Present Shock Bodentiefe Fenster Gegenwartsdiagnosen nach ... · 68 Eckhard Schumacher der worden...
Transcript of Present Shock Bodentiefe Fenster Gegenwartsdiagnosen nach ... · 68 Eckhard Schumacher der worden...
66 Ekkehard Knörer
zum andern . Die Vormerkungen der Buch-
handlungen waren gut , aber nicht sensa-
tionell. Die Kritiken waren in Ordnung,
aber die SZ und die FAZ haben das Buch
nie besprochen . Auch darum war das Er-
scheinen auf der Langlist sehr wichtig.
Ausbruch
Etwas anderes , ziemlich Seltenes geschah .
Das Buch brach aus dem engeren Kreis
der allein igen Wahrnehmung im Litera -
turbetrieb aus. Bodentiefe Fenster wurde
zu einem Beispiel in einer »Wohn-Trend« -
Kolumne des SZ-Magazins mit dem Un-
tertitel »Mehr Offenheit war nie: Über das
Leben hinter bodentiefen Fenstern«. Der
Titel des Buchs, der anders als im Fall Cor-
nelia Nixons von Anfang an feststand, er-
wies sich als genau das , wovon Stelling
schon nicht mehr hören konnte: als guter
Aufhänger abseits literarischer Argumente.
In der Berliner Boulevardzeitung BZ kam
sie unter der Überschrift »Horror-Kiez!
Autorin rechnet mit dem Prenzlauer Berg
ab« auf den Titel.
Die unreflektierte Vermischung von
(schon gar: Ich)Erzähler-Figur und Autor
gehört zu den Erfahrungen , die jede Au-
torin und jeder Autor macht , sobald er
oder sie den engen Zirkel der rein literari-
schen Rezeption verlässt. Ein größeres Pu-
blikum hört gern wahre Geschichten. Das
»belletristische Sachbuch« - Stelling sagt
die zwei Wörter mit großer Verachtung -
liegt im Trend: eine Mischung, bei der es
um Konsumierbarkeit geht, nicht um lite-
rarischen Anspruch. Die Verlage, auch die
Lektorinnen bei den größeren Verlagen,
scheuen sich nicht zu fragen, ob man aus
dem Stoff nicht ein »belletristisches Sach-
buch« statt eines Romans machen kann.
Bei Verbrecher wird ihr das ganz gewiss
nicht passieren .
Bodentiefe Fenster kam nicht auf die
Shortlist , geschweige dass es den während
der Frankfurter Buchmesse verl iehenen
Buchpreis gewann. Das hätte die Verkäufe
wohl automatisch in Richtung Hundert-
tausend katapultiert. Nüchtern betrach -
tet ist Anke Stellings Marktwert dennoch
beträchtlich gestiegen . Sie hat unterdes-
sen sogar die als unverkäuflich geltende
Jnzestgeschichte Fürsorge bei Verbrecher
herausgebracht. Die Kritiken waren bes-
ser als bei Bodentiefe Fenster, zum Teil
wohl zur Wiedergutmachung für das, was
beim Vorgänger versäumt worden war.
Zum Skandal kam es nicht , die Verkäufe
waren so mittel.
Was den nächsten , den ersten nach Bo-
dentiefe Fenster geschriebenen Roman
angeht , gab es bislang keine direkten An-
fragen , aber ziemlich sicher könnte ihr
Agent den nächsten Roman - er wird aller
Voraussicht nach im Herbst dieses Jahres
bei Verbrecher erscheinen - bei einem grö-
ßeren Verlag unterbringen. Nach ihren Er-
fahrungen hat Stelling aber das Vertrau-
en verloren, weil sie erlebt hat , wie sehr
der vorauseilende Gehorsam gegenüber
der Marktlogik dominiert und wie we-
nig Durchsetzungskraft der literarischen
Qualität noch zugetraut wird. Lieber
ein kleiner Verlag, der sie liebt und für
ihr nächstes Buch tut, was er kann , auch
wenn es weniger ist , als ein » richtiger«
Verlag mit mehr Power, Einfluss und Geld
tun könnte, wenn er wollte. 5
Ich danke Anke Stelling, Kristine Li stau und
Jörg Sundermeier für ihre Auskunftsbereit-schaft.
Present Shock
Gegenwartsdiagnosen nach der
Digitalisierung
Von Eckhard Schumacher
»Unsere Ge sei lschaft konzentriert sich
auf den gegenwärtigen Moment. Wir er-
leben alles im Liveticker, in Echtze it , al-
ways-on« , eröffnet Douglas Rushkoff,
Schriftsteller, Cyberpunk-Aktivist , Mu -
siker und Medientheoretiker, seine 2.013
veröffentlichte Studie Present Shock.
When Everything Happens Now.' Wenn
alles »jetzt « passiert , so Rushkoffs Aus-
gangsthese , sorgen »neue Technologi -
en und ein veränderter Lebensstil « nicht
nur dafür, »dass wir alles immer schneller
tun« , sie forcieren zugleich »den Bedeu-
tungsverlust von all em, was nicht gegen-
wärtig ist - we il der Ansturm von al -
lem , was genau jetzt passiert , so gewaltig
ist .«
Rushkoff ist nicht der erste Zeitdiag-
nostiker, der die Fixierung auf die Gegen-
wart als zentrales Problem der heutigen
Gesellschaft beschreibt , und er ist nicht
der einzige , der die Medien - und hier
insbesondere die weltweite digitale Ver-
netzung - für die »Kultur des Präsentis-
mus« verantwortlich macht. Seit einigen
Jahren erscheinen im Umfeld der Medien-
und Kulturwissenschaften auffallend viele
Studien , die Veränderungen in der Auffas-
sung von Zeit konstatieren und diese Ver-
schiebung kausal mit dem Prozess der Di-
gitalisierung in Verbindung bringen .
Douglas Rushkoff, Presellt Shock. Wenn alles
jetzt passiert. Freiburg: orange press 2014.
67
Im Modus einer Zeit- oder eben Ge-
genwartsdiagnostik , d ie sich als hybr i-
de Wissensform zwischen fachwissen -
schaftlichen und allgemeinen D iskursen
bewegt, w ird dabei Gegenwart als domi -
nante Zeitform und dominantes Thema
ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.
So erweist sich die Konzentration auf den
»gegenwärtigen Moment« , die als Pro-
blem der Gegenwartskultur in den Bl ick
genommen werden soll , auch als Prob-
lem des kritischen Diskurses, der Schnitt-
stellen zwischen Präsens und Präsenz zu
konturieren versucht oder mit dem , wie
es im Wörterbuch der Brüder Grimm be-
reits 1897 heißt , »vielfach merkwürdigen
wart « Gegenwart ringt .
Als Dirk Baecker vor knapp zwanzig
Jahren dem Kulturbegriff das Potential
zuschrieb, »den Blick für eine Gegenwart
zu schärfen , d ie wir aus den Augen ver-
loren haben , weil wir in der Vergangen -
heit jene Absicherung und in der Zukunft
jene Möglichkeiten suchen , die uns die
Gegenwart vorenthält« , war noch nicht
absehbar, dass der Blick auf die Gegen -
wart nur wenig später ähnlich stark stra-
paziert werden sollte wie vormals der Be-
griff der Kultur. 2 Mittlerweile wird die von
Baecker herausgestellte Einsicht, dass mit
dem Kulturbegriff »die Gegenwart über-
haupt erst in das Zentrum der Aufmerk-
samkeit« gerückt werden kann, von einer
Dauerfokussierung auf die Gegenwart
überdeckt , die nicht in jedem Fall von
einem geschärften Blick zeugt. Sie scheint
sich vielmehr insofern auf den Begriff der
Gegenwart ausrnwirken, als dieser in den
letzten Jahren derart gedehnt und gewen-
Dirk Baecker, Wozu Kultur? Berlin: Kadmos
2000.
68 Eckhard Schumacher
der worden isr. dass er auch die Rolle je-
u ha-·rfe1·okers ü1'ernehmen kann . nes nsc , b für die zurnr !!,elegenclich der Kultur e-
griff herhalten musstt' . V Der Aufwand. mir dem ,,Gegenwart« als
Zeitbe!!,riff. Denkfigur und Platzhalterfor
Eigenheiten der Jetztzeit problemat1s1ert
wird . ist überraschend groß. Die Suche
nach neuen Konzepten und Ansätzen , wie
sie etwa in den spekulati,·en Reflexionen
zum •Post-Zeitgenössischen « zu beobach-
ten ist.' wird allerdings häufig überstrahlt
rnn dem gleichermaßen attraktiven Prin-
zip. eingefahrene Argumentationsmuster
zu reanimieren. Den produktiven Irritati-
onen, die akruell anfallende Komplikatio-
nen im Gefüge ,·on Vergangenheit, Gegen-
wart und Zukunft auslösen können , steht
nicht nur ein Zögern, der Wunsch nach di-
stanzierter Reflexion, nach einem bewuss-
ten Innehalten entgegen, sondern immer
wieder auch die Weigerung, sich näher auf
das einzulassen, was die Gegenwart kenn-
zeichnet.
Dies gilt auch und gerade für viele der
Zeitdiagnosen, die die Gegenwartsfixie-
rung als Folge der Digitalisierung begrei -
fen. Man erfasst die Komplexität der Pro-
blematik jedenfalls kaum, wenn man sich
darauf beschränkt, die Innovationsver-
sprechen und Fortschrittsvisionen, die
die Kommunikationsindustrie propagiert,
über einen Vorzeichenwechsel als Sympto-
me für Verlust und Verfall zu deuten: das
Unminelbarkeitspathos der Echtzeitkom-
munikation, den smartphonegestützten
Zustand des always-on , die instantane
Verfügbarkeit und permanente Akruali-
3 Vgl . etwa Armen Avanessian/Suhail Malik
(Hrsg.), Der Zeitknmplex. l'ost.contempora-
ry. Berlin: Merve u,,6.
sierb:u·kcit von allem und jedem, an jedern
Ort, rn jeder Zeit.
Die Möglichkeit, d ie Fokussierung auf
die Gegenwart als kritisches Korrektiv ge-
genüber einem Verständnis von Kultur
zu nutzen , bei dem , wie Baecker schreibt ,
»die Erinnerungen zur Mythologie und
die Versprechen zur Ideologie degenerie-
ren «, wird , wenn sie denn überhaupt gese-
hen wird , immer häufiger verworfen . Sie
tritt hinter eine grundlegende Skepsis zu-
rück , die sich im kulturkritischen Kons -
tatieren eines allgemeinen Bedeutungs-
verlusts äußert, manchmal aber auch nur
das Empfinden übermittelt, dass die Ge-
genwart nicht mehr das ist, was sie einmal
war. So fungiert das Stichwort »Gegen-
wart« in den letzten Jahren zunehmend
als Marker für eine Krise , für eine Kri-
senzeit, die sich - bei Rushkoff detailge-
nau zu sehen, aber spätestens seit Beginn
der Modeme als Modus der Kulturge-
schichtsschreibung geläufig - als Zeitkri -
se präsentiert.
Die Krisenrhetorik kann ganz unter-
schiedliche Ansätze verbinden und sie
zugleich in die bereits gut ausgebauten
Bahnen moderner Zeitdiagnostik ein-
schreiben. Dabei zeigt sich, wie Hartmut
Rosa hervorgehoben hat, dass im Zuge von
digitaler Revolution und globaler Vernet-
zung neben der ohnehin für die Moderne
kennzeichnenden Beschleunigungserfah-
rung ein »neuerlicher Beschleunigungs-
diskurs « einsetzt.• Dies können die aktu-
ell zirkulierenden Gegenwartsdiagnosen
ebenso bestätigen wie Rosas Beobach-
tung, dass die für die Moderne charak-
4 Hartmut Rosa , Beschleunigung. Die Verän-
derung der Zeitstrukturen in der Moderne.
Frankfurt: Suhrkamp 2.oos.
teristische »Grunderfahrung, ,alles wer-
de immer schneller ,, all es se i beständ ig
im Fluss «, nur eine Seite der »kr itischen
Zeit-Diagnosen « ausmache . Daneben
tr itt die auf den ersten Bl ick entgegenge-
setzte , aber, wie Rosa betont, als komple-
mentär Zll begreifende Zeiterfahrung der
»Erstarrung«, des »Zuendegehens aller
Bewegung«, die mit Paul Virilio im Bild
des »rasenden Stillstands« erfasst worden
ist. 5
Die in diesem Zusammenhang hochfre-
quent in Umlauf gebrachten zeitd iagnos-
tischen Schlagworte lassen unterschied-
liche Ansätze erkennbar werden , rücken
im überschaubaren Spannungsfeld von
Beschleunigung und Stillstand jedoch w -
nehmend aneinander. Der Abstand, der
die Formel von der » Tyrannei des Augen-
blicks« , mit der Thomas H. Eriksen be-
reits im Jahr 2000 vor der im »Zeitalter
der Computer, des Internets , der Kom-
munikationssatelliten« vermeintlich aku-
ten Bedrohung von Vergangenheit und
Zukunft gewarnt hat , von Hans Ulrich
Gumbrechts zehn Jahre später vorgeleg-
ten Überlegungen wm neuen »Chrono-
top « einer »breiten Gegenwart« trennt, re-
lativiert sich, wenn man Marcus Quents
Thesen zur »absoluten Gegenwart« , den
Themenschwerpunkt »Endlose Gegen-
wart« der Zeitschriftspringerin , William
Gibsons Reflexionen zum »unendlichen
digitalen Jetzt« oder eben Rushkoffs in
Paul Virilio, Rasender Stillstand . München:
Hanser 1992.; Klaus M . Kodalle/Hartmut
Rosa (Hrsg.), Rasender Stillstand . Beschleu-
nigung des Wirklichkeitswandels: Konse-
quenzen und Grenzen . Würzburg: Königs-
hausen & Neumann 2008.
Present Shock 69
Present Shock entfaltetes Panorama einer
»totalen Gegenwart« hinwzieht .6
Gegenwartsschock
Die Gegenwartsdiagnostiker lassen wenig
Zweifel daran , dass die Digital isierung für
den konstatierten Gegenwartsschock ver-
antwortlich w machen ist. Dabei kommt,
das zeigt nicht allein Rushkoffs Buch , der
flächendeckenden Verwendung des Ad-
jektivs »digital « eine wenigstens doppel -
te Funktion zu . Es kann als Symptom
für das verhandelte Problem, aber zu-
dem auch als Ausweis für die Aktualität
der vorgelegten Analyse fungieren - und
zugleich davon ablenken , dass das Prob-
lem nicht in jeder Hinsicht neu ist. Wenn
Rushkoff seine Beobachtungen wm »di -
gital optimierten Tagesablauf«, zum »ri-
giden digitalen Zeitregime «, zum »digi -
talen Leben « in der »digitalen Welt« im
»digitalen Universum « in das Krankheits-
bild der »Digiphrenie« überführt, weist er
selbst darauf hin , dies sei »nur die neues-
te Stufe einer langen, leidvollen Entwick-
lung« . Umso expliziter begreift er die von
ihm beschworenen Pathologien der Di-
gitalisierung aber als Symptom für eine
grundlegende Veränderung in unserem
» Verhältnis zur Zeit« und die durch sie
6 Thomas H. Eriksen, Die Tyrannei des
Augenblicks. Die Balance finden zwischen
Schnelligkeit und Langsamkeit . Freiburg:
Herder 2.002.; Hans Ulrich Gumbrecht , Unse-
re breite Gegenwart. Berlin: Suhrkamp 2010;
Marcus Quent (Hrsg.), Absolute Gegenwart .
Berlin : Merve 2016; Schwerpunkt »Endlose
Gegenwart « in : springerin 3, 2016; William
Gibson, Misstrauen Sie dem 1mverwechsel-
baren Geschmack. Gedanken iiber die Zu-
kimft als Gegenwart. Stuttgart: Klett-Cotta
2.013 .
70 Eckhard Schumacher
. k 1 ' l'II ·lllf l(IISl'r cingl'kill'lt:11 "Ausw ir 111 g ·
Mrnschc11bild «. Ein Problem der krisc11h ;1ftc11 Ko1~s-
1dl;1tio11 , die er i11 A11kh111111g ;111 Al\'111
Ti.iftkrs Ko111.cpt dl's „ fut111'l' shock" ab
•prrsrnt shock " ho.cich11c1 , - liegt fiir
Rushkoff darin. J;1ss sir bei :1llcr Gegc11 -
w:1rtsfixicru11g lrt1.rl ich \\'Cll ig mit ••lill -
mittclb:1rkeit und Gcgc11w:irtiµkc it« zu
rn11 hat. Dc1111 cntgcgc11 der sich mögl i-
chaweisc aufdriingcndl'll \lcr11111111nµ füh -
ren die Echtzcincd1nolngicn der S111arr-
phones, Jcr Zust:111d des ,,lll'il,VS-011 und
dil' knrrespond icn:11Jcn Konsumkn.:isl:iu -
fc.:, wil' Ru shkoff im Modus dl's Sclbstl'l'-
fahrn11gsbcri chts explizicrr, nicht w cim.:r
intrnsiH-rt·n Fokussil'rung auf die Gegen-
wart. Dil' pcrm:111t·ntc Fixieru11g :rnf die
Gl·p.cnw:m tl·nd im Rushkoff wfolgc viel -
mehr daw, dass 111:111 diese gar nicht mehr
wahrn immt : •Der Versuch , de11 lliichti-
gl'll Moml'nt l'inzuf:rnge11, 111:1cln aus 1111 -
sncr Kultur ci11 eim.i1?,cs l'ntmpisches, sra -
tischl'S Rauschen. Er1.:ihlstrukturt·n und
Zidc lösen sich auf. und was übrig bleibt,
sind \'t:rzt'frte Aufnahmen vom Echte11
und Unmittelbaren in Form von Twects
und Status-Updates.•
Neben der • Digiphrenie « und eini -
gen weiteren anspirlungsrcich benannten
Symptomkomplexcn lenkt Rushkoff die
Aufml'rks:imkeit auf den von ihm kons-
tatintcn •narrativen Kollaps •, den er im
ersten Kapitel seines Buchs als grav ieren-
de Folge der Gegenwartsfix ierung aus-
führlich Jusbreitct Untcrstu" tzt d h . . · urc eme 111 der Addition eindrucksvolle.:, abc.:r auch
7 Das 197o crschicncnc l.luch i>1 im i;lcichrn
~hr in , Deutsche übcrsc11.1 worden: Al\'in oHlcr, Der Zulwn(t sschock. München:
Hanscr 1970.
ein wen ig crn1ii,lcmk i\11fre ihu11g v011 lk isp iclcn , d ie Filme, h .: rnsehscr il'n , Rl' -
:il itr -TV. r:ernschwnh1111p; 1111d C01111111 _
rasp ielc wie auch die Occupy -lkwcp;ung
1111d- priisl'ntil'rt :1ls »crsrc p;l'11ui11 pr:isl'l1-
tist ischl' Bcwcp;1111p;« - die Tca l':trty 11 111 _
Lissen , !:isst l'r wc11 ip; Z weifel dar:111 , d:tss
»die Mcd irn « und i11sbl'so11dcre dcrc 11 d i-
gitale Vcrneu.unp; fiir dc11 Kollaps vo 11 ko-
h:irentcn Err.:ihlstrukn1rc11 vcranrwon-
lich sind . D:1 die lkispielkctrc11 jedoch
nicht mit einer :ih11lich eindrucksvollen
Aq,:u111rntatio11 1111tnlcgr wndcn , wrlinr
sid1 der Ti.:xr w11eh111c11d i11 sei11e11 reidi -
h:dt ip.en Redu11d:1nze11. Z11dc111 p;cw i11m
die Redr vom »Kollaps des Frz:ihlc11s ,,
nicht :111 Üherzcug1111gskr:1h, wenn ihr :ds
pos itives Gegenb ild eine »narrarivc Wclr-
ord111111g « mit ,,rrad it·io11ellc11 N:1rrarivc11 «
cntgcgr11gch:1ltL'l1 wird .
Auch wrnn einiges d:1fiir sprcehl'll soll -
te, dass die Nuti.er das Fernschc11 durch
drn Einsatz dcr Fcrnbedic11u11g »dcko11-
stru icrt« hahcn , fiihrt das nichr 1mtWL'l1 -
dig w dem Schluss, das Fcrnsche11 habe
dadurch , wir Rushkoff 11ahclcgt, die Fii -
higkcit verloren , »koh iircnre Geschich -
ten zu c:rziihlcn «. Sichtbar wird hier nichr
die gcgenw:irtige Komplexit iir von Me-
dicngcbrauch und Mcdicnrcalit:it, son -
dern vicl111ehr ein Wunsch der Kritik
nach iibcrschaubaren Erziihlstrukturen ,
nach »linearen Geschichten mit Anfang,
Mitte und Schluss «, nach »großen Ge-schichten «.
An die Stelle von d ifferenzierten Analy-
sen , die angesichts der vielcn bemerkens-
werten Beispiele wünschenswert wiiren ,
rückt ein rcAexhafter, nicht i111111er ressen -
timc.:ntfrc icr Impuls , der nach de111 post-
modc.:rnc.:n »Ende der großen Erziihlun -
gen" deren Rückkehr herbeizuwünschen
schr i111· - 1111d auf d icsrn1 \Xiq.: wglc ich
jl'nr Vorsrcll1111gc11 vom ,, h :hrcn und lJn -
111 itrclh:11't·11 « zu rcs1 it11icrcn vcrs11eh1 , dc-
rl'lt \lerlusr Rushkoff ehr11so wor1 re ich he-
kl:igi-. F111sprrcheml schw:1ch hlc ihr :111ch
d ie w lkgi1111 drs lluchs :111sgcgchc11e For-
dern11g 11:1ch ci11t:r lmervrm ion : ,, Wt·nn
sic h allrs 1111kontroll icrh:1r heschleun igr ,
ist: 111 :111ch111 :d Ceduld d:is Fim.igc , was
hilfi-. Driickr auf l':111sr.« i\111 Ende, nach
knapp dre ihundert Sritrn , isr Rushkoff
k:111111 we iter: 1\tl:t n k:11111 widcrsrcl1c11 , cr-
1111111terr er d ie Lcscr i1111c11 1111d Leser, d ie
bis zu d iesem 1'1111kt vorgcdrnngen sind ,
we il wir »i 1111ch :1ltcn - 1111d wieder losle-
gen kii111tl'll «.
Das isr in der Sache sicher nicht falsch .
i\nges ichrs der p:111se11losc11 Vcrkcn1111g
von llc ispielcn, d ie Rushkoffs lluch s1r11k-
111ricrt und es somit chn als wc itcrcs Sy111 -
pro111 dc1111 als Analysc der d iskut icrtcn
Prohlc111:11ik crschrincn !:isst, ist es :1bcr
letztlich wcnig iihcn.cugcnd - es sei dc1111,
man gibt sich d:1111 it zufriedcn , der :1llp;e-
gc11wiirtigc11 ßcschlcunigung R11hczo11c11
der E11tschlcu11igu11g cntgegenzuscrzcn ,
11111 dort d:is Echte und U11111ittclbare zu
suchrn. »Exklusiv fiir Rushkoff-Lcser «
bietct die deutschc Ausgabc vo11 Prese11t
Sho ck dafür den Zugang zur »(Offtime) -
App «, dic ahcr auch fiir die rng:inglich
ist , die das Buch nicht gcbuft haben :
»Mit (Offtime) bcstimmsr Du , mir wcm
Du wann verbunden bist. So kannst Du
lcichter das tun , was jctzr geradc wichtig
ist. Schaltc ab und sei ganz bei Dcincr Ar-
beit , hci den Menschen, die Dir wichtig
sind , oder gcnicls cinfach cinen Momcnt
der Ruhe. «"
s hllp://offl irne .co/rushkoff
Pmsunt Slwck 71
C, ·g1·11 111i1 rls,,, ·r,v., ·ssn1h,·it
1-:inc St:irkc von Rushkoffs l\uch liq .:1 d:1 -
ri11 , anhand akrncllcr kulrmcllcr l'h iino-
111c111.: cingefiihne ll ildcr u11d heka1111 -
rc Argl1111c11t :Hio11smusrcr anschaulich
w akrual isicrrn . Das zc igt sid1 vor allc111
da1111 , wenn 111:111 in Betracht· zicltt , dass
sich d ie Med ie11w issc11schaft schon ct w:1s
liingcr dem l'roble111 dcr Gcgenwanslix ic-
rung wid111c1 und dabe i auf andcrcu Wc-
grn w vergle ichharcn Einsichten gcko111 -
111c11 ist.
In po intiertcr und zuglc ich historisd1
:1usgrc ifc11dcr \Xlcisc h:H dies Wolfgang
1-l :1gc11 in sci11c111 lh1ch C c,v.e11rvarlsvcr-
,1!.,'Sse11h1•i1 geze igt .'' l\ci H:1p;rn wird deut-
lich , dass viclcs von dcm , w:1s Rushkoff
zehn Jahrc spiitcr dcr Digir:1lisiern11g an -
l:1stcn wird , auch schon cinigc Jahrzehn -
te wvor dc11 Diskurs iihcr die »Ncuen
Mcdicn ", insbcsondcrc dic Masscnmedi -
cn hesti111111t hat. \Xlcnn Hagcn mit ßlick
auf das Fernschcn feststellt , »dass vor
l:rntcr Gcgcnwart nichts als Gegcnwart
und nur dic Gegcnwart z:1hlt, dcr gegen-
über alles Andere verrauscht und ver-
klingt« , findct man nicht nur Rushkoffs
spiitcre Beobachtungen priifigurierr, son-
dern auch - komplexer angelegt und aus -
geführt - seinc Interpretation der Lage.
»Diese Gegenwart ist die Gegenwart der
elektronischen Massenmedien« , von de-
nen alle »modernen Industrienationen« ,
so schreibt Hagen das hier einschlägige
Kollektivsymbol aus , »überflutet« sind .
Mit der Feststellung, dass »aus der Flut
nur cine einzigc Gegenwart « hervortritt ,
9 Wolfgang Hagen, Gcge111t•artsl'c:ri(esse11/niit .
Lawrs(eld - Adomo - l1111is - L11/u11<11m .
l.lcrl in: Mcrw 2003 .
72 Eckhard Schumacher
.. 1· 1 d. , die von den Massenmcd i-nam ic i » lt. .. . hauch die
elbst erzeugt wird«, lasst s1c , en s . . d Gegenwart , These der Toralts1erung er . . -
. R hk ff mit einigen wetteren Zeit die us o . . k ·1 deutlich vordatteren. diagnostt ern te1 t,
Z d der Gegenwarrsverges-Der ustan ~ . senheit tritt , folgt man Hagen, dann ein ,
. '1odus von permanenter Aktu-wenn 1m" alisierung der Gegenwart diese selbst aus
dem Blick gerät: »In der Nomenklatur der
Massenmedien trägt diese Zeitstruktur
den Namen Aktualität. Alles, was gezeigt,
bebildert oder berichtet wird , schnurrt
darin auf eine Gegenwart zusammen, die
ein selbstähnliches Muster zeigt. «10 Ge-
genwartsvergessenheit heißt in diesem
Sinn für Hagen »nicht nur, dass vor lau-
ter Fixierung auf die Aktualität von ite-
rativ erzeugten Gegenwarten diese selbst
überlagert, vergessen und verborgen blei -
ben•, sie erzeugt zugleich eine » Gier nach
mehr«.
Hagen baut seine Überlegungen unter
anderem auf Harold A. lnnis ' medien-
geschichrlichen Thesen auf, denen zufol-
ge sich die »raumgreifenden Monopole«
Presse und Radio von früheren Kommu-
nikationstechnologien insofern unter-
scheiden, als diese noch ȟber ein Wissen
von Dauer, Vergangenheit und Zukunft«
verfügten. ;, Presse, Radio und Fernsehen
hingegen sind Medien«, resümiert Ha-
gen, »die technologisch und ökonomisch
auf ein , Jetzt,, d. h. auf ihre instantane
Ersetzung, und nicht auf die Dauerhaf-
tigkeit einer Speicherung Bezug nehmen«.
Hagen begrenzt diese Charakterisierung
mehr auf die zunächst in den Blick ge-
IO Vgl. dazu auch Wolfgang Hagen, Das E d
der Aktualität . Von Meister Eckhart bi/ e
Google. In: Merkur Nr 767 A ·1 ' · , pn ro13 .
rückten Bereiche Nachrichten und Wer-
bung, sondern bezieht sie insgesamt auf
die Massenmed ien. So kann er schon für
die 195oer Jahre einen Gegenwartsschock
verzeichnen , wenn er mit Innis folgere ,
dass die modernen Massenmedien einen
Wissensraum monopolisieren , »in wel -
chem auf die Frage, was morgen kommt
keine Antworten mehr möglich sind, au~
ßer, dass es ein System sein wird, das wie-
derum auf Gegenwartsfixierung setzt«.
Mitte der 198oer Jahre hat Neil Post-
man Überlegungen von Irrnis öffentlich-
keitswirksam aufgenommen , indem er
in seinem Bestseller Wir amüsieren uns
zu Tode den »Diskursmodus des ,Und
jetzt ... «< sowie die darauf aufbauende
>»Und jetzt . . . ,-Kultur« als Verfallssymp-
tome einer durch die Unterhaltungsindus-
trie bestimmten Gesellschaft identifiziert:
»Der Ausdruck ,Und jetzt . .. , umfaßt das
Eingeständnis , daß die von den blitz-
schnellen elektronischen Medien entwor-
fene Welt keine Ordnung und keine Be-
deutung hat und nicht ernst genommen
zu werden braucht. «11
Postman aktualisiert eine in kulturkri -
tischen Kreisen auch schon vor der Erfin-
dung des Fernsehens vorgebrachte Klage
über eine » Welt der Bruchstücke, in der
jedes Ereignis, bar jeder Verbindung zur
Vergangenheit, zur Zukunft oder zu an-
deren Ereignissen , für sich steht«. Rush-
koffs dreißig Jahre später vorgelegte The-
sen sind hier detailgenau prä figuriert und
auch auf der Ebene der Rhetorik ergeben
sich vielfältige Wiedererkennungseffekte -
etwa wenn man sieht, wie Postman seine
11 Neil Posrman , Wir amüsieren uns zu Tode.
Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhal-
tungsindustrie. Frankfurt: Fischer 1.98 5.
kritische Bestandsaufnahme der Gegen -
wart in den Diskurs der Pathologie über-
führt: »In der Ästhetik bezeichnet man
diese Erscheinung zumeist als Dadaismus,
in der Philosophie als Nih ilismus, in der
Psychiatr ie als Schizophrenie. «
Der Gegenwartsschock , den Rushkoff
konstatiert , erscheint auch aus dieser Per-
spektive nicht als ein substantiell neues
Problem . Es zeigt sich vielmehr, dass die
im Modus der permanenten Aktualisie-
rung auf Dauer gestellte Gegenwartsfixie-
rung offensichtlich nicht nur ein Problem
von Massenmedien und Digital isierung
ist, sondern auch - und mögl icherweise in
erster Linie - die Ebene des kritischen Dis-
kurses betrifft. Der warnende, alarmierte
Ton , die Krisenrhetorik und d ie Sugges-
tivkraft der Geste der Pathologisierung
können den historischen Abstand jeden-
falls problemlos überbrücken und ermög-
1 ichen die kaum veränderte Wiederauf-
nahme einer Argumentation , bei der die
Funktionsstelle, die für die fünfziger wie
für die achtziger Jahre vom Fernsehen
ausgefüllt wird , nunmehr von Vernetzung
und Digitalisierung besetzt werden kann.
Nowness
»Noch nie zuvor standen wir an einem so
aufregenden und gefährlichen Punkt der
technologischen Entwicklung wie heute« ,
schreibt David Gelernter 2010 in einem
von der FAS in Auftrag gegebenen Mani-
fest, das unter dem Titel Die Zukunft des
Internet eine weitere Gegenwartsdiagnose
unter den Vorzeichen der Digitalisierung
entwirft. 12 Auch Gelernter, der als Infor-
12 David Gelernter, Die Zukunft des Internet .
In: PAS vorn 28. Februar 2010.
Present Shock 73
matiker und Computerwissenschaftler
wie als techn ikskeptischer Publizist aufge-
fallen ist , entfaltet kein prinzipiell neues
Problem , wenn er das Konzept der »Now-
ness « als maßgeblichen Faktor der Gegen-
wartskultur bestimmt und entsprechend
feststellt , dass die Netzkultur eine »Kul -
tur der Jetzigkeit« ist.
Zur Erläuterung der Lage akt iviert
auch Gelernter eine Reihe von Topoi , die
aus den zurückliegenden Mediendiskur-
sen bekannt sind . » Jetzigkeit blendet alle
anderen Momente als diesen einen aus «,
entwirft Gelernter sein Bild einer »idea-
len Internetkultur«, die er »von Jetzigkeit
überflutet« sieht »wie eine Strandprome-
nade vom Meerwasser«. Auch bei ihm
wird über die Bildfelder der Überflutung
und der Verzerrung ein Krisenszenario
entwickelt, das schnell katastrophische
Züge annimmt.
Mit dem Modus des »Lifestream« , der
in Form von Timelines die Darstellung
von »Information-im-Fluss « ermögliche,
setzt Gelernter dem Bild der Überflutung
aber zugleich das einer beruhigenden Ka -
nalisierung entgegen. Veranschaulicht als
»Strom mit einer Vergangenheit, einer Ge-
genwart und einer Zukunft« , bei dem »die
Zukunft . .. durch die Gegenwart und in
die Vergangenheit« fließt , ermöglicht der
»Lifestream«, so will es das von Gelern-
ter selbst in den 199oer Jahren in Umlauf
gebrachte Konzept, eine vergleichsweise
unaufwändige Koordination von Gegen-
wart und Zukunft: »Fließen Dokumente
oder Nachrichten vorbei , die wichtig aus-
sehen, für die man aber gerade keine Zeit
hat, so kopiert man sie einfach in die Zu-
kunft, zum Beispiel auf ,hellte Abend um
zehn,, und dann kommen sie wieder vor-
bei .« Auf diese Weise kann aber nicht nur
74 Eckharrf Schumacher
. d' z kunfr »kopiert •· die Gegenwart in ie u . ;· -
d Ch das yermcinrl1ch ycrdrang wer en . au ' . d te , Damals• bnn auf neue Weise in cn
Blick kommen. . Eher implizit ,·erweist Gelernter n11t
dieser schlichten Illustr3tion komplexer
Zein-erhäl tnisse auf einen Aspekt , der
in den Überlegungen zu »Jerzigkcit• und
. Gegenwarrsschock • häufig aus dem Blick
gerät: Digitalisierung und Vernetzung ar-
beiten nicht nur den Paradigmen von Ge-
genwartsfixierung, Beschleunigung und
Akrualirär zu, sondern machen (und hal -
ten) aufgrund immenser Speichcrungska-
pazirären und komplexer Algorithmen
auch ,·ermeinrlich vergangene Dokumen-
te, Daten und Dateien auf neue Weise ver-
fügbar. In dieser Hinsicht wäre es grob verkür-
zend, die Möglichkeiten , die etwa das In -
ternet eröffnet, auf die Weiterführung je-
ner Gegenwartsfixierung zu beschränken,
die lnnis mir Blick auf die Massenmedi -
en Radio und Fernsehen problematisiert
hat. Die jeweils früh verfügbar gewesenen
Techniken der Speicherung, die Phono-
graphie und später Videotechnik zur Ver-
fügung srellrcn, lassen es schon fraglich
erscheinen, ob die Geltung von Nachrich-
ten in diesen Medien allein im •Jetzt ihrer
Übermittlung• liegt. Den •Present Shock«
der di gital vernetzten Kommunikation
kann man aber nicht einmal im Ansatz er-
fassen, wenn man den hier konstitutiven
Modus und die weitreichenden Möglich-
keiten der Speicherung und der Verknüp-
fung durch Algorithmen ausblendet. Was
als Gegenwart erscheint , den Eindruck
der Gegenwartsfixierung vermittelt, baut
immer schon auf der Verfügbarkeit und
Verfügbarmachung dessen auf, was nicht
mehr einfach im Sinne eines D 1 • ama s•
abgelegt werden kann , aber gerade des-
halb auch den Blick für die Dimensionen
, .0 11 Vergangenheit und Geschichte öffn en
kann .
Breite Gegenwart
An diesem Punkt se tze n H ans Ulr ich
Gumbrechts Überlegungen zur » breiten
Gegenwart« an , die sich , a uch wenn sie
andere Theor iereferenzen bemühen , in
vielen Punkten mit denen von Rushkoff,
Hagen und auch Gelernter treffen . Gum-
brecht ve rlagert in Unsere breite Gegen-
wart allerdings zunächst di e Perspektive,
wenn er die Fokussierung auf di e Ge-
genwart mit dem von ihm gleicherma -
ßen konstatierten Ende der »historischen
Zeit« verknüpft.
In einem »neuen Chronotop «, den
Gumbrecht in der Ablösung von der »Zeit-
Konfiguration des ,historischen Denkens«<
ausmacht, erscheint Zukunft nicht mehr
als Möglichkeitsraum , sondern als Bedro-
hung. Zudem, so ruft auch Gumbrecht das
offenbar unausweichliche Bild auf, ȟber-
schwemmen Vergangenheiten unsere Ge-
genwart«. Nicht die Überflutung durch
»Jetzigkeit« erscheint hier als Problem ,
Gumbrecht sieht die Gegenwart vielmehr
durch » Vergangenheiten « überschwemmt
und kann so auch argumentativ an Nietz-
sches Metaphorik in Vom Nutzen und
Nachtheil der Historie für das Leben an-
schließen, wo dieser im Blick auf die Grie-
chen wie auf seine eigene Gegenwart in
der »Ueberschwemmung« durch das » Ver-
gangne« die Gefahr sieht, »an der ,Histo-
rie, zu Grunde zu gehen«.
Gegenwart ist für Gumbrecht im neuen
Chronotop, für den »die Perfektion elekt-
ronischer Gedächtnisleistungen eine zen-
trale Rolle spielt «, zu ei ner »si ch verbrei -
ternden Dimension der Simultaneitäten «
und mithin als »breite Gegenwart« kon -
turlos geworden: »Alle jüngeren Vergan-
genhei ten sind Teil dieser sich ve rbre i-
ternden Gegenwart , es fällt uns schwer,
irgendeinen Stil oder irgendeine Mus ik
der vergangenen Jahrzehnte aus der Ge-
genwart a uszuschl ießen. « Um das aus
seiner Sic ht »wirklich Neue « der gegen-
wärtigen »Hyperko mmun ikat ion « her-
auszustellen , ihre »Allgegenwart «, betont
Gumbrecht das Verschwinden der Dimen-
sionen von Vergangenheit wie Zukunft in
der allgemeinen Verfügbarkeit und nähert
sich so wieder den eingangs angeführten
Positionen an : »In der heutigen elektro-
nischen Gegenwart ist weder Platz für et-
was , Vergangenes,, das wir zurücklassen
müßten , noch für etwas ,Zukünftiges ,,
das nicht durch simulierte Vorwegnahme
ins Hier und Jetzt geholt werden könnte.
Alles ist immer ,verfügbar,.«
Ob diese Verfügbarkeit tatsächlich die
Dimensionen von Vergangenheit und Zu-
kunft verdrängt und verschwinden lässt,
wäre zu diskutieren . 13 Gumbrecht verla-
gert aber den Schauplatz, wenn er der di -
gitalisierten Hyperkommunikation die
Suche nach Präsenz, die »Insistenz« auf
Präsenz-Bedürfnissen entgegensetzt. So
nachvollziehbar dieser Ansatz ist, bleibt er
angesichts der komplexen Gegenwartsver-
hältnisse doch etwas unbefriedigend . Zu-
mal wenn sich d ie »Präsenz-Perspektive«,
13 Dies gilt auch für die Überlegungen der
Po p-Theo retiker Simon Rcynolds und Mark
Fishcr, die sich in dieser H insicht mit Gum-
brcchts Ansatz treffen ; vgl. dazu meine Pop-
kolumne Vergangene Z11kunft . Repetition,
Rekonstruktion , Retrospektion. In: Merkur ,
Nr. 788, Januar 2015 .
Present Shock 75
darauf hat Aleida Assmann hingewiesen,
letztl ich vor allem als eine Reaktiv ie rung
von Nietzsches Lebens-Begriff präsentiert,
demzufolge ,echte< Kultur »nur aus dem
Leben hervorwachsen und herausblühen «
könne. 14
Bitte oszillieren Sie
Gumbrechts Vorschlag, die »Form der Os-
zillation « als »konstitutiv für die Gegen-
wart« zu sehen , erscheint für den Modus
des kritischen Diskurses hingegen wei-
terführend . Die Polarität von allgegen-
wärtiger Hyperkommunikation und sin -
gulären Präsenzmomenten lässt sich vor
allem dann als ein Zusammenhang erfas-
sen , wenn man weder eine Seite präferiert
oder verabsolutiert noch auf eine vermit-
telnde Synthese abzielt. Auch die Kraft-
felder, die in den diversen Gegenwartsdi-
agnosen zwischen Fragmentierung und
Totalisierung, zwischen Beschleunigung
und Stillstand, zwischen Akzelerations-
emphase und Entschleunigungspachos
sichtbar gemacht werden , kommen deut-
licher in den Blick, wenn man sich in die
Lage versetzt, die Seiten zu wechseln , Os-
zillationen wahrzunehmen und dies auch
in der eigenen Darstellung, für die eigene
Zeitdiagnose, das eigene Zeitbild nicht zu
vergessen.
» Von der eigenen Zeit zu sprechen oder
zu schreiben, scheint immer auch zu be-
deuten , an einem Bild zu arbeiten , ein Bild
der Gegenwart zu entwerfen, indem man
der Zeit Elemente entnimmt und ihnen
eine Form gibt« , reflektiert Marcus Quent
14 Aleida Assmann, Ist die Zeit a11s den F11gen?
Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Mo-
derne. München; Hanser 2013 .
76 EcAhard SchU171acher
,, , ,dienen ß;1 nd . d ·01 ron ih111 l,cr;1us„t!! 1 d ,n t , rt seinen Vcrsuc i , as Al1sof11te Gegc1111 .1 _ . der Zeit« in s·1d der • Vereinhe1rhchung . 1 . • zu konrune-dcr .ahsoluren Gegen11 arr ren. Die kleine Form eines Mcrvc-Readers,
h. dl . ·h, zugange, versch1 e-
Jer unrersc ,e ,c t ' ' . dene Perspekriren, offene ReAex1onen vor
Augen srellr. erscheint dabei als eine rnog-
liche Gegensrraregie zu der im Band selbst
benannr:n Gefahr, im »Bild der ,absolu-
ren Gegenwart« die für die Gegenwa rt
konsrarierre »Beschneidung des Mannig-
fal rigen, die Vereinhei tlichung des Gegen-
wärrigen• zu wiederholen. So baur der Band durchaus auf der von
rermci ntli ch eigentli chen Kern der G
genwart vernachl äss igt , sondern c-, Weil sie - gleichsam anachroni stisch - a, K ' l Üll -
zcptcn von Gegenwart und Aktu::1lität fest-
hält, über die nicht reali siert werden k ann
dass im Zeitalter von Finanzspekulat · ' ' 1011
Big Data und Steuerung durch Algo · I ' nt1-
men die Gegenwart längst deaktual· · ISlert
ist, da die Zeit »aus der Zukunft« ko mmt
und die Zukunft die Gegenwart »als • pri -
mären strukturierenden Aspekt der Zeit
ersetzt« . Man muss di e Konsequenzen .. aus dieser Uberlegung nicht tei len, um sehen
zu können , wie das, was Avanessian in Der
Zeitkomplex im Gespräch mit Suhail Ma-
lik entwickelt , ei n Zusammendenken von
Digitali sierung und Veränderungen in der
Auffassung von Zeit ermöglicht, das weder
Gegenwart konstanter Infragestellung die einschlägi gen Verfallsgeschichten fort-
bedarf«. Zugleich unterläuft das Buch schreibt noch dem eigenen akzelerations-
Marcus Steinweg in se inem Beitrag Ge-
spenstische Gege11wart festgehaltenen
Überzeugung auf, dass »der Begriff der
aber seine Prämissen, wenn die »lernen- geschulten Technikoptimismus verfällt. n e111em espräch mit Hartmut Rosa
rierung der Gegenwart« , der » Totalismus I · G
des Heure•, das » Verschwinden der Ge- ff 1 ' verö enr icht im Rahmen des Schwer-
punktthemas »Augenblick , verweile« im
Philosophie Magazin, kommen noch
brauchbare polemische Spitzen gegen die
Sehnsucht nach Entschleunigungsoasen
genwart« in immer wieder neuen Wen-
dungen konstatiert und derart eindring-
lich festgeschrieben werden , dass das
enrworfene Bild letztlich kaum mehr zu
unterscheiden ist von den K . d. k " nsen 1s ur-
sen und Verfallsgeschichten« , die im Buch
ganz schlüssig als • Tei l der absol G uten e-genwarr• begriffen werden.
Auf andere w · .1 d. . eise g1 t ,es auch für d msbcsondere von Ar . en faltig in Um! fm ben Avaness1an viel-
au gc rachren V hl spekulatives Denke I M orsc ag,
.. n a s odus u d M vens fur eine N b . n o-eu est1mmun · h des Begriffs d G g ntc t nur
er egenwan d haupr für die A 1 'son ern über-
na yse von V, ·· d der Zeirvcrhält . cran erungen
n1sse produkt" Gegenwartsf· . ,v zu machen 1x1erun, . · scr Perspektiven· h g d erscheint aus die-
. ,c t ah weil sie Vergan h . er problematisch
gen c1t, Zukunft od. d ' er cn
anz-1m- 1er-oder die »Ideologie des G . H.
und-Jetzt« hinzu d. · ·· b . , re lll u erraschend
vielen Gegen d. . warts ragnosen 1m Hinter-
grund aktiv bleiben ,s Zug! . h . d . · e1c wir 1m
Austausch der in manchen H. . h
1
lllSIC teil ge-
gen äufigen Po · · d . sitwnen eutl1ch, wie eng
es werden k . ann, wenn elll solcher Wech-
sel der Perspektiven ausbleibt.
Für die Einsicht d · , ass wir »keine line-
are Zeit mehr i s· . m lllne elller Vergangen-
15 Wie viel Zukun't .. . E S . 1' vertragt d,e Gegenwart? 111 tre,tgespräch · undA wmchen Hartmut Rosa
rmen Av . Mag . aness,an. In : Philosophie
azm, Nr. 5, 2016.
hcit« h:1ben, »a uf die die Gegenwa rt und
die Zukunft folgen «, benötigt man weder
ei ne Einführung in das spekulative Den-
ken noch genaue re Kenntni sse auf dem
Feld der Finanzmärkte. Die neue Zeit ist,
wieder ei nmal, ni cht nur neu. Es hilft abe r
gleichwohl , das , was neu erscheint, in den
Blick zu nehm en und hinsichtlich sei ner
eigenen Logik wie :1 uch hi storisch - was
hier immer auch heißt: medienhi stori sch-
zu perspektivieren.
Present Shock 77
Dabei is t vo r all em dann ei ni ges ge-
wonnen , we nn die der Gegenwa rt ge-
rade angesichts der Konsequenzen der
Digitalisierung ve rschi edentli ch zuge-
schri ebenen Simultaneitäten , wenn ihre
Asynchronie und ihre Multiplizität nicht
nur konstatie rt , sondern auch in der Form
der Gegenwartsdiagnose, auf der Ebe-
ne des kriti schen Diskurses und im Be-
griff der Gegenwart ratsächlich reflektiert
werden.