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www.allpsy2.de Prof. Dr. Udo Rudolph Allgemeine & Biopsychologie Vorlesung Einführung in die Emotionspsychologie Moralische Emotionen SoSe 2019 Prof. Dr. Udo Rudolph Professur Allgemeine und Biopsychologie Institut für Psychologie Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften

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VorlesungEinführung in die Emotionspsychologie

Moralische Emotionen

SoSe 2019Prof. Dr. Udo Rudolph

Professur Allgemeine und BiopsychologieInstitut für Psychologie

Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften

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„Ich unterschreibe uneingeschränkt das Urteil derjenigen Autoren, die die Ansicht vertreten, das von allen Punkten, in denen der Mensch sich von den niederstehenden Tieren unterscheidet, der Sinn für Moral oder das Gewissen bei weitem der wichtigste ist.“

Charles Darwin

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Moralische Emotionen

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Stellen Sie sich vor:

Ein guter Freund hat Sie belogen. Ärger oder Bewunderung?

Jemand hilft Ihnen sehr. Dankbarkeit oder Scham?

Ihr Kollege bekommt den Nobelpreis. Bewunderung oder Neid?

Im Kino klingelt Ihr Mobiltelefon. Scham oder Peinlichkeit?

Karaoke-Einlage : „Love, Love, Love ...“ Stolz, Ärger oder Scham?

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„Moral ist die Gesamtheit der Normen, Werthaltungen und Grundsätze, die das

zwischenmenschliche Verhalten regulieren und die überwiegend als verbindlich akzeptiert oder

hingenommen werden.“

Ein moralisches Urteil über eine Person zu treffen (über andere oder sich selbst), bedeutet

also, deren Handlung entweder ...

A. ... als Verstoß gegen

B. ... oder als im Einklang mit

... allgemein gültigen Grundsätze(n) und Normen zu werten.

Was ist Moral?

Moralische Emotionen

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Die Antwort lautet: Ja.

Beispiel 1: Die so genannte „Goldene Regel“ ...

Hinduismus: „Man sollte sich gegenüber anderen nicht in einer Weise benehmen, die für

einen selbst unangenehm wäre; das ist das Wesen der Moral.“ (Mahabharata)

Buddhismus: „Einen Zustand, der nicht (...) erfreulich für mich ist, wie kann ich ihn einem anderen

zumuten?“ (aus den Reden Buddhas)

Judentum: „Tue nicht anderen, was Du nicht willst, dass sie Dir tun.“ (Talmud)

Christentum: „Alles was ihr wollt, dass Euch die Menschen tun, das tut auch ihnen ebenso.“

(Neues Testament)

Islam: „Keiner von Euch ist ein Gläubiger, solange er nicht seinem Bruder wünscht, was er

sich selbst wünscht.“ (Koran)

Gibt es eine universelle Moral?

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Das vom Parlament der Weltreligionen beschlossene Weltethos (1993):

1. Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor dem Leben

2. Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung

3. Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und Wahrhaftigkeit

4. Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die (gleichberechtigte) Partnerschaft von Mann und Frau.

Beispiel 2:

Anmerkung: Die Liste der Beispiele ist natürlich nicht auf Religionen beschränkt, aber die Religionen und insbesondere der Islam stehen derzeit hier im Fokus der Aufmerksamkeit –daher diese Beispiele. Ein gutes weltliches Beispiel ist der alternative Nobelpreis; siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Right_Livelihood_Award

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Zwei Denk-Traditionen zur Moral – oder: Immanuel Kant und David Hume:

1. Immanuel Kant:

Moral als reine Vernunft -- nicht die Religion, nicht der Common-Sense oder die empirische

Praxis können Fragen der Moral beantworten, sondern nur die reine Vernunft. Zur Moral

gehören das sittlich Gute, die Willensfreiheit, und die Maxime des kategorischen Imperativs.

In der Psychologie wurde diese Tradition von Piaget und Kohlberg fortgeführt.

Fazit von Kant: Emotionen sind keine guten Ratgeber für moralisches Handeln.

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Zwei Denk-Traditionen -- Immanuel Kant und David Hume:

2. David Hume:

Hume‘s Stichwort: „Kein Sollen aus dem Sein“ – sondern: die Emotionen sind das Element,

das moralisches Handeln erst ermöglicht; diese sind die motivationale Triebfeder und eine

Brücke zwischen Denken und Handeln.

Die Vernunft kann unseren Blick auf die Wirklichkeit ändern, aber nur die Emotionen sind

handlungswirksam:

„Moral führt zu Emotionen (Leidenschaften), und diese befördern und verhindern unser

Handeln. Die Regeln der Vernunft sind hierfür ganz ungeeignet. Die Regeln der Moral basieren

daher nicht auf Ableitungen unserer Vernunft.“

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Was sind „Moralische Emotionen“?

1. In der Emotionspsychologie gibt es seit 100 Jahren keine Einigkeit, welche Emotionen überhaupt (a) in einer kompletten Liste aller Emotionen oder (b) auch nur in einer Liste der wichtigsten Emotionen enthalten sein sollten.

3. Es herrscht aber Einigkeit, dass moralische Emotionen auf einem bestimmten Typ von Gedanken basieren, nämlich moralischen Werturteilen (gut versus schlecht, richtig versus falsch).

2. Es gibt bislang keine Theorie der moralischen Emotionen, weder hinsichtlich der kognitiven Voraussetzungen noch hinsichtlich einer möglichen Klassifikation.

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Ein erster empirischer Zugang:

Eine Datenbank-

Recherche zu „Moral“

und „Emotion“ fördert

eine ganze Reihe

üblicher Verdächtiger

zutage:

Plus: Schadenfreude, Missgunst, Hass [Ekel], Ärger über sich, Stolz auf andere ...

Schuld 107 Scham 54 Ärger (+ Grol l & Zorn) 29 Mit le id 24 Bewunderung (+ Respekt & Ehrfurcht) 15 Reue 10 Dankbarkeit 7 Peinl ichkeit 6 Stolz 5 Empörung 4 Neid 3 Eifersucht 3 Verachtung 1

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Ein zweiter empirischer Zugang:

Mindestens fünf dieser moralischen Emotionen gelten in zahlreichen Emotionstheorien als so genannte BASIC EMOTIONS, dies sind Ärger, Verachtung, Scham, Schuld und Stolz.

Dies bedeutet:

Es gibt sehr gute empirische Evidenz, dass es diese Emotionen in allen Kulturen der Welt gibt und diese hinsichtlich einiger Merkmale universell sind.

Ferner gibt es in den meisten Sprachen der Welt für die allermeisten der hier versammelten Emotionen spezifische Wörter -- so dass anzunehmen ist, dass die meisten Menschen, egal welcher Herkunft, Kultur oder Rasse, diese Emotionen kennen.

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Ein dritter empirischer Zugang:

Zahlreiche dieser Emotionen zeigen sich in der Ontogenese schon sehr früh, also im Laufe der frühen Kindheit.

Hierzu einige Daten:

(Angabe als Alter in Jahren; eine gute Zusammenfassung gibt Kagan, 1984):

Emotion:

Alter . . .

in dem diese Emotion mit

e iniger Sicherheit er lebt wird:

Alter . . .

in dem diese Emotion bei

anderen Personen erkannt wird:

Peinl ichkeit 1-2 - -

Mit le id 2-3 2-3

Ärger 1-2 2

Stolz 2 4

Scham 2 6-8

Schuld 2 6-8

Reue - - 7

Neid 1-3 3

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Zwischenfazit:

Es gibt eine ganze Reihe moralischer Emotionen, etwa ein bis zwei Dutzend.

Auch wenn es hier weiterer Forschung bedarf, spricht einiges dafür, dass diese Emotionen zumindest hinsichtlich einiger Aspekte (mimischer Ausdruck, Bekanntheit) universeller Natur sind.

Diese Emotionen entstehen ontogenetisch früh; dies bedeutet: ihre kognitiven Voraussetzungen können nicht allzu kompliziert sein.

Was nun?

Es folgen einige Ideen zur Beschreibung und Erklärung dieser moralischen Emotionen.

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Idee 1: Zur Qualität von Emotionen

Manche Emotionen werden als positiv, andere als negativ erlebt (James, 1890, Meinong, 1895;

Izard, 1977; Ortony, Clore & Collins, 1995 ...).

Dies gilt offensichtlich auch für moralische Emotionen:

... einige „fühlen sich gut an“ (Stolz, Bewunderung, ...),

... andere „fühlen sich schlecht an“ (Reue, Neid, ...).

Es ist auch offensichtlich, dass manche Emotionen Gutes bewirken können (Mitleid), sich aber

„schlecht anfühlen“.

Und es gibt Emotionen, die sich „gut anfühlen“ (Schadenfreude), aber allgemein nicht so gern

gesehen sind.

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Idee 2: Zur Signal-Wirkung von Emotionen

Manche Emotionen werden als positives Signal, andere als negatives Signal aufgefasst (Rudolph

& Tscharaktschiew, 2014).

Dies gilt offensichtlich auch für moralische Emotionen:

... einige „geben ein positives Signal“ (Stolz, Bewunderung, MITLEID ...),

... andere „geben ein negatives Signal“ (Reue, Neid, SCHADENFREUDE...).

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Idee 3: Zur Gerichtetheit von Emotionen

Emotionen haben einen Gegenstand, auf den diese sich beziehen (Descartes, 1649; McDougall,

1904; Arnold, 1954; Averill, 1968; Izard, 1977; Lazarus, 1991; Weiner, 1996 ...)

1. Moralische Emotionen beziehen sich immer auf Personen und deren Handlungen. Mit

anderen Worten: Ich kann Schuld empfinden oder Bewunderung, Mitleid oder Neid --

Häuser, Steine oder Bäume können dies nicht.

2. Moralische Emotionen beziehen sich auf die eigene Person und die eigenen Handlungen

(Reue, Schuld, Stolz ...) oder auf andere Personen und deren Handlungen (Mitleid, Neid,

Bewunderung ...).

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Diese beiden Ideen –Signalwirkung und Gerichtetheit -- verhelfen uns zu einer ersten Klassifikation moralischer Emotionen:

E igene Person &

eigene Handlungen

Andere & deren

Handlungen

Posit ives Signal

Stolz

Bewunderung

Ehrfurcht

Respekt

Dankbarkeit

Mitle id

[Stolz auf andere]

Negatives Signal

Peinl ichkeit

Schuldgefühle

Reue

Scham

[Ärger über s ich]

Ärger , Zorn

Verachtung

Neid, Missgunst

Empörung

Schadenfreude

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Idee 4: Zur Struktur von Emotionen

Emotionen sind aus (mindestens) drei wesentlichen Komponenten zusammengesetzt, nämlich:

Vorauslaufende

kognitive Bedingungen

Bewertung

Appraisal

Wahrnehmung

Kognition

Zentrale affektive

Komponente

Affekt

Gefühlsqualität

Physiologie

Konsequenzen der

Emotion im Verhalten

Handlungen

Dispositionen

Konative Komponente

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Idee 4: Zur Struktur von Emotionen

Wir konzentrieren uns im Folgenden auf die erste dieser drei Komponenten:

Vorauslaufende kognitive Bedingungen

Bewertung

Appraisal

Wahrnehmung

Kognition

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Die kognitiven Voraussetzungen von moralischen Emotionen

1. Moralische Urteile über Gut und Schlecht, Falsch und Richtig.

Bei der näheren Analyse dieser kognitiven Prozesse greifen wir im Folgenden auf die

Überlegungen Fritz Heiders und seiner „naiven Handlungsanalyse“ zurück.

2. Diese Urteile sind vermutlich sehr einfacher Natur.

Wie können nun diese Urteilsprozesse genauer gefasst werden?

Dies sind die Konzepte Sollen, Bemühen und Zielerreichung.

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1. Das Konzept des Sollens:

Zitat Fritz Heider (1958):

„Das Konzept des Sollens [resultiert aus] dem Aufforderungscharakter einer Situation, [...] und

hieraus eine psychologische Spannung, die auf der Unvollständigkeit oder Fehlerhaftigkeit dieser

Situation beruht (siehe auch Lewin, 1939, 1944).

Kritischer Test:

Entwicklungspsychologische Befunde legen nahe, dass dies eine der ersten Fähigkeiten ist, die

Kinder zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr entwickeln, und zwar als eine der ersten

Kompetenzen in der Interaktion mit der Umwelt überhaupt (zsf. siehe Kagan, 1984).

„Sollen bedeutet, dass eine Person aufgerufen ist, etwas zu tun.“ (Heider, 1958)

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2. Das Konzept des Bemühens oder der Anstrengung:

„Jemand möchte einen bestimmten Zustand erreichen oder herstellen.“ (Heider, 1958; S. 17).

Kritischer Test:

Befunde zur ‚Theory of Mind‘ zeigen, dass Kinder diese Fähigkeit zwischen dem ersten und

zweiten Lebensjahr entwickeln (zsf. siehe Tomassello, 1999).

In anderen Worten: Ich selbst habe eine Intention oder eine andere Person hat eine Intention, und

nun tut sie (mehr oder weniger) dafür, diese in die Tat umzusetzen.

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3. Das Konzept der Zielerreichung:

„Ob eine Person etwas tun kann oder nicht tun kann“ (Heider, 1958; S. 16).

In anderen Worten: Jener Faktoren, die darüber entscheiden, ob eine Handlung gelingt oder misslingt.

Wichtig hierbei ist, dass das Konzept des „Könnens“ Heider zufolge nicht mit ‚Fähigkeit‘ gleichzusetzen ist: Die Zielerreichung ist in diesem Falle das vorweggenommene oder beobachtete Gelingen oder Misslingen einer Handlung.

Kritischer Test:

Befunde zur frühen Beobachtung von Frustration und Ärger bei spätestens 1- bis 2-jährigen Kindern zeigen, dass Kinder solche Konzepte schon sehr früh erwerben.

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Hypothese:

Aus je unterschiedlichen Kombinationen von Sollen, Anstrengung und Zielerreichung resultieren

je spezifische Moralische Emotionen.

Beispiel 1: Sie bestehen ein schwierige Prüfung:

Sie sollten und konnten. Sie sind stolz.

Beispiel 2: Jemand anderes bekommt den Nobelpreis:

Diese Person sollte und konnte. Sie empfinden Neid oder Bewunderung.

Beispiel 3: Max zerstört das Bild, das seine Schwester gemalt hat.

Max sollte das nicht, tat dies aber dennoch. Max empfindet Reue.

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Zur Empirie: Was wir schon getan haben ...

1. Gedankenexperimente und autobiographische Erinnerungen -- mit großen Stichproben von Studierenden

2. Analyse von Werken der Weltliteratur, in denen zahlreiche Episoden mit moralischen Emotionen vorkommen.

3. Untersuchungen an Kindern zwischen 5 und 10 Jahren

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Studie 1: Clusteranalyse zu Emotionen von Handelnden.

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Studie 1: Beispiel Stolz.

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G+ A+ G+ A- G- A+ G- A-

Positiv

Negativ

Bemühen hoch Bemühen gering Bemühen hoch Bemühen geringZiel erreicht Ziel erreicht Ziel nicht erreicht Ziel nicht erreicht

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Studie 1: Beispiel Reue.

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Bemühen hoch Bemühen gering Bemühen hoch Bemühen geringZiel erreicht Ziel erreicht Ziel nicht erreicht Ziel nicht erreicht

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Studie 1: Vergleich zwischen Stolz versus Reue.

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Studie 2: Clusteranalyse zu Emotionen von Beobachtern

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Studie 2: Beispiel Mitleid.

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Studie 2: Ärger.

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G+ A+ G+ A- G- A+ G- A-

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Frage:

Besteht die Theorie den„Kindertest“?

In anderen Worten?Was sagen uns entwicklungspsychologische Daten?

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Idee:

Positives Ziel Anstrengung Ziel nicht erreicht Mitleid

Negatives Ziel Anstrengung Ziel nicht erreicht Schadenfreude

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Paradigma:

Vorgabe von Bildgeschichten

Erfassung von Schadenfreude, Mitleid, und Hilfe-Intentionen

N = 100 Kinder

Altersgruppe 1: 5 Jahre N = 32

Altersgruppe 2: 6,5 Jahre N = 35

Altersgruppe 3: 8 Jahre N = 33

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Materialien:

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Mitleid in Abhängigkeit von Absicht und Alter:

6 Jahre 6,5 Jahre 8 Jahre

0,00

1,00

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3,00

4,00

5,00

6,00

7,00

8,00

1 2 3

Positive AbsichtNegative Absicht

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Schadenfreude in Abhängigkeit von Absicht und Alter:

6 Jahre 6,5 Jahre 8 Jahre

0,00

0,50

1,00

1,50

2,00

2,50

3,00

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Positive AbsichtNegative Absicht

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Hilfsbereitschaft in Abhängigkeit von Absicht und Alter:

6 Jahre 6,5 Jahre 8 Jahre

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1,00

2,00

3,00

4,00

5,00

6,00

7,00

8,00

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Positive AbsichtNegative Absicht

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Moralische Emotionen in der Weltliteratur:

Autor/in Werk Herkunft:

E. Bronté Wuthering Heights UK

G. Eliot The mill on the floss UK

H. Beecher-Stowe Uncle Tom‘s Cabin US

C. Dickens Great Expectations UK

H. James Potrait of a Lady US

John Steinbeck East of Eden US

Plus:

Brüder Grimm Märchen der Brüder Grimm D

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Fazit:

1. Einfache Kognitionen, die moralische Emotionen in erheblichem Maße determinieren,

sind Wahrnehmungen von „Sollen“, „Bemühen“, und „Gelingen“.

2. Bei selbstbezogenen moralischen Emotionen ist das Gelingen wichtiger als bei

fremdbezogenen moralischen Emotionen. Bei anderen Personen dagegen bestimmt

allein schon das Vorliegen einer Absicht die moralischen Emotionen in noch

höherem Maße als bei selbstbezogenen moralischen Emotionen.

3. Ein kritischer Test für jede Theorie der moralischen Emotionen ist das

entwicklungspsychologische Kriterium – hier zeigen erste Befunde, dass bereits 5-

Jährige Kinder Schadenfreude und Mitleid kennen und das Erleben dieser Emotionen

ihr Verhalten beeinflusst.

4. Analysen von Werken der Weltliteratur bestätigen die naive Handlungsanalyse

Heiders sehr gut.

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