangmit Ordnungsstrukturen, die epochen-typische Weise, Subjektivität zu ent-werfen und zu bewahren. Die Rhetorikund Poetik der Zeit hat für dieses Phä-nomen einen Terminus, der den Sach-verhalt sehr genau umschreibt: Die‘aemulatio’, das durchaus selbstbe-wusste Umspielen der Norm, desExempels, der Tradition, ist viel mehrals nur ein Leitwort des Schulunter-

Abbildung 2: Paul Fleming, 1609–1640

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richts. Es formuliert das ästhetischeIdeal ebenso wie das Subjektivitätside-al, ja man könnte sagen: die Mentali-tät einer Zeit, der die Zerstörung vonNormen, Strukturen und Ordnungen,als traumatische historische Erfahrungprägend war.

Ein zweites Beispiel für literarischeFormsensibilität: Friedrich Hölderlinhat in der Mitte seines Lebens, an derGrenze zum Wahnsinn, in einer uner-hörten existenziellen Weise das Themader verlorenen Einheit reflektiert – undeine utopische Perspektive verweigert.Das Gedicht „Hälfte des Lebens“ wur-de 1804 zuerst gedruckt, im: Taschen-buch für das Jahr 1805. Der Liebe undFreundschaft gewidmet. Es steht dortin einer Reihe der ‘Nachtgesänge’.

Hälfte des Lebens.

Mit gelben Birnen hängetUnd voll mit wilden RosenDas Land in den See,ihr holden Schwäne,Und trunken von KüssenTunkt ihr das HauptIns heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm’ ich, wennEs Winter ist, die Blumen, und woDen Sonnenschein,Und Schatten der Erde?Die Mauern stehnSprachlos und kalt, im WindeKlirren die Fahnen.4

Zunächst scheint es so, als ginge es umeine simple Antithese: Auf die Zeit derBlüte und Fruchtbarkeit folgt der starr-kalte Winter. Der Sommer ist gekenn-zeichnet durch die Erfahrung allum-fassender Einigkeit. Das mit Blüten undFrüchten beladene Land neigt sich in

den See, ebenso die Schwäne, die ih-rerseits im Banne von Küssen – seit jeSymbole inniger Kommunikation –stehen. Und das Ich des Gedichts isteinbezogen in diese Harmonie; es er-scheint nur implizit in der Anrede andie ‘holden Schwäne’. Ganz andersdagegen die zweite Strophe. Dort siehtsich das Ich einer feindlichen Weltgegenüber, abgesondert, vereinsamt. Indieser Winterwelt, die geprägt ist vonKälte und Abstraktion, finden sich stattder konkret-sinnlichen ‘wilden Rosen’nun abstrakte ‘Blumen’ – und nur inder Form der Negation, als schmerzlichvermisste.

Universale Harmonie wird abgelöst vonEntfremdung: Hier liegt rudimentär eingeschichtsphilosophisches Modell zuGrunde, wie es in der Zeit um 1800allgegenwärtig ist – bei Schiller, Kleist,Novalis und auch in Hölderlins eige-nem Hyperion-Roman. Das triadischeGeschichtsmodell: Die Idee vom Gol-denen Zeitalter oder vom verlorenenParadies, das einer langen Phase derEntfremdung weichen musste und ineinem neuen Paradies am Ende derGeschichte wiederkehren soll: Von Ar-kadien nach Elysium, wie SchillersParole lautet. Die ersten beiden Stufendieses Prozesses sind in Hölderlins Ge-dicht repräsentiert. Genau besehenhandelt es sich also um eine dynami-sche Antithese: Zunächst wird nichteinfach die eine Seite einer Gegen-überstellung dargestellt, sondern einZustand vor aller Trennung in Anti-thesen: die Harmonie des ‘Einig-Ent-gegengesetzten’, wie der PhilosophHölderlin das Urstadium vor aller Ent-fremdung von Ich und Welt nennt.

Die Klage bewahrt, gleichsam ein-gekapselt und in ‘sentimentalisch’ (so

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Ein Gedicht also über Sommer undWinter, auch als ‘Hälften des Lebens’,über Paradies und Entfremdung, überHarmonie und Abstraktion? Mehrnoch: Es handelt sich nicht zuletzt umein Gedicht über Dichtung. Es istdurchzogen von einer Kette poetolo-gischer Motive.5 Der Schwan ist seit der Antike das Symbol für den Dichter,prädestiniert durch seinen sagenum-wobenen wunderbaren Gesang unddurch die Schutzherrschaft Apolls. Mitder Prägung ‘heilignüchtern’ greiftHölderlin auf einen antiken Toposzurück, der ihn immer wieder beschäf-tigt hat. Es geht um die ‘sobria ebrietas’,die ‘nüchterne Trunkenheit’, mit derjener genau austarierte Zustand ge-meint ist, der zwischen dem Rauschpoetisch-inspirativer Begeisterung ei-nerseits und der für die künstlerischeLeistung unabdingbaren Nüchternheitandererseits liegt. In der zweiten Stro-phe, in der die Sprachlosigkeit – nundarf man sagen: des Dichters – beklagtwird, erscheint ein weiteres Konzeptaus der poetologisch-rhetorischen Tra-dition: ‘Blumen’ heißen dort die Mittelder Ausschmückung eines Textes, die‘flores orationis’, insbesondere die Mit-tel der bildlichen Rede – allen voran dieMetapher. So wird die Blume in Höl-derlins Gedicht zur Metapher der Me-tapher und zum Inbegriff der verlore-nen Sprache der Poesie. Und die Zeitder Entfremdung ist auch die Zeit, inder Dichtung verstummt – eine Epo-che, in der Poesie keinen Platz mehrhat. Das geschichtsphilosophische Mo-dell wird poetologisch konkretisiert.

Der Prozess des Verlustes poetischerBilder – und das ist für das Gedicht zen-tral – ist selbst wiederum in Bildern ge-staltet. Ein suggestives Naturbild be-schwört die verlorene Harmonie, ein

Ästhetische Sensibilität und sprachliche Herausforderung des Subjekts

Schillers Begriff) gedämpfter Form dieErinnerung an jene Harmonie auf, dieErinnerung an Blumen und Sonnen-schein. Der Prozess von der Harmoniehin zur Entfremdung wird dargestellt,ja sprachlich realisiert. Etwa durch dieBehandlung der Versgrenzen, die aneinigen Stellen durch den Satzduktusgeradezu überspielt werden, in Enjam-bements ganz unterschiedlichen Cha-rakters. Der Gestus der Vereinigung istim ersten Teil durch behutsam verbin-dende Übergänge zwischen den Versengestaltet. Ein einziger Satz durchziehtdie Strophe und verknüpft in einersanften Bewegung die einzelnen Bilder.Völlig anders in der zweiten Strophe:Enjambements können, wie gesehen,Verse verbinden; hier aber zeigt sich: siekönnen eine Trennung, einen Bruchgeradezu schmerzhaft spüren lassen;ganz besonders eindrücklich an denÜbergängen zwischen den ersten dreiVersen, wo die klagende rhetorischeFrage mit einer Gebärde der Vergeb-lichkeit ins Leere ragt.

Abbildung 3: Friedrich Hölderlin, 1770 –1843

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ebenso suggestives Winterbild beklagtdie Entfremdung. Damit wird deutlich:Die antizipierende Klage über den Ver-lust der Poesie ist ihrerseits als Poesiegestaltet. Darauf zielt in paradoxer Wei-se letztlich die überaus komplexe An-lage des Gedichts: Es geht um Poesieüber das Ende aller Poesie, als Strukturentfaltet und als poetischer Prozess rea-lisiert – in der paradoxen Reflexivitäteines Textes, der den Prozess der Infra-gestellung seiner selbst inszeniert undin der höchst poetischen Realisierungzugleich dementiert.

Ästhetische Sensationen dieser Art, dasGedicht als extreme Form sprachlicherVerdichtung: Diese Dimension einersprachlichen Kultur kann nur durch be-wusste Aneignung, Vermittlung undPflege erhalten werden. Aber wer wür-de im Ernst leugnen wollen, dass sieTeil eines Bildungsideals auch unterden Bedingungen der Postmodernesein muss?

4. Ästhetische Disziplin undBeziehungsreichtum oder: dieRolle der Einbildungskraft(Lessings „Laokoon“ undseine Aktualität)

Sprachliche Sensibilität im Kontext derMedienkonkurrenz: Dieses Problem istnicht neu. Bereits Gotthold EphraimLessing, der Protagonist der deutschenAufklärung, hat eine Rechtfertigung derPoesie gegenüber anderen Medien, ge-nauer gegenüber den Bildern geliefert,und seine Argumentation ist überra-schend aktuell, denn er argumentiertpräzise medientheoretisch und sieht dieSprache in einen Selbstbehauptungs-kampf mit bildhaften Medien ver-wickelt. Seine Antwort: Die Sprache, als

Literatur, zeichnet sich gegenüber denBildern durch einen höheren Grad anDichte und – innerem wie äußerem –Beziehungsreichtum aus.

Lessings 1766 erschienene Schrift„Laokoon: oder über die Grenzenzwischen Malerei und Poesie“ gibtschon im Titel zu erkennen, dass esihm nicht zuletzt auch um das Ab-stecken von Territorien zwischen zweiMedien der Kunst geht. In der Ge-samttendenz soll in gewisser Weise derVorrang der Poesie vor der Malereiplausibel gemacht werden, was im Kon-text der zeitgenössischen Kunstpraxiswohl durchaus gelungen ist. Die Re-zeption, die den Text zum Schulklassi-ker machte, scheint das zu bestätigen.Ein Kommentator der jüngsten Zeit hatdie Grundthesen prägnant zusammen-gefasst: „Die Malerei verwendet Figu-ren und Farben im Raum, die Poesie ar-tikuliert Töne in der Zeit; in der Malereiherrscht das Prinzip der Koexistenzoder Simultaneität, in der Poesie dasder Sukzession; die Gegenstände derMalerei sind „Körper“, die der Poesie„Handlungen“; die Malerei bedient sich„natürlicher“, die Poesie „willkürlicher“Zeichen.“6

Lessing hat sich mit der Überzeugungauseinander zu setzen, und er teilt sieselbst, dass Bilder, als Zeichen betrach-tet, authentischer sind: ein Gedanke,der – mit Fundamenten in der Antike,in der aristotelischen Vorstellung vomSiegelring, der sich im Wachs abdrückt,ebenso wie in der platonischen Ideen-lehre – die Erkenntnistheorie derganzen frühen Neuzeit durchzieht undauch noch in moderner Psychologie er-scheint. Bilder prägen sich besser ein,sie sind eindrücklicher, näher am Ge-genstand. Lessing jedoch wendet dies,

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und diese Strategie scheint mir durch-aus bedenkenswert, nicht gegen dieWortsprache, nicht gegen die Poesie,sondern er entwickelt daraus geradeseine medienspezifische Ästhetik, diefür die Poesie durchaus einen Punktsiegerbringt. Dass die Sprache der Worte –als sukzessiv verfahrend – per se schonweniger ‘lebhaft’ ist, dass sie statt„natürlicher“ ‘nur’ willkürliche Zeichenverwenden kann: Das ist genau ihreChance. So kann sie ein viel weiteresFeld zur Darstellung bringen als die Ma-lerei, die gerade aus Gründen der ‘Leb-haftigkeit’ sich Grenzen auferlegenmuss. Und nicht nur der Gegenstands-bereich ist viel weiter, auch die Reich-weite innerhalb des einzelnen poeti-schen Textes: Weil Poesie ‘Handlungen’– man könnte allgemeiner sagen Pro-zesse, Abläufe – darstellt, kann sie ebenbesonders auch Zusammenhänge stif-ten, die weit über eine einzige Situationhinausreichen.

Und was vielleicht am wichtigsten ist: Die Rolle der Einbildungskraft. DerMaler muss für seine Darstellung – soLessing – den viel zitierten ‘prägnantenMoment’ wählen, der noch nicht dasHöchste etwa des Schmerzes zeigt, son-dern ihn nur in sich birgt, erahnen lässt und der Einbildungskraft des Rezi-pienten zur Vergegenwärtigung anheimstellt. Die Produktivität der Fantasie desZuschauers wird so zu einem entschei-denden Kriterium ästhetischer Quali-tät. Doch während der Raum für dieEinbildungskraft in der Malerei vomKünstler geschaffen wird, ist er in derPoesie medienbedingt. So erst ist es ver-ständlich, wenn Lessing von der „wei-tern Sphäre der Poesie“, dem „unend-lichen Felde unserer Einbildungskraft“und schließlich von der „Geistigkeitihrer Bilder, die in größter Menge und

Ästhetische Sensibilität und sprachliche Herausforderung des Subjekts

Mannigfaltigkeit neben einander ste-hen können, ohne dass eines dasandere deckt oder schändet, wie eswohl die Dinge selbst, oder die natür-lichen Zeichen derselben in den engenSchranken des Raumes oder der Zeittun würden“7. Beziehungsreichtum:Unter diesem Stichwort könnte manmit Lessing die Vorzüge der Poesie zu-sammenfassen, Beziehungsreichtum,der gerade in der Distanz begründet ist,die im sukzessiv und nicht analog ver-fahrenden Medium liegt.

Lessings Theorie ist, wie gesagt, sehraktuell und kann im Kontext der De-batten um die Medienkultur durchausAkzente setzen. Es geht bei seinemKonzept nämlich auch um eine Me-dientheorie, die vom Künstler gegen-über dem Dichter ästhetische Disziplinverlangt.

In seinem fulminanten Buch über die‘Visiotype’ und ihre suggestive Über-macht behandelt Uwe Pörksen 1997auch die Frage einer „neuen Rivalitätvon Sprache und Bild“8 in der moder-

Abbildung 4: Laokoon-Statue in den Vatikani-schen Museen

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nen Medienwelt. Und in diesem Zu-sammenhang besinnt er sich – als Ein-ziger der vielen Zeitgeist-Medienanaly-tiker – auf den Vorgänger Lessing. Erschreibt: „Dieses Thema ist alt. Lessingbehauptete, er würde sein leibliches Au-ge für das innere hergegeben haben.(…) Sein ‘Laokoon oder über die Gren-zen der Malerei und Poesie’ (1766) plä-diert für den Vorrang des Wortes vordem Bild, allgemeiner gesagt, für dasbewegliche Medium der stellvertreten-den, nur andeutenden Zeichen vordem den Fantasieraum einschränken-den, nachahmenden Abbild. Was ver-mag die Sprache, und was begrenzt sie?Was andererseits die Veranschauli-chung? Darüber, was die Allgegenwartvisueller Zeichen bedeutet, lässt sicherst urteilen, wenn man über Leistung,Grenzen, Wirkung der beiden Mediengrößere Klarheit gewonnen hat.“9

Hier wird deutlich, dass sich das Wort,dass sich die Wortsprache nach Ansichtdes Interpreten in der Defensive befin-det und eine Klärung oder Behauptungihrer Position braucht. Im Zeitalter der‘Bilderflut’ könnte eine Neuauflage vonLessings Entwurf noch einmal das Ver-hältnis zwischen Bildern und Wortenthematisieren, und wiederum ginge es,wie bei Lessing, primär um die Interes-sen der Poesie oder – weiter gefasst –der Wortsprache. Wie gezeigt schreibtLessing der Dichtung eine erheblichgrößere Reichweite und einen größerenBeziehungsreichtum als der Bilderkunstzu. Ob allerdings die Situation vonLessing ähnlich empfunden wurde wiein der Gegenwart von den Interpretender Bilder-Medienwelt – nämlich alsbedrohlich für die Worte, die Poesie, dieSprache -, wäre eigens zu diskutie-ren. Uwe Pörksen jedenfalls postuliert:„Nichts scheint mir im Augenblick

wichtiger zu sein als ein Laokoon II, derdas große Thema des 18. Jahrhunderts,das Lessing im ‘Laokoon’ zugespitzthat, auf allgemeinerer Stufe wieder auf-zunehmen in der Lage wäre.“10

Leider hat dieses Buch noch niemandgeschrieben. Aber der Sache nach ist Lessings Thema natürlich präsent,zumindest in seiner allgemeinerenVariante, der Bild-Text-Beziehung imMedienarrangement.

Zunächst sei ein Beispiel von vielenherausgegriffen. Ein Standardwerk der neueren Multimedia-Forschungschreibt zum Thema: „Das Zusammen-spiel von propositionalen und nicht-propositionalen Repräsentationen istungeklärt. Damit bietet auch das aus-gearbeitete Modell von Kintsch keineMöglichkeiten, Bild und Textinforma-tionen in Beziehung zu setzen. (…) EinRahmenmodell für das Verstehen vonMultimedia muss alle bisher bekanntenKomponenten des Text- und Bild-verstehens sowie mentale Modellezusammenfassen.“11

Es folgt eine Abbildung, die genauLessings Dualität von Tableau und Pro-zess aufnimmt und verschiedenen me-dialen Kanälen bzw. verschiedenen Sin-neskanälen zuordnet.

Auf der einen Seite steht also die‘sprachlich-sequenzielle’, auf der ande-ren die ‘bildlich-analoge’ Information,und die Grundintention des Ensembleseiner Multimediaproduktion ist natür-lich, die beiden Medientypen zu inte-grieren, also einem gemeinsamenZweck unterzuordnen. Lessing zieltestattdessen, wie gezeigt, auf die Gren-zen zwischen den beiden Medien Ma-lerei bzw. bildende Kunst und Dich-

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tung, während, noch einmal, die tech-nischen Imperative des Multimedia-zeitalters dagegen eine integrative Sichtverlangen, ein kooperatives Modell, wiees etwa die Emblematik der FrühenNeuzeit darstellte. Dennoch kann manvon Lessing etwas für die Multimedia-Ästhetik lernen.

Ein zweites Beispiel, ebenfalls aus demStandardwerk zur Multimedia-Psycho-logie, sei genannt: Die Bildschirme vonComputern überspielen nicht selten dieGrenzen zwischen der sequenziellenOrdnung der Sprache und der Simul-taneität des Bildes, indem auch dieWorte, die auf dem Schirm funktionell

angeordnet sind, der Logik des Tableausund weniger der Sukzession der Redeoder der Sequenzialität der gelesenenSchrift folgen. Und wird das entspre-chende Bild einbezogen, kann manvon einem Bild-Text-Tableau höhererOrdnung sprechen.

Selbstverständlich haben sich die In-teressen seit Lessing inzwischen ver-schoben und selbstverständlich gibt esUnmengen von neuen wahrnehmungs-psychologischen Einsichten. Beispiels-weise weiß man seit langem, dass auchBilder ‘gelesen’, also in einer Abfolgevon Sakkaden ‘abgetastet’ werden, so-

Abbildung 5: Schema aus Hasebrook, Joachim: Multimedia-Psychologie, 1995, S.145.

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dass der Prozess der Rezeption eines Bil-des das Tableau auflöst. Andererseitsweiß man auch, dass die Worte derSprache beim Lesen durchaus zunächstfotografisch-simultan als Bilder auf-genommen werden, bevor sie in eineBuchstaben- und Wortfolge ‘eingebaut’werden.12 So bedarf es selbstverständ-lich einer besonderen hermeneutischenAnstrengung, Lessings Thesen auf diegegenwärtige Medienlandschaft zu be-ziehen, es scheint mir aber nicht un-fruchtbar.

Eigentlich wäre es längst nahe liegendgewesen, eine der prominentesten,wenn nicht die prominenteste Theoriedes Bild-Text-Verhältnisses aus der Ge-schichte der abendländischen Ästhetikauf diejenige Medienkultur zu bezie-hen, welche verschiedenste Medienkombiniert, und zwar in einer äußerstintensiven und zugleich anarchischen

Weise. Zwei Gesichtspunkte sollen ver-deutlichen, inwiefern es fruchtbar seinkönnte, auf Lessings Theorie zu rekur-rieren: Erstens: die Einsicht, dass Bildund Text bzw. Sprache unterschiedli-chen Zeichenlogiken folgen; zweitens:die Rolle der Einbildungskraft bzw. derprägnante Moment.

Zum ersten Punkt: Viele Multimedia-Produkte, die zur Werbung oder alsLernprogramme eingesetzt werden, ge-hen von dem ungeschriebenen Dogmaaus: Viel hilft viel. Viele bunte (undmöglichst bewegte) Bilder sollen gut fürden ‘Lernerfolg’ sein. Bei einer genaue-ren Analyse der Produkte stellt manfest, dass sich die Bilder mit ihremhöheren Grad an Suggestivität vor die Texte (welche meist die eigentlichwichtige Information enthalten) drän-gen und so den Lernerfolg in Frage stel-len.

Abbildung 6: Schema aus Hasebrook, Joachim: Multimedia-Psychologie, 1995, S.208.

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Zweiter Punkt: Die Theorie des präg-nanten Moments bei Lessing fordertvom Maler, wegen der höheren Au-thentizität der von ihm verwendetenZeichen mehr Disziplin bei der Dar-stellung seiner Gegenstände als vomPoeten, dessen Zeichen als konventio-nelle per se weiter vom Gegenstandentfernt sind. Deshalb darf bekannter-maßen Laokoon bei Vergil durchausschreien, während er das in der bil-denden Kunst nicht darf. Nun wird derfruchtbare Augenblick für Lessing vorallem durch eines ‘fruchtbar’ – Lessingschreibt: „Dasjenige aber nur allein istfruchtbar, was der Einbildungskraftfreies Spiel lässt. Je mehr wir sehen, de-sto mehr müssen wir hinzu denkenkönnen. Je mehr wir darzu denken, de-sto mehr müssen wir zu sehen glau-ben.“13 Hierin stecken zwei Postulate:

1. Der ‘prägnante Moment’ fordert die‘Benutzeraktivität’ des Rezipienten. Be-zogen auf Multimedia-Ensembles wür-de das bedeuten, dass nicht die leichteVerfügbarkeit die Qualität ausmacht,sondern die Potenz, die Aktivität des‘users’ herauszufordern. Gerade beiLernprogrammen, so sagt die einschlä-gige Forschung, komme es nicht daraufan, den Benutzer mit Unmengen vonInformationen zuzuschütten, sonderndarauf, seine Aktivität zu provozieren,denn der größte Lernerfolg stelle sichbei der höchsten Eigenaktivität ein. Et-was allgemeiner formuliert: LessingsTheorie des prägnanten Moments kannauch als Theorie der Interaktivität ge-lesen werden.

2. Der Augenblick wird im Zusammen-spiel mit der Einbildungskraft desBetrachters ins Prozesshafte aufgelöst,metaphorisch gesagt: Im Kopf des Re-zipienten läuft der Film weiter. Hier wie

an anderen Stellen zeigt sich, dass auchLessing letztlich eine Synthese von Ta-bleau und Prozess vorschwebt; die pro-minenteste ist sicher seine Favorisie-rung des Dramas. Wenn Lessing denFilm gekannt hätte, sähe sein ‘Laoko-on’ anders aus, nicht ganz anders, aberein wenig anders.

Die drei Abschnitte dieses Beitrags soll-ten zeigen:

● Ästhetische Bildung ist nicht nurBildung durch Ästhetik (wie sie vonSchiller konzipiert worden war),sondern vor allem auch (Aus-)Bil-dung zur Ästhetik. Damit ist dieAusbildung ästhetischer Sensibilitätgemeint, die durchaus mehr ist alskünstlerische Freizeitbeschäftigung.Ästhetische Sensibilität ist, diessollte die Erinnerung an die Verhal-tensästhetik des Höflings zeigen,notwendig für soziale Selbstdarstel-lung und Selbstbehauptung – undinsofern notwendiges Element so-zialen Lebens.

● Ästhetische Bildung enthält als zen-trale Komponente sprachliche Sen-sibilität und Formsensibilität – einescheinbar dysfunktionale Fertigkeit,die jedoch für den Bestand einerKultur unverzichtbar ist. Das Ge-dicht als extreme Form ‘dichter’Sprache verlangt Wahrnehmungs-formen und -möglichkeiten, dieauch dem einzelnen Subjekt dieMöglichkeit einer ästhetischenSelbstbehauptung geben, die über-haupt erst seine Ausbildung alsselbstständiges Subjekt ‘herausfor-dert’.

● Im Zusammenhang der modernenMedienkonkurrenz ist es wichtig,sich auf die spezifischen Qualitätenwortsprachlicher Ausdrucksformen

Ästhetische Sensibilität und sprachliche Herausforderung des Subjekts

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zu besinnen. Mit Lessing kann manhieraus einerseits auf die großenMöglichkeiten der Sprache rekurrie-ren, Beziehungen über die aktuellePräsenz hinaus zu stiften (Bezie-hungsreichtum als sprachlich-poeti-

sche Qualität); andererseits kannman an Lessings Überlegungen dasPostulat ästhetischer Disziplinanschließen, das gerade für die sug-gestivere Konkurrenz des Wortesgelten muss.

Anmerkungen* Mit herzlichem Dank an Herrn Minis-

terialrat Dr. Stefan Krimm für An-regungen, nicht nur bei der Titelfin-dung.

1 Hübscher, Arthur (Hg.): Gracián, Baltasar:Handorakel und Kunst der Weltklugheit(Deutsch von Arthur Schopenhauer),Stuttgart 1975, S.81; vgl. hierzu Braun-gart, Georg: Rhetorik als Strategie poli-tischer Klugheit: z.B. Baltasar Gracián, in:Josef Kopperschmidt (Hg.), Politik undRhetorik. Funktionsmodelle politischerRede, Opladen 1995, S.146–160.

2 Meid, Volker (Hg.): Fleming, Paul: Deut-sche Gedichte, Stuttgart 1986, S.112; vgl.hierzu und zum Folgenden Braungart,Georg: Poetische Selbstbehauptung. Zurästhetischen Krisenbewältigung in derdeutschen Lyrik des 17. Jahrhunderts, in:Manfred Jakubowski (Hg.), Krisen des 17.Jahrhunderts, Göttingen 1999, S.43–57.Zum Sozialtypus des ‘Höflings’ vgl. ins-gesamt auch Braungart, Georg: Hof-beredsamkeit. Studien zur Praxis höfisch-politischer Rede im deutschen Terri-torialabsolutismus, Tübingen 1988 (dortbesonders Teil 3: Der Höfling: Spracheund soziale Selbstdarstellung).

3 Kühlmann, Wilhelm: Sterben als hero-ischer Akt. Zu Paul Flemings Grabschrift,in: Gedichte und Interpretationen, Bd.1:Renaissance und Barock, Stuttgart 1982,S.167–175.

4 Vgl. hierzu und zum Folgenden Braun-gart, Georg: Vom Verstummen der Poe-sie. Paradoxe Klage in Friedrich Hölder-

lins Gedicht ‘Hälfte des Lebens’, in: Blickin die Wissenschaft. Forschungsmagazinder Universität Regensburg, H.7, 4. Jg.1995, S.12–13.

5 Die Hinweise zur Symbolik des Schwansund zur Rhetorik-Tradition stützen sichebenso wie die Bemerkungen zum Begriffdes ‘Heilig-Nüchternen’ auf: Schmidt, Jochen: „Sobria ebrietas“. Hölderlins Hälf-te des Lebens, in: Wulf Segebrecht (Hg.),Gedichte und Interpretationen, Bd.3:Klassik und Romantik, Stuttgart 1984, S.256–267.

6 Barner, Wilfried: Kommentar, in: ders.(Hg.): Gotthold Ephraim Lessing: Werkeund Briefe in zwölf Bänden, Bd. V/2,Frankfurt am Main 1990, S.665.

7 Ebd., S.60f.8 Pörksen, Uwe: Weltmarkt der Bilder. Eine

Philosophie der Visiotype, Stuttgart 1997,S.36.

9 Ebd.10 Ebd..11 Hasebrook, Joachim: Multimedia-Psy-

chologie. Eine neue Perspektive mensch-licher Kommunikation, Heidelberg-Ber-lin-Oxford 1995, S.144; die Abbildung istauf S.145.

12 Vgl. hierzu Gross, Sabine: Lesezeichen.Kognition, Medium und Materialität imLeseprozess, Darmstadt 1994.

13 Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon:Oder über die Grenzen der Malerei undPoesie, in: Wilfried Barner (Hg.), Lessing,Werke 1766–1769, (Werke und Briefe inzwölf Bänden), Bd.5/2, S.32.

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Politische Studien, Heft 385, 53. Jahrgang, September/Oktober 2002

Die Dekrete sind, politisch betrachtet,nicht das wichtigste Thema der EU-Osterweiterung; sie werfen aber recht-lich ungemein schwierige Fragen auf:Können gesetzliche Vorschriften „gül-tig“ und doch nicht mehr „wirksam“sein? Kann „erloschenes“ oder „totesRecht“ noch Bestandteil einer „gelten-den“ Rechtsordnung sein? Was heißt„erloschen“ und wann erloschen, seitwann erloschen?

Diese und ähnliche Fragen rücken auchimmer wieder in das Blickfeld derdeutsch-tschechischen Beziehungen.Die tschechische (tschechoslowakische)Seite sieht in den Dekreten nach wievor die Grundlage ihrer Staatlichkeit:„Wer die Dekrete angreift, greift deneuropäischen Antifaschismus und dieheldenhafte (tschechoslowakische) Exil-regierung an“. Grundlage der Vertrei-bung von Millionen Bürgern aus ihrerangestammten Heimat innerhalb derGrenzen der damaligen Tschechoslo-wakei waren letztlich nicht die Präsi-dialdekrete, sondern die von denhauptverantwortlichen Siegermächtenin Potsdam getroffenen Maßnahmen1;dort sei auch der „punitive approach“,der Gedanke der Bestrafung der deut-schen und magyarischen Bevölkerung,verankert. Mit dem „Abschub“ derdeutschen und magyarischen Bevölke-

rung seien die einschlägigen Dekrete„erloschen“, und nicht mehr geltendesRecht könne nicht aufgehoben werden.Im Übrigen unterschieden sich die De-krete nicht von gesetzlichen Maßnah-men, die andere Siegerstaaten nach1945 gegen das deutsche Volk ergriffenhätten. Die Bundesregierung hält dem-gegenüber die Vertreibung von überdrei Millionen Deutschen aus ihrer an-gestammten Heimat in der ehemaligenTschechoslowakei für „völkerrechts-widrig“.2 Welche konkreten rechtlichenFolgerungen aus dem völkerrechtlichenUnrecht der einschlägigen Dekrete zuziehen sind, bleibt offen. Offen bleibenauch die vermögensrechtlichen Fragen,die sich aus der entschädigungslo-sen Beschlagnahmung (Konfiskation)des volksdeutschen Privatvermögensauf dem Gebiet der ehemaligen Tsche-choslowakei ergeben haben, auf völ-kerrechtlicher Ebene – und das giltauch hinsichtlich des Beitrittsverfah-rens Tschechiens zur Europäischen Uni-on – will sich die Bundesregierungnicht schützend für die betroffenendeutschen Staatsbürger einsetzen.3

Der folgende Beitrag klärt den Begriffder Benes-Dekrete („Präsidialdekrete“)und untersucht deren rechtliche Be-deutung. Im Zusammenhang mit demEU-Beitrittsverfahren der Tschechischen

Mit den Benes-Dekreten nach Europa?

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Republik werden die einschlägigen völ-ker- und europarechtlichen Kriterienherausgearbeitet, an deren Maßstab ge-genwärtig noch fühlbare Wirkungender Dekrete zu überprüfen sind.

1. Der Begriff „Präsidial-dekrete“ und ihre rechtlichenBesonderheiten

Unter den Begriff „Präsidialdekrete“fallen sowohl die Legislativakte dertschechoslowakischen Exilregierung inLondon (Oktober 1940 – April 1945) alsauch die Gesetzgebung der in die be-freite Tschechoslowakei zurückgekehr-ten tschechoslowakischen Regierung in der „unmittelbaren Nachkriegszeit“(April 1945 – 28. Oktober 1945). ImLondoner Exil und in der unmittelba-ren Nachkriegszeit übte der Präsidentder Tschechoslowakischen Exilregie-rung, Edvard Benes, – formell gebun-den an die alte tschechoslowakischeVerfassung von 1920 – das Gesetzge-bungsrecht in der Form von Gesetzes-und Verfassungsdekreten aus, die am28. März 1946 von der ProvisorischenNationalversammlung genehmigt wur-den. Von den insgesamt 142 Dekretenwerden 44 der Londoner Periode 98 dermit der Wiedergewinnung des tsche-choslowakischen Territoriums ein-setzenden „unmittelbaren Nachkriegs-zeit“ zugerechnet. Unmittelbar imKontext mit den Dekreten und ihrerDurchführung in der Nachkriegszeitsteht das Gesetz Nr. 115 vom 8. Mai1946, das an sich rechtswidrige undstrafbare Handlungen, die zwischendem 30. September 1938 und dem 28. Oktober 1945 mit dem Ziel der Be-freiung begangen wurden, als „Vergel-tung für die Taten der Okkupanten“rechtfertigt. Nach tschechischer Rechts-

auffassung ist demgemäß auch die Ver-treibung von ca. 3,2 Millionen Deut-schen und 600.000 Magyaren aus ihrenangestammten Siedlungsgebieten –einschließlich der hierbei verübten Ex-zesse – gesetzlich gerechtfertigt.

Im Zusammenhang mit aktuellenRechtsfragen können die 44 Dekreteder Londoner Periode vernachlässigtwerden. Auch die 98 Dekrete der „un-mittelbaren Nachkriegszeit“ hält dietschechische Seite für zwischenzeitlich„erloschen“ („extinct“). Unter rechtli-chen Gesichtspunkten muss hier aller-dings unterschieden werden zwischenDekreten, die durch nachfolgende Ge-setze aufgehoben wurden, und solchen,die in der Sammlung des geltendenRechts noch abgedruckt sind.

Von den für Entrechtung, Ausbürge-rung und Aussiedlung der nationalenMinderheiten verantwortlichen Dekre-ten wurden folgende aufgehoben:

● Dekret Nr. 16 vom 19. Juni 1945über die Bestrafung der nazistischenVerbrechen, der Verräter und ihrerHelfershelfer sowie über die Volks-gerichte; nach Verlängerung undWiederinkraftsetzung wurde dieGeltungsdauer zum 31. Dezember1948 beendet, vgl. Gesetz vom 25.März 1948, Slg.-Nr. 33, Art. III § 1vom 17. Juli 1945.

● Dekret Nr. 27 vom 17. Juli 1945über das einheitliche Vorgehen beider inneren Besiedlung; aufgehobenmit Wirkung vom 15. März 1950durch § 4 des Gesetzes vom 9. März1950, Slg. Nr. 18 über die Aufhe-bung der Ansiedlungsämter.

● Dekret Nr. 71 vom 19. September1945 über die Arbeitspflicht der Per-sonen, welche die tschechoslowaki-

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sche Staatsbürgerschaft verloren ha-ben; aufgehoben mit Wirkung vom1. Januar 1966 durch § 279 Ziff. 27des Arbeitsgesetzbuchs vom 16. Juni 1965, Slg. Nr. 65.

● Dekret Nr. 126 vom 27. Oktober1945, über die Zwangsarbeit-Son-derabteilungen; aufgehoben mitWirkung vom 1. August 1950 durch§ 324 Ziff. 29 der Strafprozessord-nung vom 12. Juli 1950, Slg. Nr. 87.

● Dekret Nr. 137 vom 27. Oktober1945 über die Sicherstellung der alsstaatlich unzuverlässig angesehenenPersonen während der Revolutions-zeit; aufgehoben mit Wirkung vom1. August 1950 durch § 324 Ziff. 30der Strafprozessordnung vom 12.Juli 1950, Slg. Nr. 87.

Aufgehoben wurden bis 1950 das Son-derstrafrecht und das Neuansiedlungs-recht, das durch Zweckerfüllung ob-solet geworden war. Erstaunlich be-standskräftig waren dagegen die diskri-minierenden Zwangsarbeitsregelungen,die erst 1966 außer Kraft traten undmöglicherweise noch Nachwirkungenim geltenden tschechischen Renten-recht haben könnten.

Entgegen den Darlegungen des tsche-chischen Außenministeriums befindensich in der vom Justizministerium derTschechischen Republik 1992 heraus-gegebenen Sammlung der geltendenGesetze (Prehled právních predpisu9.5.1945 – 31.12.1991) weiterhin De-krete aus der unmittelbaren Nach-kriegszeit.

Als noch geltendes Recht werden all dieRegelungen erfasst, die den vermö-gensrechtlichen und staatsangehörig-keitsrechtlichen Status der Entrechte-ten betreffen, z.B.:

● Dekret Nr. 5 vom 19. Mai 1945 überdie Ungültigkeit einiger vermögens-rechtlicher Rechtsgeschäfte aus derZeit der Unfreiheit und über die na-tionale Verwaltung der Vermögens-werte der Deutschen, der Magyaren,der Verräter und Kollaborateure undeiniger Organisationen und Anstal-ten.

● Dekret Nr. 12 vom 21. Juni 1945über die Konfiskation und beschleu-nigte Aufteilung des landwirtschaft-lichen Vermögens der Deutschen,Magyaren wie auch der Verräterund Feinde des tschechischen unddes slowakischen Volkes.

● Dekret Nr. 100 vom 24. Oktober1945 über die Nationalisierung derBergwerke und einiger Industriebe-triebe.

● Dekret Nr. 108 vom 25. Oktober1945 über die Konfiskation desfeindlichen Vermögens und dieFonds der nationalen Erneuerung.

Auf staatsangehörigkeitsrechtlichemGebiet findet sich die zentrale Ausbür-gerungsvorschrift:

● Dekret Nr. 33 vom 2. August 1945über die Regelung der tschechoslo-wakischen Staatsbürgerschaft derPersonen deutscher und magyari-scher Nationalität.

● Anhaltende Bedeutung wird offen-bar auch der Schließung der deut-schen Hochschulen beigemessen. Inder Sammlung des geltenden Rechtsfindet sich noch– Dekret Nr. 122 vom 18. Oktober

1945 über die Auflösung der Deut-schen Universität Prag,

– Dekret Nr. 123 vom 18. Oktober1945 über die Auflösung der deut-schen Technischen Hochschulenin Prag und Brünn.

Mit den Benes-Dekreten nach Europa?

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Mit der Aufhebung der Hochschulenwar die Aberkennung der von diesenverliehenen akademischen Grade ver-bunden; hieraus ergibt sich einestatusrechtliche Bedeutung, die all die-jenigen diskriminiert, die an den deut-schen Hochschulen erfolgreich aka-demische Examina abgelegt hatten,beruflich aber in der Tschechoslowakeials Nichtakademiker behandelt wurden.

Rechtspolitisch bedeutsam ist vor al-lem die uneingeschränkte Fortgeltungdes Gesetzes Nr. 115 vom 8. Mai 1946(Straffreiheitsgesetz). Es ist kein einzi-ger Fall bekannt geworden, in dem einTäter wegen Gewalttaten gegen An-gehörige der sudetendeutschen odermagyarischen Volksgruppe zur Verant-wortung gezogen worden wäre.

Die rechtliche Problematik der förmlichfortgeltenden Präsidialdekrete liegt inFolgendem: Die Dekrete sind zwarnicht mehr Rechtsgrundlage für neueEntrechtung, Ausbürgerung oder Ver-treibung, bilden aber gleichwohl wei-terhin die Grundlage auch der neuentschechischen Rechtsordnung, wie derVerfassungsgerichtshof in der Tsche-chischen Republik in seiner Dreithaler-Entscheidung4 eindrucksvoll festgestellthat. Die Dekrete gewinnen immerdann aktuelle rechtliche Bedeutung,wenn der tschechische Gesetzgeber, dieVerwaltung oder die Rechtsprechung –z.B. auf der Grundlage einer intertem-poralen Regelung -, auf die Dekrete ver-weisen und damit altes Unrecht imRahmen der geltenden Rechtsordnungnachbefolgen. Von den fortgeltenden,den vermögensrechtlichen und staats-angehörigkeitsrechtlichen Status re-gelnden Dekreten sind nach wie vor dieHeimatvertriebenen, aber auch – wiejüngst die Entscheidung des UN-Men-

schenrechtsausschusses vom 2. No-vember 2001 (CCPR/C/73/D/747/1997)im Fall Dr. Karel Des Fours Walderode/ Tschechische Republik gezeigt hat –die im Lande lebende Minderheit be-troffen.

2. Der Prüfungsmaßstab

Die allgemeinen völkerrechtlichen unddie gemeinschafts- bzw. unionsrechtli-chen Maßstäbe sind nicht deckungs-gleich. Das Völkerrecht vermitteltallgemeine Grundsätze, das Gemein-schafts- und Unionsrecht regelt die ausder Mitgliedschaft erwachsenden spe-ziellen Verpflichtungen, die auch aufdie künftigen Ziele der EuropäischenUnion und ihrer Integrationsgemein-schaften ausgerichtet sind.

Die wichtigsten völkerrechtlichen Er-kenntnisse lassen sich wie folgt zu-sammenfassen5:

● Die Tschechische Republik haftet alsRechtsnachfolgerin der Tschecho-slowakei und als nach wie vor Be-reicherte für alle auf der Grund-lage der Dekrete durchgeführtenoder nachträglich gerechtfertigtenMaßnahmen gegen die kollek-tiv zwangsausgewiesene, auf demStaatsgebiet der damaligen Tsche-choslowakei siedelnde deutsche undmagyarische Minderheit.

● Die einzelnen auch durch die De-krete dokumentierten Verfolgungs-maßnahmen werden durch denGesamtvorsatz verbunden, die aus-gegrenzte Bevölkerungsgruppe inihrer Einheit, Besonderheit, Eigen-heit und damit in ihrer sozialenExistenz zu zerstören; sie sind damitTeil eines Genozides i.S.v. Art. II der

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Konvention zur Verhütung und Be-strafung des Völkermordes; sie ver-stoßen gegen zwingendes Völker-recht (ius cogens); die Rechts-verletzungen entfalten Wirkung ge-genüber jedermann (erga omnes).

● Vorrangiges Ziel des zwischenstaat-lichen Rechts ist es, die Unrechts-folgen zu bereinigen oder wenig-stens zu mildern; hinsichtlich einerimmer noch möglichen Entschä-digung der Opfer spielt die Auf-hebung der Dekrete (symbolisch, exnunc oder ex tunc) nur eine nach-geordnete Rolle.

Hinsichtlich des tschechischen Bei-trittsverfahrens zur Europäischen Uni-on gelten speziell die vom Europäi-schen Rat in Kopenhagen im Juni 1993festgelegten Kriterien. Nach den ge-nannten Kriterien muss der einzelneBeitrittskandidat zunächst Gewährdafür bieten, dass er den „acquis com-munautaire“ – das geschriebene undungeschriebene Gemeinschaftsrecht –einhalten kann. Da die EuropäischeUnion nicht nur eine Wirtschafts-, son-dern auch eine Wertegemeinschaft ist,muss der beitretende Staat die Wahrungder Menschenrechte, von Demokratieund Rechtsstaatlichkeit garantieren(Art. 6 Abs. 1 EU-Vertrag); Gleiches gilthinsichtlich des Schutzes der auf sei-nem Gebiet siedelnden Minderheiten.Die Europäische Union verfolgt weiter„die Ziele der politischen Union“ (Art. 1 Abs. 2 EU-Vertrag) durch eineneue Stufe bei der Verwirklichung „ei-ner immer engeren Union der VölkerEuropas“; dies bedeutet, dass der Bei-trittskandidat im Vorfeld der Erweite-rung seine außenpolitischen Probleme,die einer künftig immer engeren eu-ropäischen Zusammenarbeit im Wegestehen könnten, bereinigt.

3. Die Dekrete im Lichte des „acquis communautaire“

Die mit den Benes-Dekreten Nr. 12 undNr. 108 zusammenhängenden Eigen-tumsfragen stehen bei rechtlichen Erör-terungen des „acquis communautaire“meist im Vordergrund. Die Konfiska-tion des Eigentums war zwar nicht dergrößte Verlust der aus der angestamm-ten Heimat Vertriebenen; diese Verfol-gungsmaßnahme ist jedoch noch heu-te besonders fühlbar, wenn Vermögen,das zurückgegeben werden könnte, nurdeshalb weder restituiert noch ent-schädigt wird, weil der alte Eigentümereiner in der damaligen Tschechoslowa-kei siedelnden diskriminierten Volks-gruppe angehörte.6

Es gibt jedoch keine Gemeinschafts-norm, die sich unmittelbar mit denFolgen des Zweiten Weltkriegs, insbe-sondere mit der Restitution oder Ent-schädigung konfiszierter Vermögens-gegenstände befasst.

Art. 295 EG-Vertrag „lässt die Eigen-tumsordnung in den verschiedenenMitgliedstaaten unberührt“. Die Mit-gliedstaaten sind befugt, Privateigen-tum zu verstaatlichen. Die Tschechi-sche Republik kann unter Hinweis aufArt. 295 EG-Vertrag nicht gezwungenwerden, ihre Eigentumsordnung zu än-dern, insbesondere die Dekrete Nr. 12und Nr. 108 mit der Wirkung ex nuncoder ex tunc aufzuheben; auch könnendie deutschen Heimatvertriebenen – alsUnionsbürger – individuelle Restitu-tionsansprüche nicht auf Art. 295 EG-Vertrag stützen.

Durch die Gestaltung der nationalenEigentumsordnung darf allerdings dieGemeinschaftsrechtsordnung nicht ge-

Mit den Benes-Dekreten nach Europa?

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fährdet werden. So entbindet Art. 295EG-Vertrag nicht vom Diskriminie-rungsverbot bei der Gestaltung derEigentumsordnung in den Mitglied-staaten. Im Anwendungsbereich derGemeinschaftsverträge gilt für dieTschechische Republik künftig derGleichheitssatz (Art. 12 EG-Vertrag).

● Die Diskriminierung von EU-An-gehörigen aus Gründen der Staats-angehörigkeit ist verboten. DieTschechische Republik kann aller-dings versuchen, für den freienGrunderwerb durch EU-Ausländerbestimmte Übergangsfristen zu er-reichen. Nach den Vorschriften desNiederlassungsrechts sowie nach denen über den freien Dienstleis-tungs- und den Kapitalverkehr muss aber letztlich der Immobilienerwerbdurch Unionsbürger diskriminie-rungsfrei zugelassen werden.7 Art. 9Abs. 1 der Verordnung Nr. 1612/68bestimmt hinsichtlich der Arbeit-nehmer-Freizügigkeit, dass „Arbeit-nehmer, die die Staatsangehörigkeiteines Mitgliedstaats besitzen und imHoheitsgebiet eines anderen Mit-gliedsstaats beschäftigt sind, (…)hinsichtlich einer Wohnung, ein-schließlich der Erlangung des Ei-gentums an der von ihnen benötig-ten Wohnung, alle Rechte undVergünstigungen wie inländischeArbeitnehmer genießen.“ Auch imRahmen der Niederlassungsfreiheitist der Erwerb von Grundeigentumzu Wohnzwecken möglich. Perso-nen, die aus dem Erwerbsleben aus-geschieden sind und sich deshalbweder auf die Dienstleistungs-, nochauf die Niederlassungsfreiheit beru-fen können, gewährt die Ratsrichtli-nie 90/364/EWG vom 28. Januar1990 über das Aufenthaltsrecht das

Recht auf Erwerb einer Wohnung.Aus diesen Gemeinschaftsrechtenlässt sich jedoch nicht das Recht aufErwerb eines bestimmten Objektsableiten. Restitutionsansprüche wer-den von den genannten Vorschrif-ten nicht geschützt, auch wenn sie,im Gegensatz zur weit zurückliegen-den Enteignung, ratione temporisin den Anwendungsbereich des Ge-meinschaftsrechts fielen.

● Der gemeinschaftsrechtliche Zu-ständigkeitsbereich ist allerdingsdann eröffnet, wenn es in derTschechischen Republik um die Pri-vatisierung der nichtrestituiertenland- und forstwirtschaftlichenGrundstücke geht: Die Gemein-schaft ist für den Sektor Landwirt-schaft zuständig. Art. 12 EG-Vertragverbietet „in seinem Anwendungs-bereich“ jede Diskriminierung ausGründen der Staatsangehörigkeit.Die tschechische Rechtsordnungverstößt insoweit gegen Art. 12 EG-Vertrag, als in der ersten Runde derVersteigerung eines zu privatisieren-den landwirtschaftlich genutztenGrundstückes EU-Ausländer vomGebot ausgeschlossen sind.

4. Die Dekrete im Lichte derStrukturklausel

Der acquis communautaire gewährtden Heimatvertriebenen im Falle desBeitritts Tschechiens zur EuropäischenUnion nur die Rechte, die auch allenanderen EU-Angehörigen zustehenkönnen. Die typischen aus Flucht undVertreibung resultierenden und nochgegenwärtig spürbaren Rechtsfragenkönnen allenfalls im Rahmen der sog.Strukturklausel des Art. 6 EU-Vertragthematisiert werden.

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Gemäß Art. 49 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs.1 EU-Vertrag muss der den Beitritt be-antragende Staat die allen Mitglied-staaten gemeinsamen Grundsätze –nämlich Freiheit, Demokratie, Achtungder Menschenrechte und Grundfrei-heiten sowie Rechtsstaatlichkeit – ge-währleisten. Ergeben sich hinsichtlichdieser vier in Art. 6 Abs. 1 EU-Vertragniedergelegten Grundsätze Mängel, sobesteht ein zwingendes Beitrittshin-dernis. Jedes Mitglied der Gemeinschaftkann den Mangel geltend machen und,sollte der Mangel nicht behoben wer-den, sich weigern, die Zustimmung zurAufnahme des Beitrittskandidaten zuerteilen. Alle Mitgliedstaaten, aber auchdie Gemeinschaftsorgane sind aufge-rufen, darauf zu achten, dass jeder Bei-trittskandidat Art. 6 Abs. 1 EU-Vertragim vollen Umfang erfüllt. Im Gegen-satz zum Europäischen Parlament hatdie Europäische Kommission in ihrenBerichten über den Stand der Beitritts-bemühungen der Tschechischen Repu-blik das Thema Benes-Dekrete, ein-schließlich deren Begleitumstände undnoch spürbaren Folgen nicht ange-sprochen.8

Ratione temporis erfasst Art. 6 Abs. 1EU-Vertrag in erster Linie das gegen-wärtige Verhalten der Mitgliedstaatenbzw. Beitrittskandidaten; die Gemein-schaft konzentriert sich – allen Widrig-keiten und Verbrechen der Vergangen-heit zum Trotz – auf neue Wege desAusgleichs auf der Grundlage desRechts. Weil der Ausgleich auf derGrundlage des Rechts zu erfolgen hat,ist das noch spürbare Unrecht der Ver-gangenheit nicht unerheblich; dieVerletzung allgemein anerkannter völ-kerrechtlicher Normen – vor allem,wenn es sich um die Verletzung zwin-gender Normen (ius cogens) handeln

sollte – wirft die Frage nach der gebo-tenen Wiedergutmachung, wenn nichtgar nach Sanktionen auf. Die Trag-fähigkeit der Europäischen Union alseiner Gemeinschaft, die sowohl auf derAussöhnung ihrer Völker und Volks-gruppen als auch auf dem Respekt vorden Menschenrechten und dem Schutzvon Minderheiten gründet, wäre ge-fährdet, versuchte ein neuer Mitglied-staat, die Entrechtung, kollektive Aus-bürgerung und Ausweisung von Mil-lionen Menschen beharrlich als ge-rechte Strafe zu rechtfertigen; Europaliefe Gefahr, im weltweiten Kampfgegen ethnische Säuberungen seineGlaubwürdigkeit zu verlieren.

Von den Vertreibungsfolgen sind heu-te die Vermögenskonfiskationen nochspürbar, sie sind letztlich auch leichterregelbar als der Verlust der Heimat. DieEnteignungen nach den heute in derTschechischen Republik förmlich fort-geltenden Dekreten Nr. 5, Nr. 12, Nr.100 und Nr. 108 kann nicht als ge-rechte Strafe für illoyales Verhalten an-gesehen werden. Die Konfiskationenwurden ohne jede Prüfung indivi-duellen Verschuldens durchgeführt. DieDekrete zielten vielmehr auf die Le-bens- und Existenzgrundlagen einerVolksgruppe und verfolgten deren Zer-störung im Siedlungsgebiet. Die Ent-eignung ist demgemäß Bestandteil desGenozides an der in der damaligenTschechoslowakei siedelnden deut-schen und magyarischen Volksgruppe.Gerade weil eine zwingende Völker-rechtsnorm verletzt ist, ist Wiedergut-machung geboten.

Den in Art. 6 Abs. 1 EU-Vertrag nieder-gelegten konstitutiven Grundlagen derGemeinschaft widerspricht das wei-terhin in der Tschechischen Republik

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fortgeltende Gesetz Nr. 115 vom 8. Mai1946 (Straffreiheitsgesetz). Kein Straf-gesetzbuch in einem Mitgliedstaatgrenzt eine ganze Volksgruppe aus derRechtsgemeinschaft aus, wie dies nachKriegsende in der Tschechoslowakei aufGrund der als „gerechte Vergeltung“verstandenen Retribution der Fall war,und wie das durch das Straffreiheitsge-setz bis zum heutigen Tag fortgeführtwird. Die pauschale Weigerung derTschechischen Republik, die in der Zeitvom 30. September 1938 bis zum 28. Oktober 1945 verübten Delikte –einschließlich der an den entrechtetenVolksgruppen begangenen Straftaten –zu ahnden, stellt einen eklatantenBruch der jeder rechtsstaatlichen Ord-nung obliegenden Schutzfunktion dar.Schon um ihren gleichen Respekt vorden Rechten aller Menschen zu zeigen,muss die Tschechische Republik das Ge-setz Nr. 115 über die Rechtmäßigkeitvon Handlungen, die mit dem Kampfum die Wiedergewinnung der Freiheitder Tschechen und Slowaken zusam-menhängen, aufheben.

5. Achtung und Schutz der Minderheitenrechte der in der Tschechischen Republiksiedelnden Volksgruppen

Art. 6 Abs. 1 EU-Vertrag rechnet die inder Europäischen Menschenrechtskon-vention verankerten Menschenrechte,nicht aber die Gruppen und Minder-heitenrechte zur konstitutiven Grund-lage der Union. Die „Achtung und derSchutz von Minderheiten“ zählt jedochausdrücklich zu den vom EuropäischenRat in Kopenhagen im Juni 1993 fest-gelegten Beitrittskriterien. Die Tsche-chische Republik muss deshalb auchdie Achtung und den Schutz von Min-

derheiten garantieren. Durch die An-knüpfung an Staatsangehörigkeits- undAufenthaltserfordernisse im geltendentschechischen Recht wirkt der Un-rechtsgehalt des durch die Benes-De-krete gestalteten vermögens- und staats-angehörigkeitsrechtlichen Status nochnach; betroffen ist vor allem die imLande lebende, stark reduzierte deut-sche Minderheit, wie der Fall Waldero-de zeigt.

Das Gesetz Nr. 229 vom 21. Mai 1991über die außergerichtliche Rehabilitie-rung berücksichtigt vermögensbezoge-ne Unrechtstaten zwischen 1948 und1989, Stichtag ist der 25. Februar 1948,der Tag der kommunistischen Macht-übernahme. Die Konfiskationen nachden Benes-Dekreten blieben demgemäßunberücksichtigt. Am 15. April 1992trat sodann das Gesetz 243/1992 inKraft. Es sieht die Rückgabe von land-wirtschaftlichem und forstwirtschaftli-chem Eigentum vor, das auf Grund desBenes-Dekrets Nr. 12 enteignet wordenwar. Um für eine Rückgabe in Frage zukommen, musste ein Antragsteller dietschechische Staatsbürgerschaft 1945beibehalten und seinen ständigenWohnsitz in der Tschechoslowakei ge-habt haben. Durch das Gesetz vom 9. Februar 1996, die sog. „Lex Walde-rode“, wurde das Gesetz 243 dahinge-hend geändert, dass nunmehr die un-unterbrochene tschechoslowakische/tschechische Staatsangehörigkeit vomEnde des Zweiten Weltkriegs bis zum 1. Januar 1990 zur Restitutionsvoraus-setzung gemacht wurde. Die Ange-hörigen der deutschen Volksgruppe, die1945 zwar enteignet, aber nicht ver-trieben wurden, waren nunmehr be-nachteiligt, wenn sie – wie Dr. KarelDes Fours Walderode – von den Kom-munisten später ausgebürgert worden

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waren. Der Menschenrechtsausschusssah hierin eine willkürliche und daherbenachteiligende Unterscheidung zwi-schen Individuen, die gleichermaßenOpfer früherer staatlicher Enteignun-gen sind, und stellte eine Verletzungvon Art. 26 des Internationalen Paktsüber bürgerliche und politische Rechtefest.

Ähnliche, wenn auch im Einzelnennoch zu dokumentierende Rechtsver-letzungen können sich auch aus derNachbefolgung anderer Dekrete erge-ben: Die im Lande verbliebene deut-sche Minderheit unterlag bis 1966 derdiskriminierenden Zwangsarbeit; diedamit verbundenen Niedriglöhne wir-ken sich auf die heute auszubezahlen-den Renten aus. Die Aufhebung derdrei deutschen Hochschulen (vgl. De-krete Nr. 122 und 123) hat statusrecht-liche Bedeutung, da damit u.a. auch dieAberkennung der von den Hochschu-len vergebenen akademischen Gradeverbunden war. Auch die Nichtaner-kennung akademischer Abschlüssekann für die Angehörigen der Minder-heit anhaltend diskriminierend wir-ken.

Der Fall Helmut Weigel, Sohn eines imZweiten Weltkrieg gefallenen deutschenVaters und einer tschechoslowakischenMutter, verdeutlicht, dass die Anwen-dung der Konfiskationsdekrete in derTschechischen Republik bei Abkömm-lingen aus staatsangehörikeitsrechtlichgemischten Ehen anhaltend Problemebereitet. Der Kläger vor tschechischenGerichten wird von der Restitution nurdeshalb ausgeschlossen, weil er von ei-nem deutschen Vater abstammt, den ernie kennen gelernt hat.

6. Die allgemeine politische Ver-antwortung für die Verwirk-lichung „einer immer engerenUnion der Völker Europas“und für die Ziele der gemein-samen Außenpolitik

Zu den Obliegenheiten der Mitglied-staaten, aber auch des EuropäischenParlaments, zählt hinsichtlich desBeitrittsverfahrens nicht nur die Veri-fizierung der Strukturklausel des Art. 6Abs. 1 und 2 EU-Vertrag und der dortniedergelegten rechtlichen Kriterien9,sondern auch die Verantwortung fürdie künftige Verwirklichung „einerimmer engeren Union der Völker Eu-ropas“ (vgl. Art. 1 Abs. 2 EU-Vertrag),zu der auch die Aspekte einer gemein-samen Außenpolitik zählen. Gem. Art. 11 Abs. 1 EU-Vertrag erarbeitet undverwirklicht die Union „eine gemein-same Außen- und Sicherheitspolitik, die sich auf alle Bereiche der Außen-und Sicherheitspolitik erstreckt“ – alsodie Bereinigung der noch spürbarenFolgen der Kriegs- und Nachkriegszeitmit einbezieht.10 Die Nachbefolgungder Benes-Dekrete in der TschechischenRepublik belastet die immer engereZusammenarbeit der europäischenStaaten im Bereich der Außen- und Si-cherheitspolitik und gefährdet ihreKohärenz.

Die tschechische Seite beruft sich zuUnrecht darauf, dass die Benes-Dekre-te und ihre noch fühlbaren Folgen bi-lateral in der deutsch-tschechischen Er-klärung vom 21. Januar 1997 bereinigtwurden. Dies ist nicht zutreffend, dadie Bundesrepublik schon aus verfas-sungsrechtlichen Gründen an der sog.Offenheit der mit der Vertreibung ver-bundenen Vermögensfrage fest haltenmusste.11

Mit den Benes-Dekreten nach Europa?

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Noch bedeutsamer erscheint, dass dieBenes-Dekrete und das durch sie ge-setzte Unrecht nicht nur bilaterale, son-dern europäische Dimensionen auf-weisen. Völkerrechtlich verantwortlichfür das Unrecht sind die Tschechischeund die Slowakische Republik, die als Rechtsnachfolger der ehemaligenTschechoslowakei in Sachen Benes-De-krete weiterhin koordiniert zusam-menarbeiten. Die Opfer der rassisti-schen Maßnahmen verteilen sich heuteauf den gesamten ungarisch- unddeutschsprachigen Raum: Deutschlandund Ungarn sind in erster Linie be-rechtigt, die Rechte der Heimatvertrie-benen und ihrer Rechtsnachfolger di-plomatisch zu schützen; involviert istauch Österreich, das viele Sudeten-deutsche aus Südböhmen und Mährenaufgenommen hat. Betroffen ist vor al-lem aber auch das Fürstentum Liech-tenstein: Obgleich im Ersten und Zwei-ten Weltkrieg neutral, wurden dessenStaatsoberhaupt und liechtensteinischeBürger in der Tschechoslowakei nachden Benes-Dekreten enteignet – nurweil Deutsch ihre Muttersprache war.12

Ihren politischen Stellenwert erhält dieDiskussion um die Fortgeltung der Be-nes-Dekrete durch die Beharrlichkeit,mit der die tschechischen Staatsorganeim Vorfeld der EU-Osterweiterung andem durch die Dekrete geschaffenenUnrecht fest halten und dieses Unrechtzur Grundlage des künftigen europäi-schen Gemeinschaftsrechts machenwollen: Die rechtlichen Eigentumsver-hältnisse, die aus den Dekreten her-vorgegangen sind, „sind unbestreitbar,unantastbar und unveränderbar“ –lautet die einschlägige Entschließungdes tschechischen Parlaments. DieseErklärung vom 23. April 2002 folgtnicht der die europäische Staatenge-meinschaft erst ermöglichenden Aus-söhnung ihrer Völker, sondern erinnertan die Sprache des Kalten Krieges. Sowurde die „Umsiedlung der Deutschen“aus der Tschechoslowakischen Republikim Prager Abkommen, abgeschlossenam 23. Juni 1950 zwischen der tsche-choslowakischen Regierung und derprovisorischen Regierung der DDR, als„unabänderlich, gerecht und endgültiggelöst“ bezeichnet.

Anmerkungen1 Amtliche Verlautbarung über die Konfe-

renz von Potsdam (2. August 1945),Amtsblatt des Kontrollrates in Deutsch-land (1945), Ergänzungsheft, S.13. Diemaßgebliche Vorschrift enthält Teil XIII(„Ordnungsgemäße Überführung deut-scher Bevölkerungsteile“). Die drei Regie-rungen stimmten darin überein, „dass je-de derartige Überführung, die stattfindenwird, in ordnungsgemäßer und humanerWeise erfolgen soll“.

2 Vgl. zuletzt hinsichtlich der Vertreibungder Sudetendeutschen den Beschluss des Petitionsausschusses, BT-Drucksache14/9571 vom 4. Juli 2002. Im Hinblickauf den von der Bundesrepublik mitihren Nachbarn angestrebten Ausgleichwird allerdings der Begriff ‘Völkermord’vermieden: „In einem solchen Ausgleich

mit den Nachbarn durch Versöhnen undVerzeihen historischer Schuld liegen lang-fristige Vorteile. Dies entspricht der deut-schen Erfahrung mit der Bewältigung vonhistorischem Unrecht und dient schließ-lich dem Stabilitätsinteresse der Region“.Eine Verpflichtung zur Nichtanerken-nung der Folgen von „international cri-mes“ (Völkermord, Kriegsverbrechen, Ver-brechen gegen die Menschlichkeit)enthält dagegen die jüngst von der Völ-kerrechtskommission der Vereinten Na-tionen (ILC) verabschiedeten „Articles onState Responsibility“, vgl. Yearbook of theILC, Bd.II Teil 2, S.58, Art.53 lit.a; s.a. UN-Dok. A/CN. 4/L. 600, 11.8.2000, Art.42Abs. lit.a.

3 Gem. Rechtsprechung des Bundesverfas-sungsgerichts und des Bundesverwal-

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Bd.23 (2000)/Heft 2, S.105ff.10 Gem. Art.11 Abs.2 EU-Vertrag unterstüt-

zen die Mitgliedstaaten die Außen- undSicherheitspolitik der Union „aktiv undvorbehaltlos im Geiste der Loyalität undgegenseitiger Solidarität“. Weiter arbeitendie Mitgliedstaaten zusammen, „um ihregegenseitige politische Solidarität zustärken und weiterzuentwickeln“. Sie ent-halten sich insbesondere „jeder Hand-lung, die den Interessen der Union zu-widerläuft oder ihrer Wirksamkeit alskohärente Kraft in den internationalenBeziehungen schaden könnte“.

11 Vgl. Einzelheiten Blumenwitz, D.: Diedeutsch-tschechische Erklärung vom 21.Januar 1997, in: Archiv des VölkerrechtsBd.36/Heft 1 (März 1998), S.19ff. Dietschechische Seite muss sich fragen las-sen, ob nicht sie durch ihr bedingungs-loses Festhalten an den Dekreten gegenGeist und Wortlaut der Erklärung ver-stößt.

12 Die Tschechische Republik verfolgt ge-genüber dem Fürstentum Liechtensteinweiterhin eine Nichtanerkennungspoli-tik, um sich Verhandlungen und Ver-fahren der justizförmigen friedlichenStreiterledigung hinsichtlich der gemäßBenes-Dekret Nr.12 völkerrechtswidrigenteigneten liechtensteinischen Vermö-gen zu entziehen. Das Fürstentum istnicht Mitglied der Europäischen Union,könnte aber die Aufnahme Tschechiensin den Europäischen Wirtschaftsraum(EWR) verhindern. Aufnahmekandidatender EU finden Eingang in das EWR-Ab-kommen (BGBl. 1993 II, in der Fassungdes Anpassungsprotokolls vom 17.3.1993,BGBl. 1993 II, S.1294) mittels Abkommenmit den Vertragsparteien des EWR-Ver-trages, das seinerseits der Ratifikationdurch alle Vertragsstaaten des EWR-Ab-kommens bedarf (Art.128 Abs.1 und 2EWR-Abk.). Darüber hinaus könnte dasFürstentum Liechtenstein auch für denFall, dass Tschechien tatsächlich Mitglieddes EWR werden würde, die konkrete Ar-beit im EWR-Rat blockieren. Denn gem.Art.90 Abs.2 EWR-Abk. „(…) fasst derEWR-Rat (…) seine Beschlüsse im Einver-nehmen zwischen der Gemeinschaft ei-nerseits und den EFTA-Staaten anderer-seits“.

Mit den Benes-Dekreten nach Europa?

tungsgerichts hat der deutsche Bürger ei-nen grundgesetzlich verankerten An-spruch auf diplomatischen und konsula-rischen Schutz gegenüber den seineRechte verletzenden auswärtigen Staat.Dieser gerichtlich verfolgbare Anspruchführt jedoch in den meisten Fällen nichtzu dem gewünschten Erfolg, da die deut-schen Gerichte der auswärtigen Gewaltbei der Durchführung des Schutzes einenfast unbegrenzt weiten Kalkulations- undErmessensspielraum zugestehen.

4 Entscheidung des Verfassungsgerichtshofsder Tschechischen Republik vom 8.3.1995– Az. Pl.US 14/94, auszugsweise deutscheÜbersetzung in BayVBl. 1996, S.14ff., mitAnmerkung Rzepka, S.17.

5 Einzelheiten bei Blumenwitz, D.: Die Ver-treibung der Deutschen aus der Sicht desVölkerrechts und der Menschenrechte,in: Mitteilungen des OberösterreichischenLandesarchivs (19), Nationale Frage undVertreibung der Deutschen in der Tsche-choslowakei, Linz 2000, S.77–98.

6 Die Enteignungsdekrete erhielten zwarmehr oder weniger weit reichende Aus-nahmevorschriften zu Gunsten von Per-sonen, die der Tschechoslowakischen Re-publik während der Zeit der deutschenHerrschaft im Lande treu geblieben wa-ren. Personen deutscher oder magyari-scher Muttersprache war es aber de factonicht möglich, ihre Loyalität unter Beweiszu stellen; auch Opfer der Naziverfol-gung,wie z.B. die deutschsprachigen Bür-ger jüdischer Nationalität, wurden ent-eignet.

7 Vgl. Art.44 Abs.1 lit. e, 49, 56 EG-Vertrag;ferner die Entscheidungen des Euro-päischen Gerichtshofs Kommission/Griechenland (30.5.1989, Slg.1473) undKommission/Italien (14.1.1988 Slg.48, Rd-nr.16, 20).

8 Vgl. Reports from the commission on theCzech Republic’s Progress towards Acces-sion, die im Zusammenhang mit Volks-gruppen nur die Behandlung der Sintiund Roma aufgreifen.

9 Vgl. Einzelheiten bei Hummer, W./Ob-wexer, W.: Die Wahrung der „Verfas-sungsgrundsätze der EU, in: EuZW 2000,S.485ff.; Peinthaler, P./Hilpold,P.: Sank-tionen als Instrument der Politikkontrol-le – der Fall Österreich, in: Integration

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Politische Studien, Heft 385, 53. Jahrgang, September/Oktober 2002

1. Einleitung

Je weiter der 11. September 2001 in dieFerne rückt, desto verschwommenerwerden die Maßstäbe für richtiges undfalsches Handeln. Vom anfänglich brei-ten euro-atlantischen Einvernehmenüber die angemessene Reaktion auf dieTerroranschläge ist ein Jahr später nichtviel geblieben. Dabei stellt sich nichtnur die Frage, was politisch, militärischoder wirtschaftlich von einzelnen Re-gierungen als notwendig empfundenund machbar angesehen wird. Weitaustiefer geht der Dissens darüber, welchesaußenpolitische Handeln angesichtsder neuen Bedrohung legitim ist.

Rechtfertigen es die neuen Gefahren,rund um den Globus präventiv zu in-tervenieren? Dürfen wir den Sturz frem-der Regime erzwingen, um uns „anti-zipatorisch“ zu verteidigen? Könnenwir von der weltweiten Führungsmachtim Kampf gegen den internationalenTerrorismus erwarten, dass sie sich undihre Soldaten genauso wie wir dem Sta-tut des Internationalen Strafgerichts-hofs unterstellt? Erlaubt es unserVerständnis von Toleranz, über die

Lehrinhalte an Religionsschulen imNahen und Mittleren Osten zu verfü-gen? Dürfen die Amerikaner bunker-brechende Nuklearwaffen entwickeln,um unterirdische Terrornester zu ver-nichten? Im Kern geht es um die Fra-ge, ob das internationale System ange-sichts einer veränderten Bedrohungs-lage nicht gänzlich zur Dispositionsteht und was gegebenenfalls an seineStelle zu setzen ist.

Jede Epoche hat die ihr eigenen ord-nenden Prinzipien, über die sich legi-times von illegitimem Handeln unter-scheidet. Übertragen auf das Mit-einander ganzer Völker sprechen wirvon einer legitimen Ordnung, wennallgemeines Einvernehmen über zuläs-sige Ziele und Methoden besteht. Einelegitime Ordnung – so ist bei HenryKissinger nachzulesen – schließt Kon-flikte nicht aus, begrenzt aber derenZielsetzung: Sie werden – wenn nötigauch militärisch – im Namen der be-stehenden internationalen Strukturausgefochten. Legitimität ist nicht mitLegalität oder Gerechtigkeit zu ver-wechseln, sie ist formal nicht einklag-bar.1

Pax Americana oderWeltinnenpolitik?

Die internationale Ordnung in der Legitimationskrise*

Jasper Wieck

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Die Menschen des Mittelalters etwa wa-ren von dem Wunsch beseelt, sich einengnädigen Gott zu schaffen, um nachdem Tod Fegefeuer und Höllenqualenzu entgehen. Aus diesem allgemeinver-bindlichen Bedürfnis legitimierten sichdie Kreuzzüge ebenso wie – weit überdas Mittelalter hinaus – das Gottesgna-dentum weltlicher Herrschaft. Im 17.und 18. Jahrhundert wäre die Heirats-politik der Habsburger ohne die Legiti-mität des dynastischen Prinzips über-flüssig und vor allem zwecklos gewesen.Die Gleichgewichtspolitik auf dem eu-ropäischen Kontinent seit dem Spani-schen Erbfolgekrieg legitimierte sich ausder frühneuzeitlichen Naturlehre. Dieeuropäische Landkarte nach dem ErstenWeltkrieg wiederum ist – wenn auch mitfolgenschweren Durchbrechungen – denVierzehn Punkten Wilsons und insbe-sondere dem Prinzip der souveränenSelbstbestimmung der Völker geschuldet.

Freilich gibt es auch Zeiten, in denensich verschiedene Vorstellungen vonLegitimität unversöhnlich gegenüberstehen. Im Kalten Krieg rivalisierten diePrinzipien der Unteilbarkeit des Welt-marktes, der Freiheit und des Friedenseinerseits mit denen der kommunis-tischen Weltrevolution und derZwangsläufigkeit der Weltgeschichteandererseits. Da sich beide Systeme dieMöglichkeit zur gegenseitigen atoma-ren Vernichtung einräumten, wurdeüber die ideologischen Grenzen hinwegdie Bewahrung des Friedens zum einzi-gen allgemein verbindlichen Prinzip.

2. Ein System souveräner,gleicher Staaten

Mit dem Ende des Kalten Krieges er-öffnete sich die Möglichkeit, an jene

Grundideen anzuknüpfen, die 1945 fürdie Autoren der Charta der VereintenNationen maßgeblich, jedoch in dennachfolgenden Jahrzehnten kaum zurEntfaltung gekommen waren. Da warzunächst – nach den traumatischen Er-fahrungen zweier Weltkriege – der Ent-schluss der Völker der Vereinten Na-tionen, „künftige Geschlechter von derGeißel des Krieges zu bewahren“. Dochwährend in diesem ersten Präambelsatznur geschrieben steht, was zu verhin-dern ist, geben die Artikel 1 und 2 Auf-schluss über das ordnende Prinzip, daskünftig die Beziehungen der Staatenuntereinander strukturieren soll: der„Grundsatz der souveränen Gleichheitaller ihrer Mitglieder“.2 Die Staaten sindalso nicht nur „souverän“, wie es be-reits der Westfälische Frieden 1648 fest-geschrieben hatte, sondern formaliterauch „gleich“. Gemeinsames Handelngleicher, souveräner Staaten als ma-nifester Willen der Weltöffentlichkeitwurde in den Neunzigerjahren des 20.Jahrhunderts zum legitimierendenPrinzip internationaler Politik.

Doch der nunmehr an die außen-politischen Akteure gestellte Anspruchgeht weit über das 1945 mit der Grün-dung der Vereinten Nationen Postu-lierte hinaus. Denn 1945 – wie schon1919 bei der Schaffung des Völker-bundes – handelte es sich bei der„Weltöffentlichkeit“ um eine über-schaubare Anzahl mehrheitlich abend-ländisch geprägter Staaten. Ihre gleich-berechtigte Willensäußerung wurde alsDurchbruch zu einer gerechteren, daegalitären Welt gefeiert. Heute indessenwird die „souveräne Gleichheit“ knapp190 Ländern zuteil. Von einer nurannähernden Uniformität dieser Völ-kerrechtssubjekte kann kaum noch dieRede sein.

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Alle Staaten – kontinentale Mächte wieStadtstaaten, Wachstumslokomotivenwie Armenhäuser, Demokratien wieDiktaturen, historisch gewachseneNationalstaaten wie geografische Zu-fallsgebilde – alle haben prinzipiell diegleichen Rechte und Pflichten. Jedervon ihnen hat eine Stimme in der Voll-versammlung der Vereinten Nationen,jeder von ihnen kann den Weltsicher-heitsrat mit Fragen von Krieg und Frie-den befassen, jeder von ihnen genießtdas Recht auf territoriale Unversehrt-heit und politische Unabhängigkeit.Versuche, das Interventionsverbotaufzubrechen – und sei es zur Verhin-derung schwerster Menschenrechts-verletzungen wie Massakern an Un-schuldigen sowie humanitärer Kata-strophen – sind von der großen Mehr-heit der Mitgliedsstaaten erfolgreichabgewehrt worden. Daran konnte auchdie Etablierung internationaler Men-schenrechtsregime in den vergangenenJahrzehnten nichts ändern. Selbst diewenigen exklusiven Klubs – der Welt-sicherheitsrat, die G 7/ G 8 oder die imNichtverbreitungsvertrag anerkanntenAtommächte – können ihre Legitimitätnur daraus schöpfen, dass sie als Man-datare der „souveränen Gleichheit derStaaten“ handeln.3

Gleichzeitig mehren sich in den Neun-zigerjahren die Anzeichen, dass ange-sichts von Globalisierung und Digitali-sierung, ansteckender Krankheiten undinternationaler Kriminalität, Umwelt-verschmutzung und Ressourcenknapp-heit, vor allem aber innerstaatlicherZerrüttung und Zersetzung immer we-niger Einzelstaaten in der Lage sind,mit den eigenen Problemen fertig zuwerden. Viele der Regierungen, die am internationalen Verhandlungstischvollmundige Zusagen machen, weit

reichende Abkommen unterzeichnenund entschlossene Maßnahmen ankün-digen, erweisen sich zuhause als macht-und mittellos, gelegentlich als korruptund kriminell. Die Vereinigten Staatenhingegen haben mit dem Zerfall ihreseinstigen großen Gegenspielers unddank technologischer Innovation, wirt-schaftlicher Dynamik, militärischerÜberlegenheit und kultureller Aus-strahlung nach dem Ende des KaltenKrieges eine einzigartige globale Macht-stellung errungen.

3. Die Herausforderung des 11. September

In diese Ausgangslage fällt der 11. Sep-tember 2001, als zu Bomben umfunk-tionierte Passagiermaschinen in diewirtschaftlichen und politischen Zen-tren Amerikas gelenkt werden. Der Ter-rorakt erweist sich als folgenschwererAngriff auf die legitime Staatenord-nung. Zunächst weil die monströse Tatselber in Ziel und Methode jeder Legi-timität entbehrt. Die Methode – Mas-senmord an unschuldigen Menschen –wird umgehend und einhellig von derStaatengemeinschaft verurteilt. Überdas Ziel, die heiligen islamischen Stät-ten auf der Arabischen Halbinsel vonder „Verunreinigung“ durch die ameri-kanische Militärpräsenz zu befreien,ließe sich – wenn von offizieller saudi-scher Seite förmlich vorgetragen – imRahmen der legitimen Ordnung nochverhandeln. Doch die von der Al Qaidanach heutigem Wissen darüber hinausverfolgten Absichten – VernichtungIsraels, Sturz der saudischen Monarchie,Errichtung eines Kalifats sowie welt-weiter Kampf gegen die als westlichempfundenen Werte wie Freiheit, To-leranz und Pluralität – sind eine revo-

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lutionäre Kampfansage an die interna-tionale Ordnung insgesamt.

Zugleich offenbaren die Terroranschlä-ge gravierende strukturelle Schwächendes internationalen Systems. Der heim-tückische Angriff einer privaten, imVerborgenen agierenden Verbindungpasst nicht in die kodifizierten Verhal-tensregeln und Verfahren souveräner,gleichberechtigter Völkerrechtssubjek-te. Sowohl die Vereinten Nationen alsauch die NATO müssen Hilfskonstruk-tionen bemühen, um den Vorgang ein-zuordnen und angemessen zu reagie-ren. Vor allem aber erweist sich deregalitäre Ansatz der Staatenordnung alshöchst bedenklich: Die jedem Land aufder Erde zugebilligte souveräne Gleich-heit wird zum allgemeinen Sicher-heitsrisiko, wenn – wie im Falle Afgha-nistans – nichtstaatliche Akteure vomSchlage Al Qaidas ein Land und damitseine international verbrieften Rechtegleichsam aufkaufen. Und Afghanistanist kein Einzelfall. Mit einem Mal wirdklar, dass die chaotischen Zustände invielen Teilen dieser Erde – von Jolo bisSierra Leone und zwischen Kaukasusund weißem Nil – schlechthin da-zu einladen, kriminellen Banden, Drogenhändlern sowie international operierenden Terroristen als Versor-gungsbasis und Rückzugsraum zu die-nen.

Die Welt ist allerdings nicht nur andersbeschaffen, als in Satzungen und Kon-ventionen vorgesehen. Sie lässt sichauch nur in den Griff bekommen,wenn andere, neue Ansätze entwickeltwerden. Denn die bislang als legitimanerkannten Wege der Friedensschaf-fung und -wahrung erweisen sich alle-samt als unzulänglich: Kein Land kannsich durchgängig – etwa durch die

Errichtung von Abfangsystemen – vorTerroranschlägen schützen. Vielleichtlässt sich die Flugsicherheit durch ver-schärfte Kontrollen an Flughäfen undden Einsatz bewaffneter Flugbegleitergraduell erhöhen. Möglicherweise kanneine Raketenabwehr atomar bestückteTrägersysteme abfangen. Doch wer willschon sämtliche Hochhäuser, Brücken,U-Bahnschächte, Kraftwerke und zen-tralisierte Wasserversorgungssystemewirksam vor Anschlägen schützen, oh-ne das gesamte Wirtschafts- und Ge-sellschaftsleben zu paralysieren? Wiewollen wir die Menschen in unserenBallungszentren vor Sprengsätzen, so-wie vor mittels LKW, Frachtschiff oderFlugzeug eingesetzten Massenvernich-tungsmitteln wirksam und dauerhaftbewahren?

Auch das im Kalten Krieg perfektio-nierte Prinzip der Abschreckung wirdder neuen Bedrohung nicht mehr ge-recht. Denn zum Selbstmord ent-schlossene Attentäter lassen sich nichtdurch die Androhung militärischer Ver-geltung von ihrem Vorhaben abbrin-gen. Gerade am heftigen Gegenschlagund der damit verbundenen Destabili-sierung könnten die Drahtzieher sogarein zentrales Interesse haben. Hinzukommt, dass die Terroristen im Ver-borgenen operieren und der Vergel-tungsschlag ins Leere zu gehen drohtoder – noch schlimmer – unschuldigeMenschen trifft. Die Unsichtbarkeit derterroristischen Netzwerke erschwertschließlich auch das offensive militäri-sche Vorgehen gegen seine Struktu-ren und setzt im Übrigen jeder Formvon Eindämmungspolitik enge Gren-zen.

Stattdessen müssen wir den Terroristenbereits den Zugang zu den Mitteln für

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Anschläge verwehren: Entzug finan-zieller Mittel durch Ausdünnung derFinanzquellen und Ausschaltung zwei-felhafter islamischer Wohltätigkeits-organisationen; Auflösung ihrer Rück-zugsräume, Ausbildungslager undLogistik durch offene oder verdeckte In-tervention und Kontrolle potenziel-ler Beherbergungsländer; Unterbin-dung der Nachwuchsgewinnung durchVerbot von Erziehung zu Hass undIntoleranz; Verhinderung des Zu-gangs zu Massenvernichtungsmit-teln durch rigorose Nichtverbreitungs-politik; Austrocknung der Nährbö-den des Terrorismus durch Bekämp-fung innergesellschaftlicher Missstän-de weltweit. Kurzum: Es geht darum,dem Terrorismus den Lebensnerv zukappen.

Eine solche präventiv ausgerichteteSicherheitspolitik ist ambitiös, sie istkräftezehrend und erfordert einen lan-gen Atem. Vor allem aber setzt sie küh-ne Eingriffe in die souveräne Gleichheitder Staaten und damit in den Kernbe-stand der legitimen Ordnung voraus.Denn manche Staaten werden mangelshandlungsfähiger Regierungen zur Zu-sammenarbeit unfähig sein, andere –wie der Irak – sich ihr verweigern. Sooder so werden sich die Regierungenproblematischer Länder auf ihre sou-veräne Gleichheit berufen und damitentschlossenes Handeln gegen den in-ternationalen Terrorismus behindern.Die Antwort auf die neue Bedrohungs-lage liegt also in einer Relativierungdessen, was für die internationale Ord-nung bislang legitimitätsstiftend war.Mal ist es die verbriefte „Souveränität“,mal die postulierte „Gleichheit“ derStaaten, die als Hemmnis für einehandlungsfähige Ordnungspolitik zuüberwinden ist.

4. Europa und Amerika: Gleichheit versus souveräneFreiheit

Bis zu diesem Punkt dürfte zwischenden verantwortlichen Akteuren inEuropa und Amerika Einvernehmen be-stehen. Allein die Konsequenzen fallenbeiderseits des Atlantiks gänzlich un-terschiedlich aus. Während die Euro-päer dazu neigen, weltweiten Souve-ränitätsverzicht zu fordern, um dasPrinzip der Gleichheit der Staaten zuretten, geht es den Amerikanern umWahrung ihrer vollen Souveränität,selbst auf Kosten weltweiter Gleichheit.Beide Seiten argumentieren vor demHintergrund ihres je unterschiedlichenErfahrungshorizonts:

Europa blickt auf eine lange und wech-selhafte Tradition des Transfers sou-veräner Rechte an suprastaatliche Struk-turen zurück. Im 19. Jahrhundertwaren es die deutschen Teilstaaten, dieihre Souveränität zu Gunsten eines ge-samtdeutschen Staatswesens aufgaben.Heute treten die Mitglieder der Eu-ropäischen Union schrittweise souver-äne Rechte an die gemeinsamen eu-ropäischen Institutionen ab. Was beider deutschen Staatsgründung unterpreußischer Führung nur mit Ein-schränkungen zutrifft, kann bei der eu-ropäischen Integration als Handlungs-maxime aller Mitgliedsstaaten vor-ausgesetzt werden: Die latent schwin-dende Macht der Teile soll durch Sou-veränitätstransfer an ein handlungs-fähiges Ganzes kompensiert werden.

Kein Wunder also, dass der ohnmäch-tige Anblick der kollabierenden Türmedes World Trade Centers in Europa undinsbesondere in Deutschland analogeReflexe des Souveränitätstransfers aus-

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löst. Die eigene Machtlosigkeit ange-sichts der neuen Bedrohung soll durchdie Stärkung und Schaffung weitererumfassender internationaler Regime imSinne einer universellen Herrschaft desRechts kompensiert werden. Die Be-reitschaft, sich selbst einem strengenVerhaltenskodex zu unterwerfen, ver-bindet sich mit der Erwartung an an-dere Staaten, ebenso zu verfahren. Län-dern, die sich hierzu als unfähigerweisen, muss beim Aufbau staatlicherStrukturen geholfen werden. Auf Re-gierungen, die indessen unwillig sind,wird politischer oder wirtschaftlicherDruck ausgeübt; gegebenenfalls werdensie auch durch gezielten Aufbau op-positioneller Kräfte aus dem Amt ge-hebelt. Damit kann die Fiktion derGleichheit der Staaten aufrechterhaltenwerden, allerdings auf Kosten der sou-veränen Freiheit.

Nicht nur ausgewiesene Idealisten un-ter den Europäern lassen sich dabei von der Vorstellung leiten, dass dieSchaffung internationaler politischer,polizeilicher und rechtsprechender Institutionen den Weg für eine post-moderne globale Ordnung ebnet, die zunehmend auf den Einsatz mi-litärischer Gewalt verzichten kann. Nur vordergründig wollen also die Eu-ropäer das System der Vereinten Na-tionen stärken. Tatsächlich geht esihnen – nicht nur in den Augen Was-hingtons – um die Überwindung derdort verankerten staatlichen Sou-veränität und politischen Unabhän-gigkeit zu Gunsten einer Weltinnen-politik.

Amerika hingegen hat seine Souverä-nität nicht nur durch Souveränitäts-transfer seiner Teilstaaten, sondernzunächst und vor allem in einem ver-

lustreichen Kampf gegen die britischeKolonialherrschaft errungen. Jede er-neute Unterwerfung unter internatio-nale Regime weckt im kollektiven Ge-dächtnis Erinnerungen an kolonialeFremdbestimmung. Als mit Abstandstärkstes Mitglied der internationalenStaatenwelt fällt es Amerika dafür um-so leichter, die Gleichheit der Staatenin Frage zustellen. Und es tut dies nichterst seit der Amtszeit von PräsidentBush. Bereits Außenministerin Albrightsah in den Amerikanern die „in-dispensable nation“ und setzte damitstillschweigend voraus, dass es auch„verzichtbare“ Nationen auf dieser Er-de gibt.

Angesichts seiner Machtfülle, der Di-mension der terroristischen Bedrohungsowie seines Selbstverständnisses alsweltweiter Garant für Frieden und Sta-bilität fordert Amerika für sich ein Ma-ximum an internationaler Handlungs-freiheit. Die Freiheit hingegen, die esanderen Staaten zugesteht, bemisst sichnach dem Grad der Übereinstimmungin Werten und Interessen sowie nachdem, was diese an politischen, wirt-schaftlichen und militärischen Fähig-keiten in die Waagschale zu legen ver-mögen. In dieser Logik bewegt sichauch die Haltung zum InternationalenStrafgerichtshof. Denn ad hoc-Tribu-nale zur Verfolgung der für völker-rechtliche Verbrechen verantwortlichenIndividuen gewähren Amerika allent-halben eine größere Handlungsfreiheitals das starre Korsett des RömischenStatuts. Hier zeichnet sich in Umrisseneine „Pax Americana“ ab, die es Ame-rika erlaubt, seine internationale Füh-rungsrolle je nach Aufgabe und Bedarfunter Mitwirkung anderer Staaten, vor-nehmlich der Verbündeten, flexibel zugestalten.

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Pax Americana oder Weltinnenpo-litik – die Legitimität des bisherigeninternationalen Systems wird, wennauch unterschiedlich, beiderseits desAtlantiks zur Disposition gestellt. Bei-de Seiten sind sich im Klaren, dass der erfolgreiche Kampf gegen denweltweit operierenden Terrorismus auf der Grundlage der souveränenGleichheit der Staaten nicht zu gewin-nen ist.

Insofern werden sie, solange sie sichvom internationalen Terror existenzi-ell bedroht fühlen, ihr jeweiliges Vor-gehen außerhalb der verbindlichenOrdnung nach dem Muster des KaltenKrieges teillegitimieren – mit dem Stre-ben nach Sicherheit als oberstem Ge-bot.

Von einer neuen Weltordnung werdenwir jedoch erst dann sprechen können,wenn die Politik wieder nach allgemeinakzeptierten Grundsätzen handelt.Hierzu müssen Europa und Amerika alstragende Säulen internationaler Stabi-lität gemeinsam die Voraussetzungenschaffen. Beide Seiten sollten zunächstanerkennen, dass sie – jede auf ihreWeise – den Boden herkömmlicher le-gitimer Politikgestaltung verlassen ha-ben. Sodann müssen sie sich auf neueverbindliche Maßstäbe und Maximeneinigen. Denn, so hat es schon Imma-nuel Kant gesehen, ohne „allmählicheAnnäherung zu größerer Einstimmungin Prinzipien“ verfällt jede Universal-herrschaft – die einer Führungsmachtebenso wie die des Rechts – in einen„seelenlosen Despotismus“.

Anmerkungen* Der Beitrag gibt die persönliche Auffassung

des Autors wieder und stellt keine offiziel-le Stellungnahme dar.

1 Kissinger, Henry: A World Restored. Cast-lereagh, Metternich and the Problems ofPeace, 1812–1822, Boston 1957. Vgl. auchHildebrand, Klaus: Krieg im Frieden undFrieden im Krieg. Über das Problem derLegitimität in der Geschichte der Staaten-

gesellschaft 1931 – 1941, in: HistorischeZeitschrift 244, 1987, S.1–28.

2 Art. 2, Abs. 1. In Art. 1, Abs. 2 bereits als„Grundsatz der Gleichberechtigung undSelbstbestimmung der Völker“ erwähnt.

3 Der Weltsicherheitsrat handelt „im Na-men“ aller Mitglieder und „im Einklangmit den Zielen und Grundsätzen der Ver-einten Nationen“ (Art.24).

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Politische Studien, Heft 385, 53. Jahrgang, September/Oktober 2002

1. Einführung

Rund ein Jahr nach den Terroranschlä-gen auf New York und Washingtonscheint die Kluft zwischen Amerika undEuropa tiefer als je zuvor. Selbst der be-währte Reflex, wenigstens die Sicher-heitspolitik von Dissonanzen in an-deren Politikbereichen abzuschotten,scheint sich verflüchtigt zu haben. Hat-te zunächst Europa mit dem Projekt ei-ner eigenständigen Sicherheits- undVerteidigungspolitik in Amerika Zwei-fel über die europäische Bereitschaft ge-weckt, an der NATO festzuhalten, somusste sich nach dem 11. September2001 die Bündnisvormacht selbst denVorwurf gefallen lassen, die Allianzdurch Nichtbeachtung marginalisiertzu haben. Trotz „uneingeschränkter So-lidarität“ und ungeachtet der Feststel-lung des Bündnisfalles blieb die NATOim Kampf gegen den Terrorismus eineRanderscheinung.

Vor diesem Hintergrund ist es mit demHinweis auf die lange Liste der Bei-trittsanwärter aus Mittel- und Osteuro-pa jedenfalls nicht getan. Der Wunschso vieler Staaten nach Mitgliedschaftim Bündnis beeindruckt ohne Zweifel,doch die Frage nach der Zukunft der Al-lianz beantwortet er nicht. Ohne um-fassende Reformen liefe auch eineerweiterte NATO Gefahr, zur bloßen

militärischen Standardisierungsagen-tur zu degenerieren. Die Relevanz desBündnisses als transatlantisches Ge-staltungsinstrument verlangt eine um-fassende Anpassung an die neuensicherheitspolitischen Rahmenbedin-gungen weit über die Aufnahme neuerMitglieder hinaus.

2. Veränderte Rahmenbedingungen

Drei Veränderungen sind es vor allem,die die transatlantische Sicherheitspoli-tik nach dem 11. September bestimmen.

● Die Konzentration der VereinigtenStaaten auf die Bedrohung durchden Terrorismus und die Verbrei-tung von Massenvernichtungswaf-fen lenkt den amerikanischen Blick-winkel von Europa weg hin zumNahen Osten und Asien. Diese Ent-wicklung, die sich schon lange vorden Ereignissen des 11. September2001 abzeichnete, lässt nicht nurdie traditionellen Differenzen zwi-schen der regionalen Sichtweise derEuropäer und der globalen Sicht-weise der USA wieder stärker her-vortreten. Sie akzentuiert auch die vorhandene Tendenz zu unter-schiedlichen Lösungsansätzen dertransatlantischen Partner.

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● Der selektive Internationalismus derUSA reduziert die Rolle von festenBündnissen und internationalenOrganisationen zu Gunsten vonwechselnden Koalitionen. DieseEntwicklung, die sich auch mi-litärisch im amerikanischen Stre-ben nach strategischer Autonomieäußert, wirft für ein Bündnis, dasauf aktivem amerikanischen Enga-gement beruht, beunruhigende Fra-gen auf. Dies umsomehr, als derCharakter der neuen Bedrohungenzu raschem und völkerrechtlich um-strittenen Handeln (Präemption)zwingen könnte, das der langwie-rigen Konsultationspraxis im Rah-men von Bündnissen schon imGrundsatz zuwiderläuft.

● Das militärische Machtgefälle zwi-schen Europa und den VereinigtenStaaten ist inzwischen so ausge-prägt, dass es die Fähigkeit zu ge-meinsamen militärischen Operatio-nen der Verbündeten in Frage stellt.Auch diese Entwicklung war langevor dem 11. September 2001 zu be-obachten, doch hat sie sich mit derOperation in Afghanistan auf uner-wartet dramatische Weise bestätigt.Dass diese eingeschränkte Koopera-tionsfähigkeit das atlantische Bünd-nis in seinem Wesenskern berührt,versteht sich von selbst.

3. Faktoren der Kontinuität

Ließe man die Analyse an dieser Stelleenden, so wäre das Schicksal der NATOvermutlich besiegelt. Doch der 11. Sep-tember 2001 hat nicht alles verändert.Noch immer existiert ein hohes Maßan transatlantischer Kontinuität, dassich ebenfalls an drei Punkten festma-chen lässt.

● Die Stabilität Europas bleibt für dieUSA von immensem strategischemInteresse. Nach wie vor existiert inden Vereinigten Staaten keine ernstzu nehmende politische Kraft, dieeinem Rückzug aus Europa das Wortredet. Im Gegenteil. Die „Vollen-dung“ Europas als ungeteilter, de-mokratisch und marktwirtschaft-lich verfasster Kontinent bleibt einHauptziel amerikanischer Außen-und Sicherheitspolitik. Nur im Rah-men der NATO, dem zentralen Legi-timationsrahmen amerikanischerMacht in Europa, können die Verei-nigten Staaten in diesem Prozess ei-ne politische Führungsrolle über-nehmen. Daher wird Amerika dieseprivilegierte Rolle nicht preisgeben.

● Die Europäer bleiben die wichtigs-ten strategischen Verbündeten derUSA für globale Aufgaben. Die Mi-litärausgaben wie auch die mili-tärischen Fähigkeiten der NATO-Verbündeten liegen zwar deutlichhinter den amerikanischen zurück,Europa ist dennoch die weltweiteNummer Zwei. Und nur in Europaexistiert ein politisches Milieu, dasnahezu vorbehaltlos auf die welt-weite Kooperation mit den USA an-gelegt ist. Asien wird künftig zwarmehr amerikanische Aufmerksam-keit erfordern, doch werden die Ver-einigten Staaten dort auf die bilate-rale Zusammenarbeit mit politischwie kulturell äußerst heterogenenStaaten beschränkt bleiben. Kurz-um: Wenn die USA Weltmacht blei-ben wollen, müssen sie auch „eu-ropäische Macht“ bleiben.

● Die USA bleiben umgekehrt derwichtigste Bündnispartner der Eu-ropäer. Die Vereinigten Staaten spie-len in Europa nach wie vor eineSonderrolle: Sie sind politischer Kri-

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senmanager (Zypern-Konflikt), undsie sind militärischer „coalition-builder“ sowohl innerhalb (Balkan)als auch außerhalb Europas (Golf-krieg; Afghanistan). Trotz Kritik imEinzelfall wird die amerikanischeSonderrolle von den Europäernweithin anerkannt. Wie in den USA,so gibt es daher auch in Europa kei-ne seriöse politische Kraft, die einenamerikanischen Abzug propagiert.

4. Die Reform der NATO

Aus diesen Faktoren des Wandels und der Kontinuität werden die dreiSchwerpunkte der NATO-Reform deut-lich. Das Bündnis muss eine neuepolitische Balance zwischen seinemklassischen, auf Europa zentriertenAufgabenspektrum und den neuen, glo-balen Bedrohungen finden; es muss sei-ne militärischen Fähigkeiten entspre-chend modernisieren; und es mussseine Arbeitsmethoden den neuen Be-dürfnissen nach rascher Konsultationund flexiblen Koalitionen anpassen.

4.1 Das Ende des „out-of-area Syndroms“

Die zentrale politische Veränderung,die das Bündnis vollziehen muss, be-trifft sein Aufgabenspektrum und seinegeografische Reichweite. Dass die Voll-endung Europas auf absehbare Zeit dieHauptaufgabe der NATO bleibt, ist un-streitig. Die Fortführung des Erweite-rungsprozesses, das militärische Enga-gement auf dem Balkan sowie dieHeranführung Russlands an die NATOsind Aufgaben, die noch viele Jahre inAnspruch nehmen werden. Allerdingsdarf dieser eurozentrische Schwerpunkt

eine NATO-Rolle in außereuropäischenKrisen künftig nicht mehr grundsätz-lich ausschließen. Dies ergibt sich be-reits aus der Aktivierung des Artikels 5am 12. September 2001. Die Ausdeh-nung des Bündnisfalles auf terroristi-sche Angriffe hat einen Präzedenzfallgeschaffen, der nun in der politisch-mi-litärischen Agenda des Bündnisses sei-nen Niederschlag finden muss. Die Er-arbeitung eines militärischen Konzeptszur Terrorismusbekämpfung und dieintensivierte Zusammenarbeit beimSchutz gegen Massenvernichtungswaf-fen sind erste Zeichen einer solchenEntwicklung.

Inzwischen haben sich die Verbünde-ten auch darüber verständigt, ihreStreitkräfte in die Lage zu versetzen, „asand where required“ gegen Terrorismusvorzugehen. Darüber hinaus soll dieNATO als militärisches Planungsins-trument für internationale Koalitionen– d.h. auch Nicht-NATO-Koalitionen –genutzt werden. Ein NATO-Einsatzanalog dem der Internationalen Schutz-truppe in Kabul ist also künftig prin-zipiell möglich und dürfte kaum mehrzu einer heftigen „out-of-area“ Dis-kussion führen. Diese Veränderungenmachen die NATO noch lange nichtzur globalen Allianz. Sie sind jedochAusdruck der Bereitschaft, sicherheits-politische Herausforderungen nichtmehr regional, sondern funktional zubetrachten.

4.2 „Europäisierung“ und „Amerikanisierung“

Die Ereignisse seit dem 11. September2001 haben gezeigt, dass die Diskussionum die Modernisierung der Allianznicht mehr, wie in den letzten Jahren,

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nahezu ausschließlich unter dem Vor-zeichen der „Europäisierung“ geführtwerden kann. Vielmehr muss die Ko-operationsfähigkeit mit den USA anoberster Stelle bleiben. Diese Feststel-lung ändert nichts an der strategischenBedeutung des Projekts einer Europäi-schen Sicherheits- und Verteidigungs-politik (ESVP) – zumal im EU-Rahmenneue Wege der militärischen Zusam-menarbeit möglich sind, die über dieNATO hinausgehen könnten. Doch ei-ne Konzentration auf „autonome“ eu-ropäische Fähigkeiten bedeutet de fac-to eine Konzentration auf militärischeSzenarien geringer und mittlerer In-tensität. Die Bewältigung anspruchs-vollerer militärischer Aufgaben bliebedamit weitgehend den USA überlassen.Das Ergebnis einer solchen Entwicklungwäre eine Arbeitsteilung – die USAkämpfen, die Europäer betreiben die„Konflikt-Nachsorge“ – die von keinerSeite gewollt sein kann. Europa musssich daher über sein Projekt der ESVPhinaus auch künftig auf die Aneignungsolcher Fähigkeiten konzentrieren, diedie Europäer zu militärischen Opera-tionen an der Seite der USA befähigen.Neue NATO-Initiativen zur Überwin-dung der transatlantischen Technolo-gielücke in kritischen Bereichen unddie jüngsten Fortschritte bei der trans-atlantischen Rüstungskooperation zei-gen, dass man die Zeichen der Zeit er-kannt hat.

Erforderlich ist jedoch nicht nur einemilitärische, sondern auch eine kon-zeptionelle Angleichung an die USA.Ob Raketenabwehr, Proliferation, oder„catastrophic terrorism“: Die amerika-nische Strategiediskussion eilt inzwi-schen der europäischen so weit voraus,dass Europa Mühe hat, Schritt zu hal-ten. Diese Angleichung muss keines-

wegs zu einer nahtlosen transatlan-tischen Übereinstimmung hinsichtlichder Ursachen des internationalen Ter-rorismus oder dem sicherheitspoli-tischen Stellenwert der Verbreitung vonMassenvernichtungswaffen führen.Doch so lange der Beitrag Europas zudiesen Fragen noch immer zu gro-ßen Teilen dem sicherheitspolitischenIdeenhaushalt der 80er-Jahre ent-stammt, ist eine transatlantische Dis-kussion – und damit auch ein Einwir-ken der Europäer auf die USA – nichtwirklich möglich.

4.3 Flexibilisierung und Konsens

Der dritte Bereich der Bündnisreformbetrifft die Organisation und ihreArbeitsmethoden. Mit der bereits An-fang der 90er-Jahre getroffenen Grund-satzentscheidung, die NATO-Erweite-rung zum vorrangigen strategischenInstrument zur Konsolidierung Ge-samteuropas zu machen, hat sich dieAllianz auf einen potenziell unbe-grenzten Prozess der Aufnahme neuerMitglieder eingelassen, der sich nach-haltig auf die innere Verfassung desBündnisses auswirken wird. Eine NATOmit 30 Mitgliedern, einschließlich einer „assoziierten Mitgliedschaft“ Russ-lands, erscheint für das Ende diesesJahrzehnts durchaus realistisch, dochkann ein solches Bündnis nicht mitdenselben Mechanismen funktionie-ren, die ursprünglich für eine Allianzder zwölf geschaffen wurden.

Radikale Maßnahmen verbieten sichvon selbst. Würde die NATO beispiels-weise das Konsensprinzip zugunstenvon Mehrheitsbeschlüssen zur Dispo-sition stellen, so verlöre sie sowohl dasVertrauen ihrer Mitglieder als auch

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ihren Anspruch, eine gemeinsam han-delnde Allianz zu sein. Sie würde dannzur „military toolbox“ ohne eigenenpolitischen Gestaltungsanspruch abge-wertet. Ein Ausweg aus diesem Dilem-ma muss daher in erster Linie in derStraffung der inneren Entscheidungs-abläufe gesucht werden – durch Re-duzierung der Ausschüsse, durch dasDelegieren bestimmter Entscheidun-gen an untergeordnete Gremien, oderdurch den verstärkten Gebrauch voninformellen Verfahren. Der NATO-Ratträfe strategische Entscheidungen übermilitärische Operationen nach wie vorim Konsens, würde aber die operativeAusführung seiner Entscheidungen denmilitärisch unmittelbar beteiligten Ver-bündeten überlassen. Eine Übungspra-xis schließlich, die sich verstärkt auf dieneuen Szenarien von Terrorismus undMassenvernichtungswaffen konzertier-te, würde der Allianz in einer Krise, inder schnelles Handeln gefordert ist, ein-gespielte Verfahren an die Hand geben.

5. Fazit: Die Tragödie als Chance

Keine dieser Reformen wird die Asym-metrie in den transatlantischen Sicher-heitsbeziehungen beseitigen können.Amerika wird auch künftig viele seineran Europa gerichteten Erwartungenenttäuscht sehen, während Europaauch künftig über amerikanische Arro-ganz klagen wird. Wenn die NATO den11. September jedoch konsequent alsKatalysator für den politischen und mi-litärischen Wandel nutzt, kann sie amEnde als Gewinner dastehen: die unse-lige „out-of-area“ Debatte endgültighinter sich lassend, neue militärischeFähigkeiten hinzugewinnend, und überzügigere Entscheidungsverfahren ver-fügend.

Die Allianz hätte dann bewiesen, dasssie sich die Forderung Henry Kissingerszu Eigen gemacht hat, die Tragödie des11. September 2001 in eine Chance zuverwandeln.

Anmerkung* Der Verfasser gibt ausschließlich seine eigene Meinung wieder.

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Politische Studien, Heft 385, 53. Jahrgang, September/Oktober 2002

Am 20. Mai 2002 wurde der 192. Staatder Erde geboren. Nicht aber von derfrüheren Kolonialmacht Portugal nochvon den nach 1975 herrschenden in-donesischen Besatzern, sondern vomGeneralsekretär der Vereinten Nationenwurde Osttimor an diesem Tag in seineUnabhängigkeit entlassen. Im Oktober1999 vom Sicherheitsrat der UN ge-schaffen, blickt die „United NationsTransitional Administration in EastTimor“ (UNTAET) heute auf mehr alszwei Jahre Aufbauarbeit auf der Inselim Osten des Malaiischen Archipelszurück. Nicht wenige Journalisten, diedas 1999 von proindonesischen Mili-zen verwüstete Dili heute besuchen, er-blicken gerade in der wieder aufgebau-ten Hauptstadt des jungen Staates das„Zeugnis für die erfolgreiche Arbeit derUNO-Verwaltung.“1 Deren Arbeit sei,so Urs Morf in der Neuen Zürcher Zei-tung, in politischer wie in wirtschaftli-cher Hinsicht segensreich für das Landgewesen. Doch schon in derselben Zei-tung verweist eine andere Beobachte-rin darauf, dass Osttimor noch lange„Asiens ärmster Staat“ bleiben wird unddass die neue Nation „politisch nochnicht gefestigt“ sei.2 Diese Meinungwird indes aber auch bei den VereintenNationen geteilt. „Vieles ist erreicht

worden in den letzten beiden Jahren“,meinte so auch Finn Reske-Nielsen, der„UN Development Coordinator“ fürOsttimor. Bezug nehmend auf SergioVieira de Mello, den Sondervertreter desUN-Generalsekretärs für Osttimor und Chef der Übergangsverwaltung,schränkt Reske-Nielsen aber auch ein,dass vieles noch „vollendet“ werdenmuss.3 So gebe es noch kein „festeswirtschaftliches Fundament“, auf demeine eigenständige Volkswirtschaft aufgebaut werden könnte. Die politi-schen Institutionen seien noch „fragil“und der „Zugang zu sozialen Dienstenvon Qualität, miteingeschlossen die(Grund-) Ausbildung und die Gesund-heit“, sei keineswegs als „optimal“ zubezeichnen.

Im Falle Osttimors aber wollen sich dieVereinten Nationen heute an je-nem Punkt, an dem das Mandat fürUNTAET am 20. Mai endet, aber durch-aus noch nicht selbst aus der 1999übernommenen Verantwortung ent-lassen. Im UN-Sicherheitsrat wurde da-her schon vor einiger Zeit der Gedan-ke aufgegriffen, auf UNTAET eineweitere Mission folgen zu lassen.4 Die„United Nations Mission of Support inEast Timor“ (UNMISET), die durch

Das „Timor-Experiment“: Ein Modell für künftige

UN-Interventionen?

Peter L. Münch-Heubner

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Resolution 1410 (2002) am 17. Mai insLeben gerufen wurde, soll nun, aus-gerüstet mit einem Mandat, das sichauf eine „Anfangsphase von 12 Mona-ten“ erstreckt, „Hilfe bereitstellen“ etwabei der Festigung der „administrativenKernstrukturen“, bei der Durchsetzungvon Recht und Gesetz und bei der Auf-rechterhaltung der „öffentlichen Si-cherheit“.5 Neben reine „peacekeepingoperations“ treten auch wieder „Trai-nings-“ bzw. Ausbildungsprogramme,weitere Infrastrukturprojekte, „öffent-liche Informationsprogramme“ undweitere Vorhaben zur allgemeinen„Entwaffnung und Demobilisierung“.6

In all diesen Bereichen aber wird auchKritik an der Effektivität der bisher vonden UN durchgeführten Maßnahmenlaut. Doch während es den VereintenNationen bei früheren Interventionenund Missionen einer „Bereitschaft zueinem mehr als nur kurzfristigen En-gagement“ ermangelte,7 haben sie imFalle Osttimors schon vor drei Jahrenbeschlossen, es „nicht mehr nur beiden klassischen Interventionsmodellender ‘Friedensschaffung’ (…) und der‘Friedenserhaltung’ (…) zu belassen,sondern nun zum ersten Male eine ef-fektive Form der ‘Friedenskonsolidie-rung’ (…) durchzuführen“8.

Heute lässt sich eine erste Bilanz diesesEngagements der UN ziehen und diefällt – trotz aller berechtigten Einwän-de – besser aus als bei allen ihren bis-herigen Interventionen.

1. Der politische (Wieder-)Aufbau Osttimors

Im Oktober 1999 trat die UN-Über-gangsverwaltung mit dem hehren Ziel

an, in dem verwüsteten Land „dieGrundlagen für den Aufbau einesmodernen Rechtsstaates mit all sei-nen politischen Institutionen, einemRechtswesen, einem Polizeiapparat etc.zu „schaffen.“9 Dass dieses „Timor-Ex-periment“10 nicht in zwei Jahren voll-ständig gelingen konnte, musste jedemRealisten einleuchten. Doch was hierseither quasi „aus dem Nichts heraus“geschaffen wurde, ist im Vergleich zuden mageren Ergebnissen aller ande-ren bisherigen UN-Interventionen er-staunlich:

Am 30. August 2001 wählten die Ost-timoresen eine „Constituent Assem-bly“, die die erste Verfassung des Lan-des verabschiedete und die nach derUnabhängigkeit zum ersten Parlamentdes jungen Staates wurde.

Am 14. April 2002 wurde der Anführerdes osttimoresischen Widerstands,Xanana Gusmao, zum ersten Staats-präsidenten gewählt. Zuvor schon, am20. September 2001, war die im Juli2000 gebildete erste Übergangsregie-rung, die noch aus vier Einheimischenund vier UNTAET-Repräsentanten be-standen hatte, von einem rein ost-timoresischen Ministerrat abgelöst wor-den, an dessen Spitze Mari Alkatiri„Chief Minister“ wurde. Den Aufbaupolitischer Institutionen rechnet sichsomit die Übergangsverwaltung als ei-nes der wichtigsten ihrer insgesamt vonihr selbst angeführten „25“ Verdiensteum Osttimor an.11 Heute verweist derGeneralsekretär der Vereinten Nationenmit Stolz darauf, dass es in nur zwei-einhalb Jahren gelungen sei, auf der In-sel „einen unitarischen demokratischenStaat, gegründet auf der Herrschaft desGesetzes und dem Prinzip der Gewal-tenteilung“ aufzubauen.12

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1.1 Verfassung und politischeInstitutionen: Die Theorie

Tatsächlich wird mit der „Konstitutionder demokratischen Republik von Ost-timor“ eine parlamentarische Demo-kratie westlichen Zuschnitts geschaffen,mit einem repräsentativen Staatsober-haupt an der Spitze, einem Parlamentals Gesetzgeber, einer starken Regierungals der Exekutive und einer unabhän-gigen Judikative mit einem OberstenGerichtshof als höchster Instanz undVerfassungsgerichtsbarkeit.13 Dieses Ver-fassungsmodell entspricht klassischenwestlichen liberal-konstitutionalis-tischen Auffassungen, wenn hier etwadie universalen „Menschenrechte“ „ga-rantiert“ werden wie die „fundamenta-len Rechte und Freiheiten der Bürger“,die Religionsfreiheit, die Gleichheit al-ler Bürger „vor dem Gesetz“ und dieGleichstellung von Mann und Frau.Hervorgehoben werden „das Recht aufpersönliche Freiheit, Sicherheit und In-tegrität“, das Recht auf die Unverletz-lichkeit der „Privatsphäre“ und aufEigentum. Auch „Habeas Corpus“ fandEingang in den Verfassungstext. Eben-so betont werden die „Rede- undInformationsfreiheit“, die Presse-, dieVersammlungs- und die Vereinigungs-freiheit, das „Recht auf politischePartizipation“ sowie das Wahlrecht. Da-neben stehen auch der Schutz derFamilie und ‘neuere’ Elemente wie der Daten- und Umweltschutz, dieKonsumentenrechte sowie auch sozia-le Rechte, d.h. der Anspruch des Bürgers auf „soziale Beihilfe undSicherheit“ sowie auf den Zugang zueinem unentgeltlichen Gesundheits-wesen. Auch die Bildungseinrichtun-gen sollen allen Osttimoresen quaVerfassung kostenfrei zur Verfügungstehen.14

Die „politischen Parteien“ sollen dem„Willen des Volkes“ „Ausdruck“ ver-leihen und in Part I, Sektion 7 wird so das „Mehrparteiensystem“ verfas-sungsrechtlich festgeschrieben. DiesemArtikel kann in der Verfassungsreali-tät noch Bedeutung zukommen, dennbislang ist die Prädominanz einer ein-zigen Partei, der „Revolutionären Un-abhängigkeitsfront FRETILIN“ allzuoffensichtlich. Bei den ersten Wahlenverfehlte FRETILIN nur knapp die Zwei-drittelmehrheit. Zuvor hatten nichtwenige Beobachter sogar die „Bildungeines «Einpartei-Parlaments«“ befürch-tet.15 Osttimors stärkste Partei wurde1974 als „marxistische Partei“ gegrün-det und sie ist bis heute „als zentralis-tische Kaderpartei leninistischen Mus-ters organisiert (…)“16. Alle anderenParteien rangieren heute in der politi-schen Landschaft des neuen Staates aufabgeschlagenen Positionen: Von den88 Sitzen in der VerfassunggebendenVersammlung – das Parlament selbstsoll nur mehr 52 –65 Abgeordnetezählen17 – entfielen nur sieben Sitze aufdie Demokratische Partei und die UDT– 1975 im Bürgerkrieg noch die stärks-te antimarxistische Kraft18 – konnte garnur zwei Sitze gewinnen. Die ideologi-sche Ausrichtung von FRETILIN istheute ungewiss. Nach außen hin ist die „aggressive“ Propaganda der Parteiheute „verstummt.“ Doch ihr ehema-liger Anführer und jetziger Staatsprä-sident hat sich von ihr „gelöst“, weil er ein „Präsident aller Osttimoresen“sein möchte.19

Die Oppositionsparteien fürchten sichheute vor einer Vormachtstellung derstärksten Fraktion im Parlament. IhreForderung nach Neuwahlen schon„bald nach der Unabhängigkeit“20 aberkönnte sich vor dem Hintergrund der

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Ausgangsbedingungen des osttimoresi-schen Proportionalwahlrechts und dervorgesehenen Reduzierung der Ge-samtzahl der Sitze als ein politischerBoomerang erweisen.

1.2 Die Stabilität der neuen politi-schen Ordnung – Herausforde-rung für die Vereinten Nationenim Rahmen des „post-conflictpeace-building“

Schon vor den Wahlen zur Verfassung-gebenden Versammlung waren die Par-teien der Opposition „unter Druck“ ge-raten. Auf dem Lande sahen sie sichnicht selten dazu gezwungen, ihre „Ak-tivitäten einzustellen.“ In Baucau wargar einer ihrer Angehörigen ermordetworden.21

Trotz der mitunter euphorischen Er-folgsmeldungen aus dem Lager derUNTAET ist man sich bei der inter-nationalen Völkergemeinschaft aberdurchaus der Probleme bewusst, diedem Aufbau einer stabilen politischenOrdnung noch im Wege stehen. Dieszeigt ein Arbeitsbericht der „Indepen-dent Electoral Commission“ (IEC), dievon den Vereinten Nationen mit derVorbereitung der ersten „nationalenWahlen“ vom 30.8.2001 beauftragtworden war. Diese Kommission bestandaus einem „Chief Electoral Officer“, auszwei Osttimoresen und drei „interna-tional anerkannten Experten für Wahl-angelegenheiten“.22

Der Bericht schließt mit der Fest-stellung, dass zur ordnungsgemäßenDurchführung weiterer Wahlen in Ost-timor auch weitere internationale Hil-fe nötig sei. So wird die Schaffung einer„interim agency“ vorgeschlagen, die

auch nach der Unabhängigkeit mit der„electoral administration“ beauftragtwerden müsse. Denn vor allen Dingenan mit in die technischen Vorberei-tungen miteinbeziehbaren Osttimore-sen habe es gemangelt. So habe es beider Erstellung des Einwohner- undWählerregisters erhebliche Unkorrekt-heiten gegeben. Die von der „Censusand Statistics Unit“ erstellte „electoralroll“ sei fehlerhaft gewesen, viele Dis-ketten mit Einwohnernamenslisten sei-en verloren gegangen. Auf den brauch-baren Datenträgern seien Doppel- undMehrfachregistrierungen nachweisbargewesen. Andere Osttimoresen hinge-gen waren gar nicht eingetragen wor-den. Erst durch die Arbeit der IECkonnte die Zahl der wahlberechtigtenBürger von anfänglich 382.688 – undauch nach Beseitigung der Doppelnen-nungen – auf 409.019 hinaufkorrigiertwerden. Doch nach wie vor sind die er-stellten Einwohnerregister ungenau.

Der gravierende Mangel an ausgebil-deten Osttimoresen wird auch bei an-deren Aufbauprojekten der VereintenNationen beklagt. Nach einem Viertel-jahrhundert indonesischer Besatzung,in dem höhere Bildungseinrichtungenzumeist den Kindern der zugezogenen„Transmigranten“ aus dem InselreichSuhartos offen standen, muss hier vomNullpunkt aus angefangen werden. Die-ses Problem behindert vor allen Dingenden Aufbau eines Rechtswesens undder öffentlichen Verwaltung. Und den-noch hat UNTAET bis Ende 2001 schon9.633 einheimische Verwaltungsbeam-te „rekrutieren“ und damit 91.2% allerVerwaltungspositionen mit im LandeGeborenen besetzen können.23 Im Ge-genzug hat die Übergangsverwaltungihr Zivilpersonal auf 25 % des ur-sprünglichen Umfangs reduziert.24 Die

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angestrebte „Timorization“ scheint sichin diesem Sektor ihrem Endziel zunähern.25 Die verbliebenen UN-An-gehörigen sind auch weiterhin beschäf-tigt mit dem weiten Feld des „capacity-building“ und des „training.“26 Weitausproblematischer stellt sich die Situationim Rechtswesen dar. Was die straf-rechtliche Verfolgung der von pro-indonesischen Milizen nach demUnabhängigkeitsreferendum am 30.August 1999 begangenen Verbrechenan der Zivilbevölkerung anbetrifft, wer-den heute Stimmen laut, die den UNUntätigkeit hierbei vorwerfen. DieseVorwürfe richten sich gegen die Arbeitder „UN Serious Crimes Unit“ in Dili.27

Bei den Vereinten Nationen freilichsieht man das anders. Die „SeriousCrimes Unit“ selbst rechnet es sichhoch an, in 35 „serious crimes cases“bereits Anklage erhoben zu haben, vondenen 13 sog. „Crimes Against Huma-nity“-Fälle sind. 101 Personen sitzenbereits auf den Anklagebänken.28 Am11. Dezember 2001 wurden die erstenUrteile in einem Prozess, der „Ver-brechen gegen die Menschlichkeit“ be-handelte, gefällt. Die Angeklagten im„Fall Los Palos“ wurden des Mordes,der Folter und der Verschleppung vonZivilisten für schuldig befunden und zuHaftstrafen von vier bis 33 Jahren ver-urteilt. Für den UN-Generalsekretär warLos Palos „das erste Beispiel weltweitfür die Anwendung von Gesetzen, die ursprünglich für den InternationalCriminal Court formuliert“ wordenwaren.29

Dass weitere Prozesse nur schleppendvorankommen, konzidiert auch er. So könne die Arbeit des zweiten „Spe-cial Panel for Serious Crimes“ nur vor-ankommen, wenn weitere „interna-

tionale Richter“ zur Verfügung stün-den.30 Die UN haben zwar versucht, imJustizwesen schon vor der Unabhän-gigkeit so viel Verantwortung wie nurmöglich an die osttimoresische Seiteabzugeben: Im Oktober 2001 wurde dererste Einwohner des Landes zum Ge-neralstaatsanwalt ernannt. Doch die„stellvertretende Generalstaatsanwältinfür schwer wiegende Verbrechen“ wirdimmer noch von den Vereinten Natio-nen gestellt.31 So beklagt Kofi Annan indiesem Zusammenhang auch: „Es gibtnoch wenige erfahrene und ausge-bildete osttimoresische Richter, Ver-teidiger und Staatsanwälte (…)“.32 Undso gestalte sich auch die Zusammen-arbeit mit dieser noch jungen Justiznicht unproblematisch, denn: „DieStaatsanwaltschaft und das Ministeriumfür Justiz arbeiten weiterhin noch mitbegrenzten Ressourcen und begrenzterKapazität“. Folglich stellt UNTAET fest,dass in diesem Umfeld „die Möglich-keit, Verdächtige zu verfolgen“ einge-schränkt bleibe.33

Kritiker indes werfen den VereintenNationen vor, dass diese mit Blick aufIndonesien „keine Resultate“ bei derVerfolgung dieser Kriegsverbrechen er-zielen „wollen.“ Und viele der An-geklagten lebten heute in Sicherheit imgroßen Nachbarstaat.34 Doch hat derVertreter des UN-Generalsekretärs ge-rade in dieser Frage Kontakt mit demindonesischen Generalstaatsanwalt auf-genommen und diesem mehrere inOsttimor ausgestellte Haftbefehle gegengesuchte Personen übergeben. Diese In-itiativen blieben bislang jedoch ohne„positive Antwort.“35

Da es kein internationales Kriegsver-brechertribunal geben werde, meintauch der osttimoresische Außenmi-

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nister Ramos-Horta, dass die bisherdurchgeführten Prozesse „nicht genug“seien. Und er fügt hinzu: „Wir werdendie UN nicht einfach so weggehen las-sen.“36 Da auch der UN-Generalsekretärkonzidiert, dass die Vergangenheits-bewältigung für den jungen Staat undseine Außenbeziehungen von „Schlüs-selbedeutung“ sei37, will er seine Orga-nisation hier nicht aus der Verant-wortung nehmen. Das zentrale, alleanderen Aufgabenfelder überwölbendeProblem aber ist die Herausbildung voneigenständigen „human ressources“.

2. Der soziale und ökonomischeAufbau Osttimors

Das jüngste Mitglied der internationa-len Völkergemeinschaft ist das „ärmsteLand in Asien“, und dies nicht nur in„finanzieller“ Hinsicht. Der „humandevelopment index“ Osttimors – „ba-sierend auf der Lebenserwartung, demBildungsstand und dem Einkommenpro Person“ – rangiert auf einer Stufemit den entsprechenden Indices Ango-las, Bangladeshs, Haitis oder Mozam-biques. Fast die Hälfte der Bevölkerungmuss von 55 US-Cent am Tag leben,mehr als 50% der Einwohner sind An-alphabeten.38 Die auch vorher schon„magere Infrastruktur“ wurde 1999 vonproindonesischen Milizen weitgehend„zerstört und die Wirtschaft, haupt-sächlich bestehend aus Subsistenz-landwirtschaft und Fischerei, ist einSchlachtfeld.“39 Nach Einschätzung desUN-Development Programme wird dieBevölkerung des Landes von „govern-ment services“ abhängig bleiben, da der Privatsektor der Wirtschaft noch„klein“ ist. Weitere Arbeitsplätze könn-ten die Erdgas- und Ölvorkommen inder Timorsee schaffen. Stellvertretend

für eine osttimoresische Regierung un-terzeichnete UNTAET am 5. Juli 2001ein „Arrangement“ mit Australien, dasdie Ausbeutung und Aufteilung derRohstoffressourcen im Timor Gap re-gelt. Dieses Abkommen und ein „taxand fiscal package“, ausgehandelt mit den vor Ort operierenden Öl-konsortien, soll dazu beitragen, die„Einkünfte“ des jungen Staates zu „ma-ximieren.“40 Diese Hilfestellung derVereinten Nationen wiegt umso mehr,als die Völkergemeinschaft auch beimAufbau von Finanzbehörden behilflichist.41 Doch von Anfang an mussten sichauch die Leiter der UN-Hilfsprogram-me die Frage stellen, welche Ost-timoresen in den Behörden und aufden Ölfeldern denn arbeiten sollten.Das 1999 aufgelegte Programm zur„ökonomischen und sozialen Rekon-struktion Osttimors“ sollte auch demMangel an ausgebildeten Einheimi-schen entgegenwirken.42 Kurz vor dem20. Mai zog UNTAET eine Bilanz ihrerArbeit auch auf diesem Feld.

So gibt es heute landesweit 700 Ele-mentar- und Grundschulen, 100 höhe-re und weiterführende Schulen, die voninsgesamt 240.000 Schülern – bei einerGesamtbevölkerung von ca. 800.000 –besucht werden. Unterrichtet werdensie von 6.000 Lehrern. Deren Ausbil-dung wurde zum Kernstück der Arbeitder „Transitional Administration’s Di-vision of Education“. Im November2000 wurde auch die Nationale Uni-versität von Osttimor wieder eröffnet,die 5.000 Studenten besuchen.43 UN-TAET hat dem neuen Bildungsministe-rium ein für ein Land der Dritten Weltgut ausgebautes Bildungssystem über-geben. Doch wird sich noch zeigenmüssen, ob das unabhängige Landselbst diese Einrichtungen wird tragen

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können. Denn noch ist nicht entschie-den, ob Osttimor ein Entwicklungslandbleiben wird, „abhängig“ von den Hil-fen „ausländischer Spender (…)“, oderob es sogar den Sprung in die Reihe deretwas wohlhabenderen Nationen schaf-fen könnte. Denn Erdgas und Erdölkönnten der Regierung dabei helfen,die hehren, in der Verfassung festge-schriebenen Staatszielsetzungen be-züglich der Versorgung der Bevölkerungmit sozialen und Gesundheitsdienstentatsächlich in die Realität umzuset-zen.44 Auch im Gesundheitswesen hatUNTAET Register gezogen und dabeibetont, dass gerade hier die Ziele derRekonstruktion und der „Timorization“beinahe gleichzeitig erreicht werdenkonnten. Bestes Beispiel hierfür sei Ge-sundheitsminister Rui Maria de Araújoselbst, der als Osttimorese aus der „Di-vision of Health“ der Übergangsver-waltung kam. Bis zum Dezember 2001war fast die Hälfte aller Positionen indieser Abteilung mit Einheimischen be-setzt worden und 64 Führungspositio-nen im Gesundheitswesen waren an imLande Geborene übergegangen.45

Doch liegt die gesundheitliche Versor-gung der Bevölkerung auf dem Landenoch im Argen. Es gibt dort zwar 64kommunale Gesundheitszentren, 88sog. „health posts“ und 117 mobile Kli-niken, doch waren im April 2002 dortnur 13 – internationale – Ärzte tätig.Acht Mediziner sollten bis März 2002angeworben werden und 21 zusätzlichesollen folgen. Doch ist hier klar, dassOsttimor die medizinische Versorgungseiner Bevölkerung aus eigener Kraftheraus nicht Gewähr leisten kann.

Selbst bewältigen kann das Land auchnicht das Flüchtlingsproblem. UNHCR,IOM (International Organization for

Migration) und UNTAET helfen seit Ok-tober 1999 bei der Repatriierung undReintegration von 200.000 Menschen,die nach dem Unabhängigkeitsreferen-dum geflüchtet oder von proindonesi-schen Milizen gewaltsam nach West-timor verschleppt worden waren. DerRücktransport dieser „refugees“, derenUnterbringung in Notunterkünften,„food aid“ und die „technische, materi-elle“ und „finanzielle“ Unterstützungvon kommunalen Infrastruktur- undRehabilitationsprogrammen gehörendabei zum Kern z.B. des „CommunityAssistance Project“ (CAPS) der IMO.46

Da das Problem der Reintegration dieserFlüchtlinge ein Faktor ist, der nicht nurdie innere Sicherheit auf der Insel ge-fährdet47, wird ihm auch UNMISET wie-der Aufmerksamkeit schenken müssen.Dieses Problem stellt auch eine Belas-tung für die ökonomische Rekonstruk-tion des Landes dar.48 300 MillionenDollar an internationaler Hilfe wurdenallein im letzten Jahr in das Land „hin-eingepumpt“. Weitere 440 MillionenDollar sind für die nächsten drei Jahrevorgesehen.49 Die Gelder gingen und ge-hen dabei in z.B. landwirtschaftlicheAufbauprogramme wie das AMCAP-Pro-jekt, mit dessen Hilfe in den DistriktenAinaro und Manatuto „neue Anbau-techniken, die Wiederherstellung vonBewässerungssystemen, die Aufbesse-rung von Viehbeständen, die Wieder-aufforstung“ oder Maßnahmen gegenBodenerosion etc. finanziert werden sol-len. Geldgeber war der Human SecurityFund der UN und damit die japanischeRegierung.50 Bisher vermittelte die Land-wirtschaft den Eindruck einer überwie-genden Monokultur mit Kaffee als derprimären Exportware. Das Interesse aus-tralischer Geschäftsleute an diesem„braunen Gold“ schien noch vor zweiJahren einen Boom anzukündigen. Um

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das große internationale „business“ undum ausländische Investoren aber wirdauch die souveräne Regierung des un-abhängigen Osttimor weiter noch wer-ben müssen. Die Vereinten Nationenhaben zwar noch kurz vor dem 20. Mai2002 versucht, z.B. mit einer „Bestim-mung“ zur „Eintragung von Unterneh-men“ den gesetzlichen Rahmen undAnreize sowie Sicherheiten für auslän-dische Anleger zu schaffen.51 Das UN-DAF (United Nations Development As-sistance Framework)-Programm wird als„Schirm“ aller „post-independence pro-grammes“ aber noch lange auf die „Un-terstützung“ der internationalen „Spen-der“ angewiesen sein.52 Doch bei denVereinten Nationen glaubt man indesheute schon, die Grenzen des eigenenEngagements erreicht zu haben.

3. Schlussbetrachtung

Die Kosten für UNMISET veranschla-gen die Vereinten Nationen heute auf316 Millionen US-Dollar.53 Die „Ziele“von UNMISET sind die Gewährleistungvon „Stabilität“ – auch in wirtschaft-licher Hinsicht – „Demokratie undJustiz“ sowie der inneren und der äuße-ren Sicherheit.54 Was die beiden letztenPunkte anbetrifft, so wurden unter derÄgide von UNTAET der Nukleus natio-naler osttimoresischer Streitkräfte undeine eigenständige Polizei geschaffen.55

Doch die 600 Mann des ersten und die261 Rekruten des zweiten Batallions derETDF (East Timor Defence Force) unddie 1.697 osttimoresischen Polizistenstellen nur einen Anfang dar, sodassUNMISET auch wieder über eine „mi-litärische“ Komponente, bestehend aus5.000 Mann, und eine Zivilpolizei(CivPol) mit 1250 Angehörigen ver-fügen wird.56 Bei der Planung für

UNMISET haben die Vereinten Natio-nen aber schon angekündigt, ihr En-gagement in Osttimor schon bald aufdas Maß eines „normalen Entwick-lungshilfe-Einsatzes“ zu reduzieren. DerUN-Einsatz in Osttimor hatte seit 1999Modellcharakter, auch was die Mitein-beziehung von NGO’s in diese Mis-sion anbetraf.57 Doch auch der UNDevelopment Coordinator ruft nundazu auf, „realistisch“ zu sein. Denn:„Die internationale Gemeinschaft ist soweit äußerst großzügig gewesen (…)“.Es gebe aber auch andernorts „Bedarf“an UN-Hilfsprogrammen und Osttimorkann so „nicht erwarten, dass finan-zielle und andere Unterstützung wei-terhin so freigiebig fließen wird, wie siedas über die letzten zwei Jahre hinweggetan hat.“ Die „neue unabhängigeNation“ sollte eben doch in zuneh-mendem Maße „selbst die Verantwor-tung für ihre Weiterentwicklung“ über-nehmen.58

Diese Haltung ist zwar durchaus legi-tim. Vor dem Hintergrund des vorbild-lichen UN-Engagements in Osttimor ei-nerseits und den heute aber nochungelösten Problemen andererseits aberstellen sich für etwaige künftige UN-Missionen mit ähnlichen Zielsetzungenjedoch einige nicht unwesentliche Fra-gen. So ist doch Osttimor nicht sehrviel größer als ein bayerischer Regie-rungsbezirk und mit seinen ca. 800.000Einwohnern ein doch sehr ‘kleines’Land. Wenn heute die Anstrengungenum den politischen, wirtschaftlichenund sozialen Aufbau dieses kleinenLandes so viel an finanziellen Ressour-cen der internationalen Gemeinschaftabsorbieren, so fragt sich, wie schnellsich diese „Hilfsquellen“ im Falle eineswesentlich bevölkerungsreicheren Lan-des erschöpfen würden.

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Und was die Friedenserhaltung imLande selbst, d.h. die innere Sicher-heit anbetrifft, so scheint diese gegen-wärtig – trotz ethnischer Fragmen-tierung und andauernder Stammes-rivalitäten – doch einfacher zu Gewährleisten zu sein, als andernorts. Derkatholische Glaube ist heute jene Klam-mer, die die Osttimoresen über Sprach-grenzen hinweg – noch? – zusammen-

hält.59 Auf Grund ihrer christlichenErziehung stehen die Einwohner derInsel so auch dem von UNTAET ini-tiierten – westlichen – Modell der „Ci-vic Education“ auch aufgeschlossen ge-genüber. Das ist aber nicht überall aufder Welt so. Ob das Osttimor-Modelldaher auch Vorbild für weitere UN-Missionen sein kann, muss fraglichbleiben.

Anmerkungen1 Osttimor wird endlich unabhängig, in:

NZZ, 18./19.5.2002.2 Asiens ärmster Staat, in: NZZ, 18./19.

5.2002.3 Donor’s Meeting on East Timor, Oslo,

11–12 December 2001. Statement by Mr. Finn Reske-Nielsen, UN DevelopmentCoordinator, Tuesday 11 December 2001,http://www.unagencys.east-timor.o…/UNDC%20Statement%20Oslo%20-%0Final.htm (Abgerufen am 29.7.2002).

4 Siehe: United Nations, Security Council,S/2002/432/Add.1, 24 April 2002: Reportof the Secretary-General on the UnitedNations Transitional Administration inEast Timor, Addendum.

5 United Nations: East Timor – UNMISET,Background; http://www.un.org/peace/timor/unmisetB.htm (abgerufen am 29.7.2002).

6 United Nations, Security Council, S/2002/432/Add.1, 24 April 2002: Report of theSecretary-General on the United NationsTransitional Administration in East Ti-mor, Annex.

7 Liese, Andrea: Friedenskonsolidierung beiinternen Konflikten. Die Rolle der Ver-einten Nationen in Kambodscha, Mos-bach 1996, S.59.

8 Münch-Heubner, Peter L.: Osttimor unddie Krise des indonesischen Vielvölker-staates in der Weltpolitik, Berichte undStudien der Hanns-Seidel-Stiftung e.V.,Band 82, München 2000, S.157.

9 Ebd., S.157f.10 Nachgefragt: Ramos-Horta, José: Das Ti-

mor-Experiment darf nicht scheitern, in:Handelsblatt, 7.12.1999.

11 United Nations Transitional Administra-tion in East Timor (UNTAET), Office ofCommunication and Public Informa-tion (OCPI); April 2002: Fact Sheet 1: UNTAET’S 25 Major Achievements.

12 United Nations, Security Council, S/2002/

80, 17 January 2002: Report of the Secre-tary-General on the United Nations Tran-sitional Administration in East Timor. Forthe period from 16 October 2001 to 18January 2002.

13 Siehe: Constitution of the DemocraticRepublic of East Timor; Part III, Title II:President of the Republic, Title III: Na-tional Parliament, Title IV: Government,Title V: Courts; http://www.geocitys.com/etngoforum/Englishconstitution.htm (Ab-gerufen am 31.7.2002).

14 Constitution of the Democratic Republicof East Timor: Part I: Fundamental Prin-ciples, Section 6, b und c, Section 12; PartII: Fundamental Rights, Duties, Freedomsand Guarantees, Title I; General Princip-les, Section 16 u. 17, Section 23; Title II:Personal Rights, Freedoms and Gua-rantees, Section 29, 30ff., Section 33 u.38–49; Title III: Economic, Social and Cul-tural Rights and Duties, Section 53 u. 54,Section 56ff. und Section 61.

15 Die Fretilin gewinnt die Wahlen inOsttimor. Die Zweidrittelmehrheit knappverfehlt, in: NZZ, 7.9.2001.

16 Ebd.17 Constitution of the Democratic Republic

of East Timor, Title III, Section 93, 2.18 Vgl. dazu: Münch-Heubner, Peter L., Ost-

timor und die Krise, S.27ff.19 Münch-Heubner, Peter L.: Der Schatz in

der Timorsee. Vor der Vereidigung vonOsttimors Präsidenten, in: Das Parlament,3.5.2002.

20 United Nations, Security Council, S/2002/80, 17 January 2002: Report of the Secre-tary-General on the United Nations Tran-sitional Administration in East Timor. Forthe period from 16 October 2001 to 18January 2002, II, A.

21 Ebd.22 Kriegler, J.C., Dili, 8 August 2001: Audit

of the Electoral Roll in East Timor. Team

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Leader’s Report.23 United Nations, Security Council, S/2002/

80, 17 January 2002: Report of the Secre-tary-General on the United Nations Tran-sitional Administration in East Timor. Forthe period from 16 October 2001 to 18January 2002, B: Development of the EastTimorese Public Administration.

24 UNTAET: April 2002, Fact Sheet 20:UNTAET Downsizing.

25 UNTAET, April 2002, Fact Sheet 12: PublicAdministration.

26 United Nations, Security Council, S/2002/80, 17 January 2002: Report of the Secre-tary-General on the United Nations Tran-sitional Administration in East Timor. Forthe period from 16 October 2001 to 18January 2002, II, B.

27 Beyond justice, in: The Bulletin, June 11,2002.

28 UNTAET, April 2002: Fact Sheet 7: Justi-ce and Serious Crimes.

29 United Nations, Security Council,S/2002/80, 17 January 2002: Report of theSecretary-General on the United NationsTransitional Administration in East Ti-mor. For the period from 16 October2001 to 18 January 2002, II, C.

30 Ebd.31 UNTAET, April 2002: Fact Sheet 7: Justi-

ce and Serious Crimes.32 United Nations, Security Council, S/2002/

80, 17 January 2002: Report of the Secre-tary-General on the United Nations Tran-sitional Administration in East Timor. Forthe period from 16 October 2001 to 18January 2002, II, B.

33 UNTAET, April 2002: Fact Sheet 7: Justi-ce and Serious Crimes.

34 Beyond justice, in: The Bulletin, June 11,2002.

35 United Nations, Security Council, S/2002/80, 17 January 2002: Report of the Secre-tary-General on the United Nations Tran-sitional Administration in East Timor. Forthe period from 16 October 2001 to 18January 2002, II, C.

36 Zitiert in: Beyond justice, in: The Bulle-tin, June 11, 2002.

37 United Nations, Security Council, S/2002/80, 17 January 2002: Report of the Secre-tary-General on the United Nations Tran-sitional Administration in East Timor. Forthe period from 16 October 2001 to 18January 2002 II, C.

38 United Nations Development Program-me, 13th May 2002: East Timor is thepoorest country in Asia. Und: Yahoo!Ne-ws: East Timor to Seek ‘Least DevelopedStatus, Wednesday, July 31, 2002; http://story.news.yahoo.com/news?tmpl=story&

u=/oneworld/20020…/1032_102634773(abgerufen am 31.7.2002).

39 Family Education network: World-Coun-tries: East Timor; http://www.infoplea-se.com/ipa/A0902237.html (abgerufenam 31.7.2002).

40 UNTAET, April 2002: Fact Sheet 18: TimorSea.

41 Siehe: United Nations, Security Council,S/2002/80, 17 January 2002: Report of theSecretary-General on the United NationsTransitional Administration in East Ti-mor. For the period from 16 October2001 to 18 January 2002II, B.

42 Vgl.: Münch-Heubner, Peter L., Osttimorund die Krise, S.160.

43 UNTAET, April 2002, Fact Sheet 14: Edu-cation.

44 Hard reign, in: The Bulletin, May 21,2002.

45 UNTAET, April 2002, Fact Sheet 15:Health.

46 UNTAET, April 2002: Fact Sheet 9: Refu-gees.

47 United Nations, Security Council, S/2002/80, C.

48 Donor’s Meeting on East Timor, Oslo,11–12 December 2001. Statement by Mr.Finn Reske-Nielsen, UN Development Co-ordinator, Tuesday 11 December 2001,http://www.unagencys.east-timor.o…/UNDC%20Statement%20Oslo%20-%0Final.htm (Abgerufen am 29.7.2002).

49 Asiens ärmster Staat, in: NZZ, 18./19.5.2002.

50 Statement by Mr. Finn Reske-Nielsen,UNDP Representative & UN Develop-ment Coordinator: Signing of AMCAPProject Document, Monday 21 January2002; http://www.unagencys.east-timor.org/Speeches/speech%20signing%20ce-remony1.htm (Abgerufen am 29.7.2002).

51 UNTAET/REG/2002/4: Dili, 23 April 2002:Regulation No.2002/4 on the Replace-ment of Regulation 2000/4 on Registra-tion of Business.

52 Donor’s Meeting on East Timor, Oslo,11–12 December 2001. Statement by Mr.Finn Reske-Nielsen, UN Development Co-ordinator, Tuesday 11 December 2001,http://www.unagencys.east-timor.o…/UNDC%20Statement%20Oslo%20-%0Final.htm (abgerufen am 29.7.2002).

53 Siehe: United Nations, Security Council,S/2002/432/Add.1, 24 April 2002: Reportof the Secretary-General on the UnitedNations Transitional Administration inEast Timor; Annex.

54 United Nations, Security Council, S/2002/80, Annex.

Das „Timor-Experiment“: Ein Modell für künftige UN-Interventionen?

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55 UNTAET, Fact Sheet 6 und 16.56 United Nations, Security Council, S/2001/

983, 18 October 2001: Report of theSecretary-General on the United NationsTransitional Administration in East Ti-mor. For the period from 25 July to 15October 2001; IV Successor mission so-wie: East Timor-UNMISET (FN 5).

57 Vgl. hierzu : Statement by Finn Reske-Nielsen, UNDP Representative & UN Development Coordinator on the occasion of the appointment of Cecilio Caminha Freitas as New Director of

East Timor NGO Forum, „Open Day“ atthe NGO Forum, Tuesday 19 February2002.

58 Donor’s Meeting on East Timor, Oslo,11–12 December 2001. Statement by Mr.Finn Reske-Nielsen, UN Development Co-ordinator, Tuesday 11 December 2001,http://www.unagencys.east-timor.o…/UNDC%20Statement%20Oslo%20-%0Final.htm (abgerufen am 29.7.2002).

59 Vgl. Münch-Heubner, Peter L., Der Schatzin der Timorsee.

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Politische Studien, Heft 385, 53. Jahrgang, September/Oktober 2002

Das aktuelle Buch

Faust, Dominik A.: Effektive Sicherheit.Analyse des Systems kollektiver Sicherheitder Vereinten Nationen und Entwurf einesalternativen Sicherheitssystems. Wies-baden: Westdeutscher Verlag, 2002, 428 Sei-ten, 2 39,00.

Da das Verlangen nach Sicherheit ein ele-mentares menschliches Grundbedürfnis ver-körpert, gehört die Suche nach Möglichkeitenzur Gewährleistung effektiver Sicherheit alsSchutz gegen perzipierte Bedrohungen undGefahren zu den ältesten be-kannten Verhaltensmustern. ImBereich der internationalen Poli-tik, deren Qualität auf Grund desFehlens einer hierarchisch struk-turierten, mit einem Staat ver-gleichbaren übergeordneten Au-torität als „anarchisch“ bezeich-net wurde, haben politikwissen-schaftliche, völkerrechtliche unddiplomatiegeschichtliche Schu-len unterschiedlichste Modelleder internationalen Sicherheitentwickelt. Zu den diesbezüglichbekanntesten zählt das Prinzipder „kollektiven Sicherheit“, dasnach dem Scheitern des „Europäischen Kon-zerts“ (Prinzip der Sicherheit durch ein „Gleich-gewicht der Mächte“) nach dem Ersten Welt-krieg als neues internationales Ordnungs-system eingeführt wurde. Anders als ein Ver-teidigungsbündnis, das sich gegen äußere Be-drohungen oder Angriffe gegen Mitglieder derAllianz richtet, gehört zum Prinzip der kollek-tiven Sicherheit das gemeinsame Einschreitenauch gegen unrechtmäßige Gewaltanwendunginnerhalb des Sicherheitssystems. Da ein Sys-tem der kollektiven Sicherheit, das auf demPrinzip der Machtkontrolle beruht, nur funkti-onsfähig ist, wenn – neben anderen notwen-digen Voraussetzungen – alle Großmächtedaran beteiligt sind, war wegen der Abstinenzder USA der im Jahre 1919 gegründete Völ-kerbund aus heutiger Sicht betrachtet von vor-neherein zum Scheitern verurteilt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand mit derSchaffung der Vereinten Nationen eine neueInstitution der kollektiven Sicherheit, die dieDefizite und Mängel des Völkerbundes ver-meiden wollte und in Art. 1 ihrer Charta expli-zit auf die Notwendigkeit hinwies, zur Wah-rung der internationalen Sicherheit „wirksameKollektivmaßnahmen zu treffen“. Mit der Ein-richtung des Sicherheitsrates, in den die da-maligen Großmächte mit dem privilegierten

Status des „Ständigen Mitgliedes“ aufge-nommen wurden, und dessen Autorität, nachFeststellung einer Bedrohung oder eines Bru-ches des Friedens den Einsatz militärischerZwangsmaßnahmen zu beschließen (gemäßKap. VII), wurde ein im Vergleich zum Völker-bund wesentlich effektiveres Organ zur Kon-fliktbereinigung geschaffen.

An dieser Stelle setzt die Studie von DominikA. Faust an, der die Effektivität des Systemsder kollektiven Sicherheit der UNO mit Hilfe

eines selbst entwickelten Appa-rates rechtlicher, politischer, mi-litärischer, finanzieller und infor-mationstechnischer Leistungs-kriterien untersucht. Der Autor,Politikwissenschaftler mit sicher-heitspolitischen Forschungs-schwerpunkten, kommt zu demErgebnis, dass das kollektive Si-cherheitssystem der VereintenNationen weit hinter seinen sat-zungsmäßig vorgesehenen Mög-lichkeiten zurückbleibt und dieUNO generell zu selten die Mög-lichkeit der gewaltsamen Inter-vention zur Friedenssicherung

ausnützt. Eine Möglichkeit zur Abschreckungvon potenziellen Aggressoren sei somit nursehr bedingt gegeben.

Faust führt zahlreiche Gründe für diese Effek-tivitätsdefizite des Sicherheitssystems ins Feld,darunter u.a. Mängel der Rechtssicherheit derWeltgemeinschaft auf Grund von Kannbe-stimmungen in der UNO-Charta, das Fehleneiner permanent verfügbaren Interventions-streitmacht sowie das nahezu unlösbare Pro-blem, unter den 189 Mitgliedern der VereintenNationen einen Konsens in heiklen Fragen derFriedenssicherung herzustellen. Die Diploma-tiegeschichte der vergangenen Jahrzehnte hatgezeigt, dass dieses Problem der Konsens-findung durch das Vetorecht der fünf Ständi-gen Mitglieder zusätzlich verschärft wird.

Anders als Ernst-Otto Czempiel, der in seinemim Jahre 1994 verfassten und vielbeachtetenWerk „Die Reform der UNO“ geschlussfolgerthatte, dass die „kollektive Sicherheit ein My-thos ist, niemals funktioniert hat und auch garnicht funktionieren kann“, glaubt Faust, dassein System der kollektiven Sicherheit durchauseffektiv sein könne, vorausgesetzt, die er-wähnten gravierendsten Effektivitätsdefizite desSystems der Vereinten Nationen würden ver-mieden.

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eine sicherheitspolitische Frage von interna-tionaler Bedeutung nicht die Interessen zu-mindest eines der fünf Ständigen Mitgliederdes Sicherheitsrates tangiert und es ist des-halb nur schwer vorstellbar, dass die USA,Russland, China, Frankreich und Großbritan-nien freiwillig auf ihr Vetorecht verzichten wer-den – was allerdings die Voraussetzung eines„Systems effektiver Sicherheit“ nach demKonzept von Faust wäre.

Ungeachtet dieses prinzipiellen und diverseranderer Probleme der möglichen Realisierungeines derartigen alternativen Sicherheitssys-tems (die der Autor im Übrigen durchausselbst einräumt) verdient die Publikation, dieauf Fausts Dissertation basiert, durchausBeachtung, weil sie methodisch sachgerechtDefizite des herkömmlichen Systems der kol-lektiven Sicherheit herausarbeitet und mit po-litikwissenschaftlichen Instrumenten Alter-nativen entwickelt, um diese Defizite dauerhaftzu vermeiden. Das SES-Modell bleibt (vorläu-fig) ein theoretisches Konstrukt mit nützlichenAnregungen sowohl für politikwissenschaft-liche Diskussionen als auch politische Pla-nungen.

Reinhard C. Meier-Walser

Das aktuelle Buch

Das von Faust entwickelte alternative Sys-temmodell („System effektiver Sicherheit“ –SES-Modell) basiert daher auf den Grund-strukturen des Systems kollektiver Sicherheitder UNO, sieht aber neben verschiedenen an-deren Abweichungen vor allem einen Auto-matismus bei der Einleitung und Durchfüh-rung des Kapitel-VII-Prozesses sowie der Aus-stattung der UNO mit permanent verfügbarenSanktionsstreitmächten vor. Letzteres soll inForm einer Kooperation zwischen einzelnenRegionalausschüssen des Sicherheitsratesund „Kapitel-VII-Organisationen“ (z.B. NATO,WEU, OSZE, ASEAN, OAU, OAS, ArabischeLiga etc.), die sich bereiterklärt haben, ihreStreitkräfte der UNO zu Sanktionszwecken zurVerfügung zu stellen, gewährleistet werden.

Fausts Ideen und Vorschläge besitzen durch-aus Charme, kommen aber letzten Endesnicht an der grundsätzlichen Problematik vor-bei, dass der Einführung eines derartigenSicherheitssystems eine grundlegende Reformder UNO vorausgehen müsste, die – wie dasmühsame und unergiebige Tauziehen währenddes vergangenen Jahrzehntes seit dem Endeder Ost-West-Konfrontation gezeigt hat – ge-genwärtig nicht in greifbarer Nähe ist. Auch im21. Jahrhundert bleibt ausgeschlossen, dass

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Politische Studien, Heft 385, 53. Jahrgang, September/Oktober 2002

Buchbesprechungen

Bringmann, Tobias C.: Handbuch der Di-plomatie 1815–1963. Auswärtige Missions-chefs in Deutschland und deutsche Mis-sionschefs im Ausland von Metternich bisAdenauer. München: K.G. Saur Verlag, 2002,Geb., 506 Seiten, 2 138,00.

Das laut Autor auf Grund einer schwierigenpersönlichen Forschungssituation entstande-ne Handbuch – die Unterschriften der Mis-sionschefs in den Akten waren unleserlich undein biografisches Nachschlagewerk zum di-plomatischen Personal existierte nicht – listetalle im Ausland akkreditierten deutschen Mis-sionschefs wie sämtliche in Deutschland ak-kreditierten ausländischen Missionschefs seitdem Wiener Kongress 1815 bis zum Ende derÄra Adenauer 1963 auf. Ausdrückliche Be-rücksichtigung fanden dabei die bis 1866 bzw.1918 bestehenden deutschen Einzelstaaten,auch mit ihren innerdeutschen Vertretungen,die multilateralen Organisationen wie z.B. derDeutsche Bund in Frankfurt (1816–1866), derVölkerbund in Genf (1926–1933), die NATO(seit 1955), OEEC und UNESCO in Paris unddie UNO in New York (seit 1952) sowie wich-tige deutsche Generalkonsulate im Aus-land. In einem eigenen Kapitel werden die di-plomatischen Beziehungen der DDR darge-stellt.

Erklärtes Ziel des Autors ist es, Auskunft zugeben, „wer an einem bestimmten Ort wanneiner Botschaft, Gesandtschaft oder Ähnli-chem in den deutsch-ausländischen Bezie-hungen vorgestanden hat beziehungsweisewo ein bestimmter Missionschef akkreditiertgewesen ist“. Diesem Anspruch wird der Bandvollauf gerecht. Darüber hinaus bietet dasHandbuch für die einzelnen deutschen Staa-ten nützliche Übersichtslisten zu den jeweili-gen Staatsoberhäuptern, Regierungschefs und„Chefdiplomaten“ (Außenministern u.ä.). We-niger überzeugend ist das mit dem Jahr 1963gewählte Ende des Berichtszeitraumes: Mitdem Ende der Kanzlerschaft Adenauers seider personelle Neuanfang im Auswärtigen Amtabgeschlossen gewesen. Ähnlich beliebigwirkt auch die Auswahl der Länder, bei denendie Daten über den Berichtszeitraum hinausbis in die Siebzigerjahre fortgeführt wurden,also bei Ländern mit überregional bedeutsa-men Krisenherden und weltpolitisch bedeut-samen Ereignissen. Nach welchen Krite-rien die Auswahl der Diplomaten erfolgte, diemit etwas ausführlicheren biografischen Da-ten versehen wurde, ist ebenfalls nicht er-sichtlich.

Unabhängig von diesen wenigen Einschrän-kungen ermöglicht das Buch erstmals einenraschen Zugriff auf das diplomatische Perso-nal, das bisher nicht oder nur mit großem Auf-wand zu recherchieren war. Ausführliche undweiterführende biografische Hinweise zu dendeutschen Diplomaten wird künftig das vomAuswärtigen Amt herausgegebene Biografi-sche Handbuch des Auswärtigen Dienstes1871–1945 liefern. Da bisher jedoch erst dererste von fünf Bänden erschienen und darinnur das deutsche diplomatische Personalberücksichtigt ist, wird das vorliegende Nach-schlagewerk der historischen Forschung beider Erschließung von Archivquellen und Aktenbald unentbehrlich sein.

Renate Höpfinger

Damford, James: NSA. Die Anatomie desmächtigsten Geheimdienstes der Welt.München: C. Bertelsmann, 2001, 688 Seiten,2 34,77.

Im bayerischen Bad Aibling soll bald der Ab-bau eines amerikanischen Stützpunktes be-ginnen, der fünf Jahrzehnte lang im Auftragdes Geheimdienstes NSA (National SecurityAgency) funkelektronische Aufklärung gegenMoskau betrieben hat. Während der jüngstenZeit hieß es oftmals, heutzutage ginge derHorchposten primär der Wirtschaftsspionagegegen Deutschland nach – doch bewiesenwurde dies niemals. Zutreffender erscheint oh-nehin, dass die bisher von der Erdoberflächeaus erfolgenden Abhöraktivitäten fortan mitHilfe modernster Satellitentechnik ins All ver-lagert werden.

Zu solchen Schlussfolgerungen wird zweifel-los auch der Leser des unlängst erschienenenBuches über die NSA kommen, zumal der Au-tor sich schon früher als ein solider Kennerdieses wohl „mächtigsten Geheimdienstes derWelt“ erwiesen hat. Dessen erste Anfänge ge-hen auf das Jahr 1930 zurück; schon währenddes II. Weltkrieges konnte er etliche Erfolgeverbuchen. Der Ausbruch des Korea-Krieges(1950), welcher Washington völlig überrasch-te, ist hingegen als großes Versagen zu be-werten: Die warnenden Meldungen der nurzwei Korea-Abhörspezialisten waren niemalsverarbeitet worden! Über die Sowjetunion ge-wann die NSA die ersten nachrichtendienst-lichen Erkenntnisse 1956 mit elektronisch aus-gerüsteten Flugzeugen, die von Grönland aus

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starteten. Verfügten die dortigen Militäreinhei-ten anfangs auch nicht über Radar, so wurdenin der Folgezeit damals bei derartigen Einsät-zen 40 US-Maschinen abgeschossen undrund 200 Menschen getötet. Im Norden desIran, am Kaspischen Meer, ermittelte eineNSA-Station alle Boden-Radarstationen in derUdSSR, in der Wüste Libyens belauschte ei-ne weitere die Hochfrequenzkommunikationder Russen und von Bremerhaven hörte manden Funkverkehr der sowjetischen U-Booteab. Mit großem Detailwissen (und insgesamt1.744 Anmerkungen) schildert der Verfasserdie verschiedenartigen NSA-Aktionen bei derversuchten Kuba-Invasion und dem Sechs-Ta-ge-Krieg im Nahen Osten. Dabei ist sein scho-nungsloser Bericht keinesfalls unkritisch ge-genüber dem Geheimdienst, den US-Militärsund gerade auch der Regierung.

Wichtigstes Ziel damals war es stets, das Ver-schlüsselungssystem der UdSSR zu brechenund ihre geheimsten Meldungen abzuhören.War es der NSA schon früh gelungen, in die verschlüsselte Sprachkommunikation derSowjets einzudringen – was allerdings durchVerräter schon bald wieder vereitelt wurde –,so erfolgte dies erneut ab Herbst 1979. Weni-ge Jahre später konnte ein wichtiges unter-seeisches Fernmeldekabel auf dem Grund desOchotskischen Meeres angezapft werden. DasGebiet um das Barentsmeer, das auch heut-zutage noch Testgelände neuer russischer Ra-keten ist, gilt daher immer noch als „eine be-vorzugte Region für Lauschoperationen“ derNSA.

Andererseits hat der Dienst nach 1989/1990von seinen bisher 38.000 Mitarbeitern an-nähernd ein Viertel seines Personals abgebaut.Dennoch scheint er inzwischen in der Lage zusein, sämtliche neuen Technologien anzuzap-fen – selbst die durchweg für sicher gehalte-nen Glasfaserkabel. Man sollte dem Buchauch mit seiner Feststellung glauben, „Es gibtkeine nicht zu knackende Chiffre“. Zutreffenddürfte ebenfalls sein, dass Bilder und Video-aufnahmen von Spionagesatelliten und Auf-klärungsflugzeugen der Amerikaner den dor-tigen zuständigen Stellen heutzutage „fast inEchtzeit übermittelt werden“! Ob die NSA aberüber genügend Kenner der jeweiligen Spra-chen verfügt, welche die vielen eingehendenMeldungen auch richtig zu würdigen wissen,erscheint dem Autor zweifelhaft.

Die Katastrophe vom 11. September 2001 hatindes auch dieser Geheimdienst nicht vor-ausgesehen und nicht verhindern können wieebenfalls auch mit seinen technischen Mittelnbisher nicht zur Ergreifung bin Ladens beitra-

gen können: Bloße Gespräche zwischen Per-sonen, ohne den Einsatz von Kommunika-tionssystemen, sind selbst für die NSA uner-reichbar.

Friedrich-Wilhelm Schlomann

Bruni, Frank: Ambling into History. The Un-likely Odysee of George W. Bush. New York:Harper Collins, 2002, 278 Seiten, $ 23.95.

Was ist der Unterschied zwischen GerhardSchröder und George W. Bush? Nun, der letz-tere hätte wohl nie an den Gittern einer Re-gierungszentrale gerüttelt und „Ich will darein!“ gerufen. Glaubt man dem New YorkTimes-Reporter Frank Bruni, der Bush wäh-rend des Präsidentschaftswahlkampfes 2000beobachtet hat, so steht an der Spitze derUSA ein Mann, der anders als seine Vorgän-ger die Präsidentschaft und den Weg dorthinnicht als leidenschaftliche Mission, sondernals Abenteuer versteht. Und so beschreibtBruni auch die Art, wie Bush es bis ins WeißeHaus geschafft hat nicht als entschlossenenKampf sondern als „Schlendern“ („Ambling“),gespickt mit verbalen Ausrutschern, dürftigenpolitischen Botschaften, regelmäßigen Pau-sen, Anfällen von Heimweh, einer PortionSelbstironie und lichten Momenten. Trotzdemtraut er Bush zu, sich zu einem der größtenPräsidenten der letzten Jahrzehnte zu mau-sern, eine Ansicht, die von der liberalen NewYork Times nicht unbedingt erwartet werdendarf. Die Gefahr des internationalen Terroris-mus ist die Herausforderung, an der er wach-sen kann. Aber ist er darauf wirklich vorbe-reitet?

Nicht vergessen sind die vielen Wortverdre-hungen während des Wahlkampfes, z.B. wenner zur Förderung des Freihandels statt „bar-riers and tariffs“ lieber „barriffs and terriers“bekämpfen wollte oder Quotenregelungen ab-lehnte, weil sie die amerikanische Gesellschaft„vulkanisierten“, nicht „balkanisierten“. SeineUnwissenheit über das Ausland, seine ober-flächlichen Stellungnahmen, seine Unlust anDetailarbeit und seine Unsicherheit beim Ant-worten auf unerwartete Fragen – all das ließZweifel aufkommen, ob der Gouverneur vonTexas als Führer der westlichen Welt tauge.Hinzu kommt sein Hang zur Clownerie: SeineUmgebung mit Spitznamen zu bedenken undsich an singenden Plastikfischen zu ergötzenmacht ihm ebenso Freude, wie einem Repor-ter die Zeigefinger in die Ohren zu stecken, umanzudeuten, dass der folgende Kommentarnicht zur Veröffentlichung gedacht ist. Ist Bush

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nur ein Possenreisser, der sich in die Politikverirrt hat?

So will Bruni es nicht verstanden wissen. Erhat den Texaner als tiefgründigeren Menschenkennen gelernt als das Bild in der Öffentlich-keit es wiedergibt. Außerdem erkennt er hin-ter all dem auch eine Strategie: Die Amerika-ner nehmen den ganzen Politzirkus sowiesonicht mehr ernst, wieso soll Bush es tun? Erwill nicht als der überehrgeizige, detailverlieb-te Vertreter des Establishments erscheinen,dessen Typus sein Kontrahent Al Gore ver-körpert. Nicht ungeschickt profitierte er so vondessen Überheblichkeit und Besserwisserei.Eigene Schwächen nutzt er zu selbstironi-schen Reflektionen, die niedrigen Erwartun-gen zu Überraschungseffekten.

Aber auch Bruni ist erstaunt, wie wenig Bushsich nach der auf abenteuerliche Weise ge-wonnenen Wahl von seinem neuen Amt ver-ändern lässt. Vielmehr versucht er, die Präsi-dentschaft seinem Wesen anzupassen, sie vonVerpflichtungen, Erwartungen und Pomp zuentlasten. Sein entspannter Arbeitsstil ähneltdem von Ronald Reagan, der „die Amtsge-schäfte wie der Vorsitzende eines Aufsichts-rats“ (H.-P. Schwarz) zu führen pflegte und dieDetailarbeit gerne anderen überließ. Das ersteFernsehinterview im Amt gab Bush einemSportkanal, die Wochenenden verbrachte erauf der heimischen Ranch oder in CampDavid. Aber gerade diese Gelassenheit, soBruni, ermöglicht es Bush, sich nicht von denProblemen nach dem 11. September 2001überwältigen zu lassen. Und er ist nicht über-rascht, dass der tiefgläubige Methodist undzähe Jogger die terroristische Herausfor-derung entschlossen annimmt und ohneHochmut als göttliche Botschaft an sich be-greift.

Nun offenbart sich die emphatische, zielbe-wusste Seite des Präsidenten, die er schonzuvor gelegentlich hatte aufblitzen lassen: beiseinem professionellen Krisenmanagementnach dem Luftzwischenfall mit China im Früh-jahr 2001 oder durch seine hingebungsvolleund von tiefem Ernst geprägte Suche nach ei-ner Regelung für die Stammzellenforschung.Bruni ist beeindruckt von dem mit Geduld undGeschick geführten Kampf gegen den Terror,auch wenn die Anfangserfolge über die Größeder Aufgabe nicht hinwegtäuschen dürfen.

Was dem Buch fehlt, ist eine Analyse der po-litischen Gedankenwelt Bushs und somit aucheine Erklärung, warum gerade er die Tour zurPräsidentschaft überhaupt angetreten hat. DieHerkunft aus einer neuenglischen Patrizier-

familie mit politischer Tradition hat gewiss einGefühl der Verpflichtung gegenüber der Ge-meinschaft in Bush entstehen lassen: Texani-sche Nonchalance paart sich mit neueng-lischem Ethos. Trotzdem bedarf es wohl einespolitischen Impetus, um die Odyssee zu über-stehen, die den Weg zum Weißen Haus öffnet.Stoff für künftige Biografen, die auf der hu-morvollen Charakterstudie von Bruni auf-bauen können, die nicht zuletzt auch einenselbstkritischen Blick auf den Wahlkampf-journalismus in den USA gewährt.

Alexander Rometsch

Biskupek, Sigrid: Transformationsprozessein der politischen Bildung. Von der Staats-bürgerkunde in der DDR zum Politikunter-richt in den neuen Ländern (Studien zuPolitik und Wissenschaft). Schwalbach: Wo-chenschau Verlag, 2002, 225 Seiten, 2 23,60.

Der Transformationsprozess von der DDR zuden neuen Ländern gehört zu den am bestenuntersuchten Gegenständen der Politikwis-senschaft. Dies gilt sowohl für den institutio-nellen Aspekt als auch für die politische Kul-tur. Das Bild wird durch Detailuntersuchungenwie derjenigen von Sigrid Biskupek ergänzt.

Im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses dervon ihr angefertigten Dissertation, die nun imWochenschau-Verlag vorliegt, steht dabei derTransformationsprozess von der Staatsbür-gerkunde in der DDR zum Politikunterricht inden neuen Bundesländern. Der zeitliche Rah-men erstreckt sich vom letzten pädagogischenKongress der DDR im Juni 1989 bis zur Ver-einigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990.

Den Transformationsprozess erarbeitet die Au-torin, indem sie die bildungspolitischen For-derungen der politischen Parteien und derneuen politischen Vereinigungen zur Reformdes Bildungswesens und die sich daraus er-gebenden Rückwirkungen auf die Entwicklungder politischen Bildung dokumentiert.

Die Autorin, Sozialkundelehrerin an einer Re-gelschule in Thüringen und langjährige Lehr-beauftragte für Politikdidaktik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, geht bei der Dar-stellung der Rahmenbedingungen für ihre Un-tersuchung zunächst von der Beschreibungder Rolle der staatsbürgerlichen Erziehung inder DDR und deren Ziel der „allseitig ent-wickelten sozialistischen Persönlichkeit“ aus.Die Stellung der Staatsbürgerkunde wird

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dabei als ein Element der staatsbürgerlichenErziehung im Erziehungssystem der DDR cha-rakterisiert und in Beziehung mit den anderenFächern sowie im Gesamtzusammenhang mitder Struktur, den Zielen und den Entwick-lungstendenzen des Erziehungssystem in derDDR gesehen. Interessant ist in diesem ein-führenden Teil der Arbeit neben der Darstel-lung der genannten Inhalte besonders dieHerausarbeitung des Beziehungsgeflechteszwischen den Elementen der staatsbürgerli-chen Erziehung und der ideologischen Ent-wicklung der Partei (besonders in Parteitags-beschlüssen dokumentiert). Ergänzt werdendiese Darstellungen durch die Charakterisie-rung der Umsetzung dieser Beschlüsse mitHilfe der staatsbürgerlichen Erziehung imSchulalltag. Deren Wirkung bei den Schülernbeschreibt die Autorin auf der Grundlage derwenigen vorhandenen empirischen Untersu-chungen, aber auch vor dem Hintergrund vonsoziologischen und psychologischen Inter-pretationen.

Als Akteure des Transformationsprozesses be-obachtet S. Biskupek Schüler, Eltern, Lehrer,die pädagogischen Eliten aus dem Bereich derStaatsbürgerkundemethodik, die Akteure inden Pädagogischen Hochschulen und in denUniversitäten der DDR, die westdeutschenAkteure und die Akteure in den neu entstan-denen demokratischen Verwaltungen. Dabeistehen deren Aktivitäten in Bezug auf die Kons-tituierung des Faches „Gesellschaftskunde“,das vorübergehend die alte Staatsbürger-kunde ablöste, wie auf den Politikunterricht,aber auch auf die Ausbildung und Weiterbil-dung der Gesellschaftskundelehrer und dieAuswirkungen der Aktivitäten auf den Schul-alltag im Mittelpunkt der Betrachtung.

Damit hat die Arbeit zwei Dimensionen: diesubjektive Dimension der persönlichen Erleb-nisse und Erfahrungen der Menschen, die die-sen Umgestaltungsprozess des Bildungs-systems und speziell der politischen Bil-dungsprozesse miterlebt haben, und die „ob-jektive“ Dimension der feststellbaren Tatsa-chen und Elemente dieses Transformations-prozesses, in welchem die Aktivitäten derEliten ihren Ausdruck finden.

Die deutliche Ausdifferenzierung dieser bei-den Ebenen erweist sich für die weiter ge-hende Untersuchung als ausgesprochen hilf-reich, wird doch deutlich, dass neben derintensiven Auswertung der in diesem Zusam-menhang relevanten Dokumente, die sich aufden Transformationsprozess in der politischenBildung beziehen, die retrospektive Befragungder Beteiligten notwendig ist, um die subjek-

tive Dimension in einem Teilbereich des ost-deutschen Transformationsprozesse zu erfor-schen.

Und hierin liegt gerade auch der Gewinn derUntersuchung. Der Leser wird in der Aufar-beitung des bisher noch nicht erschlossenenMaterials in verschiedenen Archiven (Bundes-archiv, Thüringer Staatsarchiv und Regional-archive) darüber informiert, worin 1989 die For-derungen von Lehrern und Schülern bezüglichder Demokratisierung des Bildungswesensund damit auch der politischen Bildung be-standen. An den herausgestellten Quellen ge-winnt der Leser nicht nur einen konkreten Ein-blick in die bis dahin geltende Praxis, wenndeutliche Forderungen nach der Streichungdes Wehrunterrichts, der Trennung der Pionier-und FDJ-Arbeit vom Verantwortungsbereichder Schule u.a. von Schülern und Lehrern er-hoben werden, sondern er bekommt aucheine Ahnung von dem ungebremsten demo-kratischen Reformwillen (Forderung nach Mit-bestimmung bei dem Einsatz der Direktorenund Schulräte u. a.). Hieran kann der Leserauch Vermutungen zu der Frage anknüpfen,ob diese Forderungen realistisch waren undin welchem Zusammenhang hierzu der Unmutvon vielen Lehrern in den neuen Bundeslän-dern besteht.

Andererseits erhält der Leser vielfältige Infor-mationen über die bürokratische Behandlungder politischen Bildung durch die Ministerial-bürokratie von der ausgehenden SED-Ära, in der von dem Nachfolger von MargotHonecker, Günther Fuchs, die Erneuerung dersozialistischen Schule mit entsprechendenKonsequenzen für die politische Bildung an-gestrebt wurde, bis hin zur Einführung desneuen Unterrichtsfaches „Gesellschaftskun-de“ am 21.2.1990, welche das Ziel einer de-mokratischen politischen Bildung verfolgte.Nicht zuletzt werden Probleme bei der Ein-führung des Politikunterrichts geschildert.

Besonders eindrucksvoll sind jedoch die Er-gebnisse der Interviews zu diesen Umbruch-situationen. Den Auffassungen der Betroffe-nen versucht die Autorin mit 16 fokussiertenInterviews mit Lehrern, Schülern und Elternnachzugehen.

In ihnen kommen sowohl systemkritische Zeit-zeugen als auch Befürworter des alten politi-schen Systems zu Wort. Hier dokumentiert dieAutorin Gefühle neu gewonnener Freiheit undgroßer Hoffnungen ebenso wie Schilderungenmenschlicher Tragik. Diese Interviews stellennicht nur eine Ergänzung zu anderen empi-rischen Untersuchungen dar, sondern sie

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haben auch deshalb einen besonderen Wert,weil sie die bekannten empirischen Unter-suchungen zu dem demokratischen Trans-formationsprozess in Ostdeutschland nicht nurhinsichtlich eines spezifischen, neu unter-suchten Aspektes ergänzen. Ihr Wert mussauch darin gesehen werden, dass sie dieGründe für das differenzierte Bild hinsichtlichder Beurteilung des Demokratisierungspro-zesses aufzeigen. Diese Gründe sind in denunterschiedlichen biografischen Situationenund in den damit verbundenen, unterschied-lichen Weltbildern der Menschen zu sehen.Deshalb hätte eine größere Anzahl von Inter-views und eine breitere regionale Streuungnoch umfassenderes empirisches Material,auch für weitere Forschungen im Bereich derpolitischen Kulturforschung, aufbereitet.

Carl Deichmann

Raberg, Frank: Biografisches Handbuchder württembergischen Landtagsabgeord-neten 1815–1933. Stuttgart: W. KohlhammerVerlag, 2001, Geb., 1154 S., 2 50,-.

Im Vorfeld zum 50-jährigen Jubiläum des Lan-des Baden-Württemberg publizierte die Kom-mission für geschichtliche Landeskunde inBaden-Württemberg ein umfangreiches, glän-zend ausgestattetes biografisches Handbuchüber die württembergischen Parlamentarier.Es berücksichtigt für den Zeitraum 1815 bis1933 insgesamt 2.211 Abgeordnete, sämtli-che württembergischen Vertreter der Stände-versammlungen 1815–1819, alle Abgeordne-ten beider Kammern des Landtages desKönigreichs Württemberg 1819–1918 sowieder Verfassunggebenden Landesversammlungund des Landtages des freien VolksstaatesWürttemberg 1919–1933.

In einer mehrjährigen beeindruckenden Fleiß-arbeit hat der Autor, ein profunder Kenner derbadischen und württembergischen Landes-geschichte, in Archiven, Pfarr- und Standes-ämtern, durch die Auswertung von Zeitungen,Publikationen, Biografien und Memoiren unddurch die Befragung von zahlreichen Nach-fahren eine Flut von biografischen Daten zuden einzelnen Abgeordneten zusammenge-tragen. In stark schematisierter Form werdendie Informationen zu Herkunft, Familienbezie-hungen, Ausbildung und Beruf, zur politischenund ausführlich zur parlamentarischen Tätig-keit, die Nachweise über Verbands- und Ver-einstätigkeit und zu Auszeichnungen, Ordenund Ehrungen dargeboten. Der abschließen-de Apparat nennt jeweils die Quellen, belegt

so weit vorhanden den Verwahrungsort derNachlässe und Personalakten, weist dieSchriften und Veröffentlichungen der jeweili-gen biografierten Person nach und listet diebiografische Literatur über sie auf. Etwa 300Abgeordnete konnten auch mit Porträtfotosdokumentiert werden.

Der Einleitungsteil bietet einen Überblick überdie Geschichte der Verfassungsgebung, desWahlrechts, der Parlamente und ihrer Zusam-mensetzung in Württemberg. Die Biografienselbst liefern detaillierte Angaben zur parla-mentarischen Tätigkeit des einzelnen Abge-ordneten und erlauben so dessen Positions-bestimmung im parlamentarischen Betrieb. Eswerden u.a. die Mandatszeit, die Mitglied-schaften in Ausschüssen und Kommissionen,die Funktionen in Fraktionen und Landtag so-wie eventuell andere parlamentarische Man-date aufgelistet.

Von besonderem Wert sind die zahlreichen ge-nealogischen Angaben. Die Biografien bele-gen die familiären und verwandtschaftlichenVerbindungen des jeweiligen Abgeordneten,zum Teil von den Großeltern über die Elternund Kinder bis zu den Enkelkindern. Dadurchwird insgesamt ein den eigentlichen Berichts-zeitraum weit übergreifender Zeitabschnitt vonnahezu 300 Jahren abgedeckt. Gleichzeitigbilden diese Daten die einmalige Grundlagefür ein breites Soziogramm des deutschenSüdwestens.

Der Band wird abgeschlossen durch einenAnhang mit Übersichtslisten über die Wahl-perioden, Landtage, Sessionen, Präsidenten,Vize- und Alterspräsidenten und über die Ab-geordneten 1815–1918 geordnet nach denWahlkörperschaften und Wahlkreisen. Ein Per-sonenregister, das die zahlreichen Querver-bindungen nachweisen könnte, fehlt leider.

Das Handbuch belegt auf eindrucksvolleWeise die jahrhundertlange Tradition ständi-scher und parlamentarischer Vertretung inWürttemberg. Den Versammlungen und Land-tagen gehörte eine Reihe herausragender undüber die Landesgrenzen hinaus bekannter Per-sönlichkeiten an wie z. B. der 1945 als An-gehöriger der bürgerlich-konservativen Wi-derstandsgruppe 20. Juli 1944 hingerichtetefrühere Staatsminister und RegierungschefEugen Bolz, der als Verleger von FriedrichSchiller und Johann Wolfgang von Goethebekannt gewordene Johann Friedrich Cotta,der Verfechter der zollpolitischen EinigungDeutschlands und Vorkämpfer für den deut-schen Eisenbahnbau Friedrich List, der spä-tere SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher, der

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Schriftsteller Ludwig Uhland oder die kom-munistische Frauenrechtlerin Clara Zetkin. Diemeisten jedoch sind, obwohl zu ihrer Zeit po-litisch einflussreich und bedeutend, dem heu-tigen historisch Interessierten unbekannt. Zumanchen Abgeordneten ließen sich kaum dieelementaren biografischen Daten ermitteln.

Auch einige bemerkenswerte Kuriosa brach-te das Handbuch ans Licht: So gehörten derVerfassunggebenden Landesversammlungvon 1919 in Württemberg als einzigem deut-schen Parlament mit Gustav Kittler und Emi-lie Hiller zugleich Vater und Tochter und mitFanny und Karl Vorhölzer ein Ehepaar als Ab-geordnete an.

Das vorliegende Handbuch ist sorgfältig,gründlich und umfassend recherchiert. AufGrund der überzeugend dargebotenen undpräzise aufbereiteten Informationen leistet esnicht nur einen wichtigen Beitrag zur Ge-schichte des Parlamentarismus, sondern weitdarüber hinaus auch zur Landesgeschichteund Sozialgeschichte im deutschen Südwes-ten. Es zählt damit künftig zur einschlägigenStandardliteratur unter den wissenschaftlichenParlamentshandbüchern und setzt zweifellosMaßstäbe für die noch fehlenden biografi-schen Handbücher der anderen deutschenLandesparlamente.

Renate Höpfinger

Wilmut, Ian/Carapbell, Keith/Tudge, Colin:Dolly – Der Aufbruch ins biotechnischeZeitalter. München: Carl Hanser Verlag, 2001,404 Seiten, 2 24,90.

Im Mittelpunkt des interessanten und infor-mativen Werkes steht nicht nur „Dolly“, die ausder Zelle eines sechsjährigen Mutterschafesgeklont worden ist, vielmehr diskutieren dieAutoren auch die Frage: Ist das Klonen vonMenschen möglich?

1996 ist Dolly aus einer Zelle geklont worden,die der Brustdrüse eines alten Mutterschafesentnommen und dann in einer Kultur gezüch-tet worden war. Dieses Mutterschaf war schonseit langem tot. Die kultivierte Zelle ist mit der Eizelle eines anderen Mutterschafes ver-schmolzen worden, um einen Embryo zu „re-konstruieren“, der in die Gebärmutter einerAmmenmutter verpflanzt worden ist. Dort ent-wickelte er sich zu einem Lamm, das die Au-toren „Dolly“ tauften. Es ist das erste geklon-te Säugetier, das aus einer erwachsenenKörperzelle geklont wurde. Mit der „Klonie-

rungswissenschaft“ ergeben sich ganz neueMöglichkeiten im Hinblick auf die Kontrolleüber die Lebensprozesse. Die Klonierungs-wissenschaft betrifft auch den Menschen. DieGentechnik akzeptiert nur noch die Gesetzeder Physik, die Grenzen der Fantasie und dieMoral der jeweiligen Gesellschaft. Gene kön-nen nicht nur verändert (manipuliert) werden.Es können auch ganz neue Gene entwickeltwerden. Die Autoren führen die Leserinnenund Leser nicht nur in die Grundlagen der Em-bryologie, Entwicklungsbiologie und Zell-biologie ein, sondern vermitteln gleichzeitigAusblicke auf mittelfristige Entwicklungspers-pektiven im gesellschaftlichen, kulturellen undanthropologischen Bereich. Durch die Redu-zierung auf ein Minimum an Fachausdrückengewinnen die Beiträge erheblich an allge-meiner Verständlichkeit. Auf diese Weise sol-len auch Nichtwissenschaftler an den For-schungsergebnissen partizipieren können.Forschung und Wissenschaft werden transpa-rent und allgemein verständlich. Dank der Gen-technik sind wir heute prinzipiell in der Lage,Gene zwischen beliebigen Organismen zuübertragen. Sie können stammesgeschichtlichweit getrennt sein. Die Übertragung kann vomMenschen auf ein Bakterium, von Pflanzen aufden Menschen usw. erfolgen. Die Gentechnikhat zu ähnlich heftigen (kontroversen) undemotional besetzten Diskussionen geführt wiedie Klonierung von „Dolly“. Die neue Biotech-nologie wird in Verbindung mit den Klonie-rungsverfahren zur praktisch unbegrenz-ten Kontrolle über die Lebensprozesse füh-ren.

Es zeichnen sich insgesamt fünf Anwen-dungsgebiete der Biotechnologie ab: die For-schung (Erzeugung neuer Laborstämme), diePflanzen- und Tierzucht (z.B. Vermehrung von„Elitetieren“), der Artenschutz, die Züchtungvon Geweben (für medizinische Zwecke) undfünftens die Reproduktionstechniken (klinischund medizinisch). Es gilt dabei die folgendegrundsätzliche Feststellung: Es gibt kein ver-nünftiges Vorhaben, das wir in Bezug auf le-bendes Gewebe fassen, welches unmöglichwäre, denn lebendes Gewebe zeigt eine er-staunliche Flexibilität und Plastizität. Einer derAutoren stellt daher fest: Die Forschung wirdin den kommenden drei Jahren im Hinblick aufdas Klonen von Menschen große Fortschrittemachen. Spätestens in fünfzehn Jahren wer-den sich neue Praktiken abzeichnen. Das Klo-nen von Menschen gehört nunmehr zu denMöglichkeiten, die die Zukunft für uns bereit-hält. Der Gedanke ist vorhanden und die Mög-lichkeit gegeben. Dabei kann festgehalten werden: Künstliche Besamung, In-vitro-Ferti-lisierung und Tieftemperaturkonservierung

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folg unter insgesamt 277 rekonstruierten Em-bryonen. Die Autoren stellen fest: „Bei diesemStand der Dinge scheint daher eine hoheWahrscheinlichkeit für das Klonen von Men-schen (und wohl auch für Eingriffe in die Keim-bahn) zu sprechen. So könnte in der erstenHälfte des 21. Jahrhunderts, wenn nicht so-gar im ersten Jahrzehnt damit zu rechnensein.“ Allerdings könnte die Entwicklung auchanders verlaufen. Abschließend verweisen dieAutoren auf die immer noch vorhandenenWunder in der Biologie. Eines der Wunderhängt mit der folgenden Frage zusammen:Wie kommt es, dass sich eine einzelne Zellemit ihren DNS-Spiralen teilt und teilt und amEnde ein Frosch, ein Schaf oder ein Menschentsteht? Wir wissen zwar recht viel, abernoch lange nicht alles!

Gottfried Kleinschmidt

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gehören heute zu den Standardtechniken derReproduktionsmedizin. Prinzipiell besteht heu-te die Möglichkeit, menschliche Spermatogo-nien in den Hoden eines Hausschweins reifenzu lassen. Die Diskussion über das Klonenbeim Menschen ist ethisch widersprüchlich,kulturell kontrovers und theologisch nicht klarund eindeutig. Die Argumente sind vielfältigund oftmals gegenläufig. Festzustellen ist: Ei-nes Tages wird man kultivierte Zellen dazubringen, sich zu Eizellen oder Spermien zuentwickeln. Man wird aus Körperzellen Ga-meten herstellen und aus diesen wieder durchIn-vitro-Fertilisierung neue Embryonen erzeu-gen. Anschließend werden Leihmütter die Em-bryonen austragen.

Diese Technik profitiert von der Klonierungs-forschung. Die Erfolgsquote der Klonierung istbislang noch gering. Dolly war der einzige Er-

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Politische Studien, Heft 385, 53. Jahrgang, September/Oktober 2002

Folgende Neuerscheinungen aus unseren Publikationsreihen können von Interessentenbei der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Lazarettstraße 33, 80636 München (Tel: 089/1258-260/266) bestellt werden:

● Sonderausgaben der Politischen Studien– Gestaltung als Auftrag. Ein Handbuch für politisches Handeln in Gemeinden,

Städten und Landkreisen– Russland – Kontinuität, Konflikt und Wandel (Schutzgebühr 2 5,00)– Politische Positionierung der PDS – Wandel oder Kontinuität?

(Schutzgebühr 2 5,00)

● Berichte & Studien– Kaukasus, Mittelasien, Nahost – gemeinsame Interessen von EU und Türkei

(Schutzgebühr 2 5,00)

● aktuelle analysen– Zwischen Konflikt und Koexistenz: Christentum und Islam im Libanon– Die Dynamik der Desintegration – Zum Stand der Ausländerintegration in

deutschen Großstädten

● Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen– Perspektiven zur Regelung des Internetversandhandels von Arzneimitteln– Die Zukunft der NATO– Frankophonie – nationale und internationale Dimensionen

● Studies and Comments– Migration Policy and the Economy: International Experiences– Christian-Democratic and Center-Right Parties in Europe and North America:

Selected Perspectives

● Sonstiges– Alfons Goppel. Vom Kommunalpolitiker zum Bayerischen Ministerpräsiden-

ten (2 18,00)

Über den Buchhandel zu beziehen:● Reinhard C. Meier-Walser/Susanne Luther (Hrsg.):

Europa und die USA. Transatlantische Beziehungen im Spannungsfeld von Regionalisierung und Globalisierung, München 2002. (ISBN 3-7892-8079-8)

● Tilman Mayer/Reinhard C. Meier-Walser (Hrsg.): Der Kampf um die politische Mitte. Politische Kultur und Parteiensystem seit 1998, München 2002. (ISBN 3-7892-8095-X)

Ankündigungen

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Autorenverzeichnis

Blumenwitz, Dieter, Prof. Dr.Institut für Völkerrecht, Europarechtund Internationales Wirtschaftsrechtder Universität Würzburg

Braungart, Georg,Prof. Dr.Ordinarius für DeutschePhilologie/Neuere Deut-sche Literatur an derUniversität Regensburg

Grasskamp, Walter,Prof. Dr.Akademie der BildendenKünste, München

Hohlmeier, Monika, MdLBayerische Staatsministerin für Unter-richt und Kultus, München

Krimm, Stefan, Dr.,MRBayerisches Staatsminis-terium für Unterrichtund Kultus, München

Meier-Walser, Reinhard C., Dr.Leiter der Akademie für Politik undZeitgeschehen und Chefredakteur derPolitischen Studien, Hanns-Seidel-Stif-tung e.V., München

Münch-Heubner, Peter L., Dr.Historiker, Orientalistund Publizist, München

Rentschler, Ingo,Prof. Dr.Institut für medizinischePsychologie der Univer-sität München

Rühle, MichaelLeiter des PolitischenPlanungsreferats in derPolitischen Abteilungder NATO, Brüssel

Wieck, Hans-Georg,Dr.Botschafter a.D., u.a.ehemaliger Präsidentdes Bundesnachrichten-dienstes, Berlin

Wieck, Jasper, Dr.Diplomat, derzeit au-ßen- und sicherheitspo-litischer Referent derCDU/CSU-Bundestags-fraktion, Berlin