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Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung Studiengang Soziale Arbeit Prävention von Essstörungen Soziale Arbeit im Bereich psychischer Erkrankungen Bachelorarbeit vorgelegt von Johanna Reichert urn:nbn:de:gbv:519-thesis2015-0224-1 Erstprüfer: Prof. Dr. Steckelberg Zweitprüfer: Prof. Dr. Franke 25. Juni 2015

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Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung Studiengang Soziale Arbeit

Prävention von Essstörungen Soziale Arbeit im Bereich psychischer Erkrankungen

Bachelorarbeit

vorgelegt von Johanna Reichert

urn:nbn:de:gbv:519-thesis2015-0224-1

Erstprüfer: Prof. Dr. Steckelberg Zweitprüfer: Prof. Dr. Franke

25. Juni 2015

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung .................................................................................................................. 1

2 Essstörungen ............................................................................................................ 2

2.1 Definition von Essstörungen ................................................................................ 2

2.2 Definition von Sucht ............................................................................................ 5

2.3 Ursachen von Essstörungen als Anknüpfungspunkte für Prävention .................. 6

2.4 Essstörungen als gesellschaftliches Problem ..................................................... 9

3 Prävention ............................................................................................................... 11

3.1 Allgemeines zur Sucht- und Essstörungsprävention ......................................... 11

3.1.1 Gesundheits- und Lebenskompetenzförderung .......................................... 14

3.1.2 Leitlinien zur Essstörungsprävention .......................................................... 16

3.2 Prävention bei kleineren Kindern bis einschließlich Grundschulalter ................ 17

3.2.1 Suchtprävention im Kindergarten................................................................ 21

3.2.2 Spielen ........................................................................................................ 22

3.2.3 Bewegung ................................................................................................... 24

3.3 Prävention bei älteren Kindern und Jugendlichen ............................................. 25

3.3.1 Schulische Suchtprävention ....................................................................... 28

3.3.2 Außerschulische Suchtprävention .............................................................. 31

3.4 Prävention bei Erwachsenen ............................................................................. 33

3.4.1 Betriebliche Suchtprävention ...................................................................... 34

3.4.2 Elternarbeit ................................................................................................. 38

3.5 Prävention in Gemeinwesen und Gesellschaft .................................................. 41

4 Weitere Methoden zur Essstörungsprävention ........................................................ 43

5 Schluss .................................................................................................................... 44

Quellenverzeichnis ......................................................................................................... 47

Eidesstattliche Erklärung ................................................................................................ 50

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1 Einleitung

Jeder kennt sie: die Barbiepuppe. Seit inzwischen 56 Jahren1 wohnt sie in nahezu jedem Kin-derzimmer. Mit Körpermaßen von 99-46-84 wäre die Dame nicht lebensfähig2 und verkörpert dennoch ein angeblich perfektes sowie realitätsfernes Schönheitsideal. Unechte und unrealisti-sche Vorbilder schaffen häufig schon im Kindesalter falsche Motivationen für kaum zu errei-chende Ziele. Essstörungen beginnen zunehmend früher und betreffen nicht nur Mädchen, son-dern auch Jungen3. Laut dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey des Robert Koch-Instituts zeigen 20% der elf bis 17-jährigen in Deutschland Anzeichen einer Essstörungserkrankung4. Essstörungen sind vor allem in den westlichen Ländern weit verbreitet5. Der Druck, den die Gesellschaft in punkto Schönheitsideal ausübt, ist dabei nicht unerheblich. Ein regelrechter Ma-ger- und Fitnesswahn überflutet derzeit soziale Netzwerke, wie z.B. instagram6. Daran anknüp-fend sind Schönheits-Operationen nach wie vor im Trend und künstlich vergrößerte Brüste in unserer westlichen Welt lange keine Seltenheit mehr.7 Weiterhin präsentiert nahezu jede käuf-liche Frauenzeitschrift sogenannte Blitz- und Trend-Diäten. Mit dieser Verbreitung versucht die jeweilige Zielgruppe mehr und mehr dem nachzueifern. Hierbei wird auf zum Teil stark gesund-heitsschädigende Mittel zurückgegriffen. „Mit dem Einfluss des Schlankheitsideals und der Ver-breitung von Diäten nimmt gestörtes Essverhalten auch bei Kindern zu.“8 Dabei geht es schon früh los, einige werden gewollt immer dünner und andere oft unbemerkt immer dicker. Überall präsente Nahrungsreize ziehen häufig eine ungesunde Ernährung nach sich, damit einherge-hend auch vielfältige Krankheiten, wie Herz- und Kreislauferkrankungen und Magen- und Dar-merkrankungen9. Die Unterschiede zwischen den sozialen Schichten sind des Weiteren deutlich zu erkennen, so findet man im unteren Bereich häufiger Übergewicht/Adipositas und Binge-Eating Störungen als in der gesellschaftlichen Mittel- und Oberschicht10. Der Konsum von Fast Food steht nahezu täglich auf dem Programm, ein Bewusstsein für gesundes Ernährungs- und Bewegungsverhalten fehlt oft gänzlich. Im Vergleich dazu sind die Krankheitsbilder Anorexie und Bulimie überwiegend in gesellschaftlich höheren Schichten zu finden11. Der Leistungsdruck ist vor allem für Kinder und Jugendliche oft besonders hoch, denn ohne Erfolg ist man nichts wert. Abitur und Studium sind ein Muss, dazu die Vorzeige Familie gepaart mit dem perfekten Äußeren. Hier findet der mediale Schönheitswahn genug Nährboden um weite Kreise zu ziehen.

1 vgl. http://www.mattel.de/spielzeug/presseinformation/Barbie_Zahlen_und_Fakten/1233585184/y 2 vgl. http://nicht-so-wichtig.de/fakt.php?f=261 3 Vgl. Eckstein, L. http://www.kn-online.de/News/Aktuelle-Nachrichten-Schleswig-Holstein/Aus-dem-Land/Essstoerungen-beginnen-immer-frueher 4 vgl. http://www.bzga-essstoerungen.de/index.php?id=44 5 vgl. http://web4health.info/de/answers/ed-causes-culture.htm 6 siehe https://instagram.com/ 7 vgl. http://www.brust-op.de/zahlen-brust-ops.htm 8 Reich, G. in Klein, M. 2008, S.107 9 vgl. Cube, F. in Klein, M. 2008, S.17 10 vgl. Reich, G. nach Kromeyer-Hausschild/Wabitsch, Krüger et al. und Fairburn/Harison in Klein, M. 2008, S.105/106 11 vgl. Reich, G. nach Krüger et al., Gard/Freeman und McClelland/Crisp in Klein, M. 2008, S.105

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Abgesehen von den bereits aufgezählten Fakten sind die Ursachen von Essstörungen weitrei-chend und vielfältig12. So ergeben sich „Daten, denen zufolge gestörtes Essverhalten insbeson-dere bei jungen Frauen immer weiter um sich greift.“13 Meine Motivation zu der Thematik dieser Arbeit ist darin begründet, dass ich im familiären Rah-men den Leidensdruck einer betroffenen Person und deren Angehörigen erlebt habe. Eine Ess-störung ist eine ernstzunehmende Erkrankung, die die gesamte Familie über einen längeren Zeitraum belastet und damit viele Jahre für mich präsent war bzw. immer noch ist. Gern möchte ich anderen Familien und potentiell betroffenen Personen in Form von Präventionsarbeit helfen, weswegen ich mir die Frage gestellt habe, welche Möglichkeiten im Rahmen der Sozialen Arbeit vorhanden sind. Ich habe folgende Forschungsfrage erarbeitet, die den roten Faden dieser Ar-beit darstellt: Wie kann Soziale Arbeit präventiv der Verbreitung von Essstörungen entgegenwirken? Zunächst wird auf Essstörungserkrankungen detaillierter eingegangen, erläutert was darunter zu verstehen ist und ob diese als Sucht gelten. Es werden Ursachen von Essstörungen erörtert, die als Anknüpfungspunkte für Prävention zu verstehen sind und es wird intensiv beleuchtet, dass Essstörungen ein Problem unserer heutigen Gesellschaft sind. Anschließend werden Grundlagen zur Prävention, einschließlich der Gesundheits- und Lebenskompetenzförderung sowie einige Leitlinien zur Essstörungsprävention beschrieben und erklärt. Begonnen bei klei-neren Kindern bis zu Erwachsenen wird auf die altersspezifische Essstörungsprävention einge-gangen. Dabei werden die Settings Kindergarten, Schule, Freizeit, Betrieb, Elternarbeit und Ge-meinde besonders beleuchtet. Es werden im Anschluss noch ergänzende Methoden zur Prä-vention von Essstörungen aufgeführt, bevor die Arbeit mit einer Zusammenfassung abgeschlos-sen wird.

2 Essstörungen

2.1 Definition von Essstörungen

„Als essgestört gelten Menschen, für die das Essen die missbräuchliche Funktion hat, Prob-leme, die ansonsten unlösbar erscheinen, auf diese Art zu bewältigen.“14 Die Nahrungsauf-nahme ist bei gestörtem Essverhalten „angstbesetzt, überwiegend außenorientiert […], rigide […], chaotisch […], abwechselnd rigide und chaotisch, das Mittel zur Stressbewältigung, in star-kem Maße stimmungsabhängig, stark gewichtsabhängig“ und sie beherrscht die Gedanken so-wie das Erleben der betroffenen Person.15 „Essstörungen können sich klassisch als Anorexie,

12 vgl. Reich, G. in Klein, M. 2008, S.108 13 Franke, A. nach DGE, Hölling/Schlack, Berger/Schilke/Strauß und Yager/O‘Dea in Hurrelmann, K./ Klotz, T./Haisch, J. 2010, S. 259 14 Reich, G. nach Bruch in Klein, M. 2008, S.103 15 Reich, G. in Klein, M. 2008, S.107

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Bulimie, Binge-Eating-Störung oder auch weniger typisch zeigen. […] Im Krankheitsverlauf kann eine Form in die andere übergehen oder es liegen Störungen vor, die nicht alle Merkmale der Anorexie oder Bulimie erfüllen. Die Gruppe dieser untypischen Essstörungen ist in der Praxis sogar am häufigsten.“16 „Die ICD-1017 […] unterscheidet neben der Anorexie und der Bulimie mit jeweils auch atypischen Formen Essattacken bei anderen psychischen Störungen, Erbre-chen bei anderen psychischen Störungen, andere Ess-Störungen und nicht näher bezeichnete Ess-Störungen.“18 Teilweise wird in der Fachliteratur auch die Adipositas zu den Essstörungen gezählt.19 „Doch egal ob untypische oder klassische Erscheinungsform – es handelt sich immer um schwere psychosomatische Erkrankungen, die eines gemeinsam haben: Die Gedanken der betroffenen Person kreisen ständig um Essen bzw. Nichtessen und um die Figur. Der ganze Alltag wird danach ausgerichtet. Unbeschwert zu essen ist nicht mehr möglich. Irgendwann be-steht das Leben nur noch aus der Essstörung. Sie tötet Gefühle, Zufriedenheit, Lust, Genuss, Beziehungen. Sie schadet der Gesundheit und kann lebensgefährlich werden.“20 Bezeichnend für die Anorexia Nervosa (Magersucht) „ist ein deutliches Untergewicht oder star-ker Gewichtsverlust innerhalb weniger Monate. […] Die Betroffenen hungern, halten extrem strenge Diäten oder treiben exzessiv Sport. […] Menschen mit Magersucht sind oft stark leis-tungsorientiert und perfektionistisch in allen Lebensbereichen. […] Selbst wenn sich bis auf Haut und Knochen abgemagert sind, empfinden sie sich noch als zu dick und haben panische Angst zuzunehmen. Die Betroffenen nehmen ihren Körper nicht mehr realistisch wahr.“21 Davon be-troffen sind etwa 0,5 bis 1,5% der zwölf bis 25-jährigen mit steigender Tendenz.22 Kennzeichen einer Bulimia Nervosa (Ess-Brech-Sucht) sind oft schwer zu erkennen, denn Nor-malgewicht, Angepasstheit und Unauffälligkeit sind keine Seltenheit. „Regelmäßige […] Ess- und Brechanfälle sind für diese Essstörung typisch und finden in der Regel im Geheimen statt. […] Bei den Essanfällen nehmen die Betroffenen in kurzer Zeit große Mengen an Nahrung zu sich und haben dabei das Gefühl, völlig die Kontrolle zu verlieren. Ist der Anfall vorüber, treten oftmals Scham- und Schuldgefühle auf. Weil die Angst vor der Gewichtszunahme groß ist, wer-den drastische Gegenmaßnahmen ergriffen. Selbst herbeigeführtes Erbrechen, Hungern, ext-rem viel Sport, aber auch die Einnahme von Medikamenten wie Abführmittel und Appetitzügler gehören dazu.“23 Etwa ein bis zwei Prozent der jungen Frauen sind von Bulimie in den westli-chen Ländern betroffen. Männer erkranken an Bulimie ebenso wie an Anorexie deutlich selte-ner.24

16 Cremer, M. in BZgA 2013, S.10 17 ICD-10-GM ist die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesund-heitsprobleme, 10. Revision, German Modification zur Verschlüsselung von Diagnosen in der ambu-lanten und stationären Versorgung; siehe https://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-gm/ 18 Reich, G. nach Dilling et al. in Klein, M. 2008, S.103 19 vgl. Franke, A. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.260 20 Cremer, M. in BZgA 2013, S.10 21 Cremer, M. in BZgA 2013, S.11 22 vgl. Cremer, M. in BZgA 2011, S.17 23 Cremer, M. in BZgA 2013, S.11/12 24 vgl. Cremer, M. in BZgA 2011, S.18

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„Diese beiden klassischen Formen […] betreffen zu 95% Frauen. Die Anorexie beginnt typi-scherweise um die Zeit der Pubertät, im Alter zwischen 14 und 18 Jahren. […] Das Alter der Ersterkrankungen für die Bulimie ist in der Regel höher. Das Manifestationsmaximum liegt im 18. Lebensjahr. Die Behandlungsfälle beider Erkrankungen haben in den letzten 20 Jahren zu-genommen.“25 Ähnlich der Bulimie ist auch die Binge-Eating Störung (Ess-Sucht) geprägt von „regelmäßige[n] Essanfälle[n] und [dem] Gefühl, dabei die Kontrolle zu verlieren, […] ebenso Leid und Scham infolge der Essanfälle. Doch im Gegensatz zur Bulimie treffen Menschen mit dieser Essstörung keine Gegenmaßnahmen. […] Durch die hohe Kalorienaufnahme während der Essanfälle sind Menschen mit einer Binge-Eating-Störung häufig übergewichtig.“26 20 bis 30% der stark über-gewichtigen Jugendlichen sind von dieser Form von Essstörungen betroffen.27 „Weitaus verbreiteter als die genannten Formen von Ess-Störungen sind Übergewicht und Adi-positas. Deren Prävalenz steigt kontinuierlich, auch bei Kindern und Jugendlichen. Mit Überge-wicht und Adipositas werden Abweichungen vom Normalgewicht nach oben bezeichnet. Sie sind definitionsgemäß keine Ess-Störungen und nicht zwangsläufig mit pathologischem Essver-halten sowie seelischen Störungen verbunden.“28 „Die Häufigkeit von Übergewicht und Adipo-sitas nimmt ab dem Grundschulalter rasch zu, bei den Jugendlichen (14 bis 17 Jahre) hat sich der Anteil Übergewichtiger [seit den 90er Jahren] fast verdoppelt, der Anteil der Adipösen ver-dreifacht.“29 Studien haben weiterhin ergeben, „dass zwischen 10 und 18 % der Kinder und Jugendlichen in Deutschland übergewichtig sind. Eine Adipositas liegt bei etwa 4 bis 8 % vor. […] Bei Übergewicht spielt neben einem genetischen Anteil sowie Ernährungs- und Bewegungs-gewohnheiten die soziale Schichtzugehörigkeit eine bedeutende Rolle. […] Zwischen Überge-wicht und der Binge-Eating-Störung gibt es eine deutliche Beziehung. […] Ein Viertel bis ein Drittel der Binge Eater sind Männer.“30 Alle Personen mit diesen unterschiedlichen Essstörungsformen haben gemeinsam, dass sie mit der ständigen Fokussierung auf Essen bzw. Nichtessen Persönlichkeitsprobleme zu lösen ver-suchen. Es wird jedoch lediglich ein Verdrängen erreicht. Die Fähigkeit Hunger als körperliches Bedürfnis richtig zu bestimmen ist darüber verloren gegangen und emotionale Belange werden über die Nahrungsaufnahme kompensiert.31

25 Reich, G. nach Krüger et al. und Gard/Freeman und McClelland/Crisp in Klein, M. 2008, S.105 26 Cremer, M. in BZgA 2013, S.12 27 vgl. Cremer, M. in BZgA 2011, S.19 28 Reich, G. in Klein, M. 2008, S.105 29 Böhler, T./Dziuk, M. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.162 30 Reich, G. nach Kromeyer-Hausschild/Wabitsch, Krüger et al. und Fairburn/Harison in Klein, M. 2008, S.105/106 31 vgl. Bruch, H. 1991, S.65

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2.2 Definition von Sucht

„Unter Sucht ist [allgemein] ein bis zur Existenzgefährdung übersteigertes, verstandesmäßig unbeherrschtes und immer wiederkehrendes Verlangen nach einer (sinnlichen, gefühlsmäßi-gen) Erfahrung zu verstehen, das alle anderen Werte und Aktivitäten des Individuums in den Hintergrund drängt.“32 Weiterhin gilt „Sucht […] als eine problematische Form des Verhaltens […], die keinen Unterschied zwischen legalen und illegalen Substanzen aufweist und auch sub-stanzunspezifisch auftreten kann. Es handelt sich um eine soziale und kulturell angelegte Dis-position zu repetitivem, zwanghaften Verhalten, das selbstbestimmtes Handeln und eine posi-tive Entwicklung blockiert.“33 „Gemäß dieser Definition liegen bei Sucht stets zwei übergeord-nete Kriterien vor: 1. Ein innerer Zwang, durch den ein Teilbereich des Denkens, Fühlen, Han-delns ausgeschaltet ist, d.h. dass über diese Bereiche die persönliche Verfügungsgewalt zum Teil verloren gegangen ist, 2. Ein Leidensdruck, durch den das Wohlbefinden bzw. die Gesund-heit gestört wird.“34 Anfang der 90er Jahre „wurden öffentlichkeitswirksam neue substanzunspe-zifische Süchte entdeckt, wie Spielsucht, Fernsehsucht, Ess-Sucht oder Arbeitssucht. Die ver-haltensbedingten Süchte veranlassten eine Erweiterung des Suchtverständnisses, die Sucht unabhängig von Substanzen als eine problematische Form des Verhaltens betrachtet, die von Zwanghaftigkeit, Wiederholung und Kontrollverlust geprägt ist.“35 Demnach sind Essstörungen eindeutig als Sucht zu definieren. „Süchtiges [sowie essgestörtes] Verhalten ist nie auf einen einzigen nachweisbaren Grund zurück zu führen, sondern die Ursachen sind vielschichtig und multikausal.“36 Weiterhin ist es oft „die Antwort auf Einsamkeit, Angst, Freude, Spannungen, auf verschiedene Stimmungen und Erlebnisse und auf körperliche Bedürfnisse. Süchtige weigern sich unbewusst, ihre wirklichen Gefühle wahrzunehmen und ihren daraus entstehenden Bedürf-nissen entsprechend zu handeln.“37 Das bedeutet, „dass auch individuelle Gründe die Entwick-lung von Suchtverhalten begünstigen können. Dazu gehören u.a.: Sozialisationsdefizite, insbe-sondere Mangel an Selbstverantwortlichkeit oder Selbstvertrauen, unzureichend ausgeprägte psychosoziale Kompetenzen (mangelnde Konfliktfähigkeit, Frustrationstoleranz, Kontaktfähig-keit, Beziehungsfähigkeit, emotionale Erlebnisfähigkeit), mangelnde Genussfähigkeit, existen-zielle Frustration, Unerfülltsein [und/oder] Sinnverlust.“38 „Den meisten Suchterkrankungen [liegt] eine Persönlichkeitsstörung zugrunde […], wobei hier an erster Stelle Narzisstische Per-sönlichkeitsstörungen sowie Borderline-Persönlichkeitsstörungen zu nennen sind.“39 Essstörungen unterscheiden sich von den typischen Rauschmittelabhängigkeiten vor allem dadurch, dass die Betroffenen nicht ohne die Substanz leben können, da Nahrung für den menschlichen Körper überlebenswichtig ist. Eine „einfache“ Abstinenz ist nicht möglich. Das

32 Sting, S./Blum, C. nach Scheerer 2003, S.30 33 Sting, S./Blum, C. nach Scheerer 2003, S.77 34 Suckfüll, T./Stillger, B. nach Harten, R. in BZgA 1999, S.42 35 Sting, S./Blum, C. 2003, S.17 36 Suckfüll, T./Stillger, B. in BZgA 1999, S.33 37 Singerhoff, L. 2002, S.62 38 Suckfüll, T./Stillger, B. nach Tolzmann, R. in BZgA 1999, S.33 39 Rost, W. in Klein, M. 2008, S.43

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verkompliziert die Situation, denn Betroffene müssen den richtigen Umgang mit Nahrungsmit-teln neu erlernen und täglich anwenden, was eine große Persönlichkeitsstärke voraussetzt um in alltäglichen Sorgen, Krisen oder Stress nicht rückfällig zu werden.40 „Bei gesundheitlichen Problemen ist die Soziale Arbeit im Gegensatz zu sozialen Problemen nur in geringem Maße für Interventionen zuständig. Die Behandlung und Therapie von Krank-heiten und psychischen Auffälligkeiten findet in der Regel unter der Regie anderer Berufsgrup-pen statt (Mediziner, Psychiater, Psychotherapeuten), während Soziale Arbeit in der psychoso-zialen Betreuung, Begleitung und Rehabilitation sowie in der gesundheitlichen Prävention eine zentrale Rolle spielt. Eine Sonderstellung nimmt hierbei die Suchtbehandlung ein; aufgrund des großen Einflusses psychosozialer und sozialer Faktoren auf die Suchtentstehung ist der Anteil von Sozialpädagoginnen und –pädagogen in suchttherapeutischen Einrichtungen relativ hoch, was jedoch in den meisten Fällen entsprechende therapeutische Zusatzqualifikationen erfor-dert.“41

2.3 Ursachen von Essstörungen als Anknüpfungspunkte für Prävention

Die Ursachen für Essstörungen sind überaus vielfältig und bieten dementsprechend eine Reihe von Anknüpfungspunkten für die Präventionsarbeit. Es gibt zunächst „Entwicklungsphasen, in denen Kinder ganz besonders anfällig dafür sind, in eine Abhängigkeit zu geraten. Das sind entwicklungsbedingte Umbrüche, Übergänge zu neuen Lebensphasen, in denen die alte Stabi-lität plötzlich fehlt und der Mensch in einer völlig neuen Lebenssituation steht. Besonders schwierig ist die Situation in der beginnenden Pubertät. Dem Kind erscheint sein eigener Körper plötzlich fremd, es hat Gefühle, die es nicht versteht und die es verwirren.“42 Neben der Pubertät sind die „Zeit der Einschulung“ und „der Beginn einer Ausbildung“ ebenfalls einschneidende Umbrüche im Leben eines jungen Menschen.43 Daran anknüpfend kann man Präventionsmaß-nahmen zeitlich entsprechend vor diesen Lebensabschnitten ansetzen. Beispielsweise in der Präpubertät ab dem zehnten Lebensjahr, denn „der Kampf mit der Schönheit, der oft ein Leben lang dauert, beginnt meist in der Pubertät.“ 44 Sehr dünne Models setzen Maßstäbe, denen ein Mädchen zwischen zwölf und 15 Jahren kaum gerecht werden kann. Es findet wohlmöglich überflüssige Pfunde am eigenen Körper, die es nicht selten mit einer Diät zu bekämpfen gilt.45 Erfahrungsgemäß identifizieren sich „trotz aller Emanzipation […] viele junge Mädchen und Frauen vor allem über ihren Körper. Eine Flut von Artikeln und Anzeigen, Schönheitstipps und Diätspalten suggeriert ihnen Schlankheit als Lösung ihrer Lebensprobleme.“46 Ein ebenfalls pu-bertätsrelevantes Thema ist die „Angst vor dem Erwachsensein […] mit der Konsequenz, Ver-antwortung für das eigene Tun und Handeln zu übernehmen. Das kann auch spezifische Fragen

40 Langsdorff, M. 1985, S.56 41 Sting, S./Blum, C. 2003, S.25/26 42 Singerhoff, L. 2002, S.13 43 vgl. Singerhoff, L. 2002, S.13 44 Seyfahrt, K. 2000, S.16 45 vgl. Seyfahrt, K. 2000, S.16 46 Seyfahrt, K. 2000, S.14

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der eigenen Körperlichkeit und der Sexualität betreffen. Weiterhin kann es darum gehen, sich unangenehme Fragen über sich selbst und seine Position im Leben zu ersparen.“47 Das Einset-zen der Menstruation kann ebenso ein beängstigendes sowie ein essstörungsförderndes Erleb-nis für ein junges Mädchen sein. „Die meisten Frauen sind ungenügend auf dieses einschnei-dende Erlebnis und auf die Tatsache, dass sich der weibliche Körper von nun an dauernd und offensichtlich verändert, vorbereitet. Was nun das Verhältnis zum eigenen Körper betrifft, so reagieren vielen Frauen auf diesen schwierigen Lebensabschnitt mit Angst, ihren Körper nicht mehr beherrschen zu können, ihn aus der Kontrolle zu verlieren. [...] Diese Erfahrungen können die Basis für Probleme bezüglich des Essverhaltens und des Körpergefühls schaffen.“48 An diese Angst vor dem Erwachsenwerden als Auslöser für Essstörungen lässt sich ebenfalls prä-ventiv anknüpfen z.B. in Form von Mädchen-Nachmittagen/Abenden (offene Jugendarbeit), bei denen über genannte Themen gesprochen und aufgeklärt wird. Häufig äußern an Essstörungen erkrankte Frauen, dass es ihnen sehr entgegen gekommen wäre, wenn sie um den Zeitpunkt des Krankheitsbeginns die Möglichkeit gehabt hätten mit jemanden darüber zu sprechen. Das bestärkt den Bedarf an Räumen, in denen sich Mädchen und junge Frauen ungestört über „Mäd-chen- und Frausein, Körperlichkeit, Mädchenalltag, Essverhalten“ und anderes austauschen können.49 Ursachen für Sucht- und Essstörungserkrankungen reichen von „psychischen Irrationen“ bzw. dem „Hunger nach Gefühl/Wärme“ über ein „gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper“ und dem „Streben nach Idealfigur“ bis zu „Konflikten mit der Frauenrolle“ und „gesellschaftlichen Anpas-sungszwängen“. Daraus folgt eine „Schlankheitsmanie“, die sich in Bulimie und Anorexie zeigen kann.50 Weitere Auslöser können eine „broken-home-Situation, Mangel an emotionaler Zuwen-dung, Beziehungsstörungen [oder] eine Lebenskrise“51 sein. Ob genetische Veranlagungen ebenfalls zu den Ursachen von Essstörungen zu zählen sind, ist umstritten. Eindeutig ist in jedem Fall, dass „Umgebungsfaktoren, familiäre Essgewohnheiten, psychische Einflüssen und traumatische Ereignisse“52 die Entstehung von Essstörungen beein-flussen. Dies kann als „soziale Vererbbarkeit“ bezeichnet „und als Ergebnis eines Lernprozes-ses innerhalb der Familie verstanden werden.“53 Anknüpfend daran weisen „Familienstrukturen bei Essgestörten […] mit einer überzufälligen Häufigkeit ähnliche Muster auf: hohe Leistungsansprüche; kühles emotionales Klima; kontrol-lierendes Erziehungsstil; geschlossene Darstellung nach außen; geringe Akzeptanz von Selbst-ständigkeit bei einzelnen Familienmitgliedern [und] mangelnde Abgrenzung der Familienmitglie-der untereinander“. 54 Daran kann man in Form von sozialer Arbeit ebenfalls präventiv ansetzen

47 Seyfahrt, K. 2000, S.56 48 Tarr-Krüger, I. 1989, S.67 49 vgl. Becker, K./Birk-Hau, K. in Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz 1995, S.95 50 vgl. Langsdorff, M. 1985, S.29 Grafik 1a 51 Schönherr, U. in Langsdorff, M. 1985, S.63 52 Bruch, H. nach Angel 1991, S.44 53 Aliabadi, C./Lehnig, W. 1982, S.29 54 Singerhoff, L. 2002, S.101/102

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z.B. durch Angebote der Familienbildung, um die Familien ganzheitlich zu stärken und zu un-terstützen. Inhaltliche Anknüpfungspunkte der Präventionsarbeit sind vor allem die Förderung des Selbst-bewusstseins, der Selbstständigkeit bzw. Selbstbestimmung und der Ich-Stärke. „Die Mager-süchtige kommt meist aus einer sehr harmonischen Familie und hatte in dieser überbehüteten Atmosphäre keine Chance, sich selbst auszuprobieren und eine eigene Identität zu entwickeln. So bleibt der Körper ihr als einziges Feld, über das sie selbst bestimmen kann.“55 Ebenso will „die Bulimikerin […] es im Grunde allen Recht machen, sie will nicht auffallen. Probleme trägt sie nicht aus, sondern frisst sie buchstäblich in sich hinein und kotzt sie anschließend aus.“56 In beiden Fällen wird deutlich, dass „der entscheidende Auslöser von Suchtverhalten […] ein zu schwach ausgeprägtes Selbstwertgefühl [ist]. Der einzelne ist sich seines Wertes, man könnte auch sagen seiner Würde, nicht bewusst.“57 Betroffene „haben Angst vor Liebesentzug und ver-sagen sich eigene Bedürfnisse, um die der Eltern zufrieden zu stellen. Später können sie ihre eigenen Bedürfnisse nicht mehr wahrnehmen, nicht spüren und kaum mehr artikulieren. Dem-nach liegt die Ursache der Entwicklungsstörung in einer übergroßen Anpassungsanstrengung und der Entstehung einer Ich-Schwäche.“58 Die Ursachen können jedoch noch vielfältiger sein und die Liste der Erklärungsansätze für Ess-störungen damit noch deutlich länger. Einige Beispiele sind, dass „Nahrung […] symbolisch für ein unstillbares Verlangen nach unerreichbarer Liebe steh[t] oder Ausdruck von Wut und Hass [ist]; sie kann Ersatz für sexuelle Befriedigung sein oder asketische Verweigerung anzeigen; sie kann den Wunsch repräsentieren, ein Mann zu sein […] oder den Wunsch schwanger zu sein, oder die Furcht davor. Sie kann ein Gefühl von Macht verleihen und damit zur Selbsterhöhung führen […]. Die Überbeschäftigung mit Nahrung kann als hilfloses, abhängiges Anklammern an die Eltern erscheinen oder als deren feindselige Ablehnung.“ 59 Weiterhin sind „Defizite in der Familienstruktur; Vereinsamung; Desorientierung durch Fehlen von festen Wertvorstellungen und Weltanschauungen; Ängste, verbunden mit dem Gefühl der eigenen Hilflosigkeit; […] man-gelnde Informationen über […] Sucht; starkes Neugierverhalten; mangelnde Fähigkeit zur Kon-fliktbewältigung; […] materielle Verwöhnung; Über- oder Unterforderung im kognitiven Bereich; Verlust an Überschaubarkeit der eigenen Lebensbedingungen [und] Höherbewertung von Kon-sumgütern gegenüber Ideellem“60 als mögliche Ursachen zu ergänzen. Hier wird deutlich, dass „die Gründe für die Ess-Störungen […] nicht nur an der Oberfläche der gesellschaftlichen Schönheitsideale gesucht werden [dürfen], auch wenn diese eine gravierende Rolle dabei spie-len.“61 „Es gibt keine einzelne Ursache für Essstörungen. Immer müssen verschiedene Risiko-faktoren zusammentreffen, damit die Erkrankung ausbricht. […] Die Erkrankungen werden von

55 Seyfahrt, K. 2000, S.40 56 Seyfahrt, K. 2000, S.46 57 Steur, H. in Langsdorff, M. 1985, S.74 58 Singerhoff, L. 2002, S.99 59 Bruch, H. 1991, S.64 60 Singerhoff, L. 2002, S.12/13 61 Singerhoff, L. 2002, S.99

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[…] neurobiologischen Faktoren, sowie von individuell-psychologischen und soziokulturellen Einflüssen bestimmt. Auf ungünstige Umfeldfaktoren und Bedingungen in der Familie und/oder Peer Group reagieren Mädchen und junge Frauen empfindlich und bilden ein nur mangelhaftes Selbstwertgefühl aus. Unter dem Druck des gesellschaftlichen Schönheitsideals versuchen sie ihr defizitäres Selbstwertgefühl durch Schlankheit zu kompensieren“62. Daran sollte im Sinne von Prävention angeknüpft werden um ungünstige Bedingungen zu beseitigen bevor sie zu Auslösern werden.

2.4 Essstörungen als gesellschaftliches Problem

„In Europa ist ein erheblicher Teil junger Mädchen der Hochrisikogruppe für Ess-Störungen zu-zuordnen. […] Fast 50% der Mädchen zwischen 11 und 13 Jahren in Westeuropa haben bereits eine Diät gemacht. Etwa 40% der normalgewichtigen und der untergewichtigen Mädchen und weiblichen Jugendlichen zwischen 11 und 19 Jahren fühlen sich zu dick.“63 „Bei Kindern einer dritten und vierten Klasse bevorzugten 42% der Jungen und 53% der Mädchen ein dünneres Idealbild; 32% der normalgewichtigen Kinder wollten lieber dünner sein.“64 Eine weitere Studie mit 2000 Schülerinnen und Schülern (zwölf bis 21 Jahre alt) zeigte „dass sich 44% der Mädchen bzw. jungen Frauen als zu dick erlebten. Objektiv waren nur 20% übergewichtig. Untergewich-tige Mädchen hatten tendenziell einen höheren Sozialstatus als Übergewichtige. Beinahe ein Viertel der weiblichen Befragten zeigten ein mittelgradig bis deutlich gestörtes Essverhalten.“65 Essstörungen sind die Mode-Krankheiten unserer Zeit, denn ca. 25% aller deutschen Frauen weisen Anzeichen einer Essstörung auf. 66 „In unserer westlichen Kultur […] entwickelt sich Schlanksein und gutes Aussehen zu einem enorm hohen Wert, der immer mehr in das Bewusstsein aller Gruppen und Schichten eindringt. Die Besessenheit der westlichen Welt, schlank zu sein, die Verdammung jeder Art von Überge-wicht als unerwünscht und hässlich, kann als eine verzerrte Werthaltung in der Gesellschaft betrachtet werden, aber sie beherrscht das heutige Leben.“67 Vor allem „heranwachsende Mäd-chen werden […] in ihrem Alltag permanent mit den Zwängen der Mädchen- und Frauenrolle konfrontiert. Medien und Werbung vermitteln ihnen, dass nur schlanke und schöne Frauen er-folgreich sind, viele Kontakte haben, glücklich, beliebt und zufrieden sind. Wenn Mädchen die-sem Schönheitsideal nicht entsprechen, erfahren sie tagtäglich Diskriminierungen in der Schule, in der eigenen Familie und in der Öffentlichkeit.“68 Im Gegensatz zu anderen Suchterkrankungen sind der soziale Aspekt und der Schönheitswahn bei Essstörungen von großer Bedeutung. Wer

62 Franke, A./Brunner, E. in DHS 2013, S.19 63 Reich, G. nach Kabera in Klein, M. 2008, S.107 64 Franke, A. nach DGE, Hölling/Schlack, Berger/Schilke/Strauß und Yager/O‘Dea in Hurrelmann, K./ Klotz, T./Haisch, J. 2010, S. 259 65 Reich, G. nach Buddeberg-Fischer in Klein, M. 2008, S.107 66 Singerhoff, L. 2002, S.99 67 Aliabadi, C./Lehnig, W. 1982, S.16 68 Becker, K./Birk-Hau, K. nach Flaake in Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz 1995, S.96

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dem Idealbild nicht entspricht, leidet je nach Persönlichkeit mehr oder weniger darunter. Anhand der Körperform werden der Person Qualitäten zugeteilt und es wird stark stigmatisiert. Diese psychologischen Faktoren sind beim Streben nach der Idealfigur nicht unerheblich.69 „Zu negativ sind im europäischen Kulturkreis die Pauschalurteile über die belastenden Pfunde, gilt der Dicke doch gemeinhin als unbeherrscht, willensschwach und langsam. Seine einzige positive Eigen-schaft, die Gemütlichkeit, ist in einer Zeit voller Stress, Leistungsdruck und Streben um Wohl-stand und Luxus nicht gefragt. […] Dem Schlanken hingegen unterstellt man Spontanität, Fit-ness, Energie, Entschlussfähigkeit und Tatkraft – alles Eigenschaften, die im Wettlauf um „Geld und Ruhm“ Marksteine des Aufstiegs sind.“70 Die schlanke Idealvorstellung ist im Bewusstsein der Bevölkerung mit Unterstützung der Medien bereits stark verinnerlicht worden. Ein beruflich und privat erfolgreiches Leben können angeblich nur Personen mit dem Traumkörper errei-chen.71 „Besonders betroffen von diesen Idealvorstellungen sind die Frauen. Von allen Seiten wird ihnen immer wieder sehr deutlich gemacht, dass eine Frau schön sein muss und Schönsein natürlich auch bedeutet, schlank zu sein.“ 72 Diese Einstellung hat sich über Jahrzehnte mani-festiert, denn Aliabadi und Lehnig beschrieben bereits 1982 das Phänomen, dass in Magazinen nur sehr dünne Models zu sehen sind neben der Werbung für Diätpillen und anderen „Wunder-mitteln“ – und die neusten Trenddiäten ein paar Seiten weiter hinten im Heft. Die anzustreben-den Ideale sind Schönheit, Schlankheit und ein gepflegtes Äußeres.73 „Dazu kommt, dass es heute nicht nur ein einziges Schönheitsideal gibt, sondern mehrere gleichzeitig, die sich unmög-lich alle erfüllen lassen. Der Frauenkörper sollte, wenn es nach den Vorgaben der Gesellschaft ginge, schlank, athletisch, muskulös und sexy sein.“74 „Kein Wunder, dass viele Frauen die die-sen Klischees nicht entsprechen, verunsichert werden und sich minderwertig vorkommen.“75 Häufig sind diese Probleme auch nach einer Therapie bezüglich „sozial geprägten Störungen“ nicht einfach aus der Welt geschaffen. Eine persönliche Veränderung ist dabei nur die eine Seite, die Gesellschaftsstruktur ist die andere. Vorurteile und negative Haltungen in Bezug auf alle Körperformen gilt es gesamtheitlich zu verändern – das individuelle Problem stellt dabei die deutlich kleinere Hürde dar. 76 Dass Übergewichtige oft desinteressiert an Bewegung und sport-lichen Aktivitäten sind, „erwächst [häufig] aus der Angst sich lächerlich zu machen, tollpatschig oder ungelenk zu wirken. Das Image der Dicken ist schon unter Kindern und Jugendlichen denk-bar schlecht: Eine dicke Freundin will ich nicht haben.“ 77 „Sie werden häufig ausgelacht, nicht ernst genommen, gehänselt und trauen sich daher nicht in die Öffentlichkeit. Das Schicksal, dem gängigen Schönheitsideal nicht zu entsprechen, macht sie in der Regel selbst unsicher

69 vgl. Langsdorff, M. 1985, S.91 70 Langsdorff, M. 1985, S.92 71 vgl. Langsdorff, M. 1985, S.92 72 Aliabadi, C./Lehnig, W. nach Bruch und Szasz 1982, S.15/16 73 vgl. Aliabadi, C./Lehnig, W. nach Bruch und Szasz 1982, S.15/16 74 Singerhoff, L. 2002, S.109 75 Aliabadi, C./Lehnig, W. nach Bruch und Szasz 1982, S.15/16 76 vgl. Dana, M./Lawrence, M. 1988, S.117 77 Seyfahrt, K. 2000, S.51

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und schüchtern. Aus Angst vor sexuellen Kontakten bleiben viele Betroffene allein, leben zu-rückgezogen und geraten damit noch mehr in den Sog der Sucht.“78 Der damit einhergehende Rückzug führt nicht selten zu sozialer Ausgrenzung. „Wenn auch die Fettsucht volkswirtschaftlich enorme Kosten verursacht, so ist sie doch ein wichtiger Bestandteil unseres Wirtschaftssystems geworden. Ganze Industriezweige sind damit beschäftigt, noch mehr, noch raffiniertere, noch schmackhaftere, noch leichter zuzubereitende Lebens- und Genussmittel auf den Markt zu bringen, um dann mit aufwendigen Werbekampag-nen zum Essen zu verführen. Wieder andere Industriezweige und Gruppen leben davon, dass sie alle möglichen Mittel anbieten, um die Folgen des zu reichlichen und falschen Essens ein-zudämmen. Die Lebensmittelindustrie bringt immer mehr Diät-Produkte heraus, bei denen man dafür, dass sie weniger gehaltvoll sind, mehr Geld bezahlt. Die Aufschriften „fettreduziert“, „koh-lenhydratvermindert“, „zuckerreduziert“ locken viele Käufer an, die sich dadurch eine Verringe-rung ihres Essproblems bzw. ihres Körperumfanges versprechen.“79 Weiterhin haben auch Apo-theken massenweise Kunden durch das Schlankheitsgeschäft gewonnen. Von übergewichtigen Menschen gekauft werden Appetitzügler und andere Produkte zum Abnehmen. Auch für Fit-nessgeräte, entsprechende Sportkleidung, Diätbücher/-zeitschriften, Fastenkuren und diverse Straffungscremes wird jede Menge Geld ausgegeben. Das Geschäft boomt und wirtschaftlich wird viel davon profitiert.80 Nur die Gesundheit des Einzelnen leidet unter Umständen extrem darunter. Wird hier auf Kosten der Gesundheit möglicherweise eine ernsthafte Erkrankung so-gar gefördert? Darauf gibt es keine Antwort, dennoch ist das alles sehr bedenklich und schreit vor allem auf gesellschaftlicher Ebene nach Hilfe.

3 Prävention

3.1 Allgemeines zur Sucht- und Essstörungsprävention

„Prävention bedeutet nach allgemeinem Sprachverständnis ein Handeln im Vorfeld: Es geht um ein vorbeugendes Eingreifen, das auf die Verhinderung von möglichen oder befürchteten Prob-lemen, Auffälligkeiten und Abweichungen gerichtet ist.“81 Prävention lässt sich allgemein in drei Bereiche einteilen, die primäre, sekundäre und tertiäre Prävention. In dieser Arbeit wird vor-nehmlich auf die Primärprävention eingegangen, da sie direkt der Krankheitsvorbeugung dient. „Diese setzt bereits dann an, wenn noch keine Krankheit aufgetreten ist. Ziel der primären Prä-vention ist die Förderung der Gesundheit und die Verhütung von Krankheit, u.a. durch die Be-seitigung von Risikofaktoren und Stärkung von Schutzfaktoren.“82 Zeitlich ist die primäre Prä-vention wie bereits erwähnt vor dem Eintreten der Erkrankung einzuordnen. Das Ziel solcher

78 Seyfahrt, K. 2000, S.56 79 Aliabadi, C./Lehnig, W. 1982, S.19/20 80 Aliabadi, C./Lehnig, W. 1982, S.20 81 Sting, S./Blum, C. nach Böllert 2003, S.25 82 Suckfüll, T./Stillger, B. in BZgA 1999, S.37

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Präventionsmaßnahmen ist eine Verringerung der Ausbreitung von Krankheiten, in diesem Kon-text von Essstörungen. Primärprävention richtet sich an gesunde Menschen bzw. Personen ohne spezifische Symptome.83 Bei Sekundärprävention handelt es sich um Krankheitsfrüher-kennung und bei Tertiärprävention um eine Vermeidung der Krankheitsverschlechterung84. Wei-terhin kann zwischen Verhaltensprävention (personenbezogener Prävention) und Verhält-nisprävention (strukturbezogener Prävention) differenziert werden.85 „Während die Verhal-tensprävention darauf abzielt, das individuelle gesundheitsbezogene Handeln zu beeinflussen, wirkt die Verhältnisprävention auf die materiellen, sozialen und kulturellen Lebens- und Umwelt-bedingungen für Gesundheit, Risiko und Krankheit ein.“86 Im Speziellen bedeutet das, dass die Verhaltensprävention „auf die Persönlichkeit und das Verhalten der Adressaten und Zielgruppen zentriert [ist]. Es handelt sich um pädagogisch-therapeutische Maßnahmen, die sich mit den Lebensweisen, Lebensstilen, Konsummustern und Handlungspraktiken von Einzelnen und Gruppen auseinander setzen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Vermittlung von Kompeten-zen für eine gelingende Lebensgestaltung. Dazu zählen Handlungskompetenzen, die Einübung gelingender Krisenbewältigungs- und Konfliktlösungsstrategien, aber auch die Ermöglichung von Erfahrungen zur Steigerung des Selbstwerts und zum Erwerb sozialer Anerkennung.“87 Die-ser Interventionsmöglichkeit sind ebenfalls Informationsvermittlung und Aufklärung (z.B. über verschiedene Essstörungsformen) zuzuordnen sowie die Reflektion der eigenen Erfahrungen, Auseinandersetzung mit einer gesunden Ernährungsweise, aber auch das Aufzeigen von kon-kreten Hilfsmöglichkeiten.88 Demgegenüber umfasst Verhältnisprävention oft „eine Infrastruk-turarbeit, die z.B. zur Verbesserung der Rahmenbedingungen des schulischen Lernens […], der lokalen Kultur- und Freizeitangebote und der psychosozialen Hilfe im Gemeinwesen führen soll. Darüber hinaus geht es aber auch um eine auf spezifische Ungleichheiten, Benachteiligungen und Betroffenengruppen bezogene Sozialpolitik […], die die Chancen für eine positive, selbst-bestimmte Lebensgestaltung erhöht […].“89 Insbesondere „Suchtprävention taucht als Aufgabenfeld in unterschiedlichen Institutionen auf: Von Kindergärten über Schulen, Jugendarbeit, Erziehungshilfen, Betrieben bis zum Gemeinwe-sen tangiert sie eine Vielzahl von Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit. Zugleich ist sie nicht auf das Berufsfeld der Sozialen Arbeit beschränkt, sondern es ist […] ein breites Spektrum von Berufsgruppen an der Suchtprävention beteiligt: z.B. LehrerInnen, PolizistInnen, ErzieherInnen, PsychologInnen und ÄrtzInnen […].“90 Der Begriff Suchtprävention91 umfasst neben der Präven-tion von stoffgebundenen Süchten auch die Prävention substanzunabhängiger Süchte und

83 vgl. Leppin, A. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, Tabelle S.36 84 vgl. Suckfüll, T./Stillger, B. in BZgA 1999, S.37 85 vgl. Suckfüll, T./Stillger, B. in BZgA 1999, S.37 und Sting, S./Blum, C. 2003, S.36/37 86 Suckfüll, T./Stillger, B. in BZgA 1999, S.37 87 Sting, S./Blum, C. nach Herringer, Böllert und Freitag 2003, S.37 88 vgl. Sting, S./Blum, C. nach Herringer, Böllert und Freitag 2003, S.37 89 Sting, S./Blum, C. nach Herringer und Laaser/Hurrelmann 2003, S.36 90 Sting, S./Blum, C. 2003, S.25 91 Das Wort “Suchtprävention” schließt im Rahmen dieser Arbeit immer die Prävention von Essstörun-gen mit ein - siehe dazu Punkt 2.2. „Definition von Sucht“.

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schließt damit ganz eindeutig Essstörungen mit ein. Dementsprechend ist Prävention von Ess-störungen ohne Zweifel ein wichtiges Aufgabenfeld von SozialarbeiterInnen. Dieses stellt aller-dings kein für sich stehendes „ergänzendes Gebiet dar, sondern in den bestehenden pädago-gischen Handlungsfeldern ist bereits ein spezifisches suchtpräventives Potential enthalten, dass es vordringlich zu erkennen und gegebenenfalls deutlicher zu konturieren gilt. In einem weiteren Schritt können dann, eingebettet in die ohnehin stattfindenden Angebote und Maßnahmen des eigenen Handlungsfeldes, spezifische suchtpräventive Aktionen, Projekte und Maßnahmen er-folgen.“92 Diese „Präventionsmaßnahmen haben zum Ziel, Essstörungen und ihre Folgen zu vermei-den.“93 Häufig umfassen sie Anorexie, Bulimie und die Binge-Eating-Störung und unterscheiden in der Gestaltung der Präventionsprogramme nicht zwischen den verschiedenen Erkrankungs-formen, vor allem Anorexie und Bulimie werden oft zusammengefasst.94 Bei Präventionsansät-zen im Sinne einer Lebenskompetenzförderung ist eine Trennung nach Essstörungsformen nicht notwendig. Weiterhin gibt es „neben […] essstörungsspezifischen Präventionsmaßnah-men […] Maßnahmen, die ganz allgemein die Gesundheit fördern. Sie tragen damit indirekt zur Vermeidung von Essstörungen bei.“95 „In der Praxis überschneiden sich die Ansätze der Ge-sundheitsförderung und der Primärprävention. Maßnahmen zur Prävention von Essstörungen enthalten neben Übungen/Modulen, die gezielt die Hintergründe der Erkrankung in den Blick nehmen, auch Elemente, die ganz allgemein die körperliche, seelische oder soziale Gesundheit fördern. Immer blicken Gesundheitsförderung und Primärprävention auch auf die Lebensbedin-gungen: Dazu gehören beispielsweise der gesellschaftliche Umgang mit Schlankheit, Schönheit oder Übergewicht.“96 Dennoch gibt es verschiedenste Möglichkeiten eine Präventionsmaß-nahme zu gestalten. Es stellt sich weiterhin die Frage, ob es sinnvoll ist geschlechtsspezifische Essstörungsprävention zu betreiben, da überwiegend Mädchen und junge Frauen daran erkran-ken. Weil Mädchen andere Umgangsformen an den Tag legen als Jungen und weniger ihre Gefühle und Bedürfnisse über den Körper ausdrücken, sondern eher passiv und häufig auch psychosomatisch reagieren97, ist es angebracht, auch Präventionsangebote daran anzupassen.

„Aus der Behandlung magersüchtiger, essgestörter Mädchen ist bekannt, dass die wenigen kla-ren Informationen über die eigenen Geschlechtsorgane und Vorgänge wie Menstruation oder Geburt häufig Angst auslösen und zur Ablehnung der eigenen Geschlechtlichkeit führen.“98 Die-ses Thema ist häufig auch mit Scham besetzt, die durch eine reine Mädchengruppe gemindert

92 Grundmann, D./Nöcker, G. in BZgA 1999, S.18/19 93 Cremer, M. in BZgA 2013, S.19 94 vgl. Franke, A. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.260 95 Cremer, M. in BZgA 2013, S.20 96 Cremer, M. in BZgA 2013, S.20 97 vgl. Singerhoff, L. 2002, S.38 98 Singerhoff, L. 2002, S.38/39

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werden kann. Präventionsinhalte, wie der Kampf um „Anerkennung“99, „Autonomiebestrebun-gen“ und „Selbstständigkeit“100 sowie die „Entwicklung der Ich-Identität und des Selbstwertge-fühls“101 sind öfter für Mädchen als für Jungen ein Problem, dennoch profitieren auch letztere von diesen Thematiken, sofern sie entsprechend aufbereitet vermittelt und die Kinder bzw. Ju-gendlichen darin bestärkt werden. Doch „so unterschiedlich die Programme und die Ansätze [für Essstörungsprävention] im Ein-zelnen sein mögen, so beruhen sie alle auf dem Rationale des Risikofaktorenmodells: Risiko-faktoren für das Entstehen der Erkrankung sollen gesellschaftlich und individuell reduziert, pro-tektive Faktoren hingegen unterstützt und strukturell implementiert werden.“102 Risikofaktoren für Essstörungen sind beispielsweise ein schwaches Selbstwertgefühl, unzureichende Fähig-keiten Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen, ein sehr hoher Leistungsanspruch (vor allem bei Anorexie- und BulimiepatientInnen), schwierige familiäre Verhältnisse, die Angst vor der Pu-bertät, der Druck dem gängigen Schönheitsideal entsprechen zu müssen, oft unterstützt durch das direkte Umfeld, eine negative Einstellung zum eigenen Körper und ungesunde Crash-Diä-

ten.103 Im Gegenzug dazu sind protektive Faktoren „die Sicherheit und das Bewusstsein, so

richtig zu sein, wie man nun einmal ist“, weiterhin „ein gutes Durchsetzungsvermögen, souve-räner Umgang mit verschiedenen Rollen im Alltag, gute Problemlösefähigkeiten, ein hohes Selbstwertgefühl und soziale Kompetenz, guter Umgang mit Stress und die Realisierung eige-ner Wertvorstellungen in Bezug auf das körperliche Aussehen. Zudem sind eine genetische Prädisposition für Schlankheit und ein großer Fundus an allgemeiner Lebenskompetenz, den sogenannten Life skills Schutzfaktoren gegen Essstörungen. Auf familiärer Ebene gelten enge, aber nicht verstrickte emotionale Beziehungen, eine familiäre Atmosphäre, in der das Schlank-sein nicht überbetont wird und eine gute, offene Kommunikation – am besten auch bei gemein-samen Mahlzeiten – als protektiv.“104 „Darüber hinaus benötigen [insbesondere] Kinder von ihrer Umwelt spezifische förderliche Reaktionen. Als solche sind […] zu berücksichtigen: Sicherheit, Beständigkeit, Anerkennung, Bestätigung, liebevolle Zuwendung, realistische und alltagsbezo-gene Vorbilder, sinnvolle Lebensziele, Einführung in einen funktionalen Lebensstil.“105

3.1.1 Gesundheits- und Lebenskompetenzförderung „Suchtprävention durch Lebenskompetenzförderung setzt ebenfalls an den Entwicklungsanfor-derungen der Individuen an; sie verfolgt also eine positive, ressourcen- und kompetenzorien-tierte Strategie. Darüber hinaus ist sie dem umfassenden Ansatz der Gesundheitsförderung verpflichtet und versucht durch Stärkung von Schutz- und Protektivfaktoren gegenüber Sucht-entwicklung zu immunisieren.“106 Laut Definition von Hurrelmann, Klotz und Haisch bezeichnet

99 Singerhoff, L. 2002, S.39 100 Singerhoff, L. 2002, S.39 101 Singerhoff, L. 2002, S.40 102 Franke, A. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.260 103 vgl. Franke, A. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.260 104 Franke, A. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.260/261 105 Klein, M. in Klein, M. 2008, S.483 106 Sting, S./Blum, C. 2003, S.76

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Gesundheitsförderung „alle Eingriffshandlungen, die der Stärkung von individuellen Fähigkeiten der Lebensbewältigung dienen.“107 „Gesundheitsfördernde Maßnahmen nehmen den Lebens-stil, bestimmte Verhaltensweisen, Besonderheiten im Erleben der eigenen Person oder von Si-tuationen und den Umgang mit anderen in den Blick. Sie stärken den Menschen, erhöhen sein Wissen, seine Handlungskompetenzen sowie seine Kritik- und Urteilsfähigkeit. Sie fördern seine Möglichkeiten, selbstbestimmt zu handeln, besser mit Widrigkeiten umzugehen und Gesundheit als einen Bereich zu erleben, der selbst aktiv gestaltet werden kann.“108 Weiterhin umfasst Ge-sundheitsförderung die Vermittlung von Grundlagen eines gesundheitsbewussten Lebensstils sowie Motivation und Gestaltungsmöglichkeiten diese im Alltag umzusetzen.109 „Das Konzept der Lebenskompetenzförderung bestimmt bis heute den Mainstream der Sucht-prävention in Deutschland.“110 Diese zielt darauf ab „solche Faktoren und Kompetenzen zu un-terstützen, die Selbstbestimmung ermöglichen, einer positiven Persönlichkeitsentwicklung zu-träglich sind und die Entstehung von Suchtverhalten verhindern.“111 „Darunter ist [weiterhin] die Förderung sozialer und psychischer Fähigkeiten zu verstehen, wie zum Beispiel Selbstbehaup-tung, Durchsetzungsfähigkeit, Abgrenzungs- und Ablehnungsfähigkeit, aber auch Kontakt- und Genussfähigkeit.“112 Es soll auch in diesem Konzept gegenüber Risikofaktoren immunisiert und dafür protektive Faktoren ausgebaut werden. Dazu eignet es sich, eigene Fähigkeiten und Res-sourcen sowie die Selbstwertschätzung im Rahmen von Trainingsprogrammen oder peer edu-cation zu verstärken. Wesentliche Merkmale der Lebenskompetenzförderung sind der Bezug auf die Gesundheitsförderung, ein generalistischer Ansatz und der Fokus auf die personenbe-zogene Prävention.113 Im Vergleich zu anderen Konzepten der Suchtprävention ist der Lebens-kompetenzansatz nicht nur für den Bereich Essstörungen am geeignetsten, sondern er „gilt der-zeit als der erfolgreichste Einzelansatz in der ressourcenorientierten Gesundheitsförderung und Suchtprävention.“114 „Lebenskompetenztrainings zielen auf eine Förderung solcher psychoso-zialer Fertigkeiten, die Kinder und Jugendliche befähigen, Anforderungen und Schwierigkeiten des täglichen Lebens erfolgreich zu bewältigen und angemessenen Kontakt mit Mitmenschen zu haben. Lebenskompetent ist danach, wer sich selbst gut kennt und mag, Einfühlungsvermö-gen zeigt, kritisch und kreativ denkt, kommunizieren und Beziehungen führen kann, überlegte Entscheidungen trifft, erfolgreich Probleme löst, sowie Gefühle und Stress bewältigen kann.“115

107 Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.14 108 Cremer, M. in BZgA 2013, S.20 109 vgl. Suckfüll, T./Stillger, B. in BZgA 1999, S.39 110 Sting, S./Blum, C. 2003, S.18 111 Sting, S./Blum, C. 2003, S.77 112 Klein, M. nach Botvin in Klein, M. 2008, S.483 113 vgl. Sting, S./Blum, C. 2003, S.91 114 Pinquart, M./Silbereisen, R. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.74 115 Pinquart, M./Silbereisen, R. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.75

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3.1.2 Leitlinien zur Essstörungsprävention Um eine wirksame personenbezogene Präventionsmaßnahme zu konzipieren, sollte Folgendes berücksichtigt werden: Diese sollte unter fachlichen Voraussetzungen stattfinden, frühzeitig be-ginnen (vor dem Eintreten der Essstörungserkrankung bzw. bevor Symptome sichtbar werden) und eine kontinuierlich durchgeführt werden, dabei sollte von einer langfristigen über Jahre an-dauernden Maßnahme ausgegangen werden. Methodisch sollte sie dem Alter der Zielgruppe angemessen sein und einen Personen- sowie Umweltbezug aufweisen. Eine lebenskompetenz-fördernde Vorgehensweise ist dabei der Grundstein von Suchtprävention. Inhaltlich sollten sich essstörungsspezifische und unspezifische Anteile ergänzen.116 Typisch für die allgemeine Suchtprävention sind, „dass erwünschte soziale Verhaltensweisen spezifisch eingeübt und po-sitiv verstärkt werden“ und ein „Lebenskompetenztraining […], wie etwa Fähigkeiten zur Stress-bewältigung oder zur verbalen Auseinandersetzung mit Konfliktsituationen“ zu erlernen. Weiter-hin ist eine „interaktive Durchführung“ und dazu Arbeit in „Kleingruppenarbeit, Rollenspielen und Gruppendiskussionen“ häufig erfolgreich.117 Für Essstörungsprävention kann festgehalten wer-den, dass „der Schwerpunkt […] eindeutig auf dem Essverhalten und dem Körper“ liegt.118 Als Globalziel gilt dabei das Erlernen gesundheitsfördernder Verhaltensweisen.119 Weitere beab-sichtigte Ziele der Essstörungsprävention sind eine „positive Einstellung gegenüber dem Schlankheitsideal, [eine] positive Einstellung gegenüber der eigenen Figur, [ein] gutes Selbst-wertgefühl, ein positiver Zugang zur eigenen Körperlichkeit, [eine] positive Selbstwahrnehmung, [ein] gesundes Ernährungs- und Bewegungsverhalten, [die] richtige Wahrnehmung von Hunger und Sättigung, [ein] aktiver Lebensstil, [ein] positives Körpergefühl, [eine] positive Einstellung zum eigenen Körper, [die] Erweiterung von allgemeinen Lebenskompetenzen [und die] Erwei-terung des Repertoires von Bewältigungsstrategien im Umgang mit Stress.“120 Vor allem „Ju-gendliche[n] sollen angeregt werden, gesellschaftliche Schlankheits- und Schönheitsideale zu hinterfragen und einen gesundheitsbewussten und selbstbestimmten Umgang mit dem eigenen Körper zu finden.“121 Im Rahmen der Verhältnisprävention ist die gesellschaftliche Akzeptanz von unterschiedlichen Körperformen ohne Abwertungen ein weiteres Ziel.122 „Die mit der Durchführung einer Veranstaltung betrauten Fachkräfte sollten – neben ihrer übli-chen gruppenpädagogischen Kompetenz – über folgende Fähigkeiten und Qualitäten verfügen: Selbstreflexion, Strukturierungsfähigkeit, fachliche Sicherheit und [Beachtung] fachliche[r] Gren-zen“123. Es sollte bei Maßnahmen zur Essstörungsprävention entsprechend der Altersgruppe unterschieden werden. An Kinder gerichtete Angebote sollten methodisch und inhaltlich anders aufgebaut sein, als Maßnahmen für Jugendliche bzw. Erwachsene.124 „Häufig wird betont, dass

116 vgl. Grundmann, D./Nöcker, G. nach Künzel-Böhmer, J. in BZgA 1999, S.17 117 Bühringer,G./Bühler, A. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.254/255 118 vgl. Franke, A. in in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.261 119 vgl. Suckfüll, T./Stillger, B. in BZgA 1999, S.55 120 Franke, A. in in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.261 121 Franke, A. in in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.261 122 vgl. Franke, A. in in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.261 123 Suckfüll, T./Stillger, B. in BZgA 1999, S.91 124 vgl. Sting, S./Blum, C. 2003, S.48

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Interventionen möglichst früh einsetzen sollen, bevor sich z.B. gesundheitsriskante Verhaltens-weisen herausgebildet und verfestigt haben. Träfe dies uneingeschränkt zu, dann sollte man eher bei Kindern als bei Jugendlichen Prävention betreiben. Wenn problematische Verhaltens-weisen allerdings erst massiv im Jugendalter auftreten, so liegt ein günstiger Zeitpunkt der Prä-ventionsmaßnahmen beim Übergang zum Jugendalter oder in der (frühen) Jugend. […] Ebenso sind stärker kognitiv ausgerichtete Interventionen bei Jugendlichen erfolgreicher als bei Kindern, weil letzteren noch die notwendigen Fähigkeiten zum abstrakten Denken fehlen.“125 Generell ist „eine ganzheitliche Ausrichtung, die nicht nur die Vorstellungen und das Denken, sondern vor allem das Erleben, die Bewegung, die Körperhaltung, die körperlichen Empfindungen und Äu-ßerungen mit einbezieht“126, von Vorteil. Im Rahmen von Präventionsmaßnahmen bei Kindern ist außerdem eine Einbindung der Eltern sinnvoll, um nachhaltiger und erfolgreicher die Ziele zu erreichen.127

3.2 Prävention bei kleineren Kindern bis einschließlich Grundschulalter

„Ich-stark, kommunikationsbereit, interaktionsfähig und sozialkompetent wird man, wenn man von Anfang an, schon als ganz kleines Baby, als eigenständiges Individuum behandelt, d.h. wahrgenommen, verstanden und ernst genommen wird. Wichtig ist, dass die Bezugspersonen liebevoll, zärtlich und zugewandt sind.“128 Dazu gehört bei kleinen Kindern von null bis drei Jah-ren eine Sicherstellung der Grundbedürfnisse (Nahrung, Bekleidung, Hygiene), aber auch „lie-bevolle Zuwendung, Aufmerksamkeit, genügend Körperkontakt und Zärtlichkeit, Bewegung, op-tische, akustische und taktile Anreize, [sowie] Schutz vor einer Reizüberflutung, ausreichend Schlaf und Geborgenheit.“129 Es geht in erster Linie um den „Aufbau von Urvertrauen statt von Misstrauen“ 130 um später ein gesundes Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein aufbauen zu können – „zwei Eigenschaften, ohne die ein Kind in seinem späteren Leben extrem suchtge-fährdet wäre.“ 131 Es gilt bei einer angemessenen Präventionsmaßnahme zu beachten, dass Kinder „die gravierendsten anatomischen, physiologischen und Verhaltensentwicklungen durch-mach[en]. Innerhalb kurzer Zeit entwickeln sich körperliche Strukturen und Funktionen, motori-sche, sensorische, kommunikative und kognitive Funktionen und Fähigkeiten, emotionale Re-gulationen sowie vielfältige soziale Verhaltensweisen und Kompetenzen.“132 Deshalb „sind all-gemein gesundheitsfördernde Maßnahmen mit den Themen Wohlfühlen im eigenen Körper so-wie Bewegung und Ernährung wünschenswert, denn der Grundstein für […] Ess- und Bewe-gungsverhalten wird frühzeitig gelegt. Dies von Anfang an zu fördern, trägt indirekt auch zur

125 Pinquart, M./Silbereisen, R. nach McCart in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.76 126 Tarr-Krüger, I. 1989, S.23 127 vgl. Pinquart, M./Silbereisen, R. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.76 128 Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.38 129 Singerhoff, L. 2002, S.14 130 Singerhoff, L. 2002, S.14 131 Singerhoff, L. 2002, S.15 132 Erhart, M./Ottova, V./Ravens-Sieberer, U. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.59

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Prävention von Essstörungen bei.“133 Das Modell der Risiko- und Schutzfaktoren ist hier bedeut-sam, denn „körperliche, psychische und soziale Risikofaktoren und Risikokonstellationen im Le-benslauf erhöhen die Auftretenswahrscheinlichkeit von Symptomen der Gesundheitsbeein-trächtigung.“134 Zu diesen zählen unter anderem „negative elterliche Vorbilder sowie inkonsis-tente familiäre Aufsicht, niedriger familiärer Bildungsgrad, überharte Erziehung, negative Eltern-Kind-Interaktionen und chronische Familienkonflikte“135, aber auch „strukturelle Störungen der Herkunftsfamilie […]. Wichtige Faktoren stellen hierbei Scheidung der Eltern, früher Tod eines Elternteils sowie sexueller Missbrauch in der Kindheit dar.“136 Jedoch sind nicht ausschließlich die Risikofaktoren für eine Essstörungserkrankung ausschlaggebend, es kommt ebenso auf die Schutzfaktoren an.137 „Zu den personalen Ressourcen zählen gesundheitlich förderliche Per-sönlichkeitsmerkmale wie z.B. eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung, also die Überzeugung, Herausforderungen bewältigen zu können bzw. über die zur Bewältigung notwendigen Mittel zu verfügen. Die Arten und Weisen, wie eine Person belastende Lebenssituationen und Anforde-rungen bewältigt, stellen ebenfalls personale Ressourcen dar.“138 „Zu diesen […] protektiven Faktoren […] gehören [weiterhin ein] stabiles Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Kontakt- und Beziehungsfähigkeit, Kommunikations- und Konfliktfähigkeit, Eigenaktivität, Sinnerfüllung, Eigenverantwortlichkeit, Erlebnisfähigkeit, realistische Selbsteinschätzung, Frustrationstole-ranz.“139 Als soziale Ressourcen gelten Beziehungen im lebensweltlichen Umfeld insbesondere zu Freunden und zur Peergroup sowie eine ausgeprägte Sozialkompetenz.140 „Im Kindesalter sind die familiären Ressourcen von besonders großer Bedeutung. Hierzu werden soziale Un-terstützung und der Rückhalt durch die Eltern gezählt, sowie ein gut ausgeprägter familiärer Zusammenhalt und ein positives Familienklima.“141 Bei Präventionsmaßnahmen mit Kindern sollte es folglich um die Minimierung der Risikofaktoren und den Ausbau der genannten Res-sourcen gehen.142 „Suchtprävention ist auch und grade ein Thema für die ersten Lebensjahre, da in dieser Zeit psychische und physische Abwehrkräfte gestärkt werden können, die Sucht-gefahren vermindern und eine Resistenz gegen Süchte bewirken können. Man kann heute mit Sicherheit sagen, dass seelisch ausgeglichene und selbstbewusste Kinder mit einem stabilen und belastbaren Ich bessere Chancen haben, später nicht süchtig zu werden.“143 Anders als bei Kleinkindern steht bei ca. Siebenjährigen die Aneignung einer Allgemeinbildung im Vordergrund. Alles muss ausprobiert und gründlich erklärt werden. Hinterfragen steht an der Tagesordnung, so auch Einstellungen gegenüber Themen, Bezugspersonen und zu sich selbst.

133 Cremer, M. in BZgA 2013, S.23 134 Erhart, M./Ottova, V./Ravens-Sieberer, U. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.60 135 Lehmkuhl, G. nach Gabel und Gilvarry in Klein, M 2008, S.53 136 Lehmkuhl, G. nach Schuler in Klein, M 2008, S.53 137 vgl. Erhart, M./Ottova, V./Ravens-Sieberer, U. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.60 138 Erhart, M./Ottova, V./Ravens-Sieberer, U. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.60 139 Grundmann, D./Nöcker, G. in BZgA 1999, S.16 140 vgl. Erhart, M./Ottova, V./Ravens-Sieberer, U. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.60 141 Erhart, M./Ottova, V./Ravens-Sieberer, U. nach Ravens-Sieberer und Wille in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.60 142 vgl. Erhart, M./Ottova, V./Ravens-Sieberer, U. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.60 143 Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. nach Vorsorge-Initiative 2000, S.10

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Ein Selbstkonzept wird entwickelt, basierend auf den Fähigkeiten und Fertigkeiten, die das Kind bereits besitzt.144 „Wärme, Zuwendung und Aufmerksamkeit helfen, die Beziehung zwischen Eltern und Kind lebendig zu erhalten. Das heißt aber nicht, dass Eltern ihren Kindern alle Schwierigkeiten abnehmen sollten. Die Kinder müssen lernen, Schritt für Schritt die Verantwor-tung für sich selbst und die eigenen Angelegenheiten – unterstützt durch die [Bezugspersonen] – zu übernehmen.“145 „Die Entwicklung guter Essgewohnheiten (regelmäßige Vitamin- und nährstoffreiche Kost, Begrenzung des Verzehrs von fett- und zuckerhaltigen Nahrungsmitteln) und die Ausbildung guter Bewegungsgewohnheiten (regelmäßige körperliche Aktivität) tragen ebenfalls zur Vermeidung [von Essstörungserkrankungen] bei.“146 Präventive Maßnahmen mit Kindern haben als Nahziele zunächst die Förderung von „Selbstbewusstsein, Kommunikations-fähigkeit, Konfliktfähigkeit [und] Kreativität.“147 „Bewährt hat sich [dabei] eine Kombination von spiel- und erlebnispädagogischen Ansätzen, bei der alle die Chance erhalten, am Prozess der präventiv-therapeutischen Arbeit teilzunehmen, zu Wort zu kommen, sich anerkannt und wichtig zu fühlen, sich mit ihrer ganzen Person einzubringen und mit allen Sinnen experimentieren zu können.“148 In der praktischen Umsetzung eignen sich Aktivitäten, bei denen Kinder in Bewe-gung kommen und die Möglichkeit erhalten, sich selbst nicht nur wahrzunehmen, sondern auch darzustellen. Prosoziales Verhalten lässt sich gut in Form von Gruppenarbeit üben und festigen, wobei Konfliktsituationen zeitnah aufgegriffen und thematisiert werden können. Lebensweltliche Situationen der Kinder können nachgespielt und Konflikte nachträglich bearbeitet und gelöst werden. Um die Sinneswahrnehmung zu stärken eignen sich kreative Angebote zum Auspro-bieren und Mitmachen.149 „Durch kindgemäßes […] Zusammensein und Gestalten mit Anderen kann Freude an sozialen Kontakten geweckt werden. Deshalb liegt der Schwerpunkt [primär-präventiver] Arbeit [in dieser Altersgruppe häufig] auf dem freien Spiel, dem Umgang mit Mate-rialien (Ton, Farbe usw.), der Förderung von Bewegungsmöglichkeiten und nicht zuletzt auch auf gemeinsamen Feiern und Unternehmungen. Verpflichtende Regeln vermitteln dabei sichere Grenzen und ermöglichen ein überschaubares Miteinander-Gestalten.“150 „Die Rollen und Aufgaben, die sich aus der inhaltlichen Gestaltung der Arbeit für die pädagogi-schen Fachkräfte ergeben, sind also vielfältig. Nicht zuletzt geht es darum, vorzudenken, zu animieren, Mut zu machen, dranzubleiben und Rückschläge produktiv zu verarbeiten.“151 Wei-terhin sind Konfliktlösefähigkeiten eine absolute Voraussetzung, denn immer wieder gilt es schwierige Situationen und Differenzen angemessen mit dem/den jeweiligen Kind/Kindern zu bewerkstelligen. Aggressionen, Eifersucht und Konkurrenz, Machtverteilungen, mangelndes Selbstwertgefühl bis hin zu Minderwertigkeitskomplexen, Stress und Chaos sowie Angst und

144 vgl. Singerhoff, L. 2002, S.17 145 Singerhoff, L. 2002, S.18 146 Erhart, M./Ottova, V./Ravens-Sieberer, U. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.62 147 Suckfüll, T./Stillger, B. in BZgA 1999, S.55 148 Mayer, R. in Klein, M. 2008, S.409 149 vgl. Mayer, R. in Klein, M. 2008, S.409 150 Mayer, R. in Klein, M. 2008, S.410 151 Mayer, R. in Klein, M. 2008, S.410

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Hass sind nur einige der Punkte mit denen im Präventionskontext kompetent umgegangen wer-den muss.152 „Als Sozialisationsinstanz für Kinder ist die Familie ein wichtiger Ort für gesundheitsfördernde Interventionen. Vor allem in den frühen Familienphasen werden bei Kindern in Bezug auf emo-tionales oder gesundheitsbewusstes Verhalten Grundlagen geprägt, die im späteren Leben nachhaltigen Einfluss ausüben werden. Suchtprävention sollte deshalb fester Bestandteil des Erziehungsalltags und nicht ausschließlich Experten vorbehalten sein.“153 Konkret geht es da-rum, dass Eltern ihr Kind bzw. ihre Kinder im Alltag bei der Gefühlswahrnehmung und den Um-gang mit positiven und negativen Gefühlen unterstützen. In Überforderungssituationen sollten sie Hilfestellung anbieten und dem Kind zur Seite stehen. Ein positives Selbstbild in Verbindung mit einem ausgeprägten Selbstwertgefühl bildet die Basis für eine optimale seelische und kör-perliche Entwicklung.154 „Entwicklungs- und Lernprobleme, Verhaltensprobleme und emotionale Probleme wie z.B. Ängste, Depressionen und Selbstwertprobleme können durch einen guten familiären Zusammenhalt, ein Familienklima, das durch Wertschätzung, Akzeptanz und klare Regeln geprägt ist, und ungeteilte Aufmerksamkeitszuteilung in ihrer Auftretenswahrscheinlich-keit vermindert werden.“155 Familien können somit erheblich zur Prävention von Suchterkran-kungen beitragen, jedoch können sie unter Umständen auch zum Risikofaktor werden.156 Wenn ein Kind vorgelebt bekommt, bei Problemen jeglicher Art zu Süßigkeiten und anderen Ersatz-befriedigungen zu greifen, so wird es verinnerlichen, wie man angeblich angemessen auf Un-wohlsein, Stress, Krisen sowie emotionale und körperliche Beschwerden reagiert und wird diese jahrelang antrainierte Verhaltensweise auch im Jugend- und Erwachsenenalter fortführen.157 „Die Möglichkeiten der externen Beeinflussung von Familien sind jedoch begrenzt. […] Einen Ansatzpunkt für die Prävention und Gesundheitsförderung stellen die Förderungen der Eltern-kompetenz dar: Im Rahmen von Elterntrainings soll das grundsätzliche Erziehungsverhalten der Eltern verbessert werden – im Sinne einer primären Prävention am besten, bevor es zu Auffäl-ligkeiten gekommen ist.“158 Dort werden unter anderem „Basisregeln für starke Kinder“ vermit-telt, die im Einzelnen erläutern, was Kinder brauchen, damit all ihre Bedürfnisse befriedigt und Gefahren für Essstörungen sowie andere Suchterkrankungen minimiert werden. Liebe, Gebor-genheit, Eigenständigkeit, Freiraum, Bestätigung, Grenzen, realistische Vorbilder, Träume und Spiele sind nur einige Beispiele dieses Konzeptes, die für eine bestmögliche Entwicklung des Kindes von Vorteil sind.159 Weiteres zur Elternarbeit ist in Kapitel 3.4.2 zu finden. Für Suchtprävention wesentlich ist eine „Vernetzung der Lebensfelder“, das heißt, nicht nur in der Familie wird präventiv gehandelt und die Erziehung entsprechend gestaltet, sondern auch

152 vgl. Mayer, R. in Klein, M. 2008, S.410 153 Suckfüll, T./Stillger, B. in BZgA 1999, S.40 154 vgl. Suckfüll, T./Stillger, B. in BZgA 1999, S.40 155 Erhart, M./Ottova, V./Ravens-Sieberer, U. nach Ravens-Sieberer und Wille in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.60 156 Erhart, M./Ottova, V./Ravens-Sieberer, U. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.65 157 vgl. Robra, A. 1999, S.43 158 Erhart, M./Ottova, V./Ravens-Sieberer, U. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.65 159 vgl. Kammerer, B. 2000, S.30-33

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im Kindergarten und in der Grundschule wird diese Thematik direkt oder indirekt aufgegriffen um ein ganzheitliches protektives Umfeld für Kinder zu schaffen. 160

3.2.1 Suchtprävention im Kindergarten „Bei Suchtprävention im Kindergarten geht es nicht um ein neues pädagogisches High-Light, […] sondern es geht darum, dass eine auf die emotionalen, geistigen, sozialen und motorischen Bedürfnisse der Kinder eingehende Arbeit die gesunde kindliche Entwicklung fördern und Wi-derstandskräfte gegen Abhängigkeiten und Suchtverhalten aktivieren können.“161 In der Kinder-gartenzeit „entstehen und stabilisieren sich die ersten Gewohnheiten […]. [In dieser Zeit] lernt man Situationen zu bewältigen, Probleme anzugehen, oder man lernt es eben nicht. Gut unter-sucht sind diese Zusammenhänge z.B. für das Ernährungsverhalten und […] das Freizeitver-halten, womit der selbstgewählte Umgang mit freier Zeit, ohne Aktivitätsvorgaben oder Tätig-keitsangebote gemeint ist. Welche Bedeutung das Essen in unserem Leben einmal spielen wird, wird […] in diesen Jahren angelegt.“162 Gemeinsam zu Essen schafft Zusammengehörigkeit und Verbindlichkeit, dem sollte mehr Bedeutung zukommen z.B. indem die Essecke in Kindergärten besonders einladend gestaltet wird. 163 Bewusst auf die kindliche Erfahrungswelt abgestimmte Angebote sind im Kindergarten als präventive Maßnahmen geeignet.164 Die „Unterweisung in Fertigkeiten und die Hinführung auf allgemein anerkannte Lern- und Leistungsziele sind An-sprüche aktueller Erziehung im Kindergarten wie in der Schule.“165 Dabei sollte sich jedoch im-mer am jeweiligen Entwicklungsabschnitt und der Individualität eines Kindes orientiert wer-den.166 Wird nur das „statistische Durchschnittskind dieses Alters“ betrachtet, werden unbe-wusst die „Vielfalt der Fähigkeiten und die unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten der Kinder“ eingeschränkt, was sich für die Kinder negativ auswirken könnte.167 Ein besonders wichtiges Angebot des Kindergartens ist das Naturerleben. „Über diese Erfahrung […] nicht ver-fügen zu können, bedeutet, über eine wesentliche Selbstregulations- und Glücksressource nicht verfügen zu können. Hier zeigt sich ein gefährlicher Ansatzpunkt für den Versuch, durch Ersatz ähnliche Befriedigungen zu erleben. Natur nicht anzubieten wurde als massives Erziehungsver-säumnis erkannt.“168 „Denn ein Mensch, der die Natur nicht schon als Kind als einen Ort zum Entspannen und Wohlfühlen, zum faul und aktiv sein kennen gelernt hat, wird wichtige Erfah-rungen zur Wiederholung in schönen Zeiten, aber auch zum Frustrationsabbau in schwierigen Zeiten nicht parat haben.“169 Bereits durch die Gestaltung des Außenbereichs kann der Kinder-garten hier ansetzen, aber auch Unternehmungen in die Natur stellen eine große Bereicherung dar. Spiel- und Lebensräume müssen von den ErzieherInnen und SozialarbeiterInnen in diesem

160 vgl. Kammerer, B. 2000, S.26/27 161 Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.11 162 Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.12 163 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.67 164 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.20 165 Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.78 166 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.78 167 Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.79 168 Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.117 169 Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.119

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Setting bewusst geschaffen werden um selbstbestimmtes Lernen durch Erkunden zu ermögli-chen.170 Bei Sucht- und Essstörungsprävention geht es um die „Förderung der kindlichen Ich-Stärke“ und „die Unterstützung der kindlichen Selbstbildungsprozesse“171. Eine gewisse Le-bens- “Kompetenz kann nicht vorausgesetzt oder gefordert werden; sie entsteht im Rahmen fester Bindungen, unter kind- und situationsgemäßen Anforderungen und bei bestmöglichem Erfahrungsangebot.“172 Es können unter anderem folgende Lebenskompetenzen in der Kindheit im Setting Kindergartens erlernt werden: Konfliktlösung173, Verbindlichkeit174, das Finden eige-ner Lösungsansätze175, selbstregulatorische Fähigkeiten, wie sich beruhigen oder ermutigen176, Eigenfürsorge und Selbstschutz177, ein gutes Körperempfinden bzw. eine gute Körperwahrneh-mung178 und eine sinnvolle Freizeitgestaltung, z.B. Naturerleben179. Weiterhin brauchen Kinder auch im Kindergarten Rückzugsmöglichkeiten. Bei Unwohlsein, Müdigkeit oder Angst möchten Kinder dem alltäglichen Chaos entfliehen können. Dazu ist es sinnvoll im Kindergarten Möglich-keiten zum Ausruhen anzubieten, etwa eine Kuschelecke, einen Ruheraum oder ein paar Um-zugskartons um sich darin zu verkriechen.180 Kinder erfahren Bestätigung und Kontinuität, wenn im Kindergarten Handlungsabläufe und Reaktionen wie zu Hause ablaufen. Aber auch Dinge, die anders gehandhabt werden, können Kinder bereichern, indem sie dadurch vermittelt bekom-men, dass es nicht eine Patentlösung für alles gibt, sondern durchaus verschiedene Hand-lungsoptionen bestehen.181 „Mit dem Bilderbuch Die Flirpse ist ein interessantes kindgerechtes Medium entwickelt worden“, das allgemeine Suchtprävention unspezifisch aufgreift. „Kurze Geschichten bereiten Inhalte wie Neugierde, Streit, Furcht, Freundschaft/Ausgrenzung, Genussfähigkeit und Aktivität auf, sodass sie von Kindern leicht nachvollzogen werden können. Bewusst wird auf die Problemlösung ver-zichtet, um Gestaltungsmöglichkeiten für Lösungsmöglichkeiten zu schaffen.“ Dazu „gibt es pä-dagogisch-didaktische Begleitmaterialien, die […] Spielvorstellungen, Lieder, Aktions- und Pro-jektvorschläge“, eine Handpuppe und weitere Anregungen enthalten.182

3.2.2 Spielen „Spielen ist ein naturgegebenes Aktionsprogramm zum Kennenlernen der Umwelt, des eigenen Körpers sowie zum Gewinn von Erfahrung und Fähigkeiten.“183 „Im Spiel kann ein Kind in sich hineinhorchen, es kann Freude und Wut aus sich herausspielen. Im Spiel kann es sich seinen

170 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.20 171 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.25 172 Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.34 173 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.59 174 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.68 175 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.73 176 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.75/76 177 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.87 178 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.90/91 179 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.115 180 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.40 181 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.49 182 Kammerer, B. in Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz 1995, S.117 183 Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.140

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Ängsten nähern, die Rolle des Siegers und des Verlierers übernehmen, gut und böse sein. Beim Spiel geschieht selbstbestimmtes Lernen. Es besteht ein direkter, konkreter Bezug zwischen dem Spielgegenstand und dem Spielenden. In dieser Beziehung ist alles zu finden, was man zum Lernen braucht: Interesse, Aufmerksamkeit, Spiellust, Eifer, Konzentration und Ausdauer. […] Das spielende Kind hinterfragt, erforscht und durchdenkt sein Tun und seine Beobachtun-gen, sie bleiben ihm im Gedächtnis und stehen ihm jederzeit so zur Verfügung. Das gibt ihm einen ungeheuren Schutz gegen die Gefühle der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins, die zur Sucht führen können.“184 Häufig finden sich im freien Spiel Formen des Nachahmens, des Wie-derholens und der Abwandlung wieder.185 Dabei wird unbewusst Selbstständigkeit, Kreativität und Konzentration gefördert. Aber auch Lernfähigkeit und Lebenskompetenzen werden quasi von selbst ausgeprägt.186 Für ein Kind kann nahezu alles zum Spielraum werden, in dem „Aben-teuer, die seinen Sinneshunger stillen, erlebt“ werden. Es kann „agieren und reagieren […], da die So-tun-als-ob-Möglichkeiten nahezu unbegrenzt Erfahrungen sammeln lassen; in denen Probleme auftauchen und […] wieder verschwinden, [diese dadurch] als bewältigbar erlebt wer-den, was die Kinder neuen Problemen motiviert gegenüber treten lässt“187. Bereits in einer fast alltäglichen „Sandkastenszene wird viel gelernt: Koordination und Absprache, Kommunikation, Körpersprache, seine Ideen kreativ umzusetzen, auf den Spielverlauf Einfluss nehmen, sich auf das Spiel anderer einlassen zu können, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen [und] Mit-spieler werden.“188 Im Gegenzug dazu stehen bei anderen spielerischen Aktivitäten, z.B. „An-greifer und Opfer“, andere Dinge im Fokus: „Variationen der Kontaktaufnahme, Umgang in Kör-perkontakt, Geschicklichkeit, Körpergefühl und dosierten Kräfteeinsatz, probeweise die eigenen Kräfte im Vergleich mit denen der anderen einzuschätzen, auf die Äußerungen des Interakti-onspartners zu achten und zu reagieren, Spielregeln, fair zu sein, mit Zustimmung und Ableh-nung umzugehen, Beziehungen zu pflegen.“189 All diese Fähigkeiten und Fertigkeiten gehören zu den Lebenskompetenzen und sind daher für die Suchtprävention wesentlich. Einem Kind, das nicht spielt, geht es für gewöhnlich nicht gut, z.B. bei Krankheit oder neuer Umgebung. Da ist Spielen ein erster Indikator dafür, dass sich das Kind wohlfühlt und mit sich im Reinen ist.190 „Viel mit einem Kind zu spielen, ist […] gut und richtig. Aber viele Eltern machen sich zum stän-digen Material- und Ideenlieferanten und können dadurch kindliche Eigeninitiativen empfindlich stören.“191 Ursächlich dafür ist eine oft die Reizüberflutung in vielen Kinderzimmern und teilweise auch im Kindergarten oder Hort, durch zu viel, zu ausgefallenes und immer neueres Spielzeug. Kinder reagieren dann nur noch auf immer ausgefallenere Sachen mit noch stärkeren Reizen.192 „Spielzeugfreie Erfahrungszeiten regen Fantasie und Kreativität an und befähigen Kinder zum

184 Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.124 185 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.136/137 186 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.141 187 Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.174 188 Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.133 189 Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.132 190 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.127 191 Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.100 192 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.101

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Handeln. Außerdem erweisen sie sich als ein wertvoller Aspekt im Präventionsverständnis ge-gen Konsum und Sucht.“193 Dementsprechend gibt es immer mehr Kindergärten, die für einen Zeitraum von etwa drei Monaten das Projekt „spielzeugfrei“ ansetzen. Dabei wird mit den Kin-dern zusammen zunächst alles Spielzeug weggeräumt. Auch alle Angebote werden in dieser Zeit gestrichen und es werden keine strukturierten Lösungen von den PädagoInnen vorgege-ben. Es bleiben nur verhältnismäßig leere Räume. Oft folgt eine erste Phase, in der die Kinder den neu gewonnen Platz zum herumtoben nutzen, doch es entstehen weiterhin Kuschelecken, „Geschichten werden erzählt, Rollenspiele sind zu beobachten und […] viele Gespräche mit brainstorming-Charakter. Die Kinder motivieren sich gegenseitig“. Der Kontakt unter den Kin-dern wird dadurch intensiver.194 Ein spielzeugfreier Kindergarten fördert nicht nur die ohnehin schon selbstbewussten und kreativen Kindern, sondern gerade die eher Schüchternen bekom-men durch diesen Neustart eine Chance zu erproben, was in ihnen steckt.195 Das Spiel ist nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Jugendlichen und Erwachsenen eine gute und sinnvolle Methode. „Gegenüber traditionellen Vorgehensweisen [der Suchtprävention] wie dem Referat […] hat das Spiel einige Vorteile: Spiele sind meist ohne großen zeitlichen und materiellen Aufwand einzusetzen; sie lassen sich für verschiedene Zielgruppen variabel [anpas-sen]; sie sind in der Regel auch für den spielpädagogischen Laien benutzbar; sie machen Spaß […]; sie beziehen die Teilnehmer aktiv mit ein und bewirken somit ein „interaktives Lernen“ […]; sie sind in diesem Sinne „teilnehmerorientiert“, d.h. sie lassen den Teilnehmern die Regie über ihr Handeln und darüber, inwieweit sie sich auf ein Spiel einlassen und was sie daraus für sich mitnehmen.“196 In diesem Sinne sind Spiel- und Erlebnispädagogik eine große „Lernchance fürs Leben“, was vielen Erwachsenen jedoch noch schwer fällt anzuerkennen.197 Nicht spielen zu können „bedeutet die Einbuße der Erfahrung, agieren und reagieren zu können, sich für lebens-kompetent zu halten, eine Erfahrung, die für jedes Alter wichtig ist, um sich stark zu fühlen. Es bedeutet außerdem die verspielte Chance, sich durch Spielen Genuss und Eigenbelohnung zu verschaffen, zu erleben, dass man sich selbst auf vielfältige Art glücklich machen kann.“198

3.2.3 Bewegung Eine weitere wichtige Methode zur Suchtprävention bei Kindergarten- und Grundschulkindern ist die Bewegung. „Bewegung und sportliche Aktivität haben nachweisbare Auswirkungen auf unser psychisches, physisches und soziales Wohlbefinden. Das liegt daran, dass sich Bewe-gung in ganz verschiedenen Bereichen positiv bemerkbar macht. Wer Bewegungserfahrungen hat, weiß, was ihm wann guttut.“199 In Bewegung sein fördert weiterhin soziale Aspekte. Häufig finden sportliche Aktivitäten in Gruppen statt, in denen die Mitarbeit jedes einzelnen Gruppen-mitglieds wichtig ist. Gerade für Kinder ist das Gefühl gebraucht zu werden und ein Teil von

193 Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.103 194 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.105-107 195 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.108/109 196 Robra, A. 1999, S.10 197 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.125 198 Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.102 199 Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.93

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etwas zu sein sowie die damit einhergehende gegenseitige Unterstützung bestärkend für die Ausbildung der Persönlichkeit.200 Bewegung fördert außerdem die Selbstwahrnehmung, das Selbstwertgefühl und schafft ein positives Bewusstsein des eigenen Körpers.201 Neben der Mus-kulatur wird durch sportliche Aktivität auch das Gehirn besser durchblutet, sodass es effektiver arbeiten kann.202 Weiterhin kann Bewegung beim Abbau von Erregungen helfen. Nicht umsonst lässt man Kinder zum runterkommen noch einige Runden durch den Garten rennen.203 „Wird die Bewegungsfreude unterstützt, so nehmen Körperbeherrschung, Geschicklichkeit, Schnellig-keit und Ausdauer von Tag zu Tag zu. Doch wie unterstützt man in der Familie und im Kinder-garten Bewegungsfreude? […] Bewegen lassen, wann immer es irgendwie möglich ist; indem man Räume schafft, die Bewegungswünschen entgegenkommen und nicht im Wege stehen; räumliche Angebote, die eine Herausforderung aber keine zu große Gefahr darstellen. Dass hier freies Gelände, Wald, Wiesen und Erdhügel am geeignetsten sind, […] erklärt sich von selbst“204. Im Gegensatz dazu führen „fehlende Bewegungserfahrungen und mangelnde Verarbeitungen von Sinnesreizen“ zu „Störungen in der Bewegungskoordination“. „Kinder, bei denen dies auf-fällt, brauchen spätestens im Kindergartenalter professionelle psychomotorische „Nachhilfe“. […] Das ist wichtig, denn ein Mangel an Bewegungskoordination schmälert die Lebensqualität und die Chance sich einschränkungslos selbst zu mögen.“ Weitere Folgen sind „Verhaltensstö-rungen, Konzentrationsdefizite, Sprachprobleme sowie Lese- oder Rechtschreibschwäche“205.

3.3 Prävention bei älteren Kindern und Jugendlichen

„In der Jugendphase kommt eine Menge an Entwicklungsaufgaben auf die Kinder zu: Der Kör-per verändert sich, die Geschlechterrolle muss gefunden werden, in einer Gruppe von Gleich-altrigen gilt es, eine anerkannte Position zu erwerben, der Umgang mit Gefühlen der Angst, der Liebe und der Wut muss geübt werden. Diese Zeit gehört zu den schwierigsten Abschnitten im Leben. Man ist nicht mehr Kind, aber auch noch nicht Erwachsener.“206 Des Weiteren „entstehen und verfestigen sich [im Jugendalter] viele gesundheitsbezogene Verhaltensweisen (z.B. Alko-holkonsum, Rauchen, Ernährungsgewohnheiten).“207 Oft treten mehrere gesundheitsschädi-gende Handlungen bei einer Person auf, „das heißt, wer raucht, konsumiert, z.B. auch mit grö-ßerer Wahrscheinlichkeit Alkohol und andere psychoaktive Substanzen und zeigt eher Verhal-tensweisen, die andere Menschen oder sich selbst schädigen können.“208 Da nicht nur der Al-kohol- und Drogenkonsum im Jugendalter durchschnittlich ansteigt, sondern auch ungesunde

200 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.94 201 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.92/93 202 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.94 203 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.95 204 Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.84 205 Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.88/89 206 Strohm, M. in Klein, M. 2008, S.476 207 Pinquart, M./Silbereisen, R. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.70 208 Pinquart, M./Silbereisen, R. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.70

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Ernährungsgewohnheiten209 sind „die meisten [Sucht- und Essstörungspräventions-] Pro-gramme […] für Jugendliche zwischen dem 12. und 16. Lebensjahr“210 konzipiert. Dies ist durch-aus sinnvoll, denn die Pubertät wird „als vulnerable Phase für die Entstehung von Ess-Störun-gen und einem gestörten Körperbild“211 gesehen. „Das Jugendalter ist eine ganz besonders spannungsreiche Phase, die sich durch Identitätssuche und Identitätsverwirrung auszeichnet. Die zentrale Frage dieser Entwicklungsstufe lautet: „Wer bin ich? Und wer bin ich nicht?“ Dazu kommt, dass in dieser Zeit das Selbstkonzept entwickelt werden muss [und] die Geschlechts-rolle muss erlernt werden“212. In dieser Phase ist die Selbstwahrnehmung vor allem in Bezug auf den eigenen Körper häufig schwach ausgeprägt. Durch die Weiterentwicklung der körperli-chen Erscheinung fällt es einigen Kindern bzw. Jugendlichen schwer, ihren Körper anzuneh-men, wie er ist. Weiterhin wird das Identitäts- und Selbstwertgefühl beeinflusst, aber auch innere sowie äußere Autonomiekonflikte und die soziale Akzeptanz hängen teilweise von der körperli-chen Entwicklung ab.213 Beurteilungen von Gleichaltrigen und mediale Einflüsse werden zuneh-mend wichtiger und beeinflussen das eigene Erleben stark. Die Peer Group wird oft als bedeu-tendste Instanz gesehen auf dem Weg des Erwachsenwerdens214 - damit geht die „notwendige Loslösung von den Eltern“215 einher. Dabei ist es „für die Eltern wirklich nicht immer einfach, das rebellische, egozentrische und manchmal unverschämte Verhalten zu ertragen, aber es ist ein Teil der normalen Entwicklung eines Kindes zwischen 12 und 16 Jahren.“216 Jugendliche müs-sen ihre Fähigkeiten kennenlernen und dabei Grenzen austesten, genauso wie die Grenzen der Anderen. Das ist eine wesentliche Entwicklungsaufgabe, um ein eigenständiges Leben zu füh-ren und richtige Entscheidungen zu treffen.217 Weiterhin „können Jugendliche […] schlecht dem Gruppendruck widerstehen, vor allem dann, wenn das Zusammensein mit Gleichaltrigen starke positive Emotionen auslöst. Gründe für riskantes [und gesundheitsgefährdendes] Verhalten Ju-gendlicher liegen also […] im Einfluss emotionaler und sozialer Faktoren“218. Darunter zählt auch exzessives Sporttreiben und Diätenhalten, denn es „dien[t] als Mittel, um Freundschaftsbezie-hungen aufzubauen und Anerkennung bei Gleichaltrigen zu finden. Jugendliche nutzen zudem gesundheitsbezogene Verhaltensweisen, die durch die Eltern missbilligt werden oder verboten sind, als Mittel, um sich von den Eltern zu distanzieren und Autonomie zu gewinnen.“219 Insbe-sondere bei der Prävention von Binge-Eating-Störungen und damit einhergehender Adipositas ist das Freizeit-, Bewegungs- und Essverhalten ein sehr wichtiger Schwerpunkt. Jedoch ist auch hier nicht nur die personenbezogene Prävention zu sehen, sondern ebenfalls die strukturbezo-

209 vgl. Pinquart, M./Silbereisen, R. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.70 210 Franke, A. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.263 211 Reich, G. in Klein, M. 2008, S.200 212 Singerhoff, L. 2002, S.18/19 213 vgl. Reich, G. in Klein, M. 2008, S.201 214 vgl. Reich, G. in Klein, M. 2008, S.201 215 Singerhoff, L. 2002, S.19 216 Singerhoff, L. 2002, S.20 217 vgl. Singerhoff, L. 2002, S.21 218 Pinquart, M./Silbereisen, R. nach Steinberg in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.71 219 Pinquart, M./Silbereisen, R. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.72

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gene Prävention. Dementsprechend sollten Übergewicht begünstigende Faktoren in der Le-benswelt der Kinder und Jugendlichen eingeschränkt und so gut wie möglich abgebaut wer-den.220 „Pädagogische Fachkräfte können […] Übungen in ihre tägliche Arbeit integrieren und damit Anstöße zur Gesundheitsförderung und zur Prävention von Essstörungen geben. Wer jedoch mehr tun will, sollte ein spezifisches Programm mit mehreren Modulen von externen Fachkräften durchführen lassen oder es nach einer entsprechenden Schulung selbst durchführen.“221 Bei-spielsweise kann ein Fotoshooting mit Kindern und Jugendlichen in Kleingruppen veranstaltet werden, bei dem Gefühle, einzelne Körperteile und außergewöhnliche Körperhaltungen foto-grafiert werden.222 Das Nachzeichnen des eigenen Körpers auf einer Tapetenrolle fördert ebenso die Selbstwahrnehmung und trägt zur Entwicklung eines positiven Körpergefühls bei.223 Mit Kindern gemeinsam eine Mahlzeit planen, dafür Einkaufen und Kochen, kann Grundlagen einer gesunden Ernährung vermitteln und dazu ermutigen diese auch zu Hause umzusetzen.224 Um das Selbstwertgefühl zu steigern kann ein Spiel durchgeführt werden, bei dem jedes Kind die Möglichkeit bekommt zu reflektieren, in welchen Bereichen seine Stärken liegen. In einer zweiten Runde bekommt es Feedback von den anderen TeilnehmerInnen. Die Fremd- und Ei-genwahrnehmung kann als Diskussionsgrundlage dienen.225 In Einzel- und/oder Gruppenarbeit kann sich mit Werten und Normen auseinander gesetzt werden. Diese in Form einer Pyramide anzuordnen und sich darüber auszutauschen, fördert die Selbstwahrnehmung und die Wahr-nehmung der Umwelt.226 Solche und ähnliche Übungen „greifen allgemeine Lebenssituationen, die Wünsche und Träume der Jugendlichen auf und erweitern ihren Blick auf Hintergrundthe-men zu Essstörungen, wie Schönheitsideal und Medien, Selbstwert, Figur, Anerkennung und Ähnliches. Sie zielen darauf ab, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen, ernst zu nehmen und angemessen darauf zu reagieren. Sie geben die Möglichkeit, die eigenen Fertigkeiten und Fä-higkeiten zu entfalten und positive Erfahrungen zu machen.“227 „Bei der Umsetzung [von ess-störungspräventiven Übungen] lohnt es sich, folgende Aspekte im Blick zu behalten: […] Alter-nativen bieten, Lebenskompetenzen aufbauen, […] positive Erlebnisse ermöglichen, […] Trig-gereffekte und Stigmatisierung vermeiden, […] nicht übers Ziel hinausschießen, […] Kommuni-kationsregeln festlegen, […] Themen geschlechtsspezifisch anbieten, […] Übungen müssen zur Gruppe passen, […] Tragweite ausgelöster Reaktionen abschätzen, […] eigene Fähigkeiten und Rolle reflektieren, […] den Dialog suchen, […] Fortbildung nutzen, […] Vorbild sein“.228 Ins-besondere die geschlechterspezifische Arbeit im Pubertätsalter ist nicht zu unterschätzen, da das Entwicklungstempo von Jungen und Mädchen häufig doch sehr unterschiedlich ist und es

220 vgl. Böhler, T./Dziuk, M. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.167 221 Cremer, M. in BZgA 2013, S.34 222 vgl. Cremer, M. in BZgA 2013, S.56/57 223 vgl. Cremer, M. in BZgA 2013, S.59-61 224 vgl. Cremer, M. in BZgA 2013, S.74/75 225 vgl. Cremer, M. in BZgA 2013, S.92/93 226 vgl. Cremer, M. in BZgA 2013, S.110/111 227 Cremer, M. in BZgA 2013, S.34 228 Cremer, M. in BZgA 2013, S.34-37

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anderenfalls zu Peinlichkeiten und weniger Offenheit kommen kann, was oft eine gescheiterte Präventionsmaßnahme nach sich zieht.229

3.3.1 Schulische Suchtprävention

Die Lebensbereiche „Schule, Arbeit, Zuhause und Freizeit stehen häufig im Brennpunkt von Präventionsmaßnahmen. Jeder einzelne Bereich wird beeinflusst durch übergeordnete Fakto-ren. So können beispielsweise Schulen zwar ein Setting für Präventionsprogramme darstellen, das Hauptaufgabengebiet der Schulen liegt aber in der Vermittlung von Kenntnissen, die die berufliche und akademische Leistungsfähigkeit sicherstellen sollen. Gesundheitsthemen sind hierbei normalerweise zweitrangig.“230 Jedoch ist „Schule […] die einzige Institution, die alle Kinder und Jugendlichen in der Zeit der Entwicklung der individuellen Konsummuster erreicht. Aufgrund der gesetzlich geregelten allgemeinen Schulpflicht (SchpflG) hat jedes Kind nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, die Schule zu besuchen.“231 Das betrifft „Kinder und Ju-gendliche aller Altersklassen und aller sozialen Schichten über einen langen Zeitraum“232. Dem-zufolge bietet die Institution Schule nicht nur aufgrund des weitläufigen Erreichens aller Kinder, sondern auch als „Ort des Lernens“ sehr gute Voraussetzungen für Suchtprävention. Denn ne-ben der Aneignung von Wissen werden auch soziale bzw. zwischenmenschliche Interaktions- und Kommunikationsmuster und Konfliktbewältigungsstrategien sowie andere Lebenskompe-tenzen erlernt.233 Dabei wird die Bedeutung der schulischen Suchtprävention deutlich. Schule ist eben nicht nur Bildungsinstitution, sondern genauso ein sozialer Erfahrungsraum von Kin-dern und Jugendlichen. Die daraus resultierende Schlüsselrolle sollte bewusst genutzt werden, denn die schulische Mitverantwortung bezüglich Suchterkrankungen ist nicht unerheblich und beruht auf dem Bildungs- und Erziehungsauftrag.234 Aufgrund dessen wurde Suchtprävention vom Kultusministerium als eine schulische Aufgabe im Sinne dieses Auftrags definiert. Dafür wurden von den entsprechenden Behörden der Bundesländer Richtlinien festgelegt, die Sucht-prävention an Schulen und dem Umgang mit Suchtmittelmissbrauch umfassen235. Suchtpräven-tion wird in diesem Kontext vor allem auf stoffgebundene Süchte bezogen und geht nicht speziell auf substanzunspezifische Süchte wie Essstörungen ein. Nichtsdestotrotz ist eine ganzheitliche Lebenskompetenzförderung im schulischen Kontext als Schwerpunkt verankert und dient prä-ventiv allen stoffgebundenen und –ungebundenen Suchterkrankungen. „Lag vor einigen Jahren der Schwerpunkt schulischer Suchtprävention noch auf Abschreckungsstrategien, so besteht heute auf wissenschaftlicher und programmatischer Ebene allgemeiner Konsens darüber, dass die Ziele von Suchtprävention dem Lebenskompetenzansatz entsprechen sollten.“236 Dazu sind

229 vgl. Cremer, M. in BZgA 2013, S.10 230 Böhler, T./Dziuk, M. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.165 231 Blatt, C. nach Kammerer/Riemann in Klein, M. 2008, S.391 232 Sting, S./Blum, C. 2003, S.93 233 vgl. Blatt, C. in Klein, M. 2008, S.391 234 vgl. Blatt, C. in Klein, M. 2008, S.390 235 Sting, S./Blum, C. 2003, S.94 nach KMK-Beschluss „Sucht- und Drogenprävention in der Schule“ 1990 236 Sting, S./Blum, C. nach Hurrelmann/Szimak 2003, S.94

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„einige Programme […] stärker am herkömmlichen Schema des Schulunterrichts orientiert, sie gliedern sich in einzelne Blöcke, die z.B. in einem Informationsblock, einem Block zum Erlernen selbstständiger Entscheidungen und einem Block mit Rollenspielen zum Erwerb sozialer Kom-petenzen bestehen. Andere Programme sind eher spielerisch und projektorientiert“237. Einige dieser Präventionsmaßnahmen „sollen von externen Expertinnen und Experten durchgeführt werden, andere sind für die Durchführung von Lehrerinnen und Lehrern konzipiert. Als Vorteile der Durchführung durch Letztere werden die größere Vertrautheit zwischen Lehrenden und Schülerinnen und Schülern angeführt, außerdem ermöglicht die Art der Durchführung eine grö-ßere Nachhaltigkeit. Externen […] sei wegen ihrer besseren fachlichen Fundierung der Vorzug zu geben, insbesondere bei gefährdeten Schülerinnen und Schülern. Außerdem seien diese gegenüber externen Personen vielleicht offener, ihre Probleme zu äußern.“238 Ein wesentlicher pädagogischer Schwerpunkt ist die Stärkung der Persönlichkeit von Kinder und Jugendlichen. Dabei sollen weniger die Defizite im Vordergrund sein, als vielmehr die Lebenskompetenzen und eine positive Haltung in Bezug zu sich selbst sowie zur Gesundheitsförderung.239 „Auf der Ebene allgemeiner gesundheitsfördernder Faktoren geht es um die Stärkung allgemeiner Be-wältigungsfertigkeiten wie Konfliktfähigkeit, sozialer Kompetenzen und eine positive Selbstein-schätzung. Auf der Ebene spezieller suchtpräventiver Faktoren steht die Stärkung der Wider-standsfähigkeit gegen Gruppendruck und eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung im Mittel-punkt. Auf der Ebene substanz- und suchtspezifischen Wissens spielt schließlich die Vermitt-lung sucht- und drogenbezogener Informationen eine wichtige Rolle.“240 Auch bei der Suchtprävention im Setting Schule ist eine Verknüpfung von Verhaltens- und Ver-hältnisprävention im Zusammenspiel am wirksamsten.241 Verhaltensprävention ist für alle Schü-lerInnen konzipiert und beinhaltet hauptsächlich unspezifische Themen, aber auch gezielt ess-störungsspezifische Anteile (abgesehen vom Grundschulbereich).242 „Unspezifische Suchtprä-vention orientiert sich am Ansatz der Lebenskompetenzförderung. […] In dieser Form wirkt sie außerdem präventiv in Bezug auf Gewalt, Kriminalität sowie psychosoziale und psychosomati-sche Störungen. Einzelne Bausteine sind: das Erlernen und Üben des Umgangs mit Konflikten, das Erlernen und Üben des Umgangs mit Anspannung und Stress, das Wahrnehmen und Aus-drücken von Gefühlen, die Entwicklung von Selbstsicherheit und Selbstwertgefühl, das Erler-nen, bewusst Entscheidungen zu treffen, die Entwicklung kommunikativer Kompetenzen, die Förderung von Aktivität, Neugier, Kreativität und Experimentierfreude und die Arbeit an Sinno-rientierungen.“243 Es geht um die Aneignung sozialer Kompetenzen, vor allem Konfliktlösungs-strategien sowie das Schließen von Freundschaften, um ein stabiles soziales Netzwerk zu ha-

237 Sting, S./Blum, C. nach Sting et al. 2003, S.78 238 Franke, A. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.263 239 vgl. Sting, S./Blum, C. nach Rauscher 2003, S.94 240 Sting, S./Blum, C. nach Petermann et al. 2003, S.77 241 vgl. Sting, S./Blum, C. 2003, S.95 242 vgl. Sting, S./Blum, C. 2003, S.96 243 Sting, S./Blum, C. 2003, S.96

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ben. Weiterhin sollen Alternativen für Stress- und Konfliktsituationen einschließlich Möglichkei-ten zur sinnvollen Freizeitgestaltung aufgezeigt werden. Die Genussfähigkeit soll erkannt und geübt werden – Essen ist zum Genießen da. Bei der Entwicklung von Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit soll Unterstützung angeboten werden, ebenso soll die körperliche Entwicklung einschließlich Sexualität thematisiert und als etwas Positives herausgestellt werden. Um Barri-eren bezüglich professionellen Beratungsangeboten abzubauen, soll über diese informiert und gegebenenfalls ein gemeinsamer Informationstermin wahrgenommen werden.244 Weitere „Sub-stanzunspezifische Ziele sind: Verbesserung individueller psychosozialer Kompetenzen, Ge-staltung protektiver Bedingungen in der Umwelt des Schülers, Minimierung der Gefährdung durch die Gleichaltrigengruppe, Vermittlung in ein konventionelles Netzwerk durch die Integra-tion in eine [nicht von Essstörungen betroffene bzw. gesundheitsbewusste] Gruppe“245. „Ihre präventive Wirksamkeit entfalten die Aktivitäten jedoch erst dann, wenn sie zum integralen Be-standteil des Unterrichtsalltags werden und nicht lediglich als einmaliges Spezialprogramm ab-laufen. Das bedeutet beispielsweise, dass Konflikte dann bearbeitet werden, wenn sie entste-hen und nicht als Trockenübung in der Präventionsstunde.“246 Suchtprävention an Schulen wird sehr häufig in Form von Lebenskompetenztraining, Persönlichkeitstraining und Gesundheitsför-derung gestaltet. Im Fokus stehen dabei oft die Persönlichkeitsentwicklung und eine umfas-sende Gesundheitsförderung im Sinne der Ottawa-Charta. Verhaltens- und Verhältnispräven-tion als wechselseitige Ergänzung sind bei den meisten Programmen zu finden. Weiterhin ist eine Durchführung von externen Fachkräften verbreiteter als von LehrerInnen veranstaltete Maßnahmen.247 „Überdurchschnittlich effektive Interventionen richteten sich an Jugendliche mit Risikofaktoren oder bereits vorhandenen Symptomen […]; sie sind theoretisch gut begründet, erfordern eine aktive Mitwirkung der Teilnehmer, ermöglichen somit ein interaktives Lernen […] und kombinieren verschiedene Interventionsstrategien. Zudem sind mehr Stunden umfassende Programme im Mittel etwas wirksamer als kurze Interventionen.“248 Bei der Umsetzung von ess-störungspräventiven Programmen sind oft noch ausbaubare Strukturen zu verzeichnen. Nach-haltigkeit ist dabei ein großes Thema, denn langfristig fehlen die gewünschten Effekte der Maß-nahmen. Kontinuität im Sinne einer ausdauernden Durchführung wird häufig unterschätzt. Kurz-zeitige Projekte stehen eher an der Tagesordnung. Weiterhin gibt es kaum Evaluationen der durchgeführten Präventionsmaßnahmen.249 Ein Projekt für Schulen, das von den PädagogInnen vor Ort durchgeführt werden kann, ist bauchgefühl. „Die Initiative bauchgefühl wurde von den Betriebskrankenkassen ins Leben gerufen, um durch Informationen und Sensibilisierung dem Krankheitsbild Essstörungen vorzubeugen sowie über Beratungs- und Behandlungsangebote für bereits betroffene Jugendliche dem Voranschreiten der Krankheit entgegenzuwirken.“250

244 vgl. Blatt, C. nach Günther in Klein, M. 2008, S.393 245 Blatt, C. nach Lammel in Klein, M. 2008, S.393 246 Sting, S./Blum, C. 2003, S.97 247 vgl. Blatt, C. in Klein, M. 2008, Abbildung S.397 248 Pinquart, M./Silbereisen, R. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.75 249 vgl. Blatt, C. nach KOPF und Quensel in Klein, M. 2008, S.398 250 http://www.bkk-bauchgefuehl.de/schule/fuer-schulen

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Länderspezifisch kann eine Online-Fortbildung zu dem Unterrichtsprogramm absolviert werden, um das Basiswissen zu erlangen. „Die Unterrichtsmaterialien zu bauchgefühl, bestehend aus einem 400-seitigen Materialordner mit Unterrichtskonzepten und Arbeitsblättern sowie einer Lehr-CD mit Bild- und Tonmaterial, werden dabei ausführlich vorgestellt.“251 Das Programm be-steht aus verschiedenen Modulen, die in den Jahrgangsstufen sechs und sieben bzw. acht und neun anzusetzen sind und umfasst dabei 90 Minuten pro Einheit. Es werden Themen wie Schönheit und Schönheitsideal, Essverhalten, Selbstwertstärkung, Allgemeines Wohlbefinden, Problemlösen, Identitätsfindung und Ähnliches aufgegriffen.252 „In der gesamten [schulischen] Präventionsarbeit kommt den [durchführenden Pädagogen] eine große Vorbildwirkung zu: Wie gehen sie mit Konflikten um? Welche Haltung oder Position be-ziehen sie in bestimmten Fragen? Wie kommunizieren sie? Wie authentisch sind sie? Der Leh-rer oder die Lehrerin [bzw. eine externe Fachkraft] ist dabei nicht als perfekter Anwender von Präventionstechniken, sondern als entwickelte Persönlichkeit gefragt.“253 Neben der Familie hat die Schule am meisten Möglichkeiten auf Verhalten und Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen einzuwirken. Somit werden die Familie und die Schule sehr ele-mentare Sozialisationsinstanzen.254 Gerade im Kinder- und Jugendalter haben Schule und Fa-milie viel miteinander zu tun. Um eine nachhaltige Gesundheitsförderung zu erzielen, sollten diese beiden Settings zusammenarbeiten und stets substanzunspezifische Prävention an den Tag legen, denn beide Bereiche prägen die Persönlichkeitsentwicklung sowie Fähigkeiten und Einstellungen. Die Wirkung eines positiven Zusammenspiels von Schule, Familie und dem wei-teren Lebensumfeld ist nicht zu unterschätzen, da Kinder und Jugendliche gerade in dieser Entwicklungsphase körperlich und psychosozial eine hohe Plastizität aufweisen.255

3.3.2 Außerschulische Suchtprävention Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zur schulischen Suchtprävention ist, dass die Ange-bote der Jungendarbeit auf Freiwilligkeit beruhen und damit nicht in einem verpflichtenden Kon-text stattfinden. Das kann einer Präventionsmaßnahme, die auf Selbststärkung und Kompetenz-förderung ausgerichtet ist positiv zugutekommen.256 „Jugendliche nutzen den Bereich [der offe-nen Jugendarbeit] vorrangig, um sich mit Gleichaltrigen zu treffen und sich zurückzuziehen. Den Pädagogen kommt folglich eher die Rolle zu, den Jugendlichen dafür einen Freiraum zu bieten, sie bei der Aneignung dieses Freiraums zu begleiten und sich als Kontaktperson zur Verfügung zu stellen.“257 SozialarbeiterInnen und PädagogInnen stehen in diesem Setting beratend zur

251 http://www.bkk-bauchgefuehl.de/schule/fuer-schulen/unterrichtsprogramm-mecklenburg-vorpom-mern 252 vgl. http://www.bkk-bauchgefuehl.de/schule-fuer-schule-programm-sek1 253 Sting, S./Blum, C. 2003, S.97 254 vgl. Blatt, C. nach Hartmannbund in Klein, M. 2008, S.391 255 vgl. Schnabel, P. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.312/313 256 vgl. Sting, S/Blum, C. 2003, S.105 257 Sting, S./Blum, C. 2003, S.111/112

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Seite, sollten die Bedürfnisse der einzelnen Heranwachsenden wahrnehmen und zwischen in-dividuellen und gesellschaftlichen Lebensentwürfen vermitteln.258 „Der Bereich der Jugendhilfe unterscheidet sich von der Schule dadurch, dass er stärker die gesamte Person mit ihrer alltäg-lichen Lebenspraxis ins Zentrum rückt. […] Pädagogische Begleitung und Unterstützung nimmt an der Lebenswelt und der Lebensgestaltung ihrer Klientel teil; die Gestaltung der Rollen zwi-schen Jugendlichen und Erwachsenen ist flexibler, variabler und zugleich umfassender als in der Schule.“259 Häufig sind Kinder und Jugendliche, die Angebote der Jugendhilfe annehmen, vielen lebensweltlichen Belastungen ausgesetzt, die sich auch am Gesundheitszustand ab-zeichnen. Geringe Schulbildung, finanzielle Probleme und alleinerziehende bzw. geschiedene Eltern sind keine Seltenheit und wirken sich auf das gesundheitsrelevante Verhalten oft negativ aus.260 Laut Kinder-und Jugendhilfegesetz (SBGVIII §14) ist auch Suchtprävention eine Auf-gabe der Jugendhilfe.261 „In der Diskussion um Suchtprävention im Rahmen der Jugendhilfe besteht zunächst Einigkeit darin, dass unspezifische Ansätze der Suchtprävention wie der Le-benskompetenzansatz oder der Ansatz der funktionalen Äquivalente (zum Beispiel in der Erleb-nispädagogik) einen integralen Bestandteil, wenn nicht sogar das Kernstück jeder pädagogi-schen Arbeit bilden. Außerdem trägt die Jugendhilfe im Sinne einer Verhältnisprävention Ver-antwortung für die Gestaltung positiver, entwicklungsfördernder Lebensbedingungen.“262 Vor al-lem die Erlebnispädagogik „greift jugendliche Bedürfnisse nach Spannung und Experimenten, nach Rausch und besonderen Selbsterfahrungen sowie nach Risiko und Grenzerfahrung auf. Das besondere Erleben findet dabei zum einen auf der Ebene jedes einzelnen Jugendlichen, zum anderen auf der Ebene der Gruppe im Ganzen statt.“263 Die Heranwachsenden können dabei „sich selbst von einer anderen Seite kennen […] lernen und eigene Kompetenzen […] entdecken und […] entwickeln“. Damit ist Erlebnispädagogik „identitäts- und kompetenzför-dernd“, aber auch die allgemeinen Lebenskompetenzen kommen nicht zu kurz.264 „Die unver-bindliche Struktur im offenen Bereich schließt konkrete Projekte nicht aus. Im Gegenteil, sie können die offenen Angebote sinnvoll ergänzen und gezielt die Bedürfnisse von Jugendlichen aufgreifen.“265 Das Projekt „Wie schlank muss ich sein, um geliebt zu werden?“ der AWO266-Beratungsstelle für Alkohol-, Medikamenten-, Ess- und Magersucht in Hagen wurde so konzipiert, dass es „am Lebensalltag und den daraus resultierenden Erwartungen der Mädchen orientiert“ war. So erga-ben sich neben den angesetzten Themenschwerpunkten („Schlankheits- und Schönheitsideale, Diäten, Fasten und Hungern“) weitere zentrale Inhalte, wie Lebensplanung, Umgang mit eige-nen Gefühlen, eigene Grenzen zum Ausdruck bringen, Umgang mit Konflikten, Sexualität und

258 vgl. Sting, S./Blum, C. 2003, S.112 259 Sting, S/Blum, C. 2003, S.105 260 vgl. Sting, S/Blum, C. nach Höfer 2003, S.106 261 vgl. Sting, S/Blum, C. 2003, S.105 262 Sting, S/Blum, C. 2003, S.106 263 Sting, S/Blum, C. nach Drößler und BZgA 2003, S.112 264 vgl. Sting, S/Blum, C. nach Drößler 2003, S.105 265 Sting, S/Blum, C. 2003, S.112 266 AWO = Arbeiterwohlfahrt; http://www.awo.org/wir-ueber-uns/

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Verhütung, hetero- und homosexuelle Beziehungen, Suchtstrukturen des sozialen Umfelds so-wie gesellschaftliche und soziale Rollen von Frauen. Im zeitlichen Rahmen von etwa einem Jahr wurde die Bearbeitung dieser Themen mit den zwölf bis fünfzehnjährigen Mädchen auf ver-schiedenste Art und Weise umgesetzt. Es wurden Theaterszenen vorgespielt und darüber dis-kutiert, in Rollenspielen konnten die Mädchen selbst die vorgegebenen Szenen nachempfinden, aber auch eigene Situationen noch einmal nachspielen und somit verarbeiten. Videoaufnahmen im Talkshow-Format entstanden, dabei konnte jedes Mädchen seine Erfahrungen mitteilen, die anderen Teilnehmerinnen besser kennenlernen, aber auch die eigene Körpersprache wahrneh-men. In Gesprächsgruppen entstand ein intimer Austausch. Dabei wurde es als entlastend emp-funden, dass alle Mädchen ähnliche Probleme haben. Durch Referate von Spezialisten konnten Themen vertieft werden, durch gezielte Informationsvermittlung und Raum für persönliche Fra-gen. Es wurde ein Theaterstück zum Thema eingeübt und ein Radiobeitrag produziert - zum Abschluss gab es ein Fest zu dem Frauen der Umgebung eingeladen wurden.267 Projekte wie dieses sind jedoch selten, denn im Bereich der offenen Jugendarbeit wird vorwie-gend Sekundärprävention betrieben. Dabei geht es „um die Vermeidung von Suchtentwicklun-gen und um Schadensminimierung“.268

3.4 Prävention bei Erwachsenen

Dass sich eine Essstörung im Erwachsenenalter entwickelt, ist nicht so üblich wie im Jugendal-ter.269 Es stellt sich dementsprechend die Frage, ob es in dieser Altersgruppe überhaupt Bedarf an Essstörungsprävention gibt. Ein Übermaß an Stress und die Bewältigung von Belastungssi-tuationen können dennoch Risikofaktoren für Essstörungserkrankungen sein, genauso wie vor allem bei jungen Erwachsenen die Persönlichkeitsfindung, „soziale Übergänge und Lebenser-eignisse“, persönliche Ziele und die Entwicklungsaufgaben.270 „Für das frühe Erwachsenenalter sind das beispielsweise die Partnerwahl, die Familiengründung (erstes Kind) und der Beginn einer beruflichen Karriere.“271 Es wirken sich „die Ungewissheit der Zukunft und die mangelnden beruflichen Perspektiven […] auf das Selbstwertgefühl aus und können zu Labilität führen. Men-schen, die nicht in befriedigende soziale und berufliche Beziehungen eingebunden sind, fühlen sich ausgeschlossen, ohnmächtig ausgeliefert und nicht […] geborgen. In dieser Situation steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie bei Suchtmitteln Trost und Zuflucht suchen.“272 Vor allem in den Übergangsphasen des Lebens liegt somit ein entscheidender Risikofaktor. Das betrifft nicht nur das junge Erwachsenenalter, sondern auch „Phasen großer beruflicher Karriereschritte und die sich ablösenden Kinder im mittleren Alter sowie der Übergang in den beruflichen Ruhestand

267 vgl. Becker, K./Birk-Hau, K. in Bundesgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz 1995, S.94-104 268 vgl. Sting, S/Blum, C. 2003, S.107 269 vgl. Franke, A./Brunner, E. in DHS 2013, S.28 270 vgl. Faltermaier, T. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.80/81 271 Faltermaier, T. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.80 272 Singerhoff, L. 2002, S.22

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im späteren Erwachsenenleben.“273 Folglich sollte auch im Erwachsenenalter Prävention von Essstörungen ein Thema sein.

3.4.1 Betriebliche Suchtprävention Eine betriebliche Suchtprävention speziell für Essstörungen gibt es nicht. „Der Fokus liegt dabei nach wie vor auf dem Alkoholkonsum. […] Aus Perspektive der Mitarbeiter bietet die Verortung von Suchtprävention im Betrieb eine Reihe […] Chancen: Im Betrieb können große Gruppen von Menschen erreicht und verbindlich angesprochen werden. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit riskanten oder süchtigen Konsummustern verfügen mit ihrem Arbeitsplatz über eine nicht unbedeutende materielle und soziale Ressource zu Bewältigung ihrer Problematik. […] Nicht zuletzt können sich die sozialen Strukturen im Betrieb in einem primärpräventiven Sinne günstig auf die Gesundheit aller Beschäftigten auswirken.“274 Es können von der allgemeinen und alko-holbezogenen betrieblichen Suchtprävention möglicherweise Ansätze und Methoden übernom-men werden, um essstörungsspezifische Präventionsmaßnahmen zu schaffen, die vor allem bei „gefährdeten“ Berufsgruppen wie Models und Ballett-TänzerInnen angemessen wären. Ge-setzlich vorgeschrieben ist diese betriebliche Suchtprävention allerdings nicht.275 „Seit Beginn der 70er Jahre gibt es in größeren Betrieben betriebliche Sozialarbeit mit der Auf-gabe, Alkoholmissbrauch einzudämmen und Hilfen für Suchtkranke mit dem Ziel, den Arbeits-platz zu erhalten, anzubieten.“276 Diese übernimmt auch „zunehmend die Schulung von Füh-rungskräften. […] Von betrieblicher Sozialarbeit wird erwartet, dass sie die Probleme im Sinne einer Betriebsfürsorge am Einzelfall bearbeitet und damit für den Betrieb als Ganzes eliminiert. Wenn sich Probleme zuspitzen, werden die betroffenen Mitarbeiter in der Regel von ihren Vor-gesetzten zum betrieblichen Sozialdienst überwiesen.“277 Des Weiteren rückt die „Fürsorge für den Betroffenen“ immer mehr in den Hintergrund, denn es geht zunehmend darum, dass nur gesunde Mitarbeiter für den Betrieb lohnenswert sind. Ob das die Funktion der betrieblichen Sozialarbeit ist, ist fraglich.278 „Die professionelle betriebliche Sozialarbeit artikuliert und vernetzt sich zunehmend über Arbeitskreise, Verbandsorgane und Fachzeitschriften. Ein anderes Selbstverständnis, die Entwicklung einer eigenständigen Identität, neue Formen der Anbindung und Kooperation in Betrieben und neue „Produkte“ bringen die betriebliche Sozialarbeit immer mehr in die Nähe der Personalentwicklung und orientieren weg vom klassischen Modell der Betriebsfürsorge. Entsprechend wendet sich die betriebliche Sozialarbeit gegenüber ihrer tradi-tionellen Orientierung am „Betroffenen“ zunehmend strukturellen Fragen, Themen der Perso-nalführung und Organisationsentwicklung zu.“279 „Maßnahmen der Primärprävention beziehen sich auf alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Betriebes. Sie erfolgen zum einen als Verhaltensprävention in Form von Information, Aufklärung

273 Faltermaier, T. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.85 274 Sting, S/Blum, C. nach Hartmann/Traue 2003, S.120 275 vgl. Sting, S/Blum, C. 2003, S.125 276 Sting, S/Blum, C. 2003, S.123 277 Sting, S/Blum, C. 2003, S.124 278 vgl. Sting, S/Blum, C. nach Fuchs et al. 2003, S.124 279 Fuchs, R./Rainer, L./Rummel, M./Schönherr, U. in Fuchs, R./Rainer, L./Rummel, M. 1998, S.18

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und Weiterbildung der Beschäftigten zum Thema Sucht. Eine weitaus größere Bedeutung kommt jedoch der Verhältnisprävention zu, die sich auf die Unternehmenskultur bezieht. […] Indem sich Suchtprävention mit Fragen der Gestaltung von Interaktions-, Informations- und Ko-operationsstrukturen beschäftigt, wird sie Teil der Personal- und Organisationsentwicklung einer Firma.“280 Programme zur Alkoholprävention bestehen oft aus verschiedenen Teilen, die sich unter Umständen auf die Prävention von Essstörungen übertragen lassen. „Beeinflussung der Führungs- und Kommunikationsstruktur zum Thema: Weiterbildung, Beratung und Trai-ning/Coaching für Führungskräfte; Informationsveranstaltungen für verschiedenen Zielgruppen; [und] Konsensbildung hinsichtlich der Maßnahmen/Regelungen des Programms“281 lassen sich gut im Sinne einer Sensibilisierung für Essstörungen anpassen. Auch der „Aufbau eines nied-rigschwelligen betriebsinternen Hilfesystems: Professionelle Sozial- bzw. Suchtberatung; Be-stellung nebenamtlicher Suchtkrankenhelfer; [und die] Kooperation mit externen Beratungs- und Therapieeinrichtungen“282 sind allgemein für verschiedenen Suchterkrankungen übertragbar und schließen oft schon mehrere stoffgebundene und substanzunabhängige Süchte mit ein. „Primärpräventive Maßnahmen“, wie die „Beeinflussung der Griffnähe; Arbeitsgestaltungsmaß-nahmen; [und] Aufklärungsmaßnahmen“283 können nur schwer angepasst werden, so sollte Nahrung einer jeden Person stets zur Verfügung stehen. Des Weiteren verheimlichen Be-troffene in den meisten Fällen ihre Essstörungserkrankung. Aufklärungsmaßnahmen sind den-noch möglich und sinnvoll. „Konzipierung und Steuerung durch einen Arbeitskreis: besetzt mit Entscheidungsträgern aus Personalleitung, Mitbestimmungsgremien und relevanten Fachfunk-tionen wie Arbeitsmedizin, Sozialbetreuung, Arbeitssicherheit“ und die „Formulierung einer „Be-triebspolitik“/Regelabsprachen/ggf. Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung“284 könnte man ebenfalls als Bestandteile der Essstörungsprävention benennen. Fraglich ist, ob Prävention von Essstö-rungen im Betrieb in dieser Art und Weise konzipiert werden kann, da diese Erkrankungsformen zum einen oft nicht ernst genommen werden, zum anderen nicht so häufig wie Alkoholproble-matiken auftreten und weiterhin bei schwachen Ausprägungen keine direkten Einschränkungen der Arbeit darstellen. Bei Extremformen können körperliche Tätigkeiten nicht mehr sicher aus-geführt werden, auch geistig sind Betroffene oft nicht mehr zurechnungsfähig, da ihr kompletter Lebensinhalt aus Essen, Nicht-Essen, Kalorien zählen oder Ähnlichem besteht. „Aufgrund der positiven Erfahrungen mit trockenen Alkoholikern als Ansprechpartnern entstand daher die Idee, diese auch „offiziell“ als ein „niedrigschwelliges Informations- und Hilfsangebot“ einzuset-zen. Eingebettet in das jeweilige betriebliche Konzept sollten sie als nebenamtliche Suchtkran-

280 Sting, S/Blum, C. nach Lau-Villinger und Fuchs et al. 2003, S.122 281 Fuchs, R./Rainer, L./Rummel, M./Schönherr, U. in Fuchs, R./Rainer, L./Rummel, M. 1998, Abbil-dung S.15 282 Fuchs, R./Rainer, L./Rummel, M./Schönherr, U. in Fuchs, R./Rainer, L./Rummel, M. 1998, Abbil-dung S.15 283 vgl. Fuchs, R./Rainer, L./Rummel, M./Schönherr, U. in Fuchs, R./Rainer, L./Rummel, M. 1998, Ab-bildung S.15 284 Fuchs, R./Rainer, L./Rummel, M./Schönherr, U. in Fuchs, R./Rainer, L./Rummel, M. 1998, Abbil-dung S.15

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kenhelfer „Wegweiserfunktion“ für betroffene Kollegen übernehmen: Durch Information über be-stehende Beratungs- und Behandlungsmöglichkeiten, die Weitergabe persönlicher Erfahrungen und kollegiale Unterstützung sollten sie die Ängste vor therapeutischen Maßnahmen mindern und den Kontakt zu professionellen Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen erleichtern. Gleichzeitig konnten sie durch kollegiale Kontakte und Gesprächsangebote während der The-rapie und in der Phase der betrieblichen Wiedereingliederung zur Stabilisierung und Sicherung des Behandlungserfolges beitragen. […] Mit der Zeit wurde es üblich, neben trockenen Alkoho-likern für diese Aufgabe auch andere für Suchtprobleme oder soziale Probleme engagierte Per-sonen zu gewinnen.“285 Dieses Angebot nicht nur auf Alkoholprobleme zu beschränken, son-dern auch für weitere Suchterkrankungen zu öffnen, wäre eine gute Möglichkeit auch Essstö-rungsprävention in den größeren Betrieben zu integrieren. „Nebenamtliche SKH286 können ihre Funktion erst dann wirksam erfüllen, wenn eine gewisse Stabilisierung und Verankerung der Aktivitäten sicherstellt, dass die beteiligten Funktionsgruppen (Vorgesetzte, Personalabteilung, Mitarbeitervertretung, Betriebsärzte und SKH) gut kooperieren.“287 Die Aufgaben der SKH über-schneiden sich sehr mit den Aufgaben von SozialarbeiterInnen, obwohl diese sich ausschließ-lich auf ihre persönlichen Erfahrungen berufen können. Dennoch sind die tatsächlichen Aktivi-täten weitreichender und „berühr[en] strukturelle Fragen, die die gesamte Organisation betref-fen“.288 „Während einige SKH ihre ausschließliche Aufgabe darin sehen, alkoholkranken Kolle-gen hilfreiche Gespräche anzubieten und sie auf dem Weg in die Trockenheit zu unterstützen, fühlen andere sich für alle betrieblichen Fragen zum Thema Sucht zuständig, leiten Arbeits-kreise, führen Schulungen durch und erstellen Aufklärungsmaterialien. Manche SKH machen professionellen Beratungseinrichtungen […] Konkurrenz, indem sie vertiefend beraten, direkt Therapieplätze vermitteln, Sozialberichte schreiben.“289 Hier ist eine intensive Zusammenarbeit mit der betrieblichen Sozialarbeit sinnvoll, ebenso wie mit den Betriebs- und Personalräten, da alle „in ihrer kollegialen Rolle bestrebt sind, diskrete Lösungen für Kollegen im Vorfeld offizieller Schritte des Arbeitgebers zu finden“ 290 bzw. Suchterkrankungen bereits im Vorhinein zu ver-meiden. „In den Betrieben, in denen auch professionelle Sucht- oder Sozialberater tätig sind, muss eine klare Aufgabendefinition vorgenommen werden, die den jeweiligen Qualifikationen, Kompetenzen und Erfahrungen Rechnung trägt und die positiven Aspekte sowohl der professi-onellen als auch der kollegialen Hilfe hervorhebt.“291 Allgemeine präventive Maßnahmen im Betrieb können unterschiedlich aussehen. Beginnend bei der „Arbeitsorganisation [mit] flexiblere[n] Zeitmodelle[n] und de[m] Ausbau sozialer Unter-stützung (insbesondere für Berufstätige mit Kindern), Entlastung für Beschäftigte im Schicht-dienst, Entlastung und höhere Flexibilität in der Arbeitszeit für ältere Arbeitnehmerinnen und

285 Rainer, L. in Fuchs, R./Rainer, L./Rummel, M. 1998, S.148/149 286 Suchtkrankenhelfer 287 Rainer, L. in Fuchs, R./Rainer, L./Rummel, M. 1998, S.149 288 vgl. Rainer, L. in Fuchs, R./Rainer, L./Rummel, M. 1998, S.149/150 289 Rainer, L. in Fuchs, R./Rainer, L./Rummel, M. 1998, S.149/150 290 Rainer, L. in Fuchs, R./Rainer, L./Rummel, M. 1998, S.153 291 Rainer, L. in Fuchs, R./Rainer, L./Rummel, M. 1998, S.163

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Arbeitnehmer; [über die] Arbeitszufriedenheit [einschließlich] Erweiterung der Handlungs- und Entscheidungsspielräume, Einbeziehung der Beschäftigten in die Arbeitsgestaltung und –orga-nisation z.B. durch Gesundheitszirkel, Ausbau der Weiterbildung, Ausbau personalpflegerischer Maßnahmen; [bis hin zu] Führungskonzepte[n,] [die ein] Training von Konfliktfähigkeit und sozi-aler Kompetenz, Verbesserung der innerbetrieblichen Informations- und Kooperationsprozesse, Verflachung unnötiger Hierarchien, Ausbau stabiler sozialer Beziehungsfelder zwischen den Mitarbeitern [und] Transparenz innerbetrieblicher Entscheidungsprozesse [umfassen.] Primär-präventive Maßnahmen in diesem Sinne können das gesundheitliche Wohlbefinden der Be-schäftigten erhöhen und zu einer größeren Arbeitszufriedenheit beitragen.“292 Auch Angebote zur Partizipation (wie Mediation oder Supervision) dienen indirekt der Suchtvorbeugung – die allgemeinen Lebenskompetenzen sind ebenfalls nicht zu unterschätzen. „Nicht süchtigen Lebensweisen geht […] die Entwicklung von Ich-Stabilität […] voraus. Als „Suchtschutzfaktoren“ werden in diesem Zusammenhang in der Suchtprävention und Sucht-krankenhilfe immer wieder folgende persönliche Ressourcen benannt: Selbstwert und Selbst-vertrauen, Beziehungs- und Konfliktfähigkeit, Genuss- und Erlebnisfähigkeit, Fähigkeit zur Wahrnehmung und zum adäquaten Ausdruck von Gefühlen, Fähigkeit zur Bewältigung von Stress und Spannungen“293. Arbeitsprobleme können mögliche Suchtursachen sein, z.B. „un-genügende Informationen“, „keine sichtbaren Resultate“, „nicht genügend Zeit“, „widersprüchli-che Anforderungen“, „unfaire Beförderungen“, „keine Hilfe von Vorgesetzten“, „keine Hilfe von Kollegen“ oder „inkompetente Kollegen“294. Auch „quantitative und qualitative Überforderung, hohe Verantwortung für Menschen und Sachwerte und Statusunsicherheit“295 sowie „Arbeits-platzunsicherheit“296 sind betriebliche Risikofaktoren für Suchterkrankungen, genauso wie feh-lende Sozialkontakte und entsprechende Unterstützung. Im Gegenzug dazu ist ein ausgepräg-tes und sicheres soziales Netzwerk eine große Ressource und Bewältigungsstrategie, um auch in stressigen Situationen nicht in eine Abhängigkeitserkrankung zu geraten.297 „Erfahrungsbe-richte von Klinikern, Beratern und Coachs geben […] Hinweise auf typische Problemkonstella-tionen. So wird immer wieder eine spezifische Kombination von Arbeitsdruck und betrieblichem „Klima“, persönlichem Leistungswillen bei gleichzeitig labilem Selbstvertrauen und einge-schränkten Coping-Strategien bei suchtmittelabhängigen Führungskräften beschrieben.“298 Diese Problemkonstellationen müssen nicht zwangsläufig Führungskräfte, sondern können alle Mitarbeiter betreffen. Weiterhin sind auch Essstörungen Süchte, in die sich unter Umständen geflüchtet wird. Denn „Alkohol und andere Suchtmittel können in dieser Dauerbelastungs-Situ-ation eingesetzt werden, um Stress zu reduzieren und haben kurzfristig Bewältigungsfunktio-nen: Coping by Doping. […] Die Wahl des Suchtmittels ist abhängig von der Griffnähe, von der

292 Nette, A. in Fuchs, R./Rainer, L./Rummel, M. 1998, S.177 293 Preuß, E. in Fuchs, R./Rainer, L./Rummel, M. 1998, S.186 294 Fuchs, R./ Rummel, M./Greiner, B. nach Fennel, Rodin und Kantor in Fuchs, R./Rainer, L./Rummel, M. 1998, S.87 295 Rummel, M./ Rainer, L. in Fuchs, R./Rainer, L./Rummel, M. 1998, S.104 296 Rummel, M./ Rainer, L. in Fuchs, R./Rainer, L./Rummel, M. 1998, S.105 297 vgl. Rummel, M./ Rainer, L. in Fuchs, R./Rainer, L./Rummel, M. 1998, S.105 298 Rummel, M./ Rainer, L. in Fuchs, R./Rainer, L./Rummel, M. 1998, S.104

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umgebenden Kultur, von persönlichen Präferenzen, aber auch von der Kompatibilität mit der Arbeitssituation und den Arbeitsabforderungen.“299 „Bei dem Bemühen um einen konstruktiven Umgang mit betrieblichen Suchtproblemen werden schnell Felder berührt, die auf den ersten Blick nicht mit dem Thema in Verbindung stehen: Die betriebliche Gesundheitspolitik, das Betriebsklima, die Arbeitsbedingungen, Fehlzeiten, das Führungsverhalten, betriebliche Trinksitten, eigentlich die gesamten offiziellen Normen und un-geschriebenen „Spielregeln“. Ein erfolgreiches betriebliches Präventionsprogramm erfordern Aktivitäten sowohl auf primär-, als auch auf sekundär- und tertiärpräventiver Ebene und kann nur wirksam werden, wenn die Bereitschaft der Entscheidungsträger wächst, die entsprechen-den Verbindungslinien zuzulassen.“300 Damit die Arbeitssituation gesundheitsförderlich ist, sollten „Arbeitsplatz, Arbeitsmittel und Ar-beitsumgebung so gestaltet“ sein, dass sowohl kurz- als auch langfristig keine körperlichen Schäden entstehen. Weiterhin sollte „die Arbeitsaufgabe anregend, abwechslungsreich und zu-gleich konsistent“ sein. „Tätigkeitsbezogene Entscheidungs- und Handlungsspielräume“ sind für jeden Mitarbeiter von großer Bedeutung. Bedingungen, die die Möglichkeit geben „störungsfrei und ohne Behinderung“ zu arbeiten, geregelte Pausenzeiten um „Leistungsabforderung“ und Entspannung in Einklang zu bringen und „berufliche Statussicherheit“ mit „Entwicklungsper-spektiven“ sind ebenso betriebliche Schutzfaktoren wie Partizipation und Handlungsweisen der Führungsebene, „die durch menschlichen Respekt geprägt sind“.301 Zur betrieblichen Essstörungsprävention könnte außerdem ein gesundes und vollwertiges Kan-tinenessen förderlich sein, sowie bei großen Firmen eventuell ein angegliedertes Fitnessstudio.

3.4.2 Elternarbeit Weiterhin ist es effektiv, Erwachsene im Sinne einer essstörungspräventiven Elternarbeit her-anzuziehen. Denn Eltern „haben […] eine Schlüsselrolle für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen: Sie sind für sie in gesundheitlicher Hinsicht entscheidende Vorbilder und Gestal-ter.“302 Ihre suchtpräventive Rolle ist maßgeblich für die Entwicklung eines Kindes, „denn die ersten Schritte für gesundheitsförderndes Verhalten werden in der Familie erlernt. Dazu gehört, die eigenen Bedürfnisse und Gefühle ernst zu nehmen, auf seine Körpersignale zu hören und darauf zu vertrauen.“303 Es werden in der Familie aber auch direkt Handlungs- und Denkweisen weitergegeben, die z.B. Alltagsrituale, Regeln, das soziale Miteinander und den Umgang mit Medien betreffen. Ebenso wird die Art und Weise zu Essen, sich zu Bewegen und zu Entspan-nen familiär geprägt.304 „Defizite innerhalb der Familie erhöhen das Risiko, dass ein Kind später

299 Rummel, M./ Rainer, L. nach Greiner/Rummel/Fuchs und Weiss in Fuchs, R./Rainer, L./Rummel, M. 1998, S.104/105 300 Rainer, L. in Fuchs, R./Rainer, L./Rummel, M. 1998, S.160 301 vgl. Lenhardt, U./Rosenbrock, R. nach Nave-Hertz in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.324/325 302 Faltermaier, T. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.79 303 Cremer, M. in BZgA 2013, S.122 304 vgl. Cremer, M. in BZgA 2013, S.122/123

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abhängig wird, denn diese Defizite verhindern eine gesunde, stabile Entwicklung der Persön-lichkeit. Defizite können entstehen, wenn der Zusammenhalt der Familie sehr diffus oder gar nicht vorhanden ist. Das andere Extrem dazu ist die überorganisierte Familie.“305 So kann die Familie entweder Risiko- oder Schutzfaktor für Essstörungen sein.306 Prävention wirkt ebenfalls durch Erziehung, so können Eltern Einiges tun, um Sucht- und Essstörungserkrankungen vor-zubeugen: „Die Grundbedürfnisse angemessen befriedigen, dem Kind etwas zutrauen, ihm Ver-antwortung für sich selbst in altersangemessener Form übertragen, die positive Lebensgrund-haltung besonders in Konflikten bewusst machen und Zusammenarbeit anstreben, Probleme erkennen und Konflikte lösen, Achtung vor dem anderen haben, einen positiven Zuwendungs-haushalt erreichen, die Vorbildfunktion ernst nehmen, gemeinsam Spaß haben und etwas un-ternehmen, Interesse aneinander zeigen, im Gespräch sein und einander zuhören.“307 Ergän-zend dazu sollten Eltern die „„Hunger- und Sättigungssignale“ des Kindes ernst nehmen, „Le-bensmittel nicht als Erziehungsmittel einsetzen“, „Bewegung im Alltag fördern“, „für Ruhe- und Entspannungszeiten sorgen“ und mit dem Kind alltägliche Dinge „gemeinsam genießen“ kön-nen.308 „In der Prävention [wird] der Einfluss der Familie als die entscheidende zentrale soziale Instanz für Kinder gemeinhin noch unterschätzt […]. Daraus ergibt sich die Forderung, dass insbeson-dere Eltern und Familien als Akteure für die Prävention gewonnen werden müssen.“309 Dabei sollten sich präventive Maßnahmen gleichermaßen auf alle Familienmitglieder beziehen. Eine theoretische Wissensvermittlung sollte durch verschiedene pädagogische Zugänge wie z.B. Rollenspiele oder Erlebnispädagogik ergänzt werden. Optimal ist eine aktive und emotionale Beteiligung aller Adressaten.310 „Hierzu bieten beispielsweise die Familienbildungsstätten und Institutionen der Erwachsenenbildung eine überaus reiche Palette an Angeboten, die sich direkt und indirekt mit den Themenfeldern der Suchtprävention in Zusammenhang bringen lassen.“311 Diese Aktivitäten, Seminare, Kurse, etc. dienen häufig der Primärprävention und damit einer Vermittlung von vorbeugenden „Orientierungshilfen und Handlungskompetenzen“. „Insbeson-dere an den Übergängen von Familienphasen bedeutet Familienbildungsarbeit, durch Kommu-nikation, Begegnung und Bildung schwierige Situationen bereits im Vorfeld prozesshaft zu be-gleiten um von vornherein eine Zuspitzung bzw. Eskalation von Belastungen zu verhindern.“312 Eltern sollen sich dabei vor allem ernst genommen fühlen bei Unsicherheiten in Erziehungsfra-gen und eine Stärkung der eigenen Erziehungskompetenz erfahren.313 Bei der Ansprache der

305 Singerhoff, L. 2002, S.11/12 306 vgl. Fahrenkrug, H. in BZgA 1999, S.29/30 307 Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. nach Sieß 2000, S.20 308 vgl. Cremer, M. in BZgA 2013, S.123/124 309 Grundmann, D./Nöcker, G. nach Künzel-Böhmer, J. in BZgA 1999, S.17/18 310 vgl. Grundmann, D./Nöcker, G. nach Künzel-Böhmer, J. in BZgA 1999, S.17/18 311 Grundmann, D./Nöcker, G. in BZgA 1999, S.18 312 Grundmann, D./Nöcker, G. in BZgA 1999, S.23 313 vgl. Grundmann, D./Nöcker, G. in BZgA 1999, S.40

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Eltern in der familienbezogenen Suchtprävention steht auch immer eine Lebenskompetenzför-derung im Fokus.314 Ganz praktische Übungen für Eltern können von SozialarbeiterInnen ange-leitete Diskussionsrunden sein über Themen, die mit Essstörungen im Zusammenhang stehen, z.B. den eigenen Körper, Schönheit, Ernährungsgewohnheiten und Umgang mit Gefühlen.315 Bewährte Präventionskonzepte im Rahmen der Familienbildung sind „Informationsabende bzw. – nachmittage, kontinuierliche Begleitung von Eltern-Kind-Gruppen, mehrtägige Veranstaltun-gen (z.B. Wochenendseminare) [und] eine langfristige Verankerung suchtpräventiver Angebote in einer Familienbildungsstätte mit wechselnden Schwerpunkten.“316 Dabei sind die Eltern-Kind-Gruppen eine „langfristig angelegte Begleitung der ersten Familienphase“, bei der auf die „un-terschiedlichen Bedürfnisse von Erwachsenen und Kindern ebenso wie die Interaktion zwischen ihnen“ eingegangen wird. „Suchtpräventiv relevante Inhalte“ dieser Gruppen sind unter anderem das „Kennenlernen verschiedener Handlungsmöglichkeiten durch Erfahrungs- und Informati-onsaustausch“, die „Erwartungen, Wünsche und Gefühle [von sich selbst und Anderen] erken-nen, äußern und umsetzen lernen“ sowie die konkreten Anregungen zur Gestaltung der Eltern-Kind-Beziehung.317 Elternseminare sind dagegen eher kurzfristig angelegt und mit einer Menge Informationen gefüllt, die eine bestimmte krisenhafte Lebenslage aufgreifen. Wichtige Bestand-teile dieser Methode sind der Austausch der Teilnehmenden untereinander, ein fachlicher Rat und die Hilfe zur Selbsthilfe. Auch die „Reflexion des eigenen erzieherischen Handelns“ und der Situation stehen an der Tagesordnung um eine Entlastung der „oft sehr angespannten häusli-chen Situation“ zu erzielen.318 „Hinsichtlich der methodischen und inhaltlichen Durchführung von Seminaren hat sich eine in […] Stufen durchgeführte Vorgehensweise am effektivsten erwiesen: Informationsvermittlung über die Themengebiete Sucht und Suchtprävention, Selbstreflexion, Diskussion und Einübung positiv ausgerichteter Erziehungsförderung.“319 Dabei sind die Ziele für die Eltern vor allem die „Vermittlung gesundheitsrelevanter Kenntnisse“ (Information), die „Vermittlung gesundheitsfördernder Einstellungen“ (Einstellungsänderung) und die Motivation, die neu erlernten „gesundheitsfördernden Verhaltensweisen“ umzusetzen.320 Die Elternbildung erreicht „politische Dimensionen […], wenn die Suchtprävention Themen wie Lebensräume, Arbeitsorganisation, Kinderbetreuung, Schule, Lebensqualität etc. themati-siert.“321 Außerdem ist „die Zusammenarbeit von Eltern und Kindertagesstätten für Ziele der Suchtprävention […] unerlässlich. Wenn diese wirklich funktionieren soll, müssen alle Bezugs-personen von Kindern gemeinsam überlegen, um Erziehungs- und Entwicklungssituationen zu reflektieren, Probleme anzusprechen und zu analysieren und gemeinsame Lösungen zu finden. Gerade weil Erziehung so komplex geworden ist, kommt diesem Austausch eine wichtige Be-deutung zu. […] Hierbei geht es in erster Linie um die Situation von Kindern heute und die

314 vgl. Suckfüll, T./Stillger, B. in BZgA 1999, S.40 315 vgl. Cremer, M. in BZgA 2013, S.125-130 316 Suckfüll, T./Stillger, B. in BZgA 1999, S.90 317 vgl. Suckfüll, T./Stillger, B. in BZgA, S.44 318 vgl. Suckfüll, T./Stillger, B. in BZgA, S.45/46 319 Suckfüll, T./Stillger, B. in BZgA 1999, S.90 320 vgl. Suckfüll, T./Stillger, B. in BZgA 1999, S.54/55 321 Fahrenkrug, H. in BZgA 1999, S.32

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Bedingungen ihres Aufwachsens, die gemeinsame Gestaltung des Lebens in der Familie, Grundfragen der Erziehung, die Bedeutung und den Konsum von Medien und Suchtmitteln, das Konsumverhalten insgesamt und Fragen der Ernährung.“322 Auch die „Erziehungsberatung setzt […] wie Familienbildung, […] konsequent am Präventions-gedanken an, um die „Hilfe zur Selbsthilfe“ wirksam umsetzen zu können.“ Sie gilt als „beson-ders erfolgreich, wenn sie frühzeitig und freiwillig erfolgt.“323 Dabei ist es „Aufgabe der Instituti-onen, bzw. der Mitarbeiter/innen, die verschiedenen Fachlichkeiten und Arbeitsansätze [zu ver-knüpfen und in Kooperation] zu nutzen, um den Bedürfnissen heutiger Familien entgegenzu-kommen.“324

3.5 Prävention in Gemeinwesen und Gesellschaft

„Prävention und Gesundheitsförderung mit sozialräumlichem Bezug haben viele Facetten. Ei-nerseits stellt der Sozialraum häufig den politischen, kulturellen, und organisatorischen Rahmen dar, in dem ineinander verknüpfte Programme der Prävention und Gesundheitsförderung statt-finden. Diese können sich auf Zielgruppen in der Gemeinde oder auf bestimmte Themen rich-ten.“325 Dabei soll das soziale Umfeld so gestaltet werden, „dass gesundheitsförderliches Ver-halten möglich ist. Das bedeutet zum einen die Herstellung eines gesunden und belastungs-freien Klimas in der Gemeinde, das die Entwicklung und Entfaltung sozialer Beziehungen un-terstützt.“326 Weiterhin soll eine „sinngebende und kompetenzfördernde institutionelle Infrastruk-tur, die auch bei Bedarf Hilfe bereitstellt“ ein Ziel der Suchtprävention sein. Effektiv ist es dabei „freizeitpädagogische Angebote mit Maßnahmen zur Hilfe und Unterstützung bei Problemen“ zu verknüpfen.327 Auch die Gemeinde kann sowohl Schutz- als auch Risikofaktor sein. Die „ge-lungene Integration seiner Mitglieder in das Gemeinwesen im Sinne des Eingebundenseins in soziale Strukturen und der Möglichkeit von Partizipation gilt als eine wertvolle Ressource für die Bewältigung von Alltag. Die Gemeinde wird damit zu einem bedeutsamen und relativ über-schaubaren Ansatzpunkt für verhältnispräventive Strategien.“328 Theoretisch sind alle in dieser Arbeit bereits genannten Zielgruppen in der Gemeinde für personenbezogene Essstörungsprä-vention zu erreichen. Auch sind hier verschiedene Lebensbereiche vertreten, die wenn sie zu-sammen arbeiten, eine effektive nachhaltige Prävention von Essstörungen erzielen könnten.329 „In der Praxis lässt sich jedoch feststellen, dass Projekte zur gemeindebezogenen Suchtprä-vention großteils lediglich Modellcharakter haben und auch Ansätze der […] Stadtteil- bzw. Ge-meinwesenarbeit nur in einem engen Rahmen entwickelt worden sind.“330 So konzentrieren sie

322 Kammerer, B. 2000, S.98 323 vgl. Maurer-Hein, R. in BZgA 1999, S.117 324 Maurer-Hein, R. in BZgA 1999, S.117 325 Trojan, A./Süß, W. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.343 326 Sting, S./Blum, C. nach Schmidt 2003, S.130 327 vgl. Sting, S./Blum, C. nach Schmidt 2003, S.130 328 Sting, S./Blum, C. 2003, S.125 329 vgl. Sting, S./Blum, C. 2003, S.125/126 330 Sting, S./Blum, C. 2003, S.126

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sich oft nur auf überschaubare Bereiche bzw. Institutionen. Von großer Relevanz sind für die Erwachsenen vor allem die Familie und der Arbeitsplatz. Dort die Gesundheitsförderung noch intensiver auszubauen, wäre von großem und nachhaltigem Erfolg.331 Bei essstörungspräven-tiven Maßnahmen, speziell bei primärer Prävention, geht es um die Gesundheitsförderung nicht nur in Bezug auf einzelne Personen, sondern auch gesellschaftlich gesehen. So sollte ein Be-wusstsein für Essstörungserkrankungen vermittelt und gesundheitsfördernde Lebensräume ge-schaffen werden. Gesundheitserziehung in Bezug auf ausgewogenes Ernährungs- und Bewe-gungsverhalten sollte in sozialen Einrichtungen, aber auch in den Medien ausgebaut werden. Das schließt auch die „Verbesserung der Möglichkeiten zur körperlichen Bewegung z.B. in Städ-ten und Schule“ mit ein wie die „Gesundheitsorientierung der Politik“. Auch die „Zusammenfüh-rung von Interessengruppen (z.B. Lebensmittelindustrie, Krankenkassen, Medien, Sportver-eine)“ wäre ein Ansatz, genauso wie die „Berücksichtigung von gesundheitlichen Aspekten bei der Werbung“ und generell in Film und Fernsehen.332 Dies entspricht auch den Globalzielen der Prävention. „Gesundheitsförderung […] [und] aktive Beteiligung an der Verbesserung gesell-schaftlicher Rahmenbedingungen, die das Aufwachsen von Kindern prägen“ stehen dabei an oberster Stelle.333 Die „gesellschaftliche[n] Erwartungen an die Figur und an die Rolle als Frau oder Mann […] setzen vor allem Jugendliche unter Druck. Die Idealfrau soll möglichst schlank, liebevoll und gefühlvoll, der Idealmann muskulös, selbstbewusst und gleichzeitig verständnisvoll sein. Beide sollen gut für ihre Familie sorgen, aber gleichzeitig beruflich erfolgreich und finanziell unabhängig sein.“334 Dieser gesellschaftliche Druck erhöht sich deutlich. Wenn zudem Defizite an sozialem Netzwerk und damit einhergehende Unterstützung bestehen. Ein gestörtes Ess-verhalten bzw. ungesundes Diätverhalten wird dadurch nur noch gefördert.335 „Erste Schritte zu einer Veränderung sind auf Bundesebene mit der Initiative Leben hat Gewicht erfolgt. Diese Initiative, von den Bundesministerien für Gesundheit, für Familie sowie für Bildung und For-schung ins Leben gerufen, wird von vielen Institutionen und Prominenten unterstützt.“336 Die Initiative wurde 2007 gegründet und soll „jungen Menschen ein positives Körperbild […] vermit-teln und das Selbstwertgefühl […] stärken.“337 „Neben der Sensibilisierung der Öffentlichkeit und verschiedene Präventionsmaßnahmen setzt Leben hat Gewicht vor allem auf freiwillige Selbst-verpflichtungen. So hat die Initiative unter anderem gemeinsam mit der Mode- und Modelbran-che eine Charta erarbeitet.“338 „Ob die Suchtprävention Erfolg hat, hängt von der Gesellschafts- und Sozialpolitik insgesamt ab, die Bund, Ländern und Kommunen treiben. Ihre Politik kann Suchtprävention zur totalen

331 vgl. Faltermaier, T. nach Bamberg et al. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.84 332 vgl. Böhler, T./Dziuk, M. in Hurrelmann, K./Klotz, T./Haisch, J. 2010, S.167 333 Suckfüll, T./Stillger, B. in BZgA 1999, S.55 334 Cremer, M. in BZgA 2013, S.16 335 vgl. Reich, G. nach Stice/Whitenton, Grigg et al. und Field et al. in Klein, M. 2008, S.203 336 Cremer, M. in BZgA 2013, S.20 337 vgl. http://www.bzga-essstoerungen.de/index.php?id=247 338 http://www.bzga-essstoerungen.de/index.php?id=247

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Wirkungslosigkeit verdammen, aber sie kann auch dazu beitragen, die schon erkennbaren Er-folge der Prävention zu festigen.“339

4 Weitere Methoden zur Essstörungsprävention

Im Verlauf dieser Arbeit wurden verschiedene Methoden zur Essstörungsprävention genannt und beispielhaft erläutert. Es gilt noch einige zu ergänzen, die bisher nicht spezifisch erwähnt wurden. So ist beispielsweise „Selbstbestimmung“ ein großes Thema für Mädchen, da sie ihr „Umfeld oft als nicht von ihnen veränderbar“ wahrnehmen.340 Da sich weibliche Bewältigungs-strategien eher in einer Manipulation des eigenen Körpers zeigen und weniger nach außen ge-tragen werden341, „suchen sie auffallend häufig ein heimliches, zweites Leben. Daraus werden kleine und große Fluchten oder sogar ein Doppelleben. Auf diesem Weg geraten sie häufig in [Abhängigkeitserkrankungen]. In der Suchtprävention mit Mädchen wird daher versucht, das als Stil gelebte Selbstbewusstsein immer wieder auf die Ebene der Selbstbestimmung zurückzu-führen. Auf diese Weise kann reale Lebensgestaltung geübt werden, und das Vertrauen, ange-strebte Ziele auch verfolgen und erreichen zu können, wird gestärkt.“342 Es geht um die „Ent-wicklung von Autonomie und Selbstachtung“, dabei sind „mögliche Themen [der Mädchen]: Lö-sen destruktiver Abhängigkeitsbeziehungen; bewusste Entscheidung bei der Wahl des Part-ners/der Partnerin; Entwicklung/Entdeckung eigener Vorlieben/Interessen etc.; Übernahme von Eigenverantwortung; Wahrnehmung, Erlauben und Ausdruck von Gefühlen; Entwicklung eige-ner Zukunftsperspektiven; Strategien der Alltagsbewältigung; Erarbeitung einer eigenen Le-bensplanung; Entscheidungsfindung; Auseinandersetzung mit Kinderwunsch; Auseinanderset-zung mit der Rolle als Mutter [und] Umgang mit Kindern und mit den Erziehungsaufgaben.“ 343 Diese Anknüpfungspunkte sollten in Präventionsmaßnahmen von SozialarbeiterInnen aufge-griffen und in konstruktiven Angeboten umgesetzt werden. Es eignen sich „Frauen(thera-pie)gruppen als Übungsfeld zu Aneignung neuer Interaktions- und Verhaltensmuster; Ermögli-chung positiver Erfahrungen im Beratungs-/Therapiesetting; Schutzraum bieten/schaffen für das Erleben von Gefühlen; verschiedene Lebensentwürfe gemeinsam erarbeiten; Selbstbe-hauptungstraining; Selbstverteidigungstraining; Rhetorikschulung; Beratung zur Schuldenregu-lierung; Berufsberatung; Beratung in Erziehungsfragen.“344 Auch die „Verbesserung des Selbstwertgefühls und [der] Aufbau eines positiven Selbstbildes“ ist wichtig. Dazu bietet es sich an, dass die KlientInnen sich mit „eigenen Werten und Normen“ auseinandersetzen, sich „eigene Leistungen bewusst machen“, selbst „Feedback geben und

339 Suckfüll, T./Stillger, B. nach Hurrelmann, K. in BZgA 1999, S.38 340 vgl. Singerhoff, L. 2002, S.59 341 vgl. Haug-Schnabel, G./Schmid-Steinbrunner, B. 2000, S.17 342 Singerhoff, L. 2002, S.59 343 Singerhoff, L. 2002, S.230 344 Singerhoff, L. 2002, S.230

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erhalten“ und in ihrer Kreativität gefördert werden. Methoden wie „schreiben, malen, Musik ma-chen, fotografieren etc.“ sind dabei angebracht, aber auch „körperorientierte Arbeit“ wie „Tanz, Entspannung, Sport etc.“345 Einen Rahmen zu bieten, in dem verbale und nonverbale Abgren-zung geübt werden kann, ebenso wie „Neinsagen“, „Konfliktverhalten“ und „Bedürfnisäußerung“ kann von großem präventiven Nutzen sein. Auch „Selbstbehauptungs“- und „Verhandlungstrai-nings“ sind angebracht.346 „Die Zuwendung zum eigenen Körper“ ist weiterhin nicht außer Acht zu lassen. „Entwickelt sich aus dieser Zuwendung ein Gespür für den eigenen Körper, für seine Befindlichkeit, seine Im-pulse, seine Regungen und Empfindungen, so wird die Aufmerksamkeit und Wachsamkeit für eigene innere Prozesse verfeinert und gestärkt. Das Erleben und Wahrnehmen von Nuancen im eigenen Körper ist die Voraussetzung für einen nuancierten Umgang mit Hunger und Nah-rung. Mit anderen Worten: Es geht um die Steigerung der Körper-Empfindsamkeit, der Körper-wahrnehmung und des Bewusstseins hierfür.“347 Geschult werden kann dieses z.B. durch Kör-perwahrnehmungsübungen, auch Entspannungs- und Atemübungen sind dafür geeignet.348 Musik und Kunst als kreative Ausdrucksformen können nicht nur in der Therapie, sondern ebenso in der Präventionsarbeit Verwendung finden. Durch die Erfahrung, selbst etwas zu schaffen, kann das Selbstbewusstsein gesteigert werden. Musik z.B. in Form von Klangge-schichten kann wiederum entspannend und zentrierend wirken.349

5 Schluss

Ganz gleich, ob eine Essstörung in klassischer Form von Anorexie, Bulimie oder Binge-Eating-Störung in Verbindung mit Adipositas oder einer untypischen Form vorliegt – das Leben des Betroffenen dreht sich nur um das Thema Essen. Nicht nur die Lebensqualität, sondern vor allem die Gesundheit ist dadurch deutlich angegriffen und die Folgen sind schwerwiegend. Ess-störungen gelten als substanzunspezifische Suchterkrankungen. Die Ursachen dafür sind viel-fältig und bieten dementsprechend ein breites Spektrum, um mit Präventionsarbeit anzuknüp-fen. Einschneidende Lebensumbrüche ziehen immer eine Verunsicherung nach sich, allen vo-ran die Pubertät. Vor allem junge Frauen und Mädchen identifizieren sich stark über ihren Kör-per und ein schlankes Aussehen und haben dazu oft ein schwach ausgeprägtes Selbstwertge-fühl. Essstörungen sind ein gesellschaftliches Problem, da das heutige Schönheitsideal sehr prägnant ist und einen großen Druck ausübt, der von der Medien verbreitet wird. Auch Erfolg wird immer noch mit Schönheit und perfektem Aussehen assoziiert. Risikofaktoren in Bezug auf Essstörungserkrankungen gibt es viele, deshalb gilt es vor allem, die Schutzfaktoren zu stärken.

345 vgl. Singerhoff, L. 2002, S.232 346 vgl. Singerhoff, L. 2002, S.232/233 347 Tarr-Krüger, I. 1989, S.95 348 vgl. Tarr-Krüger, I. 1989, S.96-98 349 vgl. Tarr-Krüger, I. 1989, S.23ff.

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Prävention ist ein Handeln im Vorfeld. Es gilt an die Risikofaktoren anzuknüpfen, bevor sich eine Essstörung entwickelt. Primärprävention dient der direkten Krankheitsvorbeugung. Es wird zwi-schen personen- und strukturbezogener Prävention unterschieden. Der Lebenskompetenzan-satz ist derzeit am weitesten verbreitet und zudem am effektivsten für die Suchtprävention. Häu-fig wird er durch gesundheitsfördernde Maßnahmen ergänzt. Eine optimale Essstörungspräven-tionsmaßnahme ist zielgruppenorientiert, langfristig angelegt, wird interaktiv durchgeführt und ist nicht abschreckend sondern auf ganzer Linie gesundheitsfördernd. Ein gefestigtes Selbst-wertgefühl und ein positiver Zugang zum eigenen Körper sind wichtige Ziele, weiterhin die Er-weiterung von Bewältigungsstrategien in Bezug auf Stress und Alltagsprobleme. Sucht- und Essstörungsprävention ist ganz klar dem Aufgabengebiet sozialer Arbeit zuzuordnen. Dementsprechend lässt sich die anfangs gestellte Frage (Wie kann Soziale Arbeit präventiv der Verbreitung von Essstörungen entgegenwirken?) altersspezifisch beantworten. Bei kleineren Kindern steht keine spezifische Prävention im Vordergrund, sondern Erziehung im präventiven Sinne, die sowohl im Kindergarten als auch zu Hause praktiziert werden sollte. Dazu gehört neben der Sicherung der Grundbedürfnisse Aufbau von Vertrauen, Ich-Stärke, Interaktions- und Sozialkompetenz. Sich im eigenen Körper wohlfühlen ist genauso wichtig wie eine gesunde und ausgewogene Ernährung, denn das Essverhalten der ersten Lebensjahre ist sehr prägend für das weitere Leben. Familiäre Ressourcen sind in dem Alter von besonderer Bedeutung. Die beiden wichtigsten Methoden um Essstörungen bei jüngeren Kindern zu vermeiden sind Spielen und Bewegen. Insbesondere beim Spielen wird die kindliche Kreativität sowie Selbstständigkeit gefördert und das Selbstbewusstsein gestärkt – ein ideales Medium zum Lernen. Jugendliche in der (Prä-)Pubertät stehen häufig im Zentrum von Präventionsveranstaltungen. Durch die Menge an zu bewältigenden Entwicklungsaufgaben, gehört diese Zeit zu den schwie-rigsten Lebensabschnitten. Da sich gesundheitsbezogene Verhaltensweisen jetzt festigen, ist es sinnvoll hier präventiv anzuknüpfen. Identitätsfindung steht neben der spezifischen Aufklä-rung im Fokus der essstörungspräventiven Arbeit. Lebenskompetenzen sollen vermittelt und ausgebaut werden durch spezielle Übungen aber auch im Alltag. Insbesondere über schulische Suchtprävention sind Kinder und Jugendliche aller Altersgruppen über einen längeren Zeitraum zu erreichen, von daher ist dieses Setting prädestiniert dafür. Es gibt Programme, die speziell für Lehrpersonal gedacht sind, aber auch Projekte durch externe Experten sind möglich und sinnvoll. Spielerische Ansätze, die die Persönlichkeit der Kinder stärken sollen und langfristig angelegt sind, bringen nachhaltig mehr Erfolge als auf Abschreckung basierende Konzepte. Die Vorbildwirkung der PädagogInnen ist dabei nicht zu unterschätzen. Im Gegensatz zum Zwangs-kontext der Schule beruhen Angebote der offenen Jugendarbeit auf Freiwilligkeit, was einer Präventionsmaßnahme positiv zu Gute kommen kann. Es kann direkter auf die speziellen Be-dürfnisse der einzelnen Kinder und Jugendlichen eingegangen werden. Auch Angebote wie Er-lebnispädagogik und mehr- bzw. ganztägige Projekte sind im offenen Rahmen eher möglich. Erwachsene sind nicht so häufig von Essstörungen betroffen, wie Jugendliche, dementspre-chend ist der Präventionsbedarf an dieser Stelle weniger ausgeprägt. Betriebliche Suchtpräven-tion speziell für Essstörungen gibt es nicht, dennoch können einige Grundsätze der Prävention

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von Alkoholkonsum übernommen werden. Soziale Strukturen unter anderem eine betriebliche Sozialarbeit können schon allein durch ihre Fürsorgefunktion präventiv wirken. Gute Interakti-ons-, Informations- und Kooperationsstrukturen im Betrieb sind weiterhin protektiv. Erwachsene erreicht man mit essstörungspräventiven Maßnahmen jedoch eher im Sinne von Elternarbeit. Denn sie haben eine wichtige Rolle im Leben ihres Kindes, die sie sehr ernst nehmen. Eine auf Lebenskompetenz- und Gesundheitsförderung ausgerichtete Erziehung macht die Familie zur wichtigen Präventionsinstanz im Leben eines Kindes. In Eltern- und Familienbildungsstätten können Eltern Informationen, Angebote und Hilfe erhalten um diese Aufgabe zu optimieren. Vor allem Präventionsmaßnahmen, die alle Familienmitglieder einschließen, sind hier zu empfehlen und von SozialarbeiterInnen auszubauen. Auf sozialräumlicher und gesellschaftlicher Ebene essstörungsspezifische Suchtpräventions-maßnahmen zu schaffen, ist nicht einfach. Hier sind personenbezogene Ansätze zweitrangig und die strukturbezogenen Maßnahmen im Fokus. So geht es darum, eine gesundheitsförderli-che Umgebung zu schaffen, die sinngebend und kompetenzfördernd in ihrer Infrastruktur ist. Die Verknüpfung von pädagogischer Freizeitgestaltung mit verschiedenen Institutionen ist ef-fektiv, um ein stabiles Netzwerk zur Gesundheitsförderung zu schaffen. Gesellschaftliche Rah-menbedingungen, die das Aufwachsen von Kindern prägen auch in Bezug auf Inhalte, die in den Medien vermittelt werden, sollten angepasst und verbessert werden um eine ganzheitliche und nachhaltige Essstörungsprävention zu erreichen. Es ist abschließend anzumerken, dass eine Förderung der Lebenskompetenzen nicht nur in Bezug auf Essstörungsvorbeugung sinnvoll ist, sondern für alle Erscheinungsformen der Sucht gilt. Nur über die Erkrankungen aufzuklären und sich auf Abschreckungsmethoden zu berufen, ist zu kritisieren. Dabei besteht weiterhin die Gefahr, dass statt dem eigentlichen Ziel das Ge-genteil erreicht und zur Nachahmung animiert wird. Verhältnisprävention in die Maßnahme mit einzubeziehen ist weiterhin außerordentlich wichtig und sollte nicht außer Acht gelassen wer-den. Essstörungsprävention ist ein wichtiges und noch ausbaufähiges Arbeitsfeld für Sozialarbeite-rInnen.

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Eidesstattliche Erklärung

Ich versichere, die Bachelorarbeit selbstständig und lediglich unter Benutzung der angegebe-

nen Quellen verfasst zu haben. Alle wörtlich oder sinngemäß übernommenen Textstellen sind

dementsprechend eindeutig gekennzeichnet.

Ich erkläre weiterhin, dass die vorliegende Arbeit noch nicht im Rahmen eines anderen Prü-

fungsverfahrens eingereicht wurde.

Neubrandenburg, den 25.06.2015