Prägungsbedingte Bindung von Küstenseeschwalbenküken (Sterna paradisaea Pont.) an die Eltern und...

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2. Tierpsychol., 43,287-294 (1977) @ 1977 Verlag Paul Parey, Berlin und Hamburg ISSN 0044-3573 / ASTM-Coden: ZETIAG Aus dem Institut fur Vogelforschung ,,Vogelwarte Helgoland" Wilhelmshaven Pragungsbedingte Bindung von Kustenseeschwalbenkuken (Sterna paradisaea Pont.) an die Eltern und ihre Fahigkeit, sie an der Stimme zu erkennen') Von KARIN und KLAUS BUSSE Mit 2 Abbildungen Eingegangen am 26.1.1976 Angenommen am 2.6.1976 Abstract To know how, to what extent and at what age tern chicks become attached to and able to recognize their parents, a natural population of arctic terns was observed under normal and under partially altered conditions of neighbouring territories. Chicks proved to be imprintable cn more than one parental pair both simultaneously and successively. Treadmill experiments between territories revealed that chicks normally recognize their parents' voice from the second day of life on. 1. Einleitung Bei Vogeln besteht im allgemeinen wahrend der Zeit der Aufzucht und manchmal auch weit daruber hinaus eine enge Bindung zwischen den Eltern und ihren eigenen Kuken, welche eine Fremdaufzucht ausschlieflt. Wenn die Geschlossenheit des Familienverbandes nicht durch raumliche Gegebenheiten wie Nistplatz und Reviertreue gewahrleistet ist, die ein Ver- wechseln der eigenen mit fremden Bruten verhindern, kann man sich die Indi- vidualselektivitat der Beziehungen nur durch ein fruhes personliches Erkennen bei Altvogel und/oder Kuken erklaren. Es kann auf der Wahrnehmung opti- scher und/oder akustischer Merkmale beruhen. Geruchliche schliei3en wir vor- erst als unwahrscheinlich aus. Allgemein wurde das Zustandekommen einer durch Erfahrung erwor- benen Merkmals-Selektivitat im Verhalten vor allem bei Kiiken von Enten- vogeln nachgewiesen und als Objektpragung bezeichnet (vgl. LORENZ 1935, 1949; HESS 1959, 1973). Es kann sich hierbei um Pragung auf weiter gefai3te Merkmale wie die der Arten, Rassen oder besonderer Farbschlage handeln (siehe auch IMMELMANN 1972) oder um besonders eng begrenzte Pragung auf die Individualmerkmale der Eltern, die uns in diesem Rahmen besonders interessiert. 1) Mit Unterstiitzung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

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2. Tierpsychol., 43,287-294 (1977) @ 1977 Verlag Paul Parey, Berlin und Hamburg ISSN 0044-3573 / ASTM-Coden: ZETIAG

Aus dem Institut f u r Vogelforschung ,,Vogelwarte Helgoland" Wilhelmshaven

Pragungsbedingte Bindung von Kustenseeschwalbenkuken (Sterna paradisaea Pont.) an die Eltern und ihre Fahigkeit,

sie an der Stimme zu erkennen')

Von KARIN und KLAUS BUSSE

Mit 2 Abbildungen

Eingegangen am 26.1.1976 Angenommen am 2.6.1976

Abstract

To know how, to what extent and at what age tern chicks become attached to and able to recognize their parents, a natural population of arctic terns was observed under normal and under partially altered conditions of neighbouring territories. Chicks proved to be imprintable c n more than one parental pair both simultaneously and successively. Treadmill experiments between territories revealed that chicks normally recognize their parents' voice from the second day of life on.

1. Einleitung

Bei Vogeln besteht im allgemeinen wahrend der Zeit der Aufzucht und manchmal auch weit daruber hinaus eine enge Bindung zwischen den Eltern und ihren eigenen Kuken, welche eine Fremdaufzucht ausschlieflt.

Wenn die Geschlossenheit des Familienverbandes nicht durch raumliche Gegebenheiten wie Nistplatz und Reviertreue gewahrleistet ist, die ein Ver- wechseln der eigenen mit fremden Bruten verhindern, kann man sich die Indi- vidualselektivitat der Beziehungen nur durch ein fruhes personliches Erkennen bei Altvogel und/oder Kuken erklaren. Es kann auf der Wahrnehmung opti- scher und/oder akustischer Merkmale beruhen. Geruchliche schliei3en wir vor- erst als unwahrscheinlich aus.

Allgemein wurde das Zustandekommen einer durch Erfahrung erwor- benen Merkmals-Selektivitat im Verhalten vor allem bei Kiiken von Enten- vogeln nachgewiesen und als Objektpragung bezeichnet (vgl. LORENZ 1935, 1949; HESS 1959, 1973). Es kann sich hierbei um Pragung auf weiter gefai3te Merkmale wie die der Arten, Rassen oder besonderer Farbschlage handeln (siehe auch IMMELMANN 1972) oder um besonders eng begrenzte Pragung auf die Individualmerkmale der Eltern, die uns in diesem Rahmen besonders interessiert.

1) Mit Unterstiitzung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

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An Silbermowenkiiken (Larus argentatus) wies GOETHE (1955) Eltern- pragung nach. An Trottellummen (Uria aalge) zeigte TSCHANZ (1965) durch Lautsprecherversuche, dai3 deren Kiiken die elterlichen Stimmen schon vor dem Schliipfen kennen- und unterscheiden lernen. Ebenso erkennen die Altvogel ihre Kiiken, wenn diese ein gewisses Alter erreicht haben, an den individual- merkmalsreichen Stimmen (vgl. auch SCHOMMER und TSCHANZ 1975, dort weitere Angaben uber andere Arten).

An verschiedenen Seeschwalben-Arten wurde personliches Erkennen von Kiiken und Altvogeln wahrscheinlich gemacht oder nachgewiesen (WATSON 1908, ZEDLITZ 1911, CULEMANN 1928, TINBERGEN 1931, DIRCKSEN 1932, MARPLES 1934, BULLOUGH 194 1, PALMER 194 1, HUTCHISON, STEVENSON und THORPE 1968, RITTINGHAUS 1972). Manche Autoren schreiben die personliche Erkennungsfahigkeit mehr den Eltern zu, andere vornehmlich den Kiiken; einige betrachten sie allgemein, andere heben die Rolle des Stimmenerkennens hervor.

In der vorliegenden Arbeit sollen einige dieser Sachverhalte durch Be- obachtung und Versuch hauptsachlich an der Kiistenseeschwalbe (Steuna para- disaea) nachgepruft werden.

2. Material und Methode

Auf der Hallig Norderoog (54' 32' N; 8" 30' E; Vogelschutzgebiet des Vereins Jordsand zum Schutze der Seevogel e.V.) wurden in den Jahren 1973-1975 Beobachtungen und Ver- suche zur Klarung der Kiiken-Elternerkennung durchgefuhrt; Farbberingung und Gefieder- markierung erleichterten die Identifizierung der Tiere.

a) Allgemeine Beobachtungen und Versuche

Das Verhalten der unter natiirlichen Bedingungen lebenden Seeschwalben wurde mit dem unter teilweise veranderten Freilandbedingungen verglichen. Zur Priifung, wie sich Kiiken

1,

Abb. I : Im Vordergrund: Tretmiihlenversuch mir zwischen zwei Nachbarnestern aufgestellten Trommeln, die je ein Seeschwalbenkiiken von jedem Nest enthalten. T r l und Tr2: drehbare Trommeln; A: Anzeiger zum Merken der richtigen Richtung; S: Sichtschutz; U: verkleidete Schalloffnung. Hinten links: Zusammenschieben zweier Nester; St: sichttrennendes Brett mit kukengroflem Schlupf-

loch am Grunde zwischen beiden Nestern

Z: Zahlwerk, welches Vor- und Rucklauf unabhangig registriert;

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verhalten, denen beim Schliipfen mehr als ein Elternpaar geboten wird, wurden gleichaltrige (Altersbestimmung vgl. BUSSE 1975) Nachbarnester Schritt fur Schritt beidseitig an eine Trenn- wand herangeschoben (Abb. 1). Diese verhinderte den Sichtkontakt der auf beiden Nestern weiterbriitenden Altvogel, der bei dieser groben Unterschreitung der Individualdistanz zwangs- laufig heftige Aggressionen ausgelost hatte (BUSSE 1975). Die Nestmulden und deren Eier lagen bei dieser Anordnung derart dicht beieinander, dad die daraus schlupfenden Kiiken leicht durch ein am Grunde des Trennungsbretts befindliches Loch zum einen oder anderen Nest wechseln konnten.

Um zu klaren, wie weit Eltern ihre Kiiken auch an fremdem Orte wiedererkennen, und ob diese sich an fremde Eltern gewohnen lassen, wurden sie in einen Stall auderhalb des elter- lichen Nestrevieres gesetzt und beobachtet.

In diese Versuche wurden auder Kiistenseeschwalben auch einige FluRseeschwalben (S. hrrundo) einbezogen. Dies wird unten jeweils besonders vermerkt. z .

b) Tretmiihlenversuche

Um zu ermitteln, ob und wann die Kuken der Kiistenseeschwalben ihre Eltern an der Stimme zu erkennen beginnen, wurde je ein Junges aus benachbarten Nestern in je eine Tret- miihle gesetzt. Die Versuchsanordnung stand genau zwischen beiden Nestern. Hierzu mugten Gelegepaare gleichen Entwicklungsstandes ausfindig gemacht werden; wenn sie im Gelande zu weit voneinander entfernt lagen, wurden sie Schritt fur Schritt zusammengeschoben. Die Tretmuhlentrommeln, perforierte Blechdosen von 16 cm Durchmesser, waren sichtdicht, aber nicht schalldicht; jede hatte 2 Zahlwerke, von denen eines die in Umdrehungen umgesetzte Laufaktivitat des Kukens zum elterlichen Nest hin zahlte, wahrend das andere die zum fremden Nachbarnest registrierte. Um die Altvogel an ihr Nest zu binden, wurde dafiir gesorgt, daB sich stets weitere Kiiken oder Eier im Nest befanden. War kein ungeschlupftes Ei mehr vor- handen, so wurde eine Eiattrappe hineingelegt. (Alles Abb. 1 Vordergrund.) Mit dem Fern- glas stellten wir sicher, dad die Eltern auch wirklich vom Neststandort lockten. Nach etwa einer Viertelstunde wurde der Versuch wiederholt, nachdem die Anordnung des Tretmuhlen- paares um 180° gedreht worden war. Die Versuche fanden bei moglichst geringen Windstarken und nicht zu warmem Wetter statt. Das gewahlte MaR fur die Bevorzugung der ,richtigen" Antworten war der Quotient zwischen der Laufstrecke zum Elternnest und der Gesamtstrecke, gcmessen an den Zahlwerken, so dai3 der W e n 0,5 (oder 50 %) Gleichgiiltigkeit bedeutet. Zur statistischen Priifung wurden die Ergebnisse lediglich in richtige Antworten (richtiger Lauf- streckenanteil > 0,5) und falsche Antworten (richtiger Laufstreckenanteil < 0,5) eingeteilt. Dies ermoglichte die Priifung nach dem Xz-Test, bei dem 50% richtiger Antworten als Null- hypothese angenommen wurde. Dieses Verfahren wurde fur 4 willkiirlich gewahlte Alters- abschnitte einzeln angewandt.

3. Ergebnisse

a) Elternbindung der Kiiken

Am 1. Lebenstag reagieren die Seeschwalbenkuken meist ziemlich unspe- zifisch und nicht sehr intensiv auf die herannahenden Eltern; diese miissen dem oft nur schwach sperrenden Kiiken den mitgebrachten Fisch mehrmals reichen, bis er angenommen wird. Diese Erscheinung wurde bereits von RIT- TINGHAUS (1 969 a, b) bei verschiedenen Seeschwalbenarten beschrieben und gefilmt. Wenn man durch die Kolonie geht, antworten einige der frisch- geschliipften Kuken nach Abklingen des allgemeinen Koloniealarms auf ent- gegengehaltene Finger, Bleistifte und dergleichen, oder sie schnappen nach den langlichen Blattern der Bondestave (Lirnoniurn vufgare) oder der Strandmelde (Atr ipfex littoralis). Unter Umstanden betteln sie sogar Menschen an. Etwas altere Kuken reagieren auf das Eindringen in die Kolonie meist recht abwei- send, indem sie - je nach Alter - sich in die Nestmulde drucken oder in ein Versteck laufen, das sie sehr bald aufzusuchen lernen (ZEDLITZ 191 1). Wenige Tage alte Kiiken sperren sowohl die eigenen Eltern als auch fremde Alttiere an, wenn sie nur nahe genug vorbeifliegen. Das Anbetteln fremder Tiere wird aber bei 2-3 Tage alten Kiiken schwacher, wahrend es den eigenen Eltern

19 2. Tierpsydol., Bd. 43, Heft 3

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gegenuber in der Regel wesentlich intensiver auftritt. Das deutete BULLOUGH (1941) als Anzeichen, dai3 junge Kustenseeschwalben ihre Eltern erkennen. Es zeigt sich jedenfalls, dai3 die Kukeii innerhalb der ersten Lebenstage ihre Re- aktionen immer starker auf die eigenen Eltern ausrichten, bis sie zuletzt nur noch auf diese reagieren. Gleichzeitig nimmt die Ortsbeweglichkeit zu. Es scheint jedoch entgegen BULLOUGH'S Annahme nicht notwendig zu sein, dai3 die Kuken bei den Nachbarn schlechte Erfahrungen sammeln, damit sie lernen, diesen auszuweichen. Unter naturlichen Bedingungen durfte sich die Bindung der Kuken an ihre eigenen Eltern im Sinne einer Objektpragung innerhalb der ersten 3 Tage festigen. Wir konnten aber den Angaben von CULLEN (1956) entsprechend fremde Alttiere beim Futtern der Kuken beobachten, wenn die eigenen Eltern gerade abwesend waren. Bereits DESSELBERGER (1929) und DIRCKSEN (1 932) stellten ahnliches bei Brandseeschwalben ( S . sandvicensis) fest. Bei ganz jungen Seeschwalben konnten wir beobachten, dai3 sie sich in seltenen Fallen sogar von fremden Altvogeln hudern liei3en. kltere hingegen - kurz vor dem Fluggewerden - verjagten oftmals fremde Altvogel, die in ihr Revier eindrangen, durch direktes Drohen (vgl. CULLEN 1956, BUSSE 1975).

Da trotz der gelegentlichen Kontakte mit Fremden praktisch alle Kuken bei ihren Eltern blieben, und negative Erfahrungen mit Nachbarn entbehrlich sind, kann der individuellen Bindung ein Pragungsvorgang der Kuken zu- grundeliegen, etwa im Sinne von LORENZ (1935, 1949) oder HESS (1959, 1973), wobei die sensible Phase allerdings nicht so fruh abgeschlossen ist wie bei den nestfluchtenden Anatiden. Das Lernergebnis ist uber langere Zeit noch durch verschiedene Umstande zu verandern. Unter naturlichen Voraussetzun- gen scheint jedoch bei den Seeschwalben diese zeitlich und inhaltlich dehnbare Form von Pragung die Kontinuitat der Bindung der Kuken an ihre leiblichen Eltern zu gewahrleisten. Auf Norderoog wurden unter normalen Bedingungen nur wenige Ausnahmen festgestellt, bei denen zwei etwa zweitagige Kusten- seeschwalben zu einem Nachbarnest ubergewechselt waren, wo sie am Morgen nach einer regenreichen Nacht zusammen mit beiden Nesteigenen angetroffen wurden und auch dort blieben. Ein Kuken, eine etwa 11iz Wochen alte Flu& seeschwalbe, lief zwischen zwei Nachbarn hin und her, je nachdem wo gerade gefuttert wurde. Hungrige Seeschwalben betteln nach RITTINGHAUS (mundl. Mitt.) jeden Altvogel an. Verbreiteter scheint das Fremdbetteln bei jungen Silbermowen zu sein, die, bereits flugfahig, nach GOETHE (1955) fremde Alt- vogel anbetteln, obgleich sie in diesem Alter ihre Eltern mit Sicherheit noch kennen.

Unter experimentellen Bedingungen liei3en sich an Seeschwalben Eltern- wechsel leicht hervorrufen, und zwar an den unter 2 a) beschriebenen zusam- inengeschobenen Nestern, zwischen denen ein Brett mit Schlupfloch stand. Bei diesen Versuchen blieben von 17 Kuken 11 im elterlichen Nest, in welches sie auch nach mehrmaligem Umsetzen im Alter von 1-4 Tagen immer wieder heimkehrten. Von den restlichen wechselten 4 unmittelbar nach dem Schlupfen durch das Loch zu den Nachbareltern uber; auch nach mehrmaligem Zuruck- setzen liei3en sich 2 davon nicht mehr an ihre eigenen Eltern gewohnen, was Lei den beiden anderen noch am 4. Lebenstag gelang. Bei einem weiteren Nach- barpaar liei3en sich 2 von den Kuken sogar wahrend der ersten 5 Tage noch beliebig hin und hersetzen, ohne sofort zuruckzulaufen. Bis zum 4. Tag waren sie in einem Zustand der ,,Vierelterlichkeit" und wechselten freiwillig dorthin, wo gerade gefuttert wurde. AnschlieBend hatten sich die Reviere beider Elternpaare derart vom Brett entfernt, dai3 jedes bei den fremden Eltern blieb. Eine kunstlich herbeigefiihrte ,,Mehrelterlichkeit" kann sich als instabiles

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Gleichgewicht - wahrscheinlich zwischen der bindenden doppelseitigen Pra- gung des Kukens und dem trennenden Revierverhalten der Eltern - kurz- fristig halten. Es kippt jedoch fruher oder spater zugunsten des einen Eltern- paares um.

Auch altere Kuken lassen sich unter Umstanden noch an fremde Eltern gewohnen. So nahmen verschiedene solcher Kiiken, die in ein Freigehege aus Maschendraht gesetzt wurden, nach kurzer Gewohnungszeit Nahrung von dem Kustenseeschwalben- 8 ,,Orangeflugel" an, zu dessen Revier das Gehege ge- horte. Ein Kuken einer Flufiseeschwalbe war schon 14-20 Tage alt, als es den artfremden Pflegevater kennenlernte, bei dem es auch nach dem Fluggewerden blieb. Ein Kustenseeschwalbenkuken wurde vom 10. Lebenstag an von ,,Orange- flugel" und gelegentlich von dessen 9 gefuttert. Bei Abwesenheit der Revier- inhaber futterte auch der leibliche Vater ,,Schwarz", zu dem es nach dem Fluggewerden zuriickkehrte.

Die genannten Erscheinungen deuten auf ein gewisses Zusammenspiel zwi- schen einem starren Pragungsergebnis und einer Umlern- oder Dazulernfahig- keit, die an Silbermowen nach Dressurversuchen von DROST (1968) noch wesentlich weiter reicht.

Die alten Seeschwalben futterten bei unseren Versuchen unterschiedlos cigene sowie fremde jungere Kuken, wenn sie nur bettelten. Die Bindung beruht demnach wahrscheinlich in der Hauptsache auf dem selektiveren Ver- halten der Kuken. Die Freigehegeversuche zeigen aber andererseits auch, dafi die Eltern ihren verschleppten Kuken folgten, wenn diese alt genug waren, wobei manches auf akustische Erkennungsfahigkeit deutet.

b) Das Erkennen der elterlichen Stitnme

Oft konnte beobachtet werden, dafi Kuken durch alleiniges Horen der Stimme ihre Eltern erkannten. Sie verhielten sich trotz des Kolonielarms und der vielen mit Beute einfliegenden Altvogel ruhig. Plotzlich reckten sie als Ant- wort auf eine bestimmte Stimme die Halse und begannen zu betteln, of t in einer falschen Richtung, wenn das Gestrupp einen Sichtkontakt ausschloi3, bis die Eltern bei ihnen mit der Beute einfielen. Die Stimme spielt also wohl bei der Elternerkennung eine entscheidende Rolle. Im Anschlui3 an diese Beobach- tungen wurde das Erkennen der elterlichen Stimme experimentell untersucht. Zu diesem Zweck kamen die Kuken in die bereits beschriebenen Tretmuhlen (2 b und Abb. 1 Vordergrund) zwischen 2 benachbarte Nester. Sobald die Alten wieder auf ihren Nestern einfielen, begannen sie zu locken, worauf die Kuken die Tretmuhlen samt Zahlwerk in Bewegung setzten, indem sie auf die Lockrufe zuliefen. Vom 2. Lebenstage an liefen sie statistisch signifikant mehr zum elterlichen Nest, d. h. sie wahlten uberwiegend richtig (Abb. 2); dies weist auf eine Erkennungsfahigkeit fur die elterliche Stimme hin, spatestens von diesem Tage an. Trottellummen sind bereits vor dem Schliipfen d a m fahig (TSCHANZ 1959, 1965, 1968). Es mui3 bei den Tretmuhlenversuchen beruck- sichtigt werden, dai3 dabei nicht die Erkennung direkt gemessen wurde, son- dern lediglich die gerichtete Bewegungsaktivitat, die vom Alter und anderen Faktoren wie Kalte, Hunger, usw. beeinflufit wird. Der absolute Wert der zuruckgelegten Strecken variierte sehr stark. Es wurde daher der ,,richtige" Laufanteil an der Gesamtstrecke angegeben. Von den sehr jungen Kuken liefen viele uberhaupt nicht, einige nur wenig; altere dagegen bisweilen sehr viel; aber auch von diesen schliefen manche beim Versuch ein und schienen sich in der Trommel recht wohl zu fuhlen. Wenn die Anordnung im Gelande offen

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D - - = Y -

0- . .

Abb. 2: Anteil der Laufstrecke von Kiistenseeschwalbenkiiken in einer Tretmiihle zum elter- lichen Nest, bezogen auf die gelaufene Gesamtstrecke. D : Einzelwerte; +: Schnittpunkte der Mittel der Laufstreckenanteile und der Altersmittel der jeweiligen Altersgruppe. 50 %-Linie: Erwartungswert bei Verwechslung der elterlichen mit der fremden Stimme; 100%: nur in elterliche Richtung gelaufen, 0 % nur in nachbarliche Richtung. XZ-Test, nach dem alle Ant- worten iiber der 50 %-Linie als ,,richtig", darunter als ,,falsch" gewertet wurden. Nicht

laufende Kiiken wurden nicht beriicksichtigt. p: Irrtumswahrscheinlichkeit

stehen blieb, kletterten manche nach dem Versuch freiwillig wieder in den Zylinder zuruck. Altere Kiiken gehen, wenn sie satt sind, oft spazieren (BUL- LOUGH 1941), was sich wahrend der Prufung in einer erhohten Umdrehungs- zahl in falscher Richtung auswirkte. Es ist daher leicht erklarlich, daf3 auch bei einigen alteren Kuken gelegentlich die falschen Antworten uberwogen.

4. Diskussion

Sowohl aus den Beobachtungen als auch aus den akustischen Versuchen geht hervor, daf3 die Seeschwalbenkuken in steigendem Maf3e ihr Verhalten auf ihre Eltern ausrichten, und in ihnen eine durch Erfahrung erworbene person- liche Bindung an letztere entsteht. Die dazu erforderliche Erkennungsfahigkeit entwidrelt sich bei den Kuken wesentlich schneller als bei den Altvogeln, die wohl kaum in der Lage sind, ihre eigenen Eier oder jungere Kuken von frem- den zu unterscheiden. O b ein Altvogel ein Junges annimmt oder angreift, durfte im wesentlichen vom Verhalten des Kuken abhangen.

Bei der Erkennung spielt auf3er der Moglichkeit optischer bestimmt auch akustische Wahrnehmung eine Rolle; diese ermoglicht auch ein Auffinden in hohem Gras oder gar im Dunkel der Nacht.

Die immer spezifischer werdende Bindung an die Eltern wachst mit der Lauftuchtigkeit bzw. Ortsbeweglichkeit der Kuken, aber nur so weit, dai3 sie im Normalfall einen Elternwechsel ausschlieflt. Wirkt man der anfanglichen Bewegungsuntuchtigkeit der Kuken durch das Zusammenrucken von Nestern kunstlich entgegen (Versuche unter 2 a), so wird die anfangliche Beweglich- keitsschranke aufgehoben, bevor sich die Schranke der Erkennungsfahigkeit ausreichend entwickelt hat, und es kommt zu Elternwechsel. Dabei ergab sich

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oft, dai3 einer von den Nachbarn mehr Kuken erhielt, als er aufziehen konnte, und der andere leer oder fast leer ausging. Eine Funktion der interfamiliaren Schranke lage demnach in einer gleichmai3igen Verteilung der Kuken, vielleicht auch in einer Artisolierung der manchmal nebeneinander brutenden Flu& und Kustenseeschwalben. Der hierdurch erreichte Selektionsvorteil steht jedoch wahrscheinlich im Gleichgewicht mit der Erscheinung, dai3 sich Kuken im Not- fall doch manchmal an fremde Eltern gewohnen konnen; dies stellt offensicht- lich auch einen Oberlebensvorteil dar, so dai3 der beobachtete Grad an Spezi- fitat der Bindung einen Kompromii3 zwischen den Vor- und Nachteilen einer allzu engumgrenzten und einer allzu weitlaufigen Elternbindung darstellt.

Danksagung

An dieser StelIe sei gedankt: Fur wertvolle Anregungen Herrn Prof. Dr. Dierk FRANCK (Zool. Inst. Hamburg), Herrn Dr. Friedrich GOETHE (Inst. f. Vogelforschung Wilhelmshaven), Herrn Hans RITTINGHAUS (ebenda), dem Vorstand des Vereins Jordsand c/o Herrn Dr. Joachim MUNZINC f u r die Ermoglichung der Arbeiten auf Norderoag, Herrn Peter MEESENBURC und Frau fur wertvolle Ideen und Unterstutzung bei der Freilandarbeit; Herrn Prof. Dr. Eberhard CURIO (Ruhr-Universitat Bornurn) fur die kritische Durchsicht des Manuskripts.

Zusammenfassung

Das Verhalten der Kuken der Kustenseeschwalben (Srerna paradisaea) wird in den ersten Lebenstagen immer spezifischer auf die eigenen Eltern aus- gerichtet. Die durch Pragung erworbene Erkennungsfahigkeit ist hauptsachlich den Kuken eigen. Sie lernen ihre Eltern an der Stimme von Fremden zu unter- scheiden und bevorzugen sie selektiv vom 2 . Lebenstag an. Die hier gezeigte Pragung hat allerdings nicht eine derart starre und zeitlich begrenzte Form, wie es fur diese Erscheinung sonst typisch ist; vielmehr ist sie durch zusatzliche Erfahrung auch noch nachtraglich veranderbar.

Summary

Attachment of Arctic Tern Chicks (Stemu purudisueu) to their Parents by Means of Imprinting, and their Abi!ity to Recognize the Parents by Voice

The behaviour of chicks of the arctic tern (Sterna paradisaea) in the first days of life becomes more and more exclusively directed towards their own parents. The recognition is basically due to the chicks who acquire this ability by means of an imprinting process. They learn to recognize their parents’ voices, which are preferred to those of others from the second day of life on. The imprinting process shown here is somewhat atypical in its form and sensitive period and can to some extent be influenced by further experience.

Resumen

Ligamiento de 10s polluelos del charrdn drtico (Sterna purudisuen) hacia sus padres y habilidad de reconocerlos por la voz

El comportamiento de polluelos del charrLn Lrtico (Sterna paradisaea) en 10s primeros dias de vida comienza a ser dirigido mis y mLs especificamente

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hacia 10s propios padres. La habilidad de reconocerlos, que es adquirida por experiencia temprana, recide fundamentalmente en 10s polluelos, 10s que aprenden a diferenciar la voz de sus padres de 10s demis mostrando preferencia por 6sta a partir del segundo dia de vida. Sin embargo la especificidad ad- quirida no es tan indeleble como en la generalidad de 10s casos de “imprinting”, pudiendo ser alterada por experiencia adicional.

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Anschrift der Verfasser: Karin BUSSE, Butjadinger Strage 32, 2940 Wilhelmhaven; Klaus BUSSE, Institut fur Vogelfo.rschung ,,Vogelwarte Helgoland“, An der Vogelwarte 21, 2940 Wilhelmshaven.