Praxisnetze – Innovation des Gesundheitssystems Netzärzte im Versorgungsalltag

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lungs- und Gewährleistungsauftrages durch die Kassenärztlichen Vereinigun- gen wird unmöglich. Selbstselektion der Versicherten, aktive Risikoselektion der Krankenkassen und Rosinenpicke- rei auf seiten der Ärzteschaft bedeuten jedoch das Ende des Solidarsystems der GKV. Heute geht es hier – auf einem Fach- seminar – um die Fragen, ob und wie durch vernetzte Strukturen die Knapp- heit begrenzter Mittel besser verwaltet und die medizinische Versorgung unter den Bedingungen knapper Ressourcen in ihrer Qualität gesichert werden können. Auch wenn wir uns dabei vorwiegend auf die Fragen netzinterner Steuerung konzentrieren werden, muß in dieser Diskussion gleichwohl auch die Einbin- dung der Netzstrukturen in das System der solidarische Versorgung berücksich- tigt werden. Nachdem die Bundesge- sundheitsministerin den Repräsentan- 4. Können und sollten Netze Budget- Verantwortung übernehmen? 5. Wer wird im Hinblick auf diese Fra- gen die Verantwortung für eine ent- sprechende Umgestaltung des Ver- sorgungssystems übernehmen? Für die anstehende Diskussion um die Weiterentwicklung des Gesundheits- systems müssen wir Anworten finden hinsichtlich sinnvoller Strukturen, die das Versorgungssystem optimieren und eine optimale Nutzung der dafür zur Verfügung gestellten Mittel erlauben. Dr. Winfried Schorre 1.Vorsitzender der KBV Herbert-Lewin-Straße 3 D-50931 Köln Referat Königswinter 3/99 ten der deutschen Ärzteschaft nun ein- deutig erklärt hat, daß der Gesetzgeber nicht daran denkt, den KVen den Si- cherstellungsauftrag zu nehmen, haben wir die Hoffnung, daß Einkaufsmodelle mit der Definitionsmacht auf seiten der Krankenkassen wirklich vom Tisch sind. Um vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis die mögliche Bedeutung von Praxisnetzen und sektorübergrei- fend vernetzter Strukturen im Rahmen der kommenden Reform präzisieren zu können, bedarf es sicherlich noch der Klärung einiger grundsätzlicher Fra- gen, wie z.B.: 1. Wie könnte ein ambulantes ärztliches Qualitätsmanagement aussehen? 2. Welche Bedeutung hat Fall-Manage- ment? 3. Welche Honorierungsformen sind diesen anzustrebenden Versorgungs- formen angemessen? Der Internist 7·99 | M 203 Mitteilungen BDI C.Tophoven Praxisnetze – Innovation des Gesundheitssystems Netzärzte im Versorgungsalltag In einem Haifischbecken kommt es – wie in jedem Ökosystem – auf den Erhalt der biologischen Balance an. Die Balance sichert dem System das Überleben. Das Ökosystem wird nicht besser, wenn man Störenfriede ausrottet. Es kippt und alle verlieren ihren Lebensraum. In der Kassenärztlichen Vereini- gung (KV) kristallisiert sich für viele Ärzte ein Kernproblem ihrer beruflichen Existenz. Sie haben einen freien Beruf gewählt, werden aber als niedergelasse- ner Arzt aus der Mitverantwortung für ein solidarisch finanziertes Gesund- heitssystem nicht entlassen. Je enger die finanziellen Spielräume der GKV wur- den in den letzten 10–15 Jahren, desto en- ger wurden die Budgetgrenzen. Die Frei- heit des Gefängnisinnenhofs ist keine at- traktive Perspektive. Entbindet man die KVen von ihren körperschaftlichen Funktionen – entbindet man die KVen von der Pflicht, ihre Mitglieder tagtäg- lich in diesen Spagat zu zwingen – so er- zeugt man eine Dynamik, deren Auswir- kungen nicht abzuschätzen ist. Eine Dy- namik, die die System-Balance zwischen Stabilität und Flexibilität gefährdet. Diese Balance ist aber eine Existenzbedingung für ein patientenorientiertes verläßli- ches Gesundheitssystem. Innovative Suchstrategie Im Gefängnisinnenhof – wie auch sonst im Leben – kommt es darauf an, Balance zu halten. Auch in emotionaler Hinsicht – denn „Freud muß Leid und Leid muß Freude haben“ (Goethe).Es war der Ver- lust dieser Balance zwischen Freud und Leid, der viele Ärzte zur Gründung von Praxisnetzen veranlaßt hat. Netzärzte haben versucht, bessere Antworten auf viele Fragen des Versor- gungsalltags zu finden. – Wie sichere ich für Schwerstkranke, Pflegebedürftige und sterbende Men- schen eine ambulante Betreuung? Wie organisiere ich für Menschen mit psychosozialen Problemen flankie- rend eine Sozialbetreuung. – Wie sichere ich für einen Diabetiker Versorgungskontinuität? Die Verzah- nung zwischen Hausarzt/Facharzt und Krankenhaus ist ein entschei- dender Fortschritt. Aber er reicht

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lungs- und Gewährleistungsauftragesdurch die Kassenärztlichen Vereinigun-gen wird unmöglich. Selbstselektionder Versicherten, aktive Risikoselektionder Krankenkassen und Rosinenpicke-rei auf seiten der Ärzteschaft bedeutenjedoch das Ende des Solidarsystems derGKV.

Heute geht es hier – auf einem Fach-seminar – um die Fragen, ob und wiedurch vernetzte Strukturen die Knapp-heit begrenzter Mittel besser verwaltetund die medizinische Versorgung unterden Bedingungen knapper Ressourcen inihrer Qualität gesichert werden können.Auch wenn wir uns dabei vorwiegendauf die Fragen netzinterner Steuerungkonzentrieren werden, muß in dieserDiskussion gleichwohl auch die Einbin-dung der Netzstrukturen in das Systemder solidarische Versorgung berücksich-tigt werden. Nachdem die Bundesge-sundheitsministerin den Repräsentan-

4. Können und sollten Netze Budget-Verantwortung übernehmen?

5. Wer wird im Hinblick auf diese Fra-gen die Verantwortung für eine ent-sprechende Umgestaltung des Ver-sorgungssystems übernehmen?

Für die anstehende Diskussion um dieWeiterentwicklung des Gesundheits-systems müssen wir Anworten findenhinsichtlich sinnvoller Strukturen, diedas Versorgungssystem optimieren undeine optimale Nutzung der dafür zurVerfügung gestellten Mittel erlauben.

Dr. Winfried Schorre1.Vorsitzender der KBVHerbert-Lewin-Straße 3D-50931 KölnReferat Königswinter 3/99

ten der deutschen Ärzteschaft nun ein-deutig erklärt hat, daß der Gesetzgebernicht daran denkt, den KVen den Si-cherstellungsauftrag zu nehmen, habenwir die Hoffnung, daß Einkaufsmodellemit der Definitionsmacht auf seiten derKrankenkassen wirklich vom Tisch sind.

Um vor dem Hintergrund dieserErkenntnis die mögliche Bedeutungvon Praxisnetzen und sektorübergrei-fend vernetzter Strukturen im Rahmender kommenden Reform präzisieren zukönnen, bedarf es sicherlich noch derKlärung einiger grundsätzlicher Fra-gen, wie z.B.:

1. Wie könnte ein ambulantes ärztlichesQualitätsmanagement aussehen?

2. Welche Bedeutung hat Fall-Manage-ment?

3. Welche Honorierungsformen sinddiesen anzustrebenden Versorgungs-formen angemessen?

Der Internist 7·99 | M 203

Mit

teilu

ng

en BDI

C.Tophoven

Praxisnetze – Innovationdes GesundheitssystemsNetzärzte im Versorgungsalltag

In einem Haifischbecken kommt es –wie in jedem Ökosystem – auf den Erhaltder biologischen Balance an.Die Balancesichert dem System das Überleben. DasÖkosystem wird nicht besser, wenn manStörenfriede ausrottet. Es kippt und alleverlieren ihren Lebensraum.

In der Kassenärztlichen Vereini-gung (KV) kristallisiert sich für vieleÄrzte ein Kernproblem ihrer beruflichenExistenz. Sie haben einen freien Berufgewählt, werden aber als niedergelasse-ner Arzt aus der Mitverantwortung fürein solidarisch finanziertes Gesund-heitssystem nicht entlassen. Je enger diefinanziellen Spielräume der GKV wur-den in den letzten 10–15 Jahren,desto en-ger wurden die Budgetgrenzen. Die Frei-heit des Gefängnisinnenhofs ist keine at-

traktive Perspektive. Entbindet man dieKVen von ihren körperschaftlichenFunktionen – entbindet man die KVenvon der Pflicht, ihre Mitglieder tagtäg-lich in diesen Spagat zu zwingen – so er-zeugt man eine Dynamik, deren Auswir-kungen nicht abzuschätzen ist. Eine Dy-namik, die die System-Balance zwischenStabilität und Flexibilität gefährdet.DieseBalance ist aber eine Existenzbedingungfür ein patientenorientiertes verläßli-ches Gesundheitssystem.

Innovative Suchstrategie

Im Gefängnisinnenhof – wie auch sonstim Leben – kommt es darauf an, Balancezu halten. Auch in emotionaler Hinsicht– denn „Freud muß Leid und Leid muß

Freude haben“ (Goethe).Es war der Ver-lust dieser Balance zwischen Freud undLeid, der viele Ärzte zur Gründung vonPraxisnetzen veranlaßt hat.

Netzärzte haben versucht, bessereAntworten auf viele Fragen des Versor-gungsalltags zu finden.

– Wie sichere ich für Schwerstkranke,Pflegebedürftige und sterbende Men-schen eine ambulante Betreuung?

– Wie organisiere ich für Menschen mitpsychosozialen Problemen flankie-rend eine Sozialbetreuung.

– Wie sichere ich für einen DiabetikerVersorgungskontinuität? Die Verzah-nung zwischen Hausarzt/Facharztund Krankenhaus ist ein entschei-dender Fortschritt. Aber er reicht

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nicht aus, um es einem Diabetiker inseinem Alltag zu ermöglichen, mitseiner Krankheit adäquat umzuge-hen.

Natürlich hat auch der Vergütungsall-tag viele Ärzte inspiriert, über Praxis-netze nachzudenken. Ihre Leidfragensind:

– Wie gelingt uns der Ausstieg aus demHamsterrad?

– Wie eröffne ich neue Einkommens-spielräume?

– Wie sichere ich meine ökonomischeExistenz?

Aus all diesen Bemühungen entstandein dezentraler Suchprozeß nach Inno-vation. Um diesen Weg weiterzugehen,brauchen Praxisnetze Zeit und Spiel-räume. Diese Spielräume kann die Ge-sundheitsreform 2000 ihnen geben.

Das Eckpunktepapier betont dieNotwendigkeit eines Transformations-prozesses. Aus gesundheitspolitischerPerspektive geht es um die Integrationvon Gesundheitsförderung, Kuration,Pflege und Rehabilitation und um dieZusammenführung medizinischer undwirtschaftlicher Verantwortung.

Wenn aber Praxisnetze zum Be-standteil der Regelversorgung werden,steigen die Anforderungen. Praxisnetzeverlieren ihren vorrangig experimen-tellen Charakter. Professionalisierungin Bezug auf bestimmte Mindestkriteri-en wird notwendig. Dieser Entwick-lungsprozeß wird für Praxisnetze eineschwierige Phase. Was als selbstbe-stimmter Versuch – als Gegenbewe-gung zum System manchmal auch zurKV – begann, wird sich als integralerBestandteil des Gesundheitssystemsbewähren müssen. Aus der Systemper-spektive stellen sich Anforderungen anPraxisnetze, die diese für sich z.T. sonoch nicht formulieren würden.

AnforderungsprofilQualitätsmanagement

Exemplarisch läßt sich am ambulantenärztlichen Qualitätsmanagements inPraxisnetzen zeigen, welche Anforde-rungen auf Praxisnetze zukommen.Ambulantes Qualitätsmanagement isteine zentrale Voraussetzung für dieÜbernahme der Budgetverantwortungund damit für die Zusammenführung

pflichtungen umzugehen. Denn wel-cher Patient wünscht sich einen Arzt,der – egal ob Hausarzt oder Facharzt –beim Gespräch nicht mehr seinen Pati-enten ansieht, sondern auf seinenComputer schaut.

Außerdem reicht ein internes Qua-litätsmanagement als Basis für dieÜbernahme der Budgetverantwortungnicht aus. Netze müssen dokumentie-ren, daß in ihren Reihen „Ethik vor Mo-netik“ geht. Es wird also eine Rahmen-konzeption für Netze zur Qualitätssi-cherung geben müssen. Diese legt fest,welche Qualitätsindikatoren verbind-lich zu dokumentieren sind. Damit ent-stehen Aufgreifkriterien für gezielte Ri-sikoselektion und Rationierung, diedann entsprechende Sanktionen nachsich ziehen müssen.

Stellt sich die Frage, wer über-nimmt diese Aufgabe externer Quali-tätssicherung für Praxisnetze. Es gibtdrei Kandidaten: Die Krankenkassen,die Aufsichtsbehörden oder die Kassen-ärztlichen Vereinigungen.

Mit Sicherheit lassen sich die ebenskizzierten Aufgaben im Bereich desQualitätsmanagements nicht en pas-sent erledigen. Das kostet Zeit und da-mit Geld. In Praxisnetzen müssen sichauch entsprechende Finanzierungs-spielräume für die Umsetzung einesambitionierten ärztlichen Qualitätsma-nagements ergeben.

Anforderungsprofilnetzeigene Budgets

Um eine Zusammenführung medizini-scher und wirtschaftlicher Verantwor-tung zu erreichen, wird es parallel umdie Entwicklung netzeigener Budgetsund spezifischer Honorierungssystemegehen. Mal vorausgesetzt, daß konse-quentes Qualitätsmanagement und dieentsprechenden ökonomischen Anreizezur Mobilisierung von Rationalisie-rungsreserven in Praxisnetzen führen,erhalten Praxisnetze finanzielle Spiel-räume. Sie können ihr Qualitätsmana-gement, also die weitreichenden Doku-mentationspflichten, Audit- und Bench-markingverfahren finanzieren.

Mal vorausgesetzt, mobilisierte Ra-tionalisierungsreserven verbleiben dau-erhaft dem Netz, entstehen Spielräumezum Abbau von Überkapazitäten imNetz. Ein Netz kann in seine langfristi-ge Effizienz investieren, indem es Still-

wirtschaftlicher und medizinischer Ver-antwortung.

Wie könnte ein ambulantes ärztli-ches Qualitätsmanagement in einemPraxisnetz aussehen? Zunächst ist aufBundesebene einheitlich und gemein-sam mit den Krankenkassen indikati-ons- und prozeßbezogen zu definieren,was ausreichend, zweckmäßig und not-wendig ist. Damit wird eine Null-Liniebeschrieben, unter die kein Arzt gehenwird, auch wenn er von Mengenreduk-tion ökonomisch profitiert.

Zum Zweiten muß Transparenz ge-schaffen werden. Zumindest netz-in-tern muß deutlich werden, ob Behand-lungskorridore eingehalten werden bzw.warum sie verlassen werden. Sind Ab-weichungen medizinisch oder ökono-misch motiviert? Geht es um Rationie-rung? Oder geht es um die in jeder Pra-xis unvermeidbare tagtägliche Varianzdes Behandlungsgeschehens?

Fachlich kommt eine Mammut-Aufgabe auf das Gesundheitssystem zu.Wir brauchen eine breite Diskussionum Leitlinien. Wir brauchen struktu-rierte Dokumentationsdatensätze, nichtnur für Diabetes, sondern für weitereIndikationen, wie z.B.Asthma, Rheuma,Hypertonie, Schilddrüse, Zwölffinger-darmgeschwüre, Depression. Keineleichte Aufgabe und sie wird nichtleichter, wenn die Politik die Ärzte-schaft marginalisiert und den medizi-nischen Sachverstand schwerpunktmä-ßig bei den Kassen ortet.

Und dann, wenn die inhaltlichenVoraussetzungen geschaffen sind, gehtes nur noch „um eine neue Kultur ärzt-lichen Handelns“. Diese läßt sich nichtverordnen. Hier geht es um fachlicheOberzeugung und Motivation. Im Kon-text von Praxisnetzen bieten sich na-türlich Netzzirkel an, um die entspre-chenden Routinen einzuüben. Wahr-scheinlich sind Praxisnetze auch dergeeignete kollegiale Rahmen, den Um-gang mit Audit- und Benchmarking-Verfahren zu erlernen: Sich also derTatsache zu stellen, daß man stetig eineRückkopplung darüber erhält, ob manein „guter Arzt“ im Sinne der Netzzieleist. Auch, wenn man dieses Feedbacknur alleine im stillen Kämmerlein er-hält, man muß lernen, sich diesen Tat-sachen zu stellen und konstruktiv da-mit umzugehen. Man muß ganz amRande auch Verfahren finden im Pra-xisalltag mit den Dokumentationsver-

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legungsprämien zahlt, z.B. für überzäh-lige Röntgengeräte.

Aber wie kalkuliert man netzeige-ne Budgets unter dem Dach einer Ge-samtvergütung ohne, und das ist dieentscheidende Frage, die umfassendeflächendeckende Versorgung der Be-völkerung zu gefährden.

Derzeit werden z.T. netzeigeneBudgets auf der Basis historischer Pra-xisbudgets bzw. des Punktzahlvolu-mens der teilnehmenden Ärzte kalku-liert. Dieses Verfahren wird problema-tisch, wenn Netze Budgetverantwor-tung für die Versorgung ihrer Versi-cherten bzw. ihrer Patienten überneh-men. Das Netzbudget für ärztlicheLeistungen ist ein Preis für die Über-nahme des Sicherstellungsauftrages fürein bestimmtes Versorgungssegment.Der Gesamtpreis sozusagen für diehaus- und/oder fachärztliche Versor-gung einer bestimmten Anzahl Versi-cherter.

Aber die Summation der Praxis-budgets bildet Patientenkarrieren undStröme weder als Ist- noch als Sollgrö-ße ab.

Ausgangsbasis könnten die alters-standardisierten durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben der Versicherten sein.Diese variieren in Abhängigkeit von derVersorgungsregion und zwischen ein-zelnen Kassen und Kassenarten. Ver-werfungen werden auftreten, wenn vie-le gesunde Versicherte aller Altersgrup-pen für ein bestimmtes Praxisnetz vo-tieren. Schon bei der Budgetablösungmüssen Ausgleichseffekte für impliziteSelektionswirkungen vorgesehen wer-den. Anderenfalls würde das Solidari-tätsprinzip unterhöhlt.

Auf der Ebene der operativen Um-setzung ergeben sich also ausreichendProbleme. Hierzu müssen Antwortengefunden werden, wenn die Gesamtver-gütung nicht zum Steinbruch für Pra-xisnetze werden soll. Das kann die Ge-sundheitspolltik eigentlich nicht wol-len, da Verhandlungen über die Ge-samtvergütung als sektorales Budgetfür ärztliche Vergütung vollkommen ababsurdum geführt werden, wenn nie-mand sagen kann, über welche Restgrö-ße für wie viele Ärzte und für welcheVersorgungssegmente man eigentlichspricht. Wer aber übernimmt die Ver-antwortung, daß die Ablösung vonBudgetmitteln die Sicherstellung einerumfassenden ärztlichen Versorgung

differenziertes Vertragssystem sein, daseine Rahmenordnung für Praxisnetzeschafft. Ziel der Rahmenordnung ist es,die Balance zu wahren zwischen einerwettbewerblichen Orientierung undsozialstaatlichen Zielen.

Vertragspartner der Strukturver-träge auf Bundesebene sollten die KBVund die Krankenkassen (einheitlichund gemeinsam) sein. Aufgabe der Ver-tragspartner ist es, eine Rahmenord-nung für integrierte Versorgungsfor-men als Bestandteil der Regelversor-gung zu entwickeln und Mindestkrite-rien für die Übernahme der Budgetver-antwortung zu vereinbaren. In diesemZusammenhang können Krankenkas-sen verpflichtet werden, definierte ver-sorgungsrelevante Dienstleistungsan-gebote der Praxisnetze vertraglich zuakzeptieren, auch wenn dies öffentlicheGüter sind. Auf Landesebene konkreti-sieren KVen und die Landesverbändeder Krankenkassen die Rahmenverein-barungen entsprechend ihres regiona-len Bedarfs. Einheitliche und gemeinsa-me Verträge empfehlen sich nicht, da jaauch die Verträge zur Gesamtvergütungkassenartenspezifisch geschlossen wer-den. Unterhalb dieser Rahmenordnungkönnen Praxisnetze, KVen und Kran-kenkassen bzw. Gruppen von Kranken-kassen netzspezifische Strukturverträ-ge schließen. Nach zwei bis drei Jahrenentsteht ein grundsätzliches Zutritts-recht für weitere Krankenkassen. Aufder Netzebene können mehrseitige Ver-träge geschlossen werden, mit denenKrankenhäuser und komplementäreHeilberufe direkt in die Vertragsver-handlungen eingebunden werden.

Eine stringente Rahmenordnungfür integrierte Versorgungsformen si-chert dem Gesundheitssystem ausrei-chende Stabilität und die Orientierungan Solidarzielen. Innerhalb dieser Rah-menordnung kann Wettbewerb ein In-strument sein, mehr Effektivität undEffizienz zu erreichen.

Eckpunkte für die Weiter-entwicklung der gesetzlichenRahmenbedingung

Als Eckpunkte für die Weiterentwick-lung der gesetzlichen Rahmenbedin-gungen für integrierte Versorgungsfor-men läßt sich folgendes diskutieren:

Strukturverträge beziehen sich aufdie verantwortliche Übernahme von

nicht gefährdet? Auch hier gibt es wie-der drei mögliche Kandidaten: DieKrankenkassen, die Aufsichtsbehördenoder die KVen.

Kassenärztliche Vereinigungen– funktionaler Bestandteil desGesundheitssystems

Für den anstehenden Transformations-prozeß im deutschen Gesundheitssy-stem braucht man Kassenärztliche Ver-einigungen. Sie sind ein Garant dafür,daß die Balance zwischen Stabilität undFlexibilität gewahrt bleibt. Natürlichstößt diese Erkenntnis nicht auf unge-teilte Begeisterung, weder bei den Kas-sen noch bei der Ärzteschaft. Aber auchdie Erkenntnis, daß eine selbstverwalte-te „Regulierungsbehörde“ mit Kunden-orientierung besser ist, als Fremdbe-stimmung, muß sich erst durchsetzen.

Vertragspartner auf derKassenseite – Monopol oderWettbewerb?

Das Gesundheitssystem steht mit demAufbau integrierter Versorgungsan-gebote vor einer umfangreichen Ent-wicklungsarbeit. Verfahren, Strukturen,Macht und Einkommenspositionen ste-hen zur Disposition. Dieser Transfor-mationsprozeß kostet Zeit, Know-howund Geld. Zusätzliche Overhead-Kostenentstehen, wenn wettbewerblich orien-tierte Kassen jeweils für ihre prioritärenVersorgungskonzepte, für ihre bevor-zugte Versichertenklientel separate Ent-wicklungen verlangen.Erschwerend tritthinzu, daß die zentralen Arbeitsinhalteder Praxisnetze, nämlich Integration,Qualitätsmanagement, patientenorien-tiertes Case Management aus Sicht derwettbewerblich orientierten Kassen nuröffentliche Güter sind. Mit Investitionenin diesen Bereichen erzielen Kassen kei-ne komparativen Wettbewerbsvorteile.Der Kassenwettbewerb bindet mit an-deren Worten Know-how und Finanz-mittel auf Nebenschauplätzen.

Andererseits entsteht bei einemdurchgängig einheitlich gemeinsamenVertragssystem ein Nachfragermono-pol. Monopole können höchst unbe-weglich sein. Die Innovationskraft derLeistungsanbieter ist in den letzten Jah-ren gewachsen. Ob sie ausreicht, mußsich erst noch zeigen. Eine pragmati-sche Lösung könnte ein mehrstufiges

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Mit

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Versorgungsaufträgen, z.B. umfassendeambulante Versorgung, hausärztlicheVersorgung, indikationsbezogene Ver-sorgungskonzepte (Diabetes, Schlagan-fall, Katarakt).

Die Vertragspartner der Struktur-verträge auf Bundesebene werden ge-setzlich verpflichtet, Mindestkriterienfür die Übernahme der medizinischenund ökonomischen Verantwortungdurch Praxisnetze verbindlich vorzuge-ben. Denkbare Bereiche sind:

● Dienstleistungsangebot (Vorgabenzu versorgungsrelevanten Teilberei-chen)

● Qualitätsmanagement (Zertifizierung,Aufgreifkriterien für Rationierungund Selektion)

● Rechtsform und interne Organisati-on

● Kalkulationsgrundlagen für Budgets(ärztliche, verordnete und veranlaßteLeistungen) und netzinterne Vergü-tungssysteme.

segment nicht überschreiten dürfenund die Ablösung der Budgetmittel dieSicherstellung nicht gefährden darf.

Insbesondere werden die KVenverpflichtet, die externe Qualitätssiche-rung der Praxisnetze aufzubauen. Min-destinhalt sind nachvollziehbare Auf-greifkriterien für Risikoselektion undRationierung.

Krankenhäuser und sonstige Lei-stungsanbietern können in netzspezifi-sche Strukturverträge einbezogen wer-den (drei- bis mehrseitige Verträge).

Strukturverträge werden zur Kon-fliktlösung bei Nichteinigung schieds-amtsfähig.

Wahltarife „Betreuung durch Pra-xisnetz XY“ dürfen nur das Ergebnisder Effizienz eines Netzes nicht Folgevon Risikoselektion sein.

Dr. rer. pol. C. TophovenLeiterin des Referates Versorgungsformenund Kooperation der KBVHerbert-Lewin-Straße 3D-50931 Köln

Strukturverträge zur Rahmenordnungintegrierter Versorgungsformen wer-den auf Bundesebene kassenartenüber-greifend (einheitlich und gemeinsam)mit der KBV abgeschlossen.

Auf Landesebene schließen KVenund die Landesverbände der Kranken-kassen bzw. die Verbände der Ersatz-kassen Verträge zur regionalen Konkre-tisierung der Rahmenverträge.

Verträge zum spezifischen Lei-stungsangebot einzelner Praxisnetzewerden zwischen rechtsfähigen Vertre-tern der Praxisnetze, den KVen undKrankenkassen bzw. einer Gruppe vonKrankenkassen geschlossen. Eine Öff-nungsklausel nach 2 bis 3 Jahren ist ver-bindlich.

Kassenärztliche Vereinigungen be-halten den Sicherstellungs- und Ge-währleistungsauftrag. Der Gesetzgeberverpflichtet die Vertragspartner, daßBudgetmittel für Netze die Höhe dertatsächlichen Aufwendungen für dasvertraglich vereinbarte Versorgungs-

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Professor Dr. med. Maximilian Broglie wird 90

Am 28. Juni schaut ein Mann zurück auf90 Jahre voller Schaffenskraft undschier unerschöpflichen Tatendrangs,der auch dem Berufsverband DeutscherInternisten zugute kam.

Der BDI gratuliert seinem Ehren-präsidenten Professor Dr. med. Maxi-milian Broglie zum 90.Geburtstag.

Obwohl in Nordhalden bei Kon-stanz geboren, wurde die Stadt Wiesba-den bald Professor Broglies Heimat undblieb es trotz vieler beruflich bedingterWohnortwechsel bis heute. In Wiesba-den machte er 1928 sein Abitur, war ab1959 Chefarzt der Medizinischen KlinikII und dann Direktor der Klinik amKurpark; für viele Wiesbadener nochheute unvergessen. Dazwischen lagenaber viele Lern- und Lehrjahre.

Seine akademische Laufbahn be-gann er 1928 zunächst mit dem Chemie-studium in Darmstadt.Es folgte das Stu-dium der Medizin an den UniversitätenTübingen, Marburg, Kiel und Leipzig.Assistenzarzt und Weiterbildung zum

Internisten und Röntgenologen in Mün-chen, Aue/Sachsen und schließlich ander Universität Gießen, wo er in Profes-sor Reinwein sein großes Vorbild fand.Nach dessen Berufung 1943 an die Uni-versitätsklinik Kiel folgte er seinem Leh-rer als Dozent und 1. Oberarzt.

Als die Universitätsklinik währenddes Krieges angesichts der Bombenan-griffe kaum noch funktionsfähig war,richtete Professor Broglie mit großemOrganisationstalent eine Ausweichab-teilung der Klinik Kiel in Schleswig ein.Nachdem er von 1945 bis 1947 in eige-ner Praxis in Kiel gearbeitet hatte, wur-de er Chefarzt im LandeskrankenhausSchleswig und übernahm 1950 das gro-ße Friedrich-Ebert-Krankenhaus inNeumünster in Schleswig-Holstein.1955 wurde er Extraordinarius der Uni-versität Kiel.

Zurückgekehrt nach Wiesbadenbegann der Aufbau und die Neustruk-turierung der Medizinischen Klinik IIdes Städtischen Krankenhauses. Welch

immense Kraft diese neue Aufgabe ihmabverlangte, kann man nur erahnen. Erbaute hier zusammen mit ProfessorSchlegel zwei Intensivstationen auf undsetzte den medizinisch-wissenschaftli-chen Fortschritt in Form einer nephro-logischen und kardiologischen Abtei-lung in die praktische Krankenhausar-beit um.

Zwischen Lehrtätigkeit und Dienstam Krankenbett galt sein besonderesInteresse der Rheumatologie und denStoffwechselerkrankungen. 70 Publika-tionen hat er insgesamt veröffentlicht.Seine besondere Fähigkeit, schwierigeZusammenhänge verständlich zu er-klären, rühmten alle seine Zuhörer, Stu-denten und Patienten.

Bald begann er sich mehr undmehr für die Berufs- und Standes-politik zu interessieren. 1960 wurdeer Schriftführer des BerufsverbandesDeutscher Internisten. Als er 1968 zumPräsidenten gewählt wurde, setzte erseine ganze Kraft und Entschlossenheit