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1.408 Spengler-Untergang, 784 Der Untergang des Abendlandes: 3. ... Drittes Kapitel Probleme der arabischen Kultur I. Historische Pseudomorphosen 1 In einer Gesteinsschicht sind Kristalle eines Minerals eingeschlossen. Es entstehen Spalten und Risse; Was- ser sickert herab und wäscht allmählich die Kristalle aus, so daß nur ihre Hohlform übrig bleibt. Später tre- ten vulkanische Ereignisse ein, welche das Gebirge sprengen; glühende Massen quellen herein, erstarren und kristallisieren ebenfalls aus. Aber es steht ihnen nicht frei, es in ihrer eigenen Form zu tun; sie müssen die vorhandenen ausfüllen und so entstehen gefälschte Formen, Kristalle, deren innere Struktur dem äußeren Bau widerspricht, eine Gesteinsart in der Erschei- nungsweise einer fremden. Dies wird von den Minera- logen Pseudomorphose genannt. Historische Pseudomorphosen nenne ich Fälle, in welchen eine fremde alte Kultur so mächtig über dem Lande hegt, daß eine junge, die hier zu Hause ist, nicht zu Atem kommt und nicht nur zu keiner Bildung reiner, eigener Ausdrucksformen, sondern nicht ein- 1.409 Spengler-Untergang, 785 Der Untergang des Abendlandes: 3. ... mal zur vollen Entfaltung ihres Selbstbewußtseins ge- langt. Alles was aus der Tiefe eines frühen Seelen- tums emporsteigt, wird in die Hohlformen des frem- den Lebens ergossen; junge Gefühle erstarren in ältli- chen Werken und statt des Sichaufreckens in eigener Gestaltungskraft wächst nur der Haß gegen die ferne Gewalt zur Riesengröße. Dies ist der Fall der arabischen Kultur. Ihre Vorge- schichte liegt ganz im Bereiche der uralten babyloni- schen Zivilisation, 1 die seit zwei Jahrtausenden die Beute wechselnder Eroberer war. Ihre »Merowinger- zeit« wird durch die Diktatur der winzigen persischen Stammesgruppe 2 bezeichnet, eines Urvolkes wie die Ostgoten, dessen zweihundert Jährige, kaum bestritte- ne Herrschaft eine unendliche Müdigkeit dieser Fella- chenwelt zur Voraussetzung hat. Aber seit 300 v. Chr. geht eine große Erweckung durch die jungen Völker dieser vom Sinai bis zum Zagros aramäisch redenden Welt. 3 Ein neues Verhältnis des Menschen zu Gott, ein völlig neues Weltgefühl durchdringt wie zur Zeit des Trojanischen Krieges und der Sachsen- kaiser alle bestehenden Religionen, mögen sie die Namen des Ahura Mazda, Baal oder Jahwe tragen; überall drängt es einer großen Schöpfung zu, aber in eben dem Augenblick und so, daß ein innerer Zusam- menhang nicht ganz unmöglich ist denn die Macht des Persertums beruhte auf seelischen Voraussetzun- Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes

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Drittes Kapitel

Probleme der arabischen Kultur

I. Historische Pseudomorphosen

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In einer Gesteinsschicht sind Kristalle eines Mineralseingeschlossen. Es entstehen Spalten und Risse; Was-ser sickert herab und wäscht allmählich die Kristalleaus, so daß nur ihre Hohlform übrig bleibt. Später tre-ten vulkanische Ereignisse ein, welche das Gebirgesprengen; glühende Massen quellen herein, erstarrenund kristallisieren ebenfalls aus. Aber es steht ihnennicht frei, es in ihrer eigenen Form zu tun; sie müssendie vorhandenen ausfüllen und so entstehen gefälschteFormen, Kristalle, deren innere Struktur dem äußerenBau widerspricht, eine Gesteinsart in der Erschei-nungsweise einer fremden. Dies wird von den Minera-logen Pseudomorphose genannt.

Historische Pseudomorphosen nenne ich Fälle, inwelchen eine fremde alte Kultur so mächtig über demLande hegt, daß eine junge, die hier zu Hause ist,nicht zu Atem kommt und nicht nur zu keiner Bildungreiner, eigener Ausdrucksformen, sondern nicht ein-

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mal zur vollen Entfaltung ihres Selbstbewußtseins ge-langt. Alles was aus der Tiefe eines frühen Seelen-tums emporsteigt, wird in die Hohlformen des frem-den Lebens ergossen; junge Gefühle erstarren in ältli-chen Werken und statt des Sichaufreckens in eigenerGestaltungskraft wächst nur der Haß gegen die ferneGewalt zur Riesengröße.

Dies ist der Fall der arabischen Kultur. Ihre Vorge-schichte liegt ganz im Bereiche der uralten babyloni-schen Zivilisation,1 die seit zwei Jahrtausenden dieBeute wechselnder Eroberer war. Ihre »Merowinger-zeit« wird durch die Diktatur der winzigen persischenStammesgruppe2 bezeichnet, eines Urvolkes wie dieOstgoten, dessen zweihundert Jährige, kaum bestritte-ne Herrschaft eine unendliche Müdigkeit dieser Fella-chenwelt zur Voraussetzung hat. Aber seit 300 v.Chr. geht eine große Erweckung durch die jungenVölker dieser vom Sinai bis zum Zagros aramäischredenden Welt.3 Ein neues Verhältnis des Menschenzu Gott, ein völlig neues Weltgefühl durchdringt wiezur Zeit des Trojanischen Krieges und der Sachsen-kaiser alle bestehenden Religionen, mögen sie dieNamen des Ahura Mazda, Baal oder Jahwe tragen;überall drängt es einer großen Schöpfung zu, aber ineben dem Augenblick und so, daß ein innerer Zusam-menhang nicht ganz unmöglich ist – denn die Machtdes Persertums beruhte auf seelischen Voraussetzun-

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gen, die gerade jetzt verschwanden –, erschienen dieMakedonier, von Babylon aus gesehen ein neuerSchwärm von Abenteurern wie alle früheren, undbreitete eine dünne Schicht antiker Zivilisation überdie Länder bis nach Indien und Turkestan. Die Diado-chenreiche hätten zwar unvermerkt Staaten vorarabi-schen Geistes werden können; das Seleukidenreich,das sich mit dem aramäischen Sprachgebiet geradezudeckte, war es schon um 200. Da aber wurde es seitder Schlacht bei Pydna in seinem westlichen Teilenach und nach dem antiken Imperium eingefügt undalso der mächtigen Wirkung eines Geistes unterwor-fen, dessen Schwerpunkt in weiter Ferne lag. Hier be-reitet sich die Pseudomorphose vor.

Die magische Kultur ist geographisch und histo-risch die mittelste in der Gruppe hoher Kulturen, dieeinzige, welche sich räumlich und zeitlich fast mitallen andern berührt. Der Aufbau der Gesamtge-schichte in unserem Weltbilde hängt deshalb ganzdavon ab, ob man ihre innere Form erkennt, welchedurch die äußere gefälscht wird; aber gerade sie istaus philologischen und theologischen Vorurteilen undmehr noch infolge der Zersplitterung der modernenFachwissenschaft bis jetzt nicht erkannt worden. Dieabendländische Forschung ist seit langem nicht nurdem Stoff und der Methode sondern auch dem Denkennach in eine Anzahl von Fachgebieten zerfallen, deren

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widersinnige Abgrenzung es verhindert hat, daß mandie großen Fragen auch nur sah. Wenn irgendwo, soist das »Fach« für die Probleme der arabischen Weltzum Verhängnis geworden. Die eigentlichen Histori-ker hielten sich an das Interessengebiet der klassi-schen Philologie, aber deren Horizont endete an derantiken Sprachgrenze im Osten. Infolgedessen habensie die tiefe Einheit der Entwicklung diesseits undjenseits dieser seelisch gar nicht vorhandenen Schran-ke nie bemerkt. Das Ergebnis war die Perspektive Al-tertum – Mittelalter – Neuzeit, die durch den grie-chisch-lateinischen Sprachgebrauch abgegrenzt undzusammengehalten wird. Axum, Saba und auch dasSassanidenreich waren für den Kenner der alten Spra-chen, der sich an »Texte« hielt, nicht erreichbar unddeshalb geschichtlich so gut wie nicht vorhanden. DieLiteraturforscher, ebenfalls Philologen, verwechseltenden Geist der Sprache mit dem der Werke. Was imaramäischen Gebiet griechisch geschrieben oder auchnur erhalten war, wurde einer »spätgriechischen« Li-teratur einverleibt und daraufhin eine eigene Periodedieser Literatur angesetzt. Die Texte in anderen Spra-chen fielen nicht in ihr Fach und wurden deshalb zuanderen Literaturgeschichten künstlich zusammenge-faßt. Aber gerade hier lag das stärkste Beispiel dafürvor, daß keine Literaturgeschichte der Welt sich miteiner Sprache deckt.4 Es gab hier eine geschlossene

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Gruppe magischer Nationalliteraturen von einheitli-chem Geist, aber in mehreren Sprachen, darunterauch den antiken. Denn eine Nation magischen Stilshat keine Muttersprache. Es gibt eine talmudische,manichäische, nestorianische, islamische, sogar eineneupythagoräische Nationalliteratur, aber keine helle-nische oder hebräische.

Die Religionsforschung zerlegte das Gebiet in Ein-zelfächer nach westeuropäischen Konfessionen, undfür die christliche Theologie ist wieder die »Philolo-gengrenze« im Osten maßgebend gewesen und ist esnoch. Das Persertum fiel in die Hände der iranischenPhilologie. Weil die Awestatexte in einem arischenDialekt nicht abgefaßt, aber verbreitet wurden, istdies gewaltige Problem als Nebenaufgabe für Indolo-gen betrachtet worden und verschwand damit völligaus dem Gesichtskreis der christlichen Theologie. Fürdie Geschichte des talmudischen Judentums ist end-lich, da die hebräische Philologie mit der alttesta-mentlichen Forschung ein Fach bildet, kein weiteresFach abgegrenzt worden und es wurde deshalb inallen großen Religionsgeschichten, die ich kenne, diejede primitive Negerreligion – weil es eine Völker-kunde als Fach gibt – und jede indische Sekte in Be-tracht ziehen, vollständig vergessen. Das ist die ge-lehrte Vorbereitung der größten Aufgabe, welche derheutigen Geschichtsforschung gestellt ist.

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Die römische Welt der Kaiserzeit hat ihre Lage wohlgeahnt. Die späten Schriftsteller sind voll von Klagenüber die Entvölkerung und geistige Verödung Afri-kas, Spaniens, Galliens und vor allem der antikenStammgebiete, Italiens, und Griechenlands. Ausge-nommen von diesem verzweifelten Umblick sind re-gelmäßig die Provinzen, welche zur magischen Weltgehören. Syrien besonders ist dicht bevölkert undblüht wie das parthische Mesopotamien dem Blutewie der Seele nach prachtvoll auf. Das Übergewichtdes jungen Ostens ist jedem fühlbar und mußte end-lich auch politisch zum Ausdruck kommen. Die revo-lutionären Kriege zwischen Marius und Sulla, Cäsarund Pompejus, Antonius und Oktavian sind von hieraus betrachtet ein Stück Vordergrundsgeschichte, hin-ter welcher immer deutlicher der Versuch einer Eman-zipation dieses Ostens von dem geschichtslos werden-den Westen, einer erwachenden von einer Fellachen-welt hervortritt. Die Verlegung der Hauptstadt nachByzanz war ein großes Symbol. Diokletian hatte Ni-komedien gewählt, Cäsar an Alexandria oder Ilion ge-dacht; Antiochia wäre in jedem Falle richtiger gewe-sen. Aber dieser Akt vollzog sich drei Jahrhunderte zuspät: es waren die entscheidenden der magischen

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Frühzeit.Die Pseudomorphose beginnt mit Actium – hier

hätte Antonius siegen müssen. Es war nicht der Ent-scheidungskampf zwischen Römertum und Hellenis-mus, der zum Austrag kam; der ist bei Cannä undZama ausgefochten worden, von Hannibal, der dastragische Geschick hatte, in Wirklichkeit nicht fürsein Land, sondern für das Hellenentum zu kämpfen.Bei Actium stand die ungeborene arabische Kulturgegen die greisenhafte antike Zivilisation. Es handeltesich um apollinischen oder magischen Geist, um dieGötter oder den Gott, um Prinzipat oder Kalifat. An-tonius' Sieg hätte die magische Seele befreit; seineNiederlage führte die starre Kaiserzeit über ihre Land-schaft herauf. Der Ausgang würde den Folgen derSchlacht von Tours und Poitiers 732 vergleichbarsein, wenn dort die Araber gesiegt und »Frankistan«zu einem Kalifat des Nordostens gemacht hätten. Ara-bische Sprache, Religion und Gesellschaft wären ineiner herrschenden Schicht heimisch geworden, Rie-senstädte wie Granada und Kairuan wären an Loireund Rhein entstanden, das gotische Gefühl wäre ge-zwungen worden, sich in den längst erstarrten Formenvon Moschee und Arabeske auszudrücken und stattder deutschen Mystik besäßen wir eine Art von Sufis-mus. Daß das Entsprechende in der arabischen Weltwirklich geschah, war die Folge davon, daß die sy-

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risch-persische Bevölkerung keinen Karl Martell her-vorgebracht hat, der mit Mithridates Brutus und Cas-sius oder Antonius und über sie hinaus Rom be-kämpfte.

Eine zweite Pseudomorphose liegt heute vor unse-ren Augen: das petrinische Rußland. Die russischeHeldensage der Bylinenlieder erreicht ihren Gipfel indem Kiewschen Sagenkreise vom Fürsten Wladimir(um 1000) und seiner Tafelrunde und dem Volkshel-den Ilja von Murom.5 Der ganze unermeßliche Unter-schied zwischen der russischen und der faustischenSeele liegt schon zwischen diesen Gesängen und den»gleichzeitigen« der Artus-, Ermanarich- und Nibe-lungensagen der Wanderzeit in der Form des Hilde-brand- und Walthariliedes. Die russische Merowin-gerzeit beginnt mit dem Sturz der Tartarenherrschaftdurch Iwan III. (1480) und führt über die letzten Ru-riks und die ersten Romanows bis auf Peter den Gro-ßen (1689–1725). Sie entspricht genau der Zeit vonChlodwig (481–511) bis zur Schlacht von Testry(687), mit welcher die Karolinger tatsächlich dieHerrschaft erhielten. Ich rate jedem, die fränkischeGeschichte des Gregor von Tours (bis 591) und dane-ben die entsprechenden Abschnitte bei dem altväteri-schen Karamsin zu lesen, vor allem die über Iwan denSchrecklichen, Boris Godunow und Schuiski. DieÄhnlichkeit kann nicht größer sein. Auf diese Mosko-

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witerzeit der großen Bojarengeschlechter und Patriar-chen, in der beständig eine altrussische Partei gegendie Freunde westlicher Kultur kämpfte, folgt mit derGründung von Petersburg (1703) die Pseudomorpho-se, welche die primitive russische Seele erst in diefremden Formen des hohen Barock, dann der Aufklä-rung, dann des 19. Jahrhunderts zwang. Peter derGroße ist das Verhängnis des Russentums geworden.Man denke sich seinen »Zeitgenossen« Karl den Gro-ßen, der planmäßig und mit seiner ganzen Energie dasdurchsetzt, was Karl Martell durch seinen Sieg so-eben verhindert hatte: die Herrschaft des maurisch-by-zantinischen Geistes. Es bestand die Möglichkeit, dierussische Welt nach Art entweder der Karolinger oderder Seleukiden zu behandeln, altrussisch nämlich oder»westlerisch«, und die Romanows haben sich für dasletzte entschieden. Die Seleukiden wollten Hellenen,nicht Aramäer um sich sehen.

Der primitive Zarismus von Moskau ist die einzigeForm, welche noch heute dem Russentum gemäß ist,aber er ist in Petersburg in die dynastische FormWesteuropas umgefälscht worden. Der Zug nach demheiligen Süden, nach Byzanz und Jerusalem, der tiefin allen rechtgläubigen Seelen lag, wurde in eine welt-männische Diplomatie mit dem Blick nach Westenverwandelt. Auf den Brand von Moskau, die großartigsymbolische Tat eines Urvolkes, aus welcher der

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Makkabäerhaß gegen alles Fremde und Fremdgläubi-ge redet, folgt der Einzug Alexanders in Paris, dieheilige Allianz und die Stellung im Konzert der west-lichen Großmächte. Ein Volkstum, dessen Bestim-mung es war, noch auf Generationen hin geschichtsloszu leben, wurde in eine künstliche und unechte Ge-schichte gezwängt, deren Geist vom Urrussentum garnicht begriffen werden konnte. Späte Künste undWissenschaften wurden hereingetragen, Aufklärung,Sozialethik, weltstädtischer Materialismus, obwohl indieser Vorzeit Religion die einzige Sprache war, inder man sich und die Welt verstand; in das stadtloseLand mit seinem ursprünglichen Bauerntum nistetensich Städte fremden Stils wie Geschwüre ein. Siewaren falsch, unnatürlich, unwahrscheinlich bis in ihrInnerstes. »Petersburg ist die abstrakteste und künst-lichste Stadt, die es gibt«, bemerkt Dostojewski. Erhatte, obwohl er dort geboren war, ein Gefühl, als obsie sich eines Morgens mit den Sumpfnebeln zugleichauflösen könnte. So, geisterhaft, unglaubwürdig,lagen auch die hellenistischen Prunkstädte überall imaramäischen Bauernland. So hat Jesus sie in seinemGaliläa gesehen. So muß Petrus empfunden haben, alser das kaiserliche Rom erblickte.

Alles was rings umher entstand, ist von dem echtenRussentum seitdem als Gift und Lüge empfundenworden. Ein wahrhaft apokalyptischer Haß richtet

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sich gegen Europa auf. Und »Europa« war alles, wasnicht russisch war, auch Rom und Athen, ganz wie fürden magischen Menschen damals auch das alte Ägyp-ten und Babylon antik, heidnisch, teuflisch war. »Dieerste Bedingung der Befreiung des russischen Volks-gefühls ist: von ganzem Herzen und aus voller SeelePetersburg zu hassen«, schreibt Aksakow 1863 anDostojewski. Moskau ist heilig, Petersburg ist derSatan; Peter der Große erscheint in einer verbreitetenVolkslegende als der Antichrist. Genau so redet esaus allen Apokalypsen der aramäischen Pseudomor-phose, vom Buche Daniel und Henoch zur Makkabä-erzeit bis auf die Offenbarung Johannis, Baruch undden IV. Esra nach der Zerstörung Jerusalems, gegenAntiochus, den Antichrist, gegen Rom, die babyloni-sche Hure, gegen die Städte des Westens mit ihremGeist und Pomp, gegen die gesamte antike Kultur.Alles was entsteht, ist unwahr und unrein: diese ver-wöhnte Gesellschaft, die durchgeistigten Künste, diesozialen Stände, der fremde Staat mit seiner zivilisier-ten Diplomatie, Rechtsprechung und Verwaltung. Esgibt keinen größeren Gegensatz als russischen undabendländischen, jüdisch-christlichen und spätantikenNihilismus: den Haß gegen das Fremde, das die nochungeborene Kultur im Mutterschoß des Landes ver-giftet, und den Ekel vor der eignen, deren Höhe manendlich satt ist. Tiefstes religiöses Weltgefühl, plötz-

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liche Erleuchtungen, Schauder der Furcht vor demkommenden Wachsein, metaphysisches Träumen undSehnen stehen am Anfang, bis zum Schmerz gestei-gerte geistige Klarheit am Ende der Geschichte. Indiesen beiden Pseudomorphosen mischen sie sich.»Alle grübeln sie jetzt auf den Straßen und Marktplät-zen über den Glauben«, heißt es bei Dostojewski. Dashätte auch von Jerusalem und Edessa gesagt werdenkönnen. Diese jungen Russen vor dem Kriege,schmutzig, bleich, erregt, in Winkeln hockend undimmer mit Metaphysik beschäftigt, alles mit denAugen des Glaubens betrachtend, selbst wenn sichdas Gespräch dem Anschein nach um Wahlrecht,Chemie oder Frauenstudium bewegte – das sind dieJuden und Urchristen der hellenistischen Großstädte,die der Römer mit so viel Spott, Widerwillen undheimlicher Furcht betrachtete. Es gab im zarischenRußland kein Bürgertum, überhaupt keine echtenStände, sondern nur Bauern und »Herren« wie imFrankenreiche. Die »Gesellschaft« war eine Welt fürsich, das Produkt einer westlerischen Literatur, etwasFremdes und Sündhaftes. Es gab keine russischenStädte. Moskau war eine Pfalz – der Kreml –, um densich ein riesenhafter Markt ausbreitete. Die Schein-stadt, die sich hineindrängt und herumlagert, und alledie andern auf dem Boden des Mütterchen Rußland,sind des Hofes, der Verwaltung, der Kaufleute wegen

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da; aber was in ihnen lebt, ist oben eine fleischge-wordne Literatur, die »Intelligenz« mit angelesenenProblemen und Konflikten, und in der Tiefe entwur-zeltes Bauernvolk mit all der metaphysischen Trauer,Angst und dem Elend, das Dostojewski mit ihm erlebthat, mit dem beständigen Heimweh nach der weitenErde und dem bitteren Haß gegen die steinerne grei-senhafte Welt, in die der Antichrist sie verlockt hatte.Moskau besaß keine eigene Seele. Die Gesellschaftwar von westlichem Geist und das Volk unten führtedie Seele des Landes mit sich. Zwischen beiden Wel-ten gab es kein Verstehen, keine Vermittlung, keineVerzeihung. Will man die beiden großen Fürsprecherund Opfer der Pseudomorphose verstehen, so war Do-stojewski ein Bauer, Tolstoi ein Mensch der weltstäd-tischen Gesellschaft. Der eine konnte sich innerlichvom Lande nie befreien, der andere hat es trotz allenverzweifelten Bemühens niemals gefunden.

Tolstoi ist das vergangene, Dostojewski das kom-mende Rußland. Tolstoi ist mit seinem ganzen Innerndem Westen verbunden. Er ist der große Wortführerdes Petrinismus, auch wenn er ihn verneint. Es iststets eine westliche Verneinung. Auch die Guillotinewar eine legitime Tochter von Versailles. Sein mäch-tiger Haß redet gegen das Europa, von dem er selbstsich nicht befreien kann. Er haßt es in sich, er haßtsich. Er wird damit der Vater des Bolschewismus. Die

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ganze Ohnmacht dieses Geistes und »seiner« Revolu-tion von 1917 spricht aus den nachgelassenen Sze-nen: »Das Licht leuchtet in der Finsternis«. DiesenHaß kennt Dostojewski nicht. Er hat alles Weltlichemit einer ebenso leidenschaftlichen Liebe umfaßt.»Ich habe zwei Vaterländer, Rußland und Europa«.Für ihn hat das alles, Petrinismus und Revolution, be-reits keine Wirklichkeit mehr. Aus seiner Zukunftblickt er wie aus weiter Ferne darüber hin. SeineSeele ist apokalyptisch, sehnsüchtig, verzweifelt, aberdieser Zukunft gewiß. »Ich werde nach Europa fah-ren«, sagt Iwan Karamasoff zu seinem Bruder Al-joscha, »ich weiß es ja, daß ich nur auf einen Friedhoffahre, doch auf den teuersten, allerteuersten Friedhof,das weiß ich auch. Teure Tote liegen dort begraben,jeder Stein über ihnen redet von einem so heißen ver-gangenen Leben, von so leidenschaftlichem Glaubenan die vollbrachten eigenen Taten, an die eigeneWahrheit, an den eigenen Kampf und die eigene Er-kenntnis, daß ich, ich weiß es im voraus, zur Erdeniederfallen, diese Steine küssen und über ihnen wei-nen werde.« Tolstoi ist durchaus ein großer Verstand,»aufgeklärt« und »sozial gesinnt«. Alles was er umsich sieht, nimmt die späte, großstädtische und westli-che Form eines Problems an. Dostojewski weiß garnicht, was Probleme sind. Jener ist ein Ereignis inner-halb der europäischen Zivilisation. Er steht in der

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Mitte zwischen Peter dem Großen und dem Bolsche-wismus. Die russische Erde haben sie alle nicht zuGesicht bekommen. Was sie bekämpfen, wird durchdie Form, in der sie es tun, doch wieder anerkannt.Das ist nicht Apokalyptik, sondern geistige Oppositi-on. Sein Haß gegen den Besitz ist nationalökonomi-scher, sein Haß gegen die Gesellschaft sozialethischerNatur; sein Haß gegen den Staat ist eine politischeTheorie. Daher seine gewaltige Wirkung auf den We-sten. Er gehört irgendwie zu Marx, Ibsen und Zola.Seine Werke sind nicht Evangelien, sondern späte,geistige Literatur. Dostojewski gehört zu niemand,wenn nicht zu den Aposteln des Urchristentums.Seine »Dämonen« waren in der russischen Intelligenzals konservativ verschrien. Aber Dostojewski siehtdiese Konflikte gar nicht. Für ihn ist zwischen kon-servativ und revolutionär überhaupt kein Unterschied:beides ist westlich. Eine solche Seele sieht über allesSoziale hinweg. Die Dinge dieser Welt erscheinen ihrso unbedeutend, daß sie auf ihre Verbesserung keinenWert legt. Keine echte Religion will die Welt der Tat-sachen verbessern. Dostojewski wie jeder Urrusse be-merkt sie gar nicht; sie leben in einer zweiten, meta-physischen, die jenseits der ersten liegt. Was hat dieQual einer Seele mit dem Kommunismus zu tun? EineReligion, die bei Sozialproblemen angelangt ist, hataufgehört, Religion zu sein. Dostojewski aber lebt

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schon in der Wirklichkeit einer unmittelbar bevorste-henden religiösen Schöpfung. Sein Aljoscha ist demVerständnis aller literarischen Kritik, auch der russi-schen, entzogen; sein Christus, den er immer schrei-ben wollte, wäre ein echtes Evangelium geworden wiejene des Urchristentums, die gänzlich außerhalb allerantiken und jüdischen Literaturformen stehen. AberTolstoi ist ein Meister des westlichen Romans – AnnaKarenina wird von keinem zweiten auch nur entfernterreicht –, ganz wie er auch in seinem Bauernkittelein Mann der Gesellschaft ist.

Anfang und Ende stoßen hier zusammen. Dosto-jewski ist ein Heiliger, Tolstoi ist nur ein Revolutio-när. Von ihm allein, dem echten Nachfolger Peters,geht der Bolschewismus aus: nicht das Gegenteil,sondern die letzte Konsequenz des Petrinismus, dieäußerste Herabwürdigung des Metaphysischen durchdas Soziale und eben deshalb nur eine neue Form derPseudomorphose. War die Gründung von Petersburgdie erste Tat des Antichrist, so war die Vernichtungder von Petersburg aus gebildeten Gesellschaft durchsich selbst die zweite: so muß das Bauerntum es in-nerlich empfinden. Denn die Bolschewisten sind nichtdas Volk, auch nicht ein Teil von ihm. Sie sind dietiefste Schicht der »Gesellschaft«, fremd, westlerischwie sie, aber von ihr nicht anerkannt und deshalb vomHaß der Niedrigen erfüllt. Alles das ist großstädtisch

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und zivilisiert, das Sozialpolitische, der Fortschritt,die Intelligenz, die ganze russische Literatur, die erstromantisch und dann nationalökonomisch für Freihei-ten und Verbesserungen schwärmt. Denn alle ihre»Leser« gehören zur Gesellschaft. Der echte Russe istein Jünger Dostojewskis, obwohl er ihn nicht liest,obwohl und weil er überhaupt nicht lesen kann. Er istselbst ein Stück Dostojewski. Wären die Bolschewi-sten, die in Christus ihresgleichen, einen bloßen Soz-ialrevolutionär erblicken, geistig nicht so eng, siewürden in Dostojewski ihren eigentlichen Feind er-kannt haben. Was dieser Revolution ihre Wucht gab,war nicht der Haß der Intelligenz. Es war das Volk,das ohne Haß, nur aus dem Trieb, sich von einerKrankheit zu heilen, die westlerische Welt durchihren Abhub zerstörte und diesen selbst ihr nachsen-den wird; das stadtlose Volk, das sich nach seiner ei-genen Lebensform, seiner eigenen Religion, seiner ei-genen künftigen Geschichte sehnt. Das ChristentumTolstois war ein Mißverständnis. Er sprach von Chri-stus und meinte Marx. Dem Christentum Dostojew-skis gehört das nächste Jahrtausend.

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Außerhalb der Pseudomorphose und um so kräftiger,je geringer die Macht antiken Geistes im Lande liegt,drängen alle Formen einer echten Ritterzeit hervor.Scholastik und Mystik, Lehnstreue, Minnesang,Kreuzzugsbegeisterung – das war alles in den erstenJahrhunderten der arabischen Kultur vorhanden, manmuß es nur zu finden wissen. Es gibt auch nach Septi-mius Severus noch dem Namen nach Legionen, abersie sehen im Osten aus wie das Gefolge eines Her-zogs; Beamte werden ernannt, aber eigentlich hat maneinem Grafen ein Lehen übertragen; während der Cä-sarentitel im Westen in die Hände von Häuptlingenfällt, verwandelt sich der Osten in ein frühes Kalifat,das mit dem Lehnsstaat der reifen Gotik die erstaun-lichste Ähnlichkeit hat. Im Sassanidenreich, im Hau-ran, in Südarabien bricht eine echte Ritterzeit an. EinKönig von Saba, Schamir Juharisch, lebt wie Rolandund König Artus durch seine Heldentaten in der ara-bischen Sage fort, die ihn durch Persien bis nachChina ziehen läßt.6 Das Reich von Ma'ân im erstenvorchristlichen Jahrtausend bestand neben dem israe-litischen und läßt sich in seinen Überresten mit Myke-ne und Tiryns vergleichen; die Spuren reichen tiefnach Afrika hinein.7 Jetzt aber erblüht in ganz Süd-

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arabien und selbst im abessinischen Gebirge die Feu-dalzeit.8 In Axum entstehen in frühchristlicher Zeitmächtige Schlösser und die Königsgräber mit dengrößten Monolithen der Welt.9 Hinter den Königensteht ein Lehnsadel der Grafen (kail) und Statthalter(kabir), Vasallen von oft zweifelhafter Treue, derengroßer Besitz die Hausmacht der Könige mehr undmehr einengt. Die endlosen christlich-jüdischen Krie-ge zwischen Südarabien und dem Reich von Axum10haben ritterlichen Charakter und lösen sich oft in Ein-zelfehden auf, die von den Baronen von deren Burgenaus geführt werden. In Saba herrschen die – späterchristlichen – Hamdaniden. Hinter ihnen steht daschristliche und mit Rom verbündete Reich von Axum,das um 300 vom weißen Nil bis zur Somaliküste unddem persischen Golf reicht und 525 die jüdischenHimjariten stürzt. 542 fand hier der Fürstenkongreßvon Marib statt, auf dem Byzanz und Persien durchGesandte vertreten waren. Noch heute liegen überallim Lande die zahllosen Ruinen mächtiger Schlösser,von denen man in islamischer Zeit sich nur denkenkonnte, daß sie von Geisterhänden erbaut seien. DieBurg Gomdan war eine Festung von zwanzig Stock-werken.11

Im Sassanidenreich herrschte die Ritterschaft derDinkane, und der glänzende Hof dieser »Staufenkai-ser« des frühen Ostens ist in jedem Betracht für den

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byzantinischen seit Diokletian vorbildlich geworden.Noch viel später wußten die Abbassiden in ihrer neu-gegründeten Residenz Bagdad nichts Besseres, alsdas Sassanidenideal eines höfischen Lebens in großerForm nachzuahmen. In Nordarabien entwickelte sichan den Höfen der Ghassaniden und Lachmiden eineechte Troubadour- und Minnepoesie, und ritterlicheDichter fochten zur Kirchenväterzeit »mit Wort,Lanze und Schwert« ihre Wettkämpfe aus. Darunterwar auch ein Jude, Samuel, Burgherr auf Al Ablaq,der um fünf kostbarer Panzer willen eine Belagerungdurch den König von El Hira aushielt.12 Dieser Lyrikgegenüber ist die spätarabische, wie sie seit 800 na-mentlich in Spanien blühte, nichts als Romantik, diezu jener altarabischen Kunst in ganz demselben Ver-hältnis steht wie Uhland und Eichendorff zu Waltervon der Vogelweide.

Für diese junge Welt der ersten nachchristlichenJahrhunderte hatten unsere Altertumsforscher undTheologen keinen Blick. Mit den Zuständen des spät-republikanischen und kaiserlichen Roms beschäftigt,sehen sie hier nur primitive und jedenfalls unbedeu-tende Verhältnisse. Aber die Partherscharen, die wie-der und wieder gegen römische Legionen anritten,waren ritterlich begeisterte Mazdaisten. Es lag Kreuz-zugsstimmung über ihren Heeren. So hätte es mit demChristentum werden können, wenn es nicht ganz der

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1.428 Spengler-Untergang, 797Der Untergang des Abendlandes: 3. ...

Pseudomorphose verfallen wäre. Die Stimmung warauch hier vorhanden. Tertullian sprach von der militiaChristi und das Sakrament wurde als Fahneneid be-zeichnet. In den späteren Heidenverfolgungen warChristus der Held, für den sein Gefolge zu Felde zog,aber einstweilen gab es statt christlicher Ritter undGrafen römische Legaten und statt der Schlösser undTurniere diesseits der römischen Grenze nur Lagerund Hinrichtungen. Aber trotzdem war es ein echterKreuzzug der Juden und kein eigentlicher Parther-krieg, der 115 unter Trajan losbrach und in dem alsVergeltung für die Zerstörung von Jerusalem dieganze ungläubige – »griechische« – Bevölkerung vonCypern, angeblich 240000 Menschen, niedergemachtwurde. Nisibis ist damals in einer vielbewundertenBelagerung von Juden verteidigt worden. Das kriege-rische Adiabene war ein Judenstaat. In allen Parther-und Perserkriegen gegen Rom haben die bäuerlichrit-terlichen Aufgebote der mesopotamischen Juden inder ersten Linie gefochten.

Aber nicht einmal Byzanz hat sich dem Geiste derarabischen Feudalzeit ganz entziehen können, dieunter einer Schicht spätantiker Verwaltungsformennamentlich im Innern Kleinasiens zur Entstehungeines echten Lehnswesens führte. Es gab da mächtigeGeschlechter, deren Vasallentreue unzuverlässig warund die alle den Ehrgeiz hatten, den byzantinischen

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Thron in ihren Besitz zu bringen. »Anfänglich an dieHauptstadt gebunden, die nur mit Erlaubnis des Kai-sers verlassen werden durfte, saß dieser Adel späterauf seinen weitgedehnten Domänen in der Provinzund bildete seit dem 4. Jahrhundert als Provinzaristo-kratie einen wirklichen Stand, der im Laufe der Zeitfür sich eine gewisse Unabhängigkeit von der kaiser-lichen Macht beanspruchte.«13

Das »römische Heer« hat sich im Osten in wenigerals zwei Jahrhunderten aus einer modernen Armee inein Ritterheer zurückverwandelt. Die römische Legionist durch die Maßnahmen der Severer um 200 ver-schwunden.14 Im Westen sanken sie zu Hordenherab; im Osten entstand im 4. Jahrhundert ein spä-tes, aber echtes Rittertum. Den Ausdruck gebrauchtschon Mommsen, ohne seine Tragweite zu erken-nen.15 Der junge Adlige erhielt eine sorgfältige Aus-bildung im Einzelkampf, zu Pferde, mit Bogen undLanze. Kaiser Gallienus, der Freund Plotins und Er-bauer der Porta Nigra, eine der bedeutendsten und un-glücklichsten Erscheinungen aus der Zeit der Solda-tenkaiser, bildete um 260 aus Germanen und Maureneine neue Art von berittener Truppe, seine Gefolg-streuen. Es ist bezeichnend, daß in der Religion desrömischen Heeres die alten Stadtgottheiten zurücktre-ten und unter den Namen des Mars und Herkules diegermanischen Götter des persönlichen Heldentums an

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1.430 Spengler-Untergang, 798Der Untergang des Abendlandes: 3. ...

die Spitze gelangen.16 Die palatini Diokletians sindnicht ein Ersatz für die von Septimius Severus aufge-lösten Prätorianer, sondern ein kleines wohldiszipli-niertes Ritterheer, während die comitatenses, dasgroße Aufgebot, in numeri, »Fähnlein« geordnet wer-den. Die Taktik ist die einer jeden Frühzeit, welcheauf persönliche Tapferkeit stolz ist. Der Angriff er-folgt in der germanischen Form des Gevierthaufens(»Eberkopfes«). Unter Justinian ist das der Zeit KarlsV. genau entsprechende System der Landsknechtevoll ausgebildet, die von Kondottieri17 in der ArtFrundsbergs angeworben werden und unter sichLandsmannschaften bilden. Der Zug des Narses wirdvon Prokop18 ganz wie die großen Werbungen Wal-lensteins beschrieben.

Aber daneben erscheint in diesen frühen Jahrhun-derten auch eine prachtvolle Scholastik und Mystikmagischen Stils, die an den berühmten Hochschulendes gesamten aramäischen Gebiets zu Hause ist: denpersischen von Ktesiphon, Resain, Dschondisabur,den jüdischen von Sura, Nehardea und Pumbadita,denen anderer »Nationen« von Edessa, Nisibis, Kin-nesrin. Hier sind die Hauptsitze einer blühendenAstronomie, Philosophie, Chemie und Medizin, abernach Westen hin wird diese große Erscheinung durchdie Pseudomorphose verdorben. Was magischen Ur-sprungs und Geistes ist, geht zu Alexandria und Bei-

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rut in die Formen griechischer Philosophie und römi-scher Rechtswissenschaft über; es wird in antikenSprachen niedergeschrieben, in fremde und längst er-starrte Literaturformen gepreßt und durch die greisen-hafte Denkweise einer ganz anders angelegten Zivili-sation verfälscht. Damals und nicht mit dem Islam be-ginnt die arabische Wissenschaft. Aber weil unserePhilologen nur das entdeckten, was in spätantikerFassung in Alexandria und Antiochia erschien, undvon dem ungeheuren Reichtum der arabischen Früh-zeit und den wirklichen Mittelpunkten ihres For-schens und Schauens nichts ahnten, konnte die absur-de Meinung entstehen, »die Araber« seien geistigeEpigonen der Antike gewesen. In Wirklichkeit ist sogut wie alles, was – von Edessa aus gesellen – jen-seits der Philologengrenze dem heutigen Auge alsFrucht spätantiken Geistes gilt, nichts als der Wider-schein früharabischer Innerlichkeit. Damit stehen wirvor der Pseudomorphose der magischen Religion.

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1.432 Spengler-Untergang, 799Der Untergang des Abendlandes: 3. ...

4

Die antike Religion lebt in einer ungeheuren Zahl vonEinzelkulten, die, in dieser Gestalt dem apollinischenMenschen natürlich und selbstverständlich, jedemFremden in ihrem eigentlichen Wesen so gut wie ver-schlossen sind. Sobald Kulte von solcher Art entstan-den, gab es eine antike Kultur. Sobald sie in späterRömerzeit ihr Wesen veränderten, war die Seele die-ser Kultur zu Ende. Außerhalb der antiken Landschaftsind sie niemals echt und lebendig gewesen. DasGöttliche ist stets an einen einzelnen Ort gebundenund auf ihn beschränkt. Das entspricht dem statischenund euklidischen Weltgefühl. Das Verhalten desMenschen zur Gottheit hat die Form eines ebenfallsortsgebundenen Kultes, dessen Bedeutung im Bildeder rituellen Handlung und nicht in deren dogmati-schem Hintersinn liegt. Wie die Bevölkerung in zahl-lose nationale Punkte, so zerfällt ihre Religion indiese winzigen Kulte, deren jeder von jedem andernvollständig unabhängig ist. Nicht ihr Umfang, son-dern nur ihre Anzahl kann zunehmen. Es ist die ein-zige Form des Wachstums innerhalb der antiken Reli-gion und sie schließt jede Mission vollständig aus.Denn diese Kulte übt man aus, aber man gehört ihnennicht an; es gibt keine antiken »Gemeinden«. Wenn

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spätes Denken in Athen etwas Allgemeineres imGöttlichen und Kultischen annimmt, so ist das nichtReligion, sondern Philosophie, die sich auf das Den-ken einzelner beschränkt und auf das Empfinden derNation, nämlich der Polis, nicht im geringsten ein-wirkt.

Im schärfsten Gegensatz dazu steht die sichtbareForm der magischen Religion, die Kirche, die Ge-meinschaft der Rechtgläubigen, die keine Heimat undkeine irdische Grenze kennt. Von der magischen Gott-heit gilt das Wort Jesu: »Wo zwei oder drei versam-melt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unterihnen.« Es versteht sich, daß für jeden Gläubigen nurein Gott der wahre und gute sein kann, die Götter derandern aber falsch und böse sind.19 Die Beziehungzwischen diesem Gott und dem Menschen ruht nichtim Ausdruck, sondern in der geheimen Kraft, in derMagie gewisser symbolischer Handlungen: damit siewirksam sind, muß man ihre Form und Bedeutunggenau kennen und sie danach ausüben. Die Kenntnisdieser Bedeutung ist ein Besitz der Kirche – sie ist dieKirche selbst als die Gemeinschaft der Kenner – unddamit liegt der Schwerpunkt jeder magischen Religionnicht im Kult, sondern in einer Lehre, im Bekenntnis.

Solange die Antike sich seelisch aufrecht hielt, be-stand die Pseudomorphose darin, daß alle Kirchen desOstens in Kulte westlichen Stils überführt wurden.

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1.434 Spengler-Untergang, 801Der Untergang des Abendlandes: 3. ...

Das ist eine wesentliche Seite des Synkretismus. Diepersische Religion dringt als Mithraskult ein, diechaldäisch-syrische in den Kulten der Gestirngötterund Baale (Jupiter Dolichenus, Sabazios, Sol Invic-tus, Atargatis), das Judentum in Gestalt eines Jahwe-kultes, denn die ägyptischen Gemeinden der Ptolemä-erzeit lassen sich nicht anders bezeichnen,20 undauch das früheste Christentum, wie die PaulinischenBriefe und die römischen Katakomben deutlich erken-nen lassen, als Jesuskult. Mögen alle diese Kulte, dieetwa seit Hadrian die der echt antiken Stadtgötter völ-lig in den Hintergrund drängen, noch so laut den An-spruch erheben, eine Offenbarung des einzig wahrenGlaubens zu sein – Isis nennt sich deorum dearum-que facies uniformis –, so tragen sie doch sämtlicheMerkmale des antiken Einzelkultes: sie vermehrenderen Zahl ins Unendliche; jede Gemeinde steht fürsich und ist örtlich begrenzt, alle diese Tempel, Kata-komben, Mithräen, Hauskapellen sind Kultorte, anwelche die Gottheit nicht ausdrücklich, aber gefühls-mäßig gebunden ist; aber trotzdem liegt magischesEmpfinden in dieser Frömmigkeit. Antike Kulte übtman aus, und zwar in beliebiger Zahl, von diesen ge-hört man einem einzigen an. Die Mission ist dort un-denkbar, hier ist sie selbstverständlich, und der Sinnreligiöser Übungen verschiebt sich deutlich nach derlehrhaften Seite.

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Mit dem Hinschwinden der apollinischen und demAufblühen der magischen Seele seit dem zweitenJahrhundert kehrt sich das Verhältnis um. Das Ver-hängnis der Pseudomorphose bleibt, aber es sind jetztKulte des Westens, die zu einer neuen Kirche desOstens werden. Aus der Summe von Einzelkultenentwickelt sich eine Gemeinschaft derer, welche andiese Gottheiten und Übungen glauben, und nach demVorgange des Persertums und Judentums entsteht einneues Griechentum als magische Nation. Aus dersorgfältig festgelegten Form der Einzelhandlung beiOpfern und Mysterien wird ein Art Dogma über denGesamtsinn dieser Akte. Die Kulte können sich ge-genseitig vertreten; man übt sie nicht eigentlich aus,sondern »hängt ihnen an«. Und aus der Gottheit desOrtes wird, ohne daß jemand sich der Schwere dieserWandlung bewußt wäre, die am Orte gegenwärtigeGottheit.

So sorgfältig der Synkretismus seit Jahrzehntendurchforscht ist, so wenig hat man doch den Grund-zug seiner Entwicklung, zuerst die Verwandlung öst-licher Kirchen in westliche Kulte und dann mit umge-kehrter Tendenz die Entstehung der Kultkirche, er-kannt.21 Aber die Religionsgeschichte der frühchrist-lichen Jahrhunderte ist anders gar nicht zu verstehen.Der Kampf zwischen Christus und Mithras als Kult-gottheiten in Rom erhält jenseits von Antiochia die

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1.436 Spengler-Untergang, 802Der Untergang des Abendlandes: 3. ...

Form eines Kampfes zwischen der persischen und derchristlichen Kirche. Aber der schwerste Krieg, dendas Christentum zu führen hatte, nachdem es selbstder Pseudomorphose verfallen und deshalb mit demAntlitz seiner geistigen Entwicklung nach Westen ge-richtet war, galt nicht der wirklichen antiken Religion,die es kaum noch zu Gesicht bekam und deren öffent-liche Stadtkulte innerlich längst erstorben und ohnejede Macht über die Gemüter waren, sondern demHeidentum oder Griechentum als einer neuen undkraftvollen Kirche, die aus demselben Geist entstan-den war wie es selbst. Es gab zuletzt im Osten desImperiums nicht eine Kultkirche, sondern zwei, undwenn die eine nur aus Christusgemeinden bestand, soverehrten die Gemeinden der andern unter tausendNamen mit Bewußtsein ein und dasselbe göttlichePrinzip.

Es ist viel über antike Toleranz geredet worden.Man erkennt das Wesen einer Religion vielleicht amklarsten aus den Grenzen ihrer Toleranz und es gabauch für die alten Stadtkulte solche Grenzen. Daß siestets in Mehrzahl vorhanden waren und ausgeübtwurden, gehört zu ihrem eigentlichen Sinn und be-durfte deshalb überhaupt keiner Duldung. Aber mansetzte von jedem voraus, daß er vor der kultischenForm als solcher Achtung habe. Wer, wie manchePhilosophen oder auch Anhänger fremdartiger Reli-

1.437 Spengler-Untergang, 803Der Untergang des Abendlandes: 3. ...

gionen, diese Achtung durch Wort oder Tat versagte,lernte auch das Maß antiker Duldung kennen. Etwasganz anderes liegt den Verfolgungen magischer Kir-chen untereinander zugrunde; da ist es die henotheisti-sche Pflicht gegen den wahren Glauben, welche dieAnerkennung des falschen verbietet. Antike Kulte hät-ten den Jesuskult unter sich ertragen. Die Kultkirchemußte die Jesuskirche angreifen. Alle großen Chri-stenverfolgungen, denen die späteren Heidenverfol-gungen genau entsprechen, sind von ihr und nichtvom »römischen« Staate ausgegangen, und sie warennur insofern politisch, als auch die Kultkirche zu-gleich Nation und Vaterland war. Man wird bemer-ken, daß unter der Maske der Kaiserverehrung sichzwei religiöse Bräuche verbergen – in den antikenStädten des Westens, Rom an der Spitze, entstand derEinzelkult des divus als letzter Ausdruck jenes eukli-dischen Gefühls, wonach es einen rechtlichen undalso auch sakralen Übergang vom soma des Bürgerszu dem eines Gottes gab; im Osten wurde daraus einBekenntnis zum Kaiser als dem Heiland und Gott-menschen, dem Messias aller Synkretisten, das derenKirche durch eine höchste nationale Form zusammen-gefaßt hat. Das Opfer für den Kaiser ist das vornehm-ste Sakrament dieser Kirche; es entspricht durchausder christlichen Taufe, und man versteht, was die For-derung und Verweigerung dieser Akte in den Zeiten

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1.438 Spengler-Untergang, 803Der Untergang des Abendlandes: 3. ...

der Verfolgung symbolisch zu bedeuten hatte. Allediese Kirchen besitzen Sakramente: heilige Mahlzei-ten wie den Haomatrank der Perser, das Passah derJuden, das Abendmahl der Christen, ähnliche fürAttis und Mithras; die Taufriten der Mandäer, derChristen, der Isis- und Kybeleverehrer. Man könntedeshalb die einzelnen Kulte der Heidenkirche fast alsSekten und Orden bezeichnen und würde für das Ver-ständnis ihrer scholastischen Kämpfe untereinanderund die gegenseitige Proselytenmacherei damit vielgewonnen haben.

Alle echt antiken Mysterien wie die von Eleusisund die, welche von den Pythagoräern um 500 in un-teritalischen Städten begründet worden waren, sind anden Ort gebunden und durch einen sinnbildlichenVorgang bezeichnet. Innerhalb der Pseudomorphoselösen sie sich vom Orte; sie können überall, wo Ein-geweihte beisammen sind, vollzogen werden undhaben nun das Ziel der magischen Ekstase und einesasketischen Lebenswandels: aus den Besuchern derMysterienstätte hat sich ein Orden entwickelt, der sieausübt. Die Gemeinschaft der Neupythagoräer, um 50v. Chr. gegründet und den jüdischen Essäern naheverwandt, ist nichts weniger als eine antike Philoso-phenschule; sie ist ein echter Mönchsorden und zwarnicht der einzige, der innerhalb des Synkretismus dieIdeale der christlichen Eremiten und islamischen Der-

1.439 Spengler-Untergang, 804Der Untergang des Abendlandes: 3. ...

wische vorwegnimmt. Diese Heidenkirche besitzt ihreEinsiedler, Heiligen, Propheten, Wunderbekehrungen,heiligen Schriften und Offenbarungen.22 In der Be-deutung des Götterbildes für den Kult vollzieht sicheine sehr merkwürdige und noch kaum untersuchteWendung. Der größte Nachfolger Plotins, Jamblich,hat endlich um 300 das gewaltige System einer ortho-doxen Theologie und priesterlichen Hierarchie mitstrengem Ritual für diese Heidenkirche entworfen,und sein Schüler Julian hat sein ganzes Leben darangesetzt und zuletzt geopfert, um diese Kirche für dieEwigkeit aufzurichten.23 Er wollte sogar Klöster fürmeditierende Männer und Frauen einrichten und eineKirchenbuße einführen. Eine mächtige Begeisterung,die sich bis zum Martyrium steigerte und weit überden Tod des Kaisers hinaus andauerte, hat diese ge-waltige Arbeit unterstützt. Es gibt Inschriften, dieman kaum anders übersetzen kann als: »Es ist nur einGott und Julian ist sein Prophet.«24 Zehn Jahre mehrund diese Kirche wäre eine geschichtliche Tatsachevon Dauer geworden. Endlich hat das Christentumnicht nur ihre Macht geerbt, sondern in wichtigenStücken auch Form und Gehalt. Es ist nicht ganz rich-tig, wenn man sagt, die römische Kirche habe sichden Bau des römischen Reiches angeeignet. DieserBau war schon eine Kirche. Es gab eine Zeit, wobeide sich berührten. Konstantin der Große war Urhe-

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1.440 Spengler-Untergang, 804Der Untergang des Abendlandes: 3. ...

ber des Konzils von Nikäa und zugleich Pontifex ma-ximus. Seine Söhne, eifrige Christen, haben ihn zumdivus erhoben und ihm den vorgeschriebenen Kult ge-widmet. Augustin wagte den kühnen Ausspruch, daßdie wahre Religion vor dem Erscheinen des Christen-tums in Gestalt der antiken vorhanden gewesen sei.25

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Wenn man das Judentum von Kyros bis Titus über-haupt verstehen will, muß man sich immer wiederdrei Tatsachen ins Gedächtnis rufen, welche die phi-lologisch und theologisch voreingenommene For-schung zwar kennt, aber in ihren Erwägungen nichtmitzählen läßt: die Juden sind eine »Nation ohneLand«, ein consensus, und zwar in einer Welt vonlauter Nationen gleicher Art. Jerusalem ist zwar einMekka, ein heiliger Mittelpunkt, aber weder die Hei-mat noch das geistige Zentrum des Volkes. Endlichsind die Juden nur so lange eine einzigartige Erschei-nung der Weltgeschichte, als man sie von vornhereinals solche behandelt.

Gewiß sind die nachexilischen Juden im Gegensatzzu den »Israeliten« vor dem Exil, was wohl zuerstHugo Winckler erkannt hat, ein Volk von ganz neuerArt, aber sie sind es nicht allein. Die aramäische Weltbegann sich damals in eine ganze Anzahl solcher Völ-ker, darunter Perser und Chaldäer,26 zu gliedern, diealle in demselben Gebiet und trotzdem in strenger Ab-geschlossenheit voneinander lebten und vielleichtschon damals die rein arabische Wohnart des Ghettoaufgebracht haben.

Die ersten Vorverkünder der neuen Seele sind dieOswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes

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1.442 Spengler-Untergang, 805Der Untergang des Abendlandes: 3. ...

prophetischen Religionen, die mit einer großartigenInnerlichkeit um 700 entstanden und den urwüchsigenGebräuchen des Volkes und seiner Herrscher entge-gentraten. Auch sie sind eine allgemein aramäischeErscheinung. Je mehr ich über Arnos, Jesaja, Jeremiaund dann über Zarathustra nachdenke, desto verwand-ter erscheinen sie mir. Was sie zu trennen scheint, istnicht ihr neuer Glaube, sondern das, was sie bekämp-fen: die einen jene wilde alt-israelitische Religion, diein Wirklichkeit ein ganzes Bündel von Religionenist27 mit dem Glauben an heilige Steine und Bäume,mit zahllosen Ortsgöttern zu Dan, Bethel, Hebron, Si-chern, Beerseba, Gilgal, einem Jahwe (oder Elohim),mit dessen Namen eine Menge ganz verschiedenarti-ger Numina bezeichnet wird, mit Ahnenkult und Men-schenopfern, Derwischtänzen und heiliger Prostituti-on, untermischt mit undeutlichen Überlieferungen vonMoses und Abraham und vielen Bräuchen und Sagender spätbabylonischen Welt, die in Kanaan längst zubäuerlichen Formen herabgesunken und erstarrtwaren; der andere jenen altvedischen, sicherlich eben-so vergröberten Helden- und Wikingerglauben, der eswohl nötig hatte, durch das immer wiederholte Lobdes heiligen Rindes und seiner Zucht an die Wirklich-keit erinnert zu werden. Zarathustra hat um 600, oftim Elend, verfolgt und verkannt gelebt und ist alsGreis in einem Kriege gegen die Ungläubigen umge-

1.443 Spengler-Untergang, 806Der Untergang des Abendlandes: 3. ...

kommen,28 ein Zeitgenosse des unglücklichen Jere-mia, der von seinem Volke seiner Prophezeiungenwegen gehaßt, von seinem König gefangen gesetztund nach der Katastrophe von den Flüchtlingen nachÄgypten mitgeschleppt und dort erschlagen wurde.Ich glaube nun, daß diese große Epoche noch einedritte prophetische Religion hervorgebracht hat.

Es darf die Vermutung gewagt werden, daß auchdie »chaldäische« Religion mit ihrem, astronomischenTiefblick und ihrer jeden neuen Betrachter überra-schenden Innerlichkeit damals und zwar durch schöp-ferische Persönlichkeiten vom Range eines Jesaja ausRestgebilden der altbabylonischen Religion entstan-den ist.29 Die Chaldäer waren um 1000 wie die Israe-liten eine Gruppe aramäisch redender Stämme imSüden von Sinear. Noch heute wird die MutterspracheJesu zuweilen chaldäisch genannt. Zur Seleukidenzeitbezeichnet der Name eine verbreitete religiöse Ge-meinschaft und im besonderen deren Priester. Diechaldäische Religion ist eine Astralreligion, was diebabylonische – vor Hammurabi – nicht gewesen ist.Sie stellt die tiefsinnigste Deutung des magischenWeltraumes, die Welthöhle mit dem in ihr waltendenKismet, dar, die es gibt, und sie ist deshalb bis in diespätesten Zustände der islamischen und jüdischenSpekulation die Grundlage geblieben. Von ihr undnicht von der babylonischen Kultur ist seit dem 7.

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1.444 Spengler-Untergang, 807Der Untergang des Abendlandes: 3. ...

Jahrhundert eine Astronomie als exakte Wissen-schaft – nämlich als priesterliche Beobachtungstech-nik von erstaunlichem Scharfblick – ausgebildet wor-den.30 Sie hat die babylonische Mondwoche durchdie Planetenwoche ersetzt. Die volkstümlichste Ge-stalt der alten Religion war Ischtar gewesen, die Göt-tin des Lebens und der Fruchtbarkeit. Jetzt ist sie einPlanet. Tammuz, der sterbende und im Frühling wie-der auferstehende Vegetationsgott, wird ein Fixstern.Es meldet sich endlich das henotheistische Gefühl.Für den großen Nebukadnezar ist Marduk der eineund wahre Gott der Barmherzigkeit und Nabu, deralte Gott von Borsippa, sein Sohn und Sendbote zuden Menschen. Chaldäerkönige haben ein Jahrhunderthindurch (625–539) die Welt beherrscht, aber siewaren auch die Verkünder der neuen Religion. Sieselbst haben zu den Tempelbauten Ziegel getragen.Von Nebukadnezar, dem Zeitgenossen des Jeremia,besitzen wir noch das Gebet an Marduk bei seinerThronbesteigung. An Tiefe und Reinheit steht esneben den besten Stücken israelitischer Propheten-dichtung. Die chaldäischen Bußpsalmen, auch inRhythmus und innerem Bau den jüdischen eng ver-wandt, kennen die Schuld, deren der Mensch sichnicht bewußt ist, und das Leid, das durch reumütigesBekennen vor dem zürnenden Gott abgewehrt werdenkann. Es ist dasselbe Vertrauen auf die Barmherzig-

1.445 Spengler-Untergang, 808Der Untergang des Abendlandes: 3. ...

keit der Gottheit, das auch in den Inschriften desBaalstempels von Palmyra einen wahrhaft christlichenAusdruck gefunden hat.31

Der Kern der prophetischen Lehre ist bereits ma-gisch: Es gibt einen wahren Gott als Prinzip desGuten, mag es Jahwe, Ahura mazda oder Marduk-Baal sein; die andern Gottheiten sind ohnmächtigoder böse. An ihn knüpft sich die messianische Hoff-nung, sehr deutlich bei Jesaja, aber mit innerer Not-wendigkeit in den folgenden Jahrhunderten überalldurchbrechend. Es ist der magische Grundgedanke; inihm liegt die Annahme eines welthistorischen Kamp-fes zwischen gut und böse, mit der Macht des Bösenüber die mittlere Zeit und dem Endsieg des Guten amJüngsten Tage. Diese Moralisierung der Weltge-schichte ist Persern, Chaldäern und Juden gemeinsam.Aber mit ihr wird auch schon der Begriff des boden-ständigen Volkes aufgelöst und die Entstehung magi-scher Nationen ohne irdische Heimat und Grenze vor-bereitet. Der Begriff des auserwählten Volkes tauchtauf,32 aber es ist begreiflich, daß die Menschen vonstarker Rasse, die großen Geschlechter voran, solchallzu geistliche Gedanken innerlich ablehnten unddem Prophetentum gegenüber auf den alten kräftigenStammesglauben verwiesen. Nach den Untersuchun-gen von Cumont war die Religion der persischen Kö-nige polytheistisch und ohne das Haomasakrament,

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also nicht ganz diejenige Zarathustras; dasselbe giltvon den meisten israelitischen Königen und allerWahrscheinlichkeit nach von dem letzten ChaldäerNaboned, der gerade wegen seiner Ablehnung derMardukreligion von Kyros mit Hilfe des eignen Vol-kes gestürzt werden konnte. Die Beschneidung unddie – chaldäische – Sabbatfeier sind als jüdische Sa-kramente erst Erwerbungen des Exils.

Aber das babylonische Exil hatte zwischen Judenund Persern doch einen gewaltigen Unterschied ge-schaffen, nicht in den letzten Wahrheiten des from-men Wachseins, aber in allen Tatsachen des wirkli-chen Lebens und damit auch in den tiefsten Gefühlendiesem Leben gegenüber. Es waren die Jahwegläubi-gen, die heimkehren durften, und die Anhänger Ahuramazdas, die es ihnen erlaubten. Von zwei kleinenStammesgruppen, die zweihundert Jahre vorher viel-leicht die gleiche Zahl von waffenfähigen Männernbesaßen, hatte die eine die Welt in Besitz genommen,und während Darius im Norden die Donau über-schritt, dehnte seine Macht sich im Süden über Ostar-abien bis zur Insel Sokotra an der Somaliküste aus;33die andere war ein gänzlich bedeutungsloses Objektfremder Politik.

Das hat die eine Religion so herrenmäßig, die an-dere so unterwürfig gemacht. Man lese Jeremia unddann die große Behistuninschrift des Darius – was für

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ein prachtvoller Stolz des Königs auf seinen siegrei-chen Gott! Und wie verzweifelt sind die Gründe, mitdenen die israelitischen Propheten das Bild ihres Got-tes in sich zu retten suchen. Hier, im Exil, wo durchdie persischen Siege die Augen aller Juden sich aufdie zarathustrische Lehre richteten, geht das rein jüdi-sche Prophetentum (Arnos, Hosea, Jesaja, Jeremia) indas apokalyptische über (Deuterojesaja, Hesekiel,Sacharja). Alle die neuen Visionen vom Menschen-sohn, vom Satan, den Erzengeln, den Sieben Him-meln, dem Jüngsten Gericht sind persische Fassun-gen des gemeinsamen Weltgefühls. Jesaja 41 er-scheint Kyros selbst, wie der Messias gefeiert. Hatder große Schöpfer des zweiten Jesaja seine Erleuch-tung von einem Zarathustrajünger empfangen? Ist esmöglich, daß die Perser selbst die innere Verwandt-schaft beider Lehren empfanden und die Juden des-halb in die Heimat entließen? Gewiß ist, daß beidedie volkstümlichen Vorstellungen von den letztenDingen geteilt und den gleichen Haß gegen die Un-gläubigen der altbabylonischen und antiken Religiongefühlt und ausgesprochen haben, gegen alle fremdenGlaubensweisen überhaupt, nur nicht gegeneinander.

Aber man muß diese »Heimkehr« doch auch ein-mal von Babylon aus betrachten. Es war die großeund rassekräftige Menge, die diesem Gedanken inWirklichkeit ganz fern stand, ihn nur als Gedanken,

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als Traum gelten ließ, ohne Zweifel ein tüchtiger Bau-ern- und Handwerkerschlag mit einem in Bildung be-griffenen Landadel, der ruhig in seinen Besitzungenblieb, und zwar unter einem eigenen Fürsten, demResch galuta, der seine Residenz in Nehardea hatte.34Die Heimziehenden sind die Wenigsten, die Hartköp-figen, die Eiferer. Es waren 40000, mit Weib undKind. Das kann kein Zehntel, nicht einmal ein Zwan-zigstel der Gesamtzahl gewesen sein. Wer diese An-siedler und ihr Schicksal mit dem Judentum über-haupt verwechselt,35 der vermag in den tieferen Sinnaller folgenden Ereignisse nicht einzudringen. Die ju-däische Kleinwelt führte ein geistiges Sonderleben,das von der gesamten Nation geachtet, aber durch-aus nicht geteilt wurde. Im Osten blühte die apoka-lyptische Literatur, die Erbin der prophetischen,prachtvoll auf. Hier war eine echte Volksdichtung zuHause, von der ein Meisterwerk, das Buch Hiob, mitseinem islamischen und gar nicht judäischen Geiste36übrig geblieben ist, während viele andere Märchenund Sagen, darunter Judith, Tobit, Achikar, sich alsMotive durch alle Literaturen der »arabischen« Weltverbreitet haben. In Judäa gedieh nur das Gesetz; dertalmudische Geist erscheint zuerst bei Hesekiel (Kap.40 ff.) und verkörpert sich seit 450 in den Schriftge-lehrten (Soferim) mit Esra an der Spitze. Von 300 v.bis 200 n. Chr. haben hier die Tannaim die Tora aus-

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gelegt und also die Mischna entwickelt. Weder dasAuftreten Jesu noch die Zerstörung des Tempelshaben diese abstrakte Beschäftigung unterbrochen. Je-rusalem wurde das Mekka der Strenggläubigen; alsKoran wurde ein Gesetzbuch anerkannt, dem nachund nach eine ganze Urgeschichte mit chaldäisch-per-sischen Motiven, aber in pharisäischer Umgestaltungeingeordnet wurde.37 Aber in diesem Kreise war keinPlatz für eine weltliche Kunst, Poesie und Gelehrsam-keit. Was im Talmud an astronomischem, medizini-schem und juristischem Wissen steht, ist ausschließ-lich mesopotamischer Herkunft.38 Wahrscheinlichbegann dort schon im Exil jene chaldäisch-persisch-jüdische Sektenbildung, die zu Beginn der magischenKultur bis zur Stiftung großer Religionen fortschrittund in der Lehre Manis den Gipfel erreichte. »DasGesetz und die Propheten« – das ist beinahe der Un-terschied von Judäa und Mesopotamien. In der spä-teren persischen und jeder andern magischen Theolo-gie sind beide Richtungen vereinigt, nur hier habensie sich örtlich getrennt. Die Entscheidungen von Je-rusalem wurden allenthalben anerkannt; es fragt sichaber, wie weit sie befolgt worden sind. Schon Galiläawar den Pharisäern verdächtig; in Babylonien durftekein Rabbiner geweiht werden. Von dem großen Ga-maliel, dem Lehrer des Paulus, wird gerühmt, daßseine Verordnungen von den Juden »selbst im Aus-

Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes

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1.450 Spengler-Untergang, 811Der Untergang des Abendlandes: 3. ...

lande« befolgt würden. Wie unabhängig man inÄgypten lebte, beweisen die kürzlich entdeckten Ur-kunden von Elefantine und Assuan.39 Um 170 bittetOnias den König um Erlaubnis, einen Tempel »nachden Maßen des jerusalemischen« errichten zu dürfen,mit der Begründung, daß die vielen gesetzwidrig be-stehenden Tempel einen ewigen Hader unter den Ge-meinden erregten.

Es ist noch eine zweite Betrachtung nötig. Das Ju-dentum hat sich wie das Persertum seit der Zeit desExils aus sehr kleinen Stammesverbänden ins Unge-heure vermehrt und zwar durch Bekehrung und Über-tritte. Es ist die einzige Form der Eroberung, dereneine Nation ohne Land fähig ist, und den magischenReligionen deshalb natürlich und selbstverständlich.Im Norden drang es über den Judenstaat Adiabeneschon früh bis zum Kaukasus vor, im Süden, wahr-scheinlich längs des Persischen Golfes, nach Saba; imWesten gab es in Alexandria, Kyrene und Cypern denAusschlag. Die Verwaltung in Ägypten und die Poli-tik des Partherreiches lagen zum großen Teil in jüdi-schen Händen.

Aber diese Bewegung geht einzig von Mesopota-mien aus. Es ist apokalyptischer und nicht talmu-discher Geist darin. In Jerusalem erfindet das Gesetzimmer neue Schranken gegen die Ungläubigen. Es ge-nügt nicht, daß man auf Bekehrungen verzichtet. Man

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darf nicht einmal einen Heiden unter seinen Vorfahrenhaben. Ein Pharisäer erlaubt sich, dem allgemein be-liebten König Hyrkan (135 bis 106) zuzurufen, ersolle das Hohepriesteramt niederlegen, weil seineMutter sich einmal in der Gewalt der Ungläubigen be-funden habe.40 Es ist dieselbe Enge, welche in derchristlichen Urgemeinde Judäas als Widerstand gegendie Heidenmission zum Vorschein kommt. Im Ostenwäre niemand auch nur auf den Gedanken gekommen,hier eine Grenze zu ziehen; es widerspricht dem gan-zen Begriff der magischen Nation. Aber daraus folgtdie geistige Überlegenheit des weiten Ostens. Moch-te das Synedrion in Jerusalem von unbestrittener reli-giöser Autorität sein, politisch und damit geschicht-lich ist der Resch galuta eine ganz andere Macht. Dasübersieht die christliche wie die jüdische Forschung.Soviel ich weiß, hat niemand die bedeutsame Tatsa-che beachtet, daß die Verfolgung durch AntiochusEpiphanes sich überhaupt nicht gegen »das Juden-tum«, sondern gegen Judäa richtete, und das führt zueiner Einsicht von noch viel größerer Tragweite.

Die Zerstörung Jerusalems traf nur einen sehr klei-nen Teil der Nation und politisch wie geistig bei wei-tem den unbedeutendsten. Es ist nicht wahr, daß dasjüdische Volk seitdem »in der Zerstreuung« gelebthätte. Es lebte seit Jahrhunderten und nicht allein,sondern zugleich mit dem persischen und anderen

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Völkern, in einer Form, die an kein Land gebundenwar. Und man mißversteht auch den Eindruck diesesKrieges auf das eigentliche Judentum, das von Judäawie ein Zubehör betrachtet und behandelt wurde. Manempfand den Sieg der Heiden und den Untergang desHeiligtums in tiefster Seele41 und hat in dem Kreuz-zug von 115 die schwerste Rache genommen, aberdas galt dem jüdischen und nicht dem judäischenIdeal. Mit dem »Zionismus« ist es damals wie früherunter Kyros und heute nur einer ganz geringen undgeistig beschränkten Minderheit ernst gewesen. Hätteman das Unglück wirklich als »Verlust der Heimat«empfunden, wie wir uns das nach abendländischemGefühl vorstellen, so wäre die Rückeroberung seitMarc Aurel hundertmal möglich gewesen. Aber siehätte dem magischen Nationalgefühl widersprochen.Die ideale Form der Nation war die »Synagoge«, derreine consensus wie die urkatholische »sichtbare Kir-che« und wie der Islam; und gerade sie ist durch dieVernichtung von Judäa und dem hier geltenden Stam-mesgeist erst ganz verwirklicht worden.

Der Krieg Vespasians, der sich nur gegen Judäarichtete, war eine Befreiung des Judentums. Denn er-stens verschwand damit der Anspruch der Bevölke-rung dieses winzigen Gebietes, die eigentliche Nationzu sein, und die Gleichsetzung ihrer kahlen Geistig-keit mit dem Seelenleben des Ganzen. Die gelehrte

1.453 Spengler-Untergang, 813Der Untergang des Abendlandes: 3. ...

Forschung, die Scholastik und Mystik der östlichenHochschulen kam zu ihrem Recht. Der OberrichterKarna hat, etwa gleichzeitig mit Ulpian und Papinian,an der Hochschule von Nehardea das erste Zivilrechtzusammengestellt.42 Und zweitens rettete es dieseReligion vor den Gefahren der Pseudomorphose,denen das Christentum gleichzeitig erlag. Es hatte seit200 v. Chr. eine halb hellenistische Judenliteratur ge-geben. Der Prediger Salomo (Koheleth) enthält pyrr-honische Stimmungen. Die Weisheit Salomos, daszweite Makkabäerbuch, Theodot, der Aristeasbriefund anderes folgen; es gibt Stücke wie die Spruch-sammlung Menanders, bei denen sich überhaupt nichtermitteln läßt, ob sie griechisch oder jüdisch sein soll-te. Es gab um 160 Hohepriester, die aus hellenisti-schem Geist die jüdische Religion bekämpften, undspätere Herrscher wie Hyrkan und Herodes, die das-selbe mit politischen Mitteln versuchten. Diese Ge-fahr ist mit dem Jahre 70 sofort und endgültig zuEnde.

Es gab zur Zeit Jesu in Jerusalem drei Richtungen,die man als allgemein aramäische betrachten darf:die Pharisäer, Sadduzäer und Essäer. Obwohl die Be-griffe und Namen schwanken und die Ansichten derchristlichen wie der jüdischen Forschung sehr ver-schieden sind, darf doch gesagt werden:

Die erste Gesinnung tritt am reinsten im Judais-Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes

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mus, die zweite im Chaldäertum, die dritte im Helle-nismus hervor.43 Essäisch ist die Entstehung des or-densartigen Mithraskultes im östlichen Kleinasien,pharisäisch ist in der Kultkirche das System des Por-phyrios. Die Sadduzäer, obwohl sie in Jerusalemselbst als kleiner vornehmer Kreis erscheinen – Jose-phus vergleicht sie mit den Epikuräern –, sind allge-mein aramäisch durch ihre apokalyptischen und es-chatologischen Stimmungen, durch das, was in dieserFrühzeit dem Geiste Dostojewskis verwandt ist. Sieund die Pharisäer verhalten sich wie Mystik undScholastik, wie Johannes und Paulus, wie Bundeh-esch und Vendidad der Perser. Die Apokalyptik istvolkstümlich und in vielen Zügen seelisches Gemein-gut der ganzen aramäischen Welt. Das talmudischeund awestische Pharisäertum ist exklusiv und suchtjede andre Religion so schroff als möglich abzuson-dern. Nicht der Glaube und die Visionen, sondern derstrenge Ritus, der gelernt und eingehalten werdenmuß, ist ihm das Wichtigste, so daß nach seiner An-sicht der Laie aus Unkenntnis des Gesetzes gar nichtfromm sein kann.

Die Essäer erscheinen in Jerusalem als Mönchsor-den wie die Neupythagoräer. Sie besaßen geheimeSchriften;44 im weiteren Sinne sind sie die Vertreterder Pseudomorphose und sie verschwinden deshalbmit dem Jahre 70 vollständig aus dem Judentum,

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während gerade jetzt die christliche Literatur eine reingriechische wurde, nicht zum wenigsten deshalb, weildas hellenisierte westlichste Judentum den nach Ostenweichenden Judaismus verließ und allmählich imChristentum aufging.

Aber auch die Apokalyptik, eine Ausdrucksformdes stadtlosen und stadtfeindlichen Menschentums, istinnerhalb der Synagoge sehr bald zu Ende, nachdemsie unter dem Eindruck der Katastrophe noch einmaleine wunderbare Blüte erlebt hatte.45 Als es sich ent-schieden hatte, daß die Lehre Jesu nicht zu einer Re-form des Judentums, sondern zu einer neuen Religionheranwuchs, und um 100 die tägliche Fluchformelgegen die Judenchristen eingeführt wurde, verbliebdie Apokalyptik für den kurzen Rest ihres Daseins derjungen Religion.

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Das Unvergleichliche, womit das junge Christentumsich über alle Religionen dieser reichen Frühzeit hin-aushebt, ist die Gestalt Jesu. Es gibt in all den großenSchöpfungen jener Jahre nichts, was sich ihr zur Seitestellen ließe. Wer damals seine Leidensgeschichte lasund hörte, wie sie sich kurz vorher begeben hatte: denletzten Zug nach Jerusalem, das letzte bange Abend-mahl, die Stunde der Verzweiflung in Gethsemaneund den Tod am Kreuz, dem mußten alle Legendenund heiligen Abenteuer von Mithras, Attis und Osirisflach und leer erscheinen.

Hier gibt es keine Philosophie. Seine Aussprüche,von denen manche den Gefährten noch im hohen AlterWort für Wort im Gedächtnis hafteten, sind die einesKindes mitten in einer fremden, späten und krankenWelt. Es gibt keine sozialen Betrachtungen, keineProbleme, keine Grübelei. Wie eine stille selige Inselruht das Leben dieser Fischer und Handwerker amSee Genezareth mitten in der Zeit des großen Tiberi-us, fernab von aller Weltgeschichte, ohne irgendeineAhnung von den Händeln der Wirklichkeit, währendrings die hellenistischen Städte leuchten mit ihrenTempeln und Theatern, der feinen westlichen Gesell-schaft und den lärmenden Zerstreuungen des Pöbels,

1.457 Spengler-Untergang, 815Der Untergang des Abendlandes: 3. ...

den römischen Kohorten und der griechischen Philo-sophie. Als seine Freunde und Begleiter Greise ge-worden waren und der Bruder des Hingerichteten demKreise in Jerusalem vorstand, sammelte sich aus denWorten und Erzählungen, die überall in den kleinenGemeinden im Umlauf waren, ein Lebensbild von soergreifender Innerlichkeit, daß es eine eigene Darstel-lungsform hervorrief, die weder in der antiken noch inder arabischen Kultur Vorbilder hat: das Evangelium.Das Christentum ist die einzige Religion der Weltge-schichte, in welcher ein Menschenschicksal der un-mittelbaren Gegenwart zum Sinnbild und Mittelpunktder gesamten Schöpfung geworden ist.

Eine ungeheure Erregung, wie die germanischeWelt sie um das Jahr 1000 kennenlernte, ging damalsdurch das ganze aramäische Land. Die magischeSeele war erwacht. Was in den prophetischen Religio-nen wie eine Ahnung lag, was zur Zeit Alexanders inmetaphysischen Umrissen hervortrat, das erfüllte sichjetzt. Und diese Erfüllung weckte in unnennbarerStärke das Urgefühl der Angst. Es gehört zu den letz-ten Geheimnissen des Menschentums und des freibe-weglichen Lebens überhaupt, daß die Geburt des Ichund der Weltangst ein und dasselbe sind. Daß sichvor einem Mikrokosmos ein Makrokosmos auftut,weit, übermächtig, ein Abgrund von fremdem licht-überstrahlten Sein und Treiben, das läßt das kleine,

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einsame Selbst scheu in sich zurückweichen. EineAngst vor dem eigenen Wachsein, wie sie Kinder zu-weilen überfällt, lernt kein Erwachsener in denschwärzesten Stunden seines Lebens wieder kennen.Diese Todesangst lag auch über dem Anbruch derneuen Kultur. In dieser Morgenfrühe magischen Welt-bewußtseins, das verzagt, ungewiß, dunkel über sichselbst war, fiel ein neuer Blick auf das nahe Ende derWelt. Es ist der erste Gedanke, mit dem bis jetzt jedeKultur zum Bewußtsein ihrer selbst kam. Ein Schauervon Offenbarungen, Wundern, letzten Einblicken inden Urgrund der Dinge überfiel jedes tiefere Gemüt.Man dachte, man lebte nur noch in apokalyptischenBildern. Die Wirklichkeit wurde zum Schein. Selt-same und grauenvolle Gesichte wurden geheimnisvollherumerzählt, aus wirren und dunklen Schriften verle-sen und sofort, mit unmittelbarer innerer Gewißheitbegriffen. Von einer Gemeinschaft zur andern, vonDorf zu Dorf wanderten solche Schriften, von denensich gar nicht sagen läßt, daß sie einer einzelnen Reli-gion angehören.46 Sie sind persisch, chaldäisch, jü-disch gefärbt, aber sie haben alles aufgenommen, wasdamals in den Gemütern umging. Die kanonischenBücher sind national, die apokalyptischen internatio-nal im wörtlichen Sinne. Sie sind da, ohne daß je-mand sie verfaßt zu haben scheint. Ihr Inhalt ver-schwimmt und lautet heute so und morgen anders. Sie

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sind aber auch nichts weniger als »Dichtung«.47 Siegleichen den furchtbaren Portalgestalten an den roma-nischen Kathedralen Frankreichs, die ebenfalls keine»Kunst«, sondern steingewordene Angst sind. Jederkannte diese Engel und Dämonen, diese Himmel- undHöllenfahrten göttlicher Wesen, den Urmenschenoder zweiten Adam, den Gesandten Gottes, den Hei-land der letzten Tage, den Menschensohn, die EwigeStadt und das Jüngste Gericht.48 In den fremdenStädten und an den Hochsitzen des strengen persi-schen und jüdischen Priestertums mochte man die Un-terscheidungslehren begrifflich feststellen und um siestreiten, hier unten im Volk gab es fast keine Einzel-religion, sondern eine allgemeine magische Religiosi-tät, die alle Seelen erfüllte, die sich an Einblicke undBilder jedes denkbaren Ursprungs heftete. Der Jüng-ste Tag war nahe herangekommen. Man erwartete ihn.Man wußte, daß »er« jetzt erscheinen müsse, von demin allen Offenbarungen die Rede war. Propheten stan-den auf. Man schloß sich zu immer neuen Gemeindenund Kreisen zusammen, in der Überzeugung, die an-geborene Religion nun besser erkannt oder die wahregefunden zu haben. In dieser Zeit ungeheuerster, vonJahr zu Jahr wachsender Spannung ist, ganz nahe derGeburt Jesu, neben zahllosen Gemeinschaften undSekten auch die mandäische Erlösungsreligion ent-standen, deren Stifter oder Ursprung wir nicht kennen.

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Wie es scheint, stand sie trotz ihres Hasses gegen denJudaismus von Jerusalem und ihrer Vorliebe geradefür die persischen Fassungen des Erlösungsgedankensdem volkstümlichen Glauben des syrischen Juden-tums sehr nahe. Aus ihren wundervollen Schriften trittjetzt ein Stück nach dem andern zutage. Überall ist»er«, der Menschensohn, der in die Tiefe gesandte Er-löser, der selbst erlöst werden muß, das Ziel der Er-wartung. Im Johannesbuch spricht der Vater, imHause der Vollendung hoch aufgerichtet, von Lichtumflossen, zu seinem eingeborenen Sohn: Mein Sohn,sei mir ein Bote – gehe in die Welt der Finsternis, inder es keinen Lichtstrahl gibt –; der Sohn ruft empor:Vater der Größe, was habe ich gesündigt, daß dumich in die Tiefe gesandt hast? Und endlich: OhneFehler stieg ich empor und nicht war Fehl und Man-gel an mir.49

Alle Züge der großen prophetischen Religionenund der ganze Schatz tiefster Einsichten und Gestal-ten, der sich seitdem in der Apokalyptik gesammelthatte, liegen hier gemeinsam zugrunde. Von antikemDenken und Fühlen ist in diese Unterwelt des Magi-schen nicht ein Hauch gedrungen. Die Anfänge derneuen Religion sind wohl für immer verschollen. Einegeschichtliche Gestalt des Mandäertums aber tritt mitergreifender Deutlichkeit hervor, tragisch in ihremWollen und Untergang wie Jesus selbst: es ist Johan-

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nes der Täufer.50 Dem Judentum kaum noch angehö-rig und von einem mächtigen Hasse – er entsprichtgenau dem urrussischen Hasse gegen Petersburg –gegen den Geist von Jerusalem erfüllt, predigt er dasEnde der Welt und das Nahen des Barnasha, desMenschensohnes, der nicht mehr der verheißene na-tionale Messias der Juden, sondern der Bringer desWeltbrandes ist.51 Zu ihm ging Jesus und wurdeeiner seiner Jünger.52 Er war dreißig Jahre alt, als dieErweckung über ihn kam. Die apokalyptische und imbesonderen die mandäische Gedankenwelt erfülltevon nun an sein ganzes Bewußtsein. Nur scheinhaft,fremd und bedeutungslos lag die andere Welt der ge-schichtlichen Wirklichkeit um ihn her. Daß »er« jetztkommen und dieser so unwirklichen Wirklichkeit einEnde machen werde, war seine große Gewißheit, undfür sie trat er wie sein Meister Johannes als Verkün-der auf. Noch jetzt lassen die ältesten ins Neue Testa-ment aufgenommenen Evangelien diese Zeit hindurch-schimmern, in der er in seinem Bewußtsein nichts warals ein Prophet.53

Aber es gibt einen Augenblick in seinem Leben,wo die Ahnung und dann die hohe Gewißheit über ihnkommt: Du bist es selbst. Es war ein Geheimnis, daser zuerst kaum sich selbst, dann seinen nächstenFreunden und Begleitern eingestand, die nun die seli-ge Botschaft in aller Stille mit ihm teilten, bis sie die

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Wahrheit endlich durch den verhängnisvollen Zugnach Jerusalem vor aller Welt zu offenbaren wagten.Wenn irgend etwas die vollkommene Reinheit undEhrlichkeit seiner Gedanken verbürgt, so ist es derZweifel, ob er sich nicht doch vielleicht täusche, derihn immer wieder ergriffen hat und von dem seineJünger später ganz aufrichtig erzählt haben. Dakommt er in seine Heimat. Das Dorf läuft zusammen.Man erkennt den ehemaligen Zimmermann, der seineArbeit verlassen hat, und ist entrüstet. Die Familie,seine Mutter, die zahlreichen Brüder und Schwesternschämen sich seiner und wollen ihn festnehmen. Da,als er all die bekannten Augen auf sich gerichtet fühlt,wird er verwirrt und die magische Kraft weicht vonihm (Mark. 6). In Gethsemane mischen sich Zweifelan seiner Sendung54 mitten in die entsetzliche Angstvor dem Kommenden, und noch am Kreuz vernahmman den qualvollen Ruf, daß Gott ihn verlassen habe.

Selbst in diesen letzten Stunden lebt er ganz imBilde seiner apokalyptischen Welt. Er hat nie eine an-dere wirklich um sich gesehen. Was den Römern, dieunter ihm Wache standen, als Wirklichkeit galt, warihm ein Gegenstand ratlosen Staunens, ein Trugbild,das sich unversehens in nichts auflösen konnte. Erbesaß die reine und unverfälschte Seele des stadtlosenLandes. Das Leben der Städte, der Geist im städti-schen Sinne waren ihm gänzlich fremd. Hat er das

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halbantike Jerusalem, in das er als der Menschensohneinzog, wirklich gesehen und in seinem geschichtli-chen Wesen verstanden? Das ist das Ergreifende derletzten Tage, dieser Zusammenstoß von Tatsachenund Wahrheiten, von zwei Welten, die sich nie verste-hen werden: daß er gar nicht wußte, was mit ihm ge-schah.

So ging er in der Fülle des Verkündens durch seinLand, aber dieses Land war Palästina. Er war im anti-ken Imperium geboren und lebte unter den Augen desJudaismus von Jerusalem, und sobald seine Seele ausihrem Schauen und dem Gefühl ihrer Sendung herausum sich blickte, stieß sie auf die Wirklichkeit des rö-mischen Staates und des Pharisäertums. Der Wider-wille gegen dieses starre und eigensüchtige Ideal, dener mit dem ganzen Mandäertum und ohne Zweifel mitdem jüdischen Landvolke des weiten Ostens teilte,geht als erstes und dauerndes Merkmal durch alleseine Reden. Ihm graute vor diesem Wust verstandes-mäßiger Formeln, der der einzige Weg zum Heil seinsollte. Dennoch war es nur eine andre Art von Fröm-migkeit, die seiner Überzeugung mit rabbinischerLogik das Recht bestritt.

Hier stand nun das Gesetz gegen die Propheten.Als Jesus aber vor Pilatus geführt wurde, da tratensich die Welt der Tatsachen und die der Wahrheitenunvermittelt und unversöhnlich gegenüber, in so er-

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1.464 Spengler-Untergang, 820Der Untergang des Abendlandes: 3. ...

schreckender Deutlichkeit und Wucht der Symbolikwie in keiner zweiten Szene der gesamten Weltge-schichte. Der Zwiespalt, der allem freibeweglichenLeben von Anfang an zugrunde liegt, schon damit,daß es ist, daß es Dasein und Wachsein ist, hat hierdie höchste überhaupt denkbare Form menschlicherTragik angenommen. In der berühmten Frage des rö-mischen Prokurators: Was ist Wahrheit? – das einzi-ge Wort im Neuen Testament, das Rasse hat – liegtder ganze Sinn der Geschichte, die Alleingeltung derTat, der Rang des Staates, des Krieges, des Blutes,die ganze Allmacht des Erfolges und der Stolz auf eingroßes Geschick. Darauf hat nicht der Mund, aber dasschweigende Gefühl Jesu mit der andern, über allesReligiöse entscheidenden Frage geantwortet: Was istWirklichkeit? Für Pilatus war sie alles, für ihn selbstnichts. Anders kann echte Religiosität der Geschichteund ihren Mächten niemals gegenüberstehen, andersdarf sie das tätige Leben nie einschätzen, und wennsie es dennoch tut, so hat sie aufgehört, Religion zusein, und ist selbst dem Geist der Geschichte verfal-len.

Mein Reich ist nicht von dieser Welt – das ist dasletzte Wort, von dem sich nichts abdeuten läßt und andem jeder ermessen muß, wohin Geburt und Natur ihngewiesen haben. Ein Dasein, das sich des Wachseinsbedient, oder ein Wachsein, welches das Dasein un-

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terwirft; Takt oder Spannung, Blut oder Geist, Ge-schichte oder Natur, Politik oder Religion: hier gibt esnur ein Entweder-Oder und keinen ehrlichen Ver-gleich. Ein Staatsmann kann tief religiös sein, einFrommer kann für sein Vaterland fallen – aber siemüssen beide wissen, auf welcher Seite sie wirklichstehen. Der geborne Politiker verachtet die weltfrem-den Betrachtungsweisen des Ideologen und Ethikersmitten in seiner Tatsachenwelt – er hat recht. Für denGläubigen sind aller Ehrgeiz und Erfolg der ge-schichtlichen Welt sündhaft und ohne ewigen Wert –er hat auch recht. Ein Herrscher, der die Religion inder Richtung auf politische, praktische Ziele verbes-sern will, ist ein Tor. Ein Sittenprediger, der Wahr-heit, Gerechtigkeit, Frieden, Versöhnung in die Weltder Wirklichkeit bringen will, ist ebenfalls ein Tor.Kein Glaube hat je die Welt verändert und keine Tat-sache kann je einen Glauben widerlegen. Es gibtkeine Brücke zwischen der gerichteten Zeit und demzeitlos Ewigen, zwischen dem Gang der Geschichteund dem Bestehen einer göttlichen Weltordnung, inderen Bau »Fügung« das Wort für den höchsten Fallvon Kausalität ist. Das ist der letze Sinn jenes Au-genblicks, in dem Pilatus und Jesus sich gegenüber-standen. In der einen, der historischen Welt ließ derRömer den Galiläer ans Kreuz schlagen – das warsein Schicksal. In der andern war Rom der Verdamm-

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nis verfallen und das Kreuz die Bürgschaft der Erlö-sung. Das war »Gottes Wille«.55

Religion ist Metaphysik, nichts anderes: Credo,quia absurdum. Und zwar ist erkannte, bewiesene,für bewiesen gehaltene Metaphysik bloße Philosophieoder Gelehrsamkeit. Hier ist erlebte Metaphysik ge-meint, das Undenkbare als Gewißheit, das Übernatür-liche als Ereignis, das Leben in einer nichtwirklichen,aber wahren Welt. Anders hat Jesus auch nicht einenAugenblick gelebt. Er war kein Sittenprediger. In derSittenlehre das letzte Ziel der Religion sehen, heißtsie nicht kennen. Das ist neunzehntes Jahrhundert,»Aufklärung«, humanes Philistertum. Ihm soziale Ab-sichten zuschreiben, ist eine Lästerung. Seine gele-gentlichen Sittensprüche, soweit sie ihm nicht nur zu-geschrieben sind, dienen lediglich der Erbauung. Sieenthalten gar keine neue Lehre. Es waren Sprichwör-ter darunter, wie sie damals jeder kannte. Seine Lehrewar einzig die Verkündigung der letzten Dinge, derenBilder ihn beständig erfüllten: der Anbruch des neuenWeltalters, die Herabkunft des himmlischen Gesand-ten, das letzte Gericht, ein neuer Himmel und eineneue Erde.56 Einen andern Begriff von Religion hater nie gehabt, und einen andern besitzt überhauptkeine wahrhaft innerliche Zeit. Religion ist durch unddurch Metaphysik, Jenseitigkeit, Wachsein inmitteneiner Welt, in welcher das Zeugnis der Sinne nur den

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Vordergrund aufhellt; Religion ist das Leben in undmit dem Übersinnlichen, und wo die Kraft zu solchemWachsein, die Kraft, auch nur daran zu glauben, fehlt,da ist die wirkliche Religion zu Ende. Mein Reich istnicht von dieser Welt – nur wer das ganze Gewichtdieser Einsicht ermißt, kann seine tiefsten Aussprüchebegreifen. Erst späte, städtische Zeiten, die solcherEinblicke nicht mehr fähig waren, haben den Rest vonReligiosität auf die Welt des äußeren Lebens bezogenund die Religion durch humane Gefühle und Stim-mungen, die Metaphysik durch Sittenpredigt und So-zialethik ersetzt. In Jesus findet man das gerade Ge-genteil. »Gebt dem Cäsar, was des Cäsars ist« – dasheißt: Fügt euch den Mächten der Tatsachenwelt, dul-det, leidet und fragt nicht, ob sie »gerecht« sind.Wichtig ist nur das Heil der Seele. »Sehet die Lilienauf dem Felde« – das heißt: Kümmert euch nicht umReichtum und Armut. Sie fesseln beide die Seele andie Sorgen dieser Welt. »Man muß Gott dienen oderdem Mammon« – da ist mit dem Mammon die ganzeWirklichkeit gemeint. Es ist flach und feige, dieGröße aus dieser Forderung fortzudeuten. Zwischender Arbeit für den eignen Reichtum und der für diesoziale Bequemlichkeit »aller« hätte er überhaupt kei-nen Unterschied empfunden. Wenn er vor dem Reich-tum erschrak und wenn die Urgemeinde in Jerusalem,die ein strenger Orden war und kein Sozialistenklub,

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den Besitz verwarf, so liegt darin der größte über-haupt denkbare Gegensatz zu aller »sozialen Gesin-nung«: nicht weil die äußere Lage alles, sondern weilsie nichts ist, nicht aus der Alleinschätzung, sondernaus der unbedingten Verachtung des diesseitigen Be-hagens gehen solche Überzeugungen hervor. Aber esmuß allerdings etwas da sein, dem gegenüber alles ir-dische Glück zu nichts versinkt. Es ist wieder der Un-terschied von Tolstoi und Dostojewski. Tolstoi, derStädter und Westler, hat in Jesus nur einen Sozialethi-ker erblickt und wie der ganze zivilisierte Westen, dernur verteilen, nicht verzichten kann, das Urchristen-tum zum Range einer sozial-revolutionären Bewe-gung herabgezogen, und zwar aus Mangel an meta-physischer Kraft. Dostojewski, der arm war, aber ingewissen Stunden fast ein Heiliger, hat nie an sozialeVerbesserungen gedacht – was wäre der Seele damitgeholfen, wenn man das Eigentum abschafft?

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Unter den Freunden und Schülern, die der furchtbareAusgang des Zuges nach Jerusalem innerlich vernich-tet hatte, verbreitete sich nach einigen Tagen dieKunde von seiner Auferstehung und Erscheinung.Was das für solche Seelen und eine solche Zeit bedeu-tete, können späte Menschen niemals ganz nachemp-finden. Damit war die Erwartung der gesamten Apo-kalyptik jener magischen Frühzeit erfüllt: am Endedes gegenwärtigen Aion der Aufstieg des erlösten Er-lösers, des zweiten Adam, des Saoshyant, Enosh oderBarnasha oder wie man »ihn« sonst noch vorstellenund nennen mochte, in das Lichtreich des Vaters.Damit war die verkündete Zukunft und das neueWeltalter, »das Himmelreich«, unmittelbare Gegen-wart geworden. Man befand sich im entscheidendenPunkt der Heilsgeschichte. Diese Gewißheit hat denWeltblick des kleinen Kreises vollkommen verändert.»Seine« Lehre, wie sie aus seiner milden und edlenNatur geflossen war, sein inneres Gefühl vom Ver-hältnis zwischen Mensch und Gott und dem Sinn derZeiten überhaupt, das mit dem einen Wort Liebe er-schöpfend bezeichnet war, trat zurück, und die Lehrevon ihm trat an ihre Stelle. Als der »Auferstandene«wurde ihr Lehrer eine neue Gestalt innerhalb der Apo-

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kalyptik selbst, und zwar die wichtigste und abschlie-ßende. Aber damit war aus dem Zukunftsbilde ein Er-innerungsbild geworden. Es war etwas ganz Entschei-dendes und in der gesamten magischen GedankenweltUnerhörtes, dies Eintreten einer selbsterlebten Wirk-lichkeit in den Kreis der großen Gesichte. Die Juden,darunter der junge Paulus, und die Mandäer, darunterdie Jünger des Täufers, haben es leidenschaftlich be-stritten. Für sie war er ein falscher Messias, von demschon die ältesten persischen Texte gesprochen hat-ten.57 Für sie sollte »er« auch fernerhin noch kom-men; für die kleine Gemeinde war er eben dagewesen.Sie hatten ihn gesehen, mit ihm gelebt. Man muß sichganz in dies Bewußtsein versetzen, um seine unge-heure Überlegenheit in einer solchen Zeit zu begrei-fen. Statt eines Ungewissen Blickes in die Ferne einStück ergreifender Gegenwart, statt der wartendenAngst die befreiende Gewißheit, statt einer Sage einmiterlebtes Menschenschicksal. Es war wirklich eine»frohe Botschaft«, die man verkündete.

Aber wem? Schon in den ersten Tagen erhebt sichdie Frage, welche über das ganze Schicksal der neuenOffenbarung entschied. Jesus und seine Freundewaren Juden von Geburt, aber sie gehörten nicht zumjudäischen Lande. Hier in Jerusalem erwartete manden Messias der alten heiligen Bücher, der allein fürdas jüdische Volk im ehemaligen Sinne einer Stam-

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mesgemeinschaft kommen sollte. Das ganze übrigearamäische Land aber erwartete den Erlöser der Welt,den Heiland und Menschensohn aller apokalyptischenSchriften, mochten sie jüdisch, persisch, chaldäischoder mandäisch abgefaßt sein.58 Im einen Fallewaren Tod und Auferstehung Jesu nur ein örtlichesEreignis, im andern bedeuteten sie eine Weltwende.Denn während überall sonst die Juden eine magischeNation ohne Heimat und Einheit der Abstammung ge-worden waren, hielt man in Jerusalem an der Stamme-sauffassung fest. Es handelte sich nicht um »Juden-«oder »Heidenmission«: der Zwiespalt liegt viel tiefer.Das Wort Mission bedeutet hier durchaus zweierlei.Im Sinne des Judaismus bedurfte es eigentlich keinerWerbung; im Gegenteil, sie widersprach der Messias-idee. Die Begriffe Stamm und Mission schließen sichaus. Die Angehörigen des auserwählten Volkes undim besonderen die Priesterschaft hatten sich lediglichzu überzeugen, daß die Verheißung jetzt erfüllt war.Im andern Falle aber lag in der Idee der magischen,auf dem consensus beruhenden Nation, daß mit derAuferstehung die volle und endgültige Wahrheit undalso mit dem consensus über sie die Grundlage derwahren Nation gegeben war, die sich nun ausdehnenmußte, bis sie alle älteren, der Idee nach unvollkom-menen in sich aufgenommen hatte. »Ein Hirt und eineHerde« – das war die Formel für die neue Weltnation.

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Die Nation des Erlösers war mit der Menschheit iden-tisch. Überblickt man die Vorgeschichte dieser Kul-tur, so ergibt sich, daß die Streitfrage des Apostelkon-zils59 schon 500 Jahre vorher durch die Tat entschie-den war: das nachexilische Judentum mit einzigerAusnahme des in sich abgeschlossenen Kreises vonJudäa hatte wie die Perser, die Chaldäer und alle an-dern im ausgedehntesten Maße unter den Ungläubigengeworben, von Turkestan bis nach Innerafrika, ohneRücksicht auf Heimat und Abkunft. Darüber strittman nicht. Es kam dieser Gemeinschaft gar nicht zumBewußtsein, daß es anders sein könne. Sie selbst warja bereits das Ergebnis eines nationalen Daseins, dasin Ausdehnung bestand. Die altjüdischen Textewaren ein sorgfältig behüteter Schatz, und die richtigeAuslegung, die Halacha, behielten sich die Rabbinervor. Die apokalyptische Literatur bildete dazu das äu-ßerste Gegenteil: geschrieben, um schrankenlos alleGemüter zu wecken, war sie in der Ausdeutung jedemeinzelnen anheimgestellt.

Wie seine ältesten Freunde es auffaßten, zeigt dieTatsache, daß sie sich als die Gemeinde der Endzeitin Jerusalem festsetzten und im Tempel verkehrten.Für diese einfachen Leute, darunter seine Brüder, dieihn anfangs durchaus abgelehnt hatten, und die Mut-ter, die nun an den hingerichteten Sohn glaubte,60war die Macht der judäischen Überlieferung noch

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stärker als der apokalyptische Geist. Ihre Absicht, dieJuden zu überzeugen, mißlang, obwohl anfangs sogarPharisäer übertraten; sie blieben eine der vielen Sek-ten innerhalb des Judentums und man kann das Er-gebnis, das »Bekenntnis des Petrus«, wohl so aus-drücken, daß sie selbst das wahre, das Synedrion aberdas falsche Judentum vertraten.61

Das letzte Schicksal dieses Kreises62 ist in Ver-gessenheit geraten unter der Wirkung, welche dieneue apokalyptische Lehre in der ganzen Welt magi-schen Fühlens und Denkens sehr bald hervorrief.Unter den späteren Anhängern Jesu waren viele, diewirklich rein magisch empfanden und von pharisäi-schem Geiste ganz frei waren. Sie haben lange vorPaulus die Missionsfrage stillschweigend für sich ge-löst. Sie konnten gar nicht leben, ohne zu verkünden,und sie haben vom Tigris bis zum Tiber überall klei-ne Kreise gesammelt, in denen die Jesusgestalt inallen denkbaren Auffassungen mit der Masse schonvorhandener Gesichte und Lehren verschmolz.63 Hierergab sich ein zweiter Zwiespalt, der ebenfalls in denWorten Heiden- und Judenmission enthalten ist undder viel wichtiger wurde als jener im voraus entschie-dene Streit zwischen Judäa und der Welt: Jesus hattein Galiläa gelebt. Sollte die Lehre von ihm nach Westoder Ost gerichtet sein? Als Jesuskult oder als Erlö-serorden? In engster Fühlung mit der persischen oder

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der synkretistischen Kirche, die damals beide in Bil-dung begriffen waren?

Darüber hat Paulus entschieden, die erste großePersönlichkeit in der neuen Bewegung, die erste, diesich nicht nur auf Wahrheiten, sondern auch auf Tat-sachen verstand. Als junger Rabbiner aus dem We-sten und Schüler eines der berühmtesten Tannaimhatte er die Christen als eine innerjüdische Sekte ver-folgt. Nach einer Erweckung, wie sie damals oft vor-kam, wandte er sich den vielen kleinen Kultgemein-den des Westens zu und schuf aus ihnen eine Kircheseiner Prägung. Von hier an haben sich die heidni-sche und die christliche Kultkirche im Gleichschrittund in engster Wechselwirkung bis zu Jamblich undAthanasius (beide um 330) entwickelt. Im Angesichtdieses großen Ziels hat er für die Jesusgemeinde in Je-rusalem eine kaum verhehlte Verachtung. Es gibt imNeuen Testament nichts Peinlicheres als den Anfangdes Galaterbriefes: er hat seine Tätigkeit auf eigeneFaust unternommen und so gelehrt und aufgebaut, wiees ihn gut dünkte. Endlich, nach vierzehn Jahren, gehter nach Jerusalem, um die alten Gefährten Jesu durchseine geistige Überlegenheit, den Erfolg und die Tat-sache seiner Unabhängigkeit von ihnen zu dem Einge-ständnis zu zwingen, daß seine Schöpfung die wahreLehre enthalte. Petrus und die Seinen, allem Tatsäch-lichen fremd, haben die Tragweite der Besprechung

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nicht erkannt: von da an war die Urgemeinde über-flüssig.

Paulus war Rabbiner dem Geiste und Apokalypti-ker dem Gefühl nach. Er erkannte den Judaismus an,aber als Vorgeschichte. Infolgedessen gab es von nunan zwei magische Religionen mit derselben heiligenSchrift, nämlich dem Alten Testament. Aber dazu ge-hörte eine doppelte Halacha, die eine in der Richtungauf den Talmud, durch die Tannaim zu Jerusalem seit300 v. Chr. entwickelt, die andere durch Paulus be-gründet und durch die Kirchenväter vollendet, in derRichtung auf das Evangelium. Die ganze Fülle derApokalyptik aber mit ihrer Erlöserverheißung, die da-mals umging,64 zog er in die Erlösungsgewißheit zu-sammen, so wie sie ihm allein vor Damaskus unmit-telbar offenbart worden war. »Jesus ist der Erlöserund Paulus ist sein Prophet«: das ist der volle Inhaltseiner Verkündigung. Die Ähnlichkeit mit Moham-med kann nicht größer sein. Weder die Art der Erwek-kung noch das prophetische Selbstbewußtsein nochdie Folgerungen daraus für das alleinige Recht unddie unbedingte Wahrheit ihrer Auslegung sind ver-schieden.

Mit Paulus erscheint der Stadtmensch und mit ihmdie »Intelligenz« in diesem Kreise. Die andern, moch-ten sie auch Antiochia und Jerusalem kennen, habendoch das Wesen solcher Städte nie begriffen. Sie leb-

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1.476 Spengler-Untergang, 829Der Untergang des Abendlandes: 3. ...

ten erdverbunden, ländlich, ganz Seele und Gefühl.Hier erschien ein in den Großstädten antiken Stils ge-wachsener Geist, der nur in Städten leben konnte, derdas bäuerliche Land weder begriff noch achtete. MitPhilo hätte er sich verständigen mögen, mit Petrusnicht. Er hat zuerst das Auferstehungserlebnis alsProblem gesehen, und das selige Schauen der ländli-chen Jünger verwandelte sich in seinem Kopfe ineinen Streit geistiger Prinzipien. Wie war das dochanders – das Ringen in Gethsemane und die Stundevon Damaskus: ein Kind und ein Mann, Seelenangstund geistige Entscheidung, Ergebung in den Tod undEntschluß zum Wechsel der Partei. Er hatte in derneuen Judensekte zuerst eine Gefahr für die pharisäi-sche Lehre von Jerusalem gesehen; plötzlich begriffer, daß die Nazarener »recht hatten« – ein Wort, andas man bei Jesus gar nicht denken kann; nun vertei-digt er ihre Sache gegen den Judaismus und erhebt siedamit zu einer geistigen Größe, während sie bisherdas Wissen um ein Erlebnis gewesen war. Eine geisti-ge Größe – aber damit drängt er das Verteidigte ganzunbewußt den andern geistigen Mächten näher, die esdamals gab: den Städten des Westens. Im Umkreisder reinen Apokalyptik gab es keinen »Geist«. Diealten Gefährten konnten ihn gar nicht verstehen. Siemüssen ängstlich und traurig auf ihn geblickt haben,als er auf sie einredete. Ihr lebendiges Jesusbild –

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Paulus hatte ihn ja nie gesehen – verblaßte vor diesemgrellen Licht der Begriffe und Sätze. Von nun anwurde aus der heiligen Erinnerung ein Schulsystem.Aber Paulus hatte ein ganz richtiges Gefühl für diewahre Heimat seiner Gedanken. Er hat seine Missi-onsreisen sämtlich nach Westen gerichtet und denOsten überhaupt nicht beachtet. Er hat das antikeStaatsgebiet nie verlassen. Warum ging er nachRom, nach Korinth und nicht nach Edessa oder Ktesi-phon? Und warum nur in die Städte und niemals vonDorf zu Dorf?

Paulus allein hat diese Entwicklung der Dinge ver-anlaßt. Seiner praktischen Energie gegenüber kamendie Gefühle aller andern nicht in Betracht. Damit warüber die städtische und westliche Tendenz der jungenKirche entschieden. Die letzten Heiden wurden späterpagani genannt, die »Leute auf dem Lande«. Eserhob sich eine ungeheure Gefahr, die nur durch dieJugend und urwüchsige Kraft des werdenden Chri-stentums abgewehrt worden ist: das Fellachentum derantiken Weltstädte griff mit beiden Händen danachund die Spuren blieben deutlich zurück. Wie weit ent-fernt war das doch vom Wesen Jesu, der ganz mitdem Lande und seinen Menschen verbunden gelebthatte! Er hatte die Pseudomorphose gar nicht bemerkt,in deren Mitte er geboren war, und trug auch nichtden leisesten Zug von ihr in seiner Seele, und nun, ein

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Menschenalter hernach, als seine Mutter vielleichtnoch lebte, war das, was aus seinem Tode aufgewach-sen war, schon ein Mittelpunkt für das Formwollender Pseudomorphose geworden. Die antiken Städtewaren bald der einzige Schauplatz der kultischen unddogmatischen Entwicklung. Nach Osten breitete sichdie Gemeinschaft nur verstohlen aus, wie um nichtbemerkt zu werden.65 Um das Jahr 100 gab es schonChristen jenseits des Tigris, aber sie sind samt ihrenÜberzeugungen für den Gang der kirchlichen Ent-wicklung so gut wie nicht vorhanden.

Aus der nächsten Umgebung des Paulus ist nunauch die zweite Schöpfung hervorgegangen, welchedie Gestalt der neuen Kirche wesentlich bestimmt hat.Daß es Evangelien gibt, ist, so sehr die Persönlichkeitund Geschichte Jesu eine dichterische Gestaltung for-derte, die Tat eines einzelnen, des Markus.66 WasPaulus und Markus vorfanden, war eine feste Traditi-on in den Gemeinden, das »Evangelium«, ein fortge-setztes Hörensagen und Weiterberichten, das durchformlose und unbedeutende Aufzeichnungen in ara-mäischer und griechischer Sprache gestützt, aber kei-neswegs dargestellt wurde. Daß einmal wichtigeSchriften entstehen würden, war gewiß, aber aus demGeist des Kreises, der mit Jesus gelebt hatte, und demGeist des Ostens überhaupt wäre eine kanonischeSammlung seiner Aussprüche, die auf den Konzilien

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ergänzt, abgeschlossen und mit einem Kommentarversehen wurde, das Natürliche gewesen und dazueine Jesusapokalypse mit der Parusie als Mittelpunkt.Die Ansätze dazu wurden durch das Evangelium desMarkus, das um 65, gleichzeitig mit den letzten Pau-lusbriefen und griechisch wie diese geschrieben ist,gänzlich abgebrochen. Damit ist der Verfasser, derdie Bedeutung seines kleinen Werkes gar nicht ahnte,eine der allerwichtigsten Persönlichkeiten nicht nurdes Christentums, sondern der arabischen Kulturüberhaupt geworden. Alle älteren Versuche ver-schwanden. Nur Schriften in Evangelienform bliebenals Quellen über Jesus zurück. Das war so selbstver-ständlich, daß von nun an »Evangelium« aus der Be-zeichnung eines Inhalts zu der einer Form wurde. DasWerk stammt aus dem Wunsch paulinischer, literatur-gewohnter Kreise, die nie einen Gefährten Jesu vonihm hatten reden hören. Es ist ein apokalyptischesLebensbild aus der Ferne; das Erlebnis ist durch Er-zählung ersetzt, so schlicht und aufrichtig, daß mandie apokalyptische Tendenz gar nicht bemerkt.67Aber sie bildet dennoch die Voraussetzung. Nicht dieWorte Jesu, sondern die Lehre von ihm in der paulini-schen Fassung ist der Stoff. Das erste christlicheBuch geht aus der Schöpfung des Paulus hervor, aberdiese selbst ist ohne das Buch und seine Nachfolgersehr bald nicht mehr zu denken.

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Denn jetzt entstand, was Paulus, ein inbrünstigerScholastiker, nie gewollt, was er aber durch die Rich-tung seiner Tätigkeit unvermeidlich gemacht hatte,die Kultkirche christlicher Nation. Während die syn-kretistische Glaubensgemeinschaft in dem Maße, wiesie zum Selbstbewußtsein gelangte, die zahllosenalten Stadtkulte und die neuen magischen zusammen-zog und diesem Gefüge durch einen höchsten Kult he-notheistische Form gab, wurde der Jesuskult der älte-sten Westgemeinden so lange zerlegt und bereichert,bis aus ihm eine ganz ähnlich gebaute Masse vonKulten entstanden war.68 Um die Geburt Jesu, vonder die Jünger nichts gewußt haben, bildete sich eineKindheitsgeschichte. Bei Markos kommt sie nochnicht vor. Zwar sollte schon in der altpersischen Apo-kalyptik der Saoshyant als Heiland der letzten Tagevon einer Jungfrau geboren werden; der neue westli-che Mythus aber war von ganz anderer Bedeutungund hatte unermeßliche Folgen. Denn nun erhob sichim Gebiet der Pseudomorphose neben Jesus als demSohne und weit über ihn hinaus die Gestalt der Got-tesmutter, der Mutter Gottes, ebenfalls ein schlichtesMenschenschicksal von so ergreifender Gewalt, daßes all die tausend Jungfrauen und Mütter des Synkre-tismus, Isis, Tarnt, Kybele, Demeter und alle Mysteri-en von Geburt und Leiden überragte und zuletzt insich aufnahm. Nach Irenäus ist sie die Eva einer

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neuen Menschheit. Origenes verficht ihre dauerndeJungfräulichkeit. Durch die Geburt des Erlösergotteshat eigentlich sie die Welt erlöst. Die TheotokosMaria, die Gottesgebärerin, war das große Ärgernisder Christen jenseits der antiken Grenze, und die ausdieser Vorstellung entwickelten Lehrsätze gaben zu-letzt den Anlaß für Monophysiten und Nestorianer,sich abzulösen und die reine Jesusreligion wiederher-zustellen. Aber als die faustische Kultur erwachte undeines großen Symbols bedurfte, um ihr Urgefühl fürdie unendliche Zeit, die Geschichte und die Folge derGeschlechter sinnlich zu fassen, da hat sie die Materdolorosa und nicht den leidenden Erlöser in dieMitte des germanisch-katholischen Christentums derGotik gestellt, und durch ganze Jahrhunderte blühen-der Innerlichkeit ist diese Frauengestalt der eigentli-che Inbegriff faustischen Weltgefühls und das Zielaller Dichtung, Kunst und Frömmigkeit gewesen.Noch heute nimmt im Kult und in den Gebeten derkatholischen Kirche und vor allem im Gefühl derGläubigen Jesus den zweiten Platz nach der Madonnaein.69

Neben dem Marienkult entstanden die unzähligenKulte der Heiligen, deren Zahl die der antiken Orts-gottheiten sicherlich aufwog, und als die heidnischeKirche zuletzt erlosch, konnte die christliche den gan-zen Schatz örtlicher Kulte unter der Form der Heili-

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1.482 Spengler-Untergang, 833Der Untergang des Abendlandes: 3. ...

genverehrung in sich aufnehmen.Aber Paulus und Markus haben noch etwas anderes

entschieden, dessen Tragweite gar nicht überschätztwerden kann. Es war die Folge seiner Mission, daßdas Griechische die Sprache der Kirche und ihrer hei-ligen Schriften, voran des ersten Evangeliums, wurde,wofür ursprünglich nicht einmal die Wahrscheinlich-keit vorlag. Eine heilige griechische Literatur – manbedenke, was das alles einschloß. Die Jesuskirchewurde von ihrem seelischen Ursprung künstlich abge-trennt und einem fremden, gelehrten angeheftet. DieFühlung mit dem Volkstum des aramäischen Mutter-landes ging verloren. Von da an hatten die beidenKultkirchen die gleiche Sprache, die gleiche begriffli-che Überlieferung, die gleichen Bücherschätze dersel-ben Schulen. Die viel ursprünglicheren aramäischenLiteraturen des Ostens, die eigentlich magischen, ge-schrieben und gedacht in der Sprache Jesu und seinerGefährten, waren damit von der Mitwirkung amLeben der Kirche abgeschnitten. Man konnte sie nichtlesen, man verfolgte sie nicht mehr, man vergaß sieendlich. Mochten auch die heiligen Texte der persi-schen und jüdischen Religion awestisch und hebrä-isch abgefaßt sein, so war doch die Sprache ihrer Ur-heber und Erklärer, die Sprache der gesamten Apoka-lyptik, aus welcher die Lehre Jesu und die Lehre vonihm herangewachsen waren, und endlich die der Ge-

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lehrten an allen Hochschulen Mesopotamiens dasAramäische. Das alles entschwand nun aus dem Ge-sichtskreis und an seine Stelle traten Plato und Aristo-teles, die von den Scholastikern beider Kultkirchen ingemeinsamer Arbeit und in gleichem Sinne mißver-standen wurden.

Den letzten Schritt in dieser Richtung wollte derMann tun, welcher Paulus an organisatorischer Bega-bung gleich, an geistiger Gestaltungskraft weit über-legen war, der an Sinn für das Mögliche und Tatsäch-liche aber hinter ihm zurückstand und deshalb mit sei-nen großartigen Absichten gescheitert ist: Marcion.70Er erblickte in der Schöpfung des Paulus mit allenihren Folgen nur die Unterlage zur Stiftung der ei-gentlichen Erlöserreligion. Er empfand das Sinnloseder Tatsache, daß Christentum und Judentum, die sichrücksichtslos verwarfen, dieselbe heilige Schrift, näm-lich den jüdischen Kanon besitzen sollten. Es er-scheint uns heute unfaßlich, daß es hundert Jahre langwirklich so war. Man bedenke, was der heilige Textfür jede Art magischer Religiosität bedeutet. Hierinsah er die eigentliche »Verschwörung gegen dieWahrheit« und eine dringende Gefahr für die vonJesus gewollte und nach seiner Ansicht noch nichtverwirklichte Lehre. Paulus, der Prophet, hat das AlteTestament für erfüllt und abgeschlossen erklärt;Marcion, der Religionsstifter, erklärt es für überwun-

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den und abgeschafft. Er will alles Jüdische bis aufden letzten Rest ausschalten. Er hat sein Leben hin-durch nichts bekämpft als das Judentum. Wie jederechte Religionsstifter und jede im Religiösen schöpfe-rische Zeit, wie Zarathustra, die israelitischen Prophe-ten, wie die homerischen Griechen und die zum Chri-stentum bekehrten Germanen hat er die alten Götter inverworfene Mächte verwandelt.71 Jehovah ist als derSchöpfergott das »gerechte« und also das böse,72Jesus als Verleiblichung des Erlösergottes in dieserbösen Schöpfung das »fremde«, also das gute Prinzip.Das magische und im besonderen persische Grundge-fühl ist ganz unverkennbar. Marcion stammte aus Si-nope, der alten Hauptstadt des mithridatischen Rei-ches, dessen Religion schon durch die Namen seinerKönige bezeichnet wird. Hier war einst der Mithras-kult entstanden.

Aber zu dieser neuen Lehre gehörte auch eine neueheilige Schrift. Das für die ganze Christenheit bisdahin kanonische »Gesetz und die Propheten« war dieBibel des Judengottes, die gerade damals vom Syn-edrion in Jabna endgültig zusammengestellt wordenwar. Die Christen hatten also ein teuflisches Buch inHänden. Marcion stellte ihr nun die Bibel des Erlö-sergottes entgegen und zwar in gleicher Weise ausSchriften geordnet, die bis dahin als bloße Erbau-ungsbücher ohne kanonisches Ansehen in den Ge-

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meinden umliefen73: an die Stelle der Tora setzte erdas – eine und wahre – Evangelium, das er aus meh-reren, nach seiner Überzeugung verdorbenen und ver-fälschten Einzelevangelien einheitlich aufbaute, an dieStelle der israelitischen Propheten die Briefe des ein-zigen Jesuspropheten Paulus.

Damit wurde Marcion der eigentliche Schöpfer desNeuen Testaments. Aber deshalb muß nun die ihmeng verwandte Gestalt jenes rätselhaften Unbekanntengenannt werden, der nicht lange vorher das Evange-lium »nach Johannes« geschrieben hatte. Er wolltedamit die eigentlichen Evangelien weder vermehrennoch ersetzen, sondern er hat, anders als Markus, mitvollem Bewußtsein etwas ganz Neues geschaffen, daserste »heilige Buch« im christlichen Schrifttum, denKoran der neuen Religion.74 Das Buch beweist, daßman diese Religion bereits als etwas Fertiges undDauerndes empfand. Der Jesus ganz erfüllende undnoch von Paulus und Markus geteilte Gedanke, daßdas Weltende da sei, liegt hinter »Johannes« undMarcion weit zurück. Die Apokalyptik ist zu Endeund die Mystik beginnt. Nicht die Lehre Jesu, auchnicht die paulinische von ihm ist der Inhalt, sonderndas Geheimnis des Weltalls, der Welthöhle. Voneinem Evangelium ist keine Rede; nicht die Gestaltdes Erlösers, sondern das Prinzip des Logos ist Sinnund Mitte des Geschehens. Die Kindheitsgeschichte

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wird wieder verworfen: ein Gott wird nicht geboren;er ist da und wandelt in Menschengestalt auf Erden.Und dieser Gott ist eine Dreiheit: Gott, der Geist Got-tes, das Wort Gottes. Dies heilige Buch des frühestenChristentums enthält zum erstenmal das magischeSubstanzproblem, das die folgenden Jahrhunderteausschließlich beherrscht und endlich zum Zerfall derReligion in drei Kirchen geführt hat; und zwar stehtes, was auf manches hindeutet, der Lösung am näch-sten, die der nestorianische Osten als wahr vertretenhat. Es ist trotz oder gerade wegen des griechischenWortes Logos das »östlichste« der Evangelien unddazu kommt, daß es Jesus gar nicht als Bringer derletzten und ganzen Offenbarung gelten läßt. Er ist derzweite Gesandte. Es wird noch ein anderer kommen(Joh. 14, 16. 26; 15, 26). Das ist die erstaunlicheLehre, die Jesus selbst verkündet, und das Entschei-dende in diesem geheimnisvollen Buche. Hier enthülltsich der Glaube des magischen Ostens. Wenn derLogos nicht geht, kann der Paraklet75 nicht kommen(16, 7), aber zwischen beiden hegt der letzte Aion,das Reich Ahrimans (14, 30). Die von paulinischemGeist beherrschte Kirche der Pseudomorphose hat dasJohannesevangelium lange bekämpft und erst aner-kannt, nachdem die anstößige, dunkel angedeuteteLehre durch eine paulinische Deutung verdeckt wor-den war. Wie es eigentlich damit stand, lehrt die auf

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mündliche Tradition hinweisende Bewegung derMontanisten (um 160 in Kleinasien), die in Montanusden erschienenen Paraklet und das Weltende verkün-deten. Sie fanden ungeheuren Zulauf. In Karthago be-kannte sich Tertullian seit 207 zu ihnen. Um 245 hatMani, der mit den Strömungen des östlichen Christen-tums sehr vertraut war,76 in seiner großen Religions-schöpfung den paulinischen, menschlichen Jesus alsDämon verworfen und den johanneischen Logos alsden wahren Jesus anerkannt, sich selbst aber als denParaklet des Johannes bezeichnet. In Karthago wurdeAugustin Manichäer, und es will viel sagen, daßbeide Bewegungen endlich mit derjenigen Marcionsverschmolzen sind.

Kehren wir zu Marcion selbst zurück, so hat er denGedanken des »Johannes« durchgeführt und eineChristenbibel geschaffen. Und nun ging er, fast einGreis, als die Gemeinden des äußersten Westens ent-setzt vor ihm zurückwichen,77 daran, eine eigene Er-löserkirche von meisterhaftem Aufbau zu gründen.78Sie war 150 bis 190 eine Macht und erst im folgen-den Jahrhundert gelang es der älteren Kirche, dieMarcioniten zum Range einer Sekte herabzudrücken,obwohl sie noch viel später im weiten Osten bis nachTurkestan hin eine große Bedeutung hatten und zu-letzt, was für ihr Grundgefühl sehr bezeichnend ist,mit den Manichäern verschmolzen sind.79

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Trotzdem ist seine gewaltige Tat, bei welcher erdas Beharrungsvermögen des Vorhandenen im Voll-gefühl seiner Überlegenheit unterschätzt hatte, nichtfruchtlos gewesen. Er war wie Paulus vor ihm undAthanasius nach ihm ein Retter des Christentums ineinem Augenblick, wo es zu zerfallen drohte, und estut der Größe seiner Gedanken gewiß keinen Eintrag,daß der Zusammenschluß nicht durch sie, sondern imWiderstand gegen sie erfolgt ist. Die frühkatholischeKirche, das heißt die Kirche der Pseudomorphose,ist in ihrer großen Form erst um 190 und zwar aus derNotwehr gegen die Kirche Marcions entstanden,indem sie deren ganze Organisation übernahm. Abersie hat auch die Bibel Marcions durch eine andere vongenau derselben Anlage ersetzt: Evangelien und Apo-stelbriefe, die sie dann mit dem Gesetz und den Pro-pheten zu einer Einheit verband. Und sie hat endlich,nachdem schon durch die Verbindung der beiden Te-stamente über die Auffassung des Judentums ent-schieden war, auch Marcions dritte Schöpfung, seineErlöserlehre, bekämpft, indem sie mit der Ausbildungeiner eigenen Theologie auf Grund seiner Stellung derProbleme begann.

Aber diese Entwicklung erfolgte ausschließlich aufantikem Boden, und damit war auch die gegen Mar-cion und seine Ausschaltung des Judaismus aufge-richtete Kirche für das talmudische Judentum, dessen

1.489 Spengler-Untergang, 837Der Untergang des Abendlandes: 3. ...

geistiger Schwerpunkt jetzt ganz in Mesopotamienund an dessen Hochschulen lag, lediglich ein Stückhellenistischen Heidentums. Die Zerstörung Jerusa-lems war ein grenzsetzendes Ereignis, das in der Tat-sachenwelt durch keine geistige Macht überwundenwerden konnte. Wachsein, Religion und Sprache sindinnerlich viel zu nahe verwandt, als daß die vollstän-dige Trennung eines griechischen Sprachgebiets derPseudomorphose und eines aramäischen der eigentlicharabischen Landschaft nicht seit dem Jahre 70 zweiSondergebiete magischer Religionsentwicklung ge-schaffen hätte. Am Westrande der jungen Kulturwaren die heidnische Kultkirche, die von Paulus dort-hin verwiesene Jesuskirche und das griechisch reden-de Judentum vom Schlage Philos sprachlich und lite-rarisch so ineinandergedrängt, daß das letzte demChristentum noch im ersten Jahrhundert anheimfielund dieses mit dem Griechentum eine gemeinsamefrühe Philosophie ausbildete. Im aramäischen Sprach-gebiet vom Orontes bis zum Tigris aber standen Ju-dentum und Persertum, die jetzt beide im Talmud undAwesta eine strenge Theologie und Scholastik schu-fen, in enger Wechselwirkung, und beide Theologienhaben seit dem 4. Jahrhundert den stärksten Einflußauf das der Pseudomorphose widerstehende Chri-stentum aramäischer Sprache ausgeübt, bis es sichin Gestalt der nestorianischen Kirche abgelöst hat.

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Hier im Osten entwickelte sich der in jedemmenschlichen Wachsein angelegte Unterschied vonempfindendem Verstehen und sprachlichem Verste-hen – also von Auge und Buchstabe – zu rein arabi-schen Methoden der Mystik und Scholastik. Die apo-kalyptische Gewißheit, die Gnosis im Sinne des 1.Jahrhunderts, wie sie Jesus verleihen wollte,80 dasahnende Schauen und Fühlen ist das der israelitischenPropheten, der Gathas, des Sufismus und sie ist nochbei Spinoza, dem polnischen Messias Baalschem81und bei Mirza Ah Mohammed, dem schwärmerischenBegründer der Babistensekte (in Teheran hingerichtet1850), erkennbar. Die andere, die Paradosis, ist dieeigentlich talmudische Methode der Worterklärung,wie sie Paulus vollkommen beherrschte82 und diealle späteren Awestawerke durchdringt und ebensodie nestorianische Dialektik83 und die ganze Theolo-gie des Islam.

Demgegenüber ist die Pseudomorphose ein völligeinheitliches Gebiet sowohl des magischen gläubigenHinnehmens (Pistis) als des metaphysischen Innewer-dens (Gnosis).84 Den magischen Glauben westlicherForm haben für die Christen Irenäus und vor allemTertullian formuliert. Des letzteren berühmtes Credoquia absurdum ist der Inbegriff dieser Glaubensge-wißheit. Das heidnische Seitenstück bieten Plotin inden Enneaden und Porphyrios besonders in der Schrift

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»Von der Rückkehr der Seele zu Gott«.85 Aber auchfür die großen Scholastiker der Heidenkirche gibt esden Vater (Nus), Sohn und das mittlere Wesen, sowie es schon für Philo den Logos als erstgeborenenSohn und zweiten Gott gegeben hatte. Die Lehre vonder Ekstase, von den Engeln und Dämonen, von denbeiden Seelensubstanzen ist ihnen allen geläufig undPlotin wie Origenes, beide Schüler desselben Lehrers,zeigen, wie die Scholastik der Pseudomorphose darinbesteht, daß man die magischen Begriffe und Gedan-ken an der Hand platonischer und aristotelischerTexte durch planmäßiges Andersverstehen entwickelt.

Der eigentliche Kernbegriff des gesamten Den-kens der Pseudomorphose ist der Logos,86 in seinerAnwendung und Entwicklung ihr getreues Sinnbild.Von einer Einwirkung »griechischen« – antiken –Denkens kann gar keine Rede sein; es lebte damalskein Mensch, in dessen geistiger Anlage der Logosbe-griff Heraklits und der Stoa auch nur von fern Platzgefunden hätte. Aber ebensowenig ist die magischeGröße, die gemeint war und die in persischen undchaldäischen Vorstellungen als Geist oder Wort Got-tes eine ebenso entscheidende Rolle spielt wie in derjüdischen Lehre als Ruach und Memra, in diesenTheologien, die in Alexandria nebeneinander saßen,zur reinen Entwicklung gekommen. Mit der Logosleh-re ist eine antike Formel auf dem Wege über Philo

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und das Johannesevangelium, dessen unauslöschlicheWirkung auf den Westen auf scholastischem Gebieteliegt, nicht nur ein Element der christlichen Mystik,sondern zuletzt ein Dogma geworden.87 Das war un-vermeidlich. Dieses Dogma beider Kirchen entsprichtals Wissensseite durchaus der Glaubensseite, welchedurch die synkretistischen Kulte einerseits, die Ma-rien- und Heiligenkulte andrerseits dargestellt wurde.Gegen beides, Dogma wie Kult, hat sich das Gefühldes Ostens seit dem 4. Jahrhundert erhoben.

Für das Auge aber wiederholt sich die Geschichtedieser Gedanken und Begriffe in der Geschichte dermagischen Architektur.88 Die Grundform der Pseu-domorphose ist die Basilika; sie war vor den Chri-sten schon den Juden des Westens und den hellenisti-schen Sekten der Chaldäer bekannt. Wie der Logosdes Johannesevangeliums ein magischer Urbegriff inantiker Fassung, so ist die Basilika ein magischerRaum, dessen Innenwände den antiken Außenflächeneines Tempelkörpers gleichen, ein verinnerlichterKultbau. Die Bauform des reinen Ostens ist der Kup-pelbau, die Moschee, die ohne Zweifel lange vor denältesten christlichen Kirchen in den Tempeln der Per-ser und Chaldäer, den Synagogen Mesopotamiens undvielleicht den Tempeln von Saba angelegt war. DieAusgleichsversuche zwischen West und Ost auf denKonzilen der byzantinischen Zeit endlich werden

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durch die Mischform der Kuppelbasilika symbolisiert.Denn in diesem Stück kirchlicher Baugeschichte istauch die große Wandlung zum Ausdruck gekommen,welche mit Athanasius und Konstantin, den letztengroßen Rettern des Christentums, eintrat. Der eineschuf das feste westliche Dogma und das Mönchtum,in dessen Hände die erstarrende Lehre allmählich vonden Hochschulen hinüberglitt; der andere begründeteden Staat der christlichen Nation, auf den der Grie-chenname endlich überging: die Kuppelbasilika istdas architektonische Symbol dieser Entwicklung.

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