Psychopathologie. Vom Symptom zur Diagnose - beck … · 6.1 Aufmerksamkeits- und...

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Springer-Lehrbuch Psychopathologie. Vom Symptom zur Diagnose Bearbeitet von Theo R. Payk überarbeitet 2010. Taschenbuch. xii, 378 S. Paperback ISBN 978 3 642 12394 8 Format (B x L): 12,7 x 19 cm Weitere Fachgebiete > Psychologie > Psychotherapie / Klinische Psychologie > Psychopathologie Zu Inhaltsverzeichnis schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

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Springer-Lehrbuch

Psychopathologie. Vom Symptom zur Diagnose

Bearbeitet vonTheo R. Payk

überarbeitet 2010. Taschenbuch. xii, 378 S. PaperbackISBN 978 3 642 12394 8

Format (B x L): 12,7 x 19 cm

Weitere Fachgebiete > Psychologie > Psychotherapie / Klinische Psychologie >Psychopathologie

Zu Inhaltsverzeichnis

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

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Pathologie der Aufmerksamkeitund des Gedächtnisses

6.1 Aufmerksamkeits-

und Konzentrationsstörungen – 232

6.2 Amnesie und Dysmnesie

(amnestisches Syndrom) – 235

6.3 Erinnerungsverfälschung (Paramnesie) – 243

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6.1 Aufmerksamkeits-und Konzentrationsstörungen

Aufmerksamkeit (althochdeutsch: merchen = kenntlich machen) bedeutetdie Fähigkeit zur gezielten Ausrichtung des Wachbewusstseins (Vigi-lanz), Wahrnehmens, Vorstellens und Verstehens unter besonderer Ak-tivierung von Vigilität, Motivation, Intention und Volition auf bestimm-te Objekte oder Situationen (Orientierungsreaktion). Sie ermöglichtgleichsam eine qualitative und quantitative Verdichtung des kognitivenLeistungsvermögens. Die Einstellung der inneren und äußeren Wahr-nehmung auf subjektiv wichtige Vorgänge mit Anreizcharakter bedingtzudem einen erhöhten Einsatz engrammierter Gedächtnisinhalte; ande-rerseits werden Lernvorgänge durch Mobilisierung engrammierenderLeistungen erhöht (� auch Kap. 4). Die hierzu notwendige Wachheit wirddurch das Aktivitätsniveau der Formatio reticularis bzw. die Neuro-transmitter Noradrenalin, Dopamin und Serotonin gesteuert (� auch

Abschn. 3.1).Die Aufmerksamkeitsaktivierung »alertness« wird wesentlich be-

stimmt durch den bereits genannten Einfluss der Wachheit. Hierbei be-zieht sich die tonische Alertness auf das basale Arousal-Niveau, die pha-sische auf die Anpassungsfähigkeit der Aufmerksamkeit in Erwartungeines Reizes (Orientierungsreaktion).

Bewusst geleitete Aufmerksamkeit im Sinne einer gelenkten Fokus-sierung, die neue interessante Erlebnisinhalte und Erfahrungen erfasst,verbindet und verarbeitet, heißt Apperzerption (lateinisch: percipere =wahrnehmen, begreifen). Hierdurch werden besonders informative Be-wusstseinsinhalte – unter Einsatz einer gesteigerten, fixierenden Auf-merksamkeitsfunktion – in den bisherigen Wissensstand integriertund eingegliedert. Diese selektive aktive Aufmerksamkeit setzt unbeein-trächtigte und kontinuierliche Klarheit des bewussten Erlebens voraus,auch bei wiederholten oder einander abwechselnden Reizen. Der visuel-le Aufmerksamkeitsumfang umfasst etwa 8 simultane Eindrücke. Dem-gegenüber beinhaltet eine geteilte Aufmerksamkeit die Fähigkeit, zweioder mehr Informationen gleichzeitig wahrzunehmen und zu verarbei-ten.

232 Kapitel 6 · Pathologie der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses

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Mit erhöhter Aufmerksamkeitskontrolle, die etwa 20 min lang bei-behalten werden kann, geht meist gleichzeitig eine Einengung des Be-wusstseinsfeldes – unter Ausschaltung anderer Apperzeptionen – aufdie ausgewählte Situation einher. Die damit verbundene geistige Ange-spanntheit zeigt sich auch äußerlich im Tonus der Muskulatur, der biszur Verkrampftheit erhöht sein kann, und in einer sympathikotonen ve-getativen Reaktionslage. Die passive Aufmerksamkeit wird beeinflusstdurch das Gebannt- und Gelenktwerden von interessanten Ereignissenbis hin zur Faszination und Entrückung (� auch Abschn. 3.1).

Zur besonderen Fokussierung der Aufmerksamkeit auf innere oderäußere Vorgänge unter gleichzeitiger Ausblendung umgebender Reize istKonzentrationsvermögen (lateinisch: con = mit, griechisch: kentron =Mitte) notwendig. Diese selektive Ausrichtung der Aufmerksamkeitauf einen eng umgrenzten, ausgewählten Sachverhalt erlaubt dessen dif-ferenziertere Einstufung in Bezug auf Bedeutung, Wichtigkeit und evtl.Gefährlichkeit. Lenkung der Aufmerksamkeit und Konzentration auf ei-nen subjektiv bedeutsamen Gegenstand entspringen einem Such-verhalten, das aus Gestimmtheit, Bedürfnis und Motivation gespeistwird; es entspricht dem Appetenzverhalten nach auslösenden Reizsitua-tionen bei Tieren. Als beim Menschen komplexerer Vorgang beginnt diewillentliche Aufmerksamkeitslenkung als exekutive, präfrontal gesteuer-te Funktion bereits in der Sinnesperipherie und wird zentral gefiltert,bewertet und weiterverarbeitet (� auch Abschn. 3.1).

Im Sprachgebrauch der Psychoanalyse wird unter »gleichschwebender Auf-merksamkeit« eine Haltung des Therapeuten verstanden, die sich unselektiertund ohne Kommentar auf alle Äußerungen des frei assoziierenden Patientenrichtet. Sie ähnelt der Achtsamkeit, einer Lenkung der Aufmerksamkeit auf eige-ne, jeweils gegenwärtige Körperempfindungen.

Herabgesetzte Aufmerksamkeit und Mängel an Konzentrationsvermö-gen machen sich als dysexekutive Symptome allgemein in Zerstreutheit,vermehrter Ablenkbarkeit, verminderter Ausdauer und kognitivemGleiten bemerkbar; die Betreffenden sind nicht fähig, sich kontinuier-lich über längere Zeit mit einer Sache zu beschäftigen. Sie wirken geis-tesabwesend, teilnahmslos oder gar zerfahren. Beim sog. Aufmerksam-keitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) liegen im Erwachsenen-alter zusätzlich häufig affektive und Verhaltensstörungen vor (z. B. Reiz-

6.1 · Aufmerksamkeits- u. Konzentrationsstörungen6233

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offenheit und Ablenkbarkeit, Ungeduld, Impulsivität, Insuffizienzgefühltrotz Ideenreichtum und Kreativität, Stimmungsschwankungen und in-nere Unruhe (� auch Abschn. 4.4). Beurteilungskriterien für ADHS imKindesalter zeigt � Abb. 6.1.

Zu einer Einengung des Aufmerksamkeitsumfangs kommt es beibesonderer Fixation auf intensive Erlebnisse oder starke Gemütsbewe-gungen sowie aufgrund mangelnder mentaler Flexibilität. Schwankun-gen von Konzentration und Aufmerksamkeit äußern sich als Fluktuatio-nen der Interessen zwischen gesammelter Zuwendung und gedanken-loser Oberflächlichkeit mit Sprunghaftigkeit. Bei intakter kognitiverLeistungsfähigkeit kann allerdings durchaus adäquat auf spezifischeReizgegebenheiten ohne wesentlichen Verlust an Informationen reagiertwerden (� auch Lehrbücher der Neuropsychologie).

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� Abb. 6.1. Beurteilungsbogen bei ADHS-Verdacht. (Nach M.-A. Edel u. W. Vollmoeller2006)

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Untersuchungen | | |

Diagnostisches Gespräch, Psychostatus, Verhaltensbeobachtung, neuro-

psychologische und somatische Diagnostik (� Kap. 2).

Vorkommen | | |

� unter Ermüdung bzw. Stress

� beim Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS)

� bei Intelligenzminderung

� unter psychotropen Medikamenten, Drogen oder Alkohol

� bei seelischer Belastung bzw. Anpassungsstörung

� bei psychotischer Störung, insbesondere solcher mit Sinnestäu-

schungen, Wahn und formalen Denkstörungen

� als Merkmal einer Demenz

� als Neglect nach Hirnschädigung (� auch Abschn. 8.11)

Zusammenfassung

Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen äußern sich als Min-

derung der Fähigkeit zur intensiveren und kontinuierlichen Ausrich-

tung von Bewusstsein, Wahrnehmung, Denkvorgängen und Erinne-

rung auf einen (bedeutsamen) umschriebenen Erlebnisinhalt oder eine

(subjektiv wichtige) bestimmte Situation.

6.2 Amnesie und Dysmnesie(amnestisches Syndrom)

Lernen, Gedächtnis und Erinnerung entsprechen einer Aufnahme, Spei-cherung und Abgabe von Informationen. Ohne die dadurch ermöglich-ten Leistungen des Einübens und Trainierens, Wiedererkennens undVergleichens wäre eine Orientierung mit lebensnotwendiger Anpassungan die Umwelt nicht möglich. Eine besondere Rolle spielen dabei dieEinstellung in Bezug auf das zu Behaltende, die emotionale Tönungdes Einzuprägenden sowie dessen Gestalt und Organisation. Motivatio-

6.2 · Amnesie und Dysmnesie6235

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nale und/oder emotionale Faktoren können die Informationsaufnahmeund -speicherung beeinflussen; so können beispielsweise die Gedächt-nisleistungen durch begleitende Angst-, Unlust- oder Schmerzerlebnissegehemmt oder umgekehrt durch Interessiertheit und Neugierde verbes-sert werden. Nicht vollendete Aufgaben werden offenbar besser behaltenals abgeschlossene (Zeigarnik-Effekt); beim Erinnern von Aufgaben un-ter Stress soll es sich umgekehrt verhalten.

Die wahrgenommenen Reize und Reizkonfigurationen hinterlassenoffenbar unterschiedlich stabile strukturelle Änderungen auf bioelektri-scher und/oder biochemischer Grundlage im Gehirn. Diese hypotheti-schen Engramme (griechisch: grammá = Buchstabe, Geschriebenes) bil-den die Grundlage für eine Reproduktion des Erinnerungsbildes zu ei-nem späteren Zeitpunkt in Form von Wiedererkennung und Erinnern.Sie sind wahrscheinlich netzartig über verschiedene Hirnareale verteilt.

Platon und Aristoteles verglichen das Gedächtnis mit einer Wachstafel, in dieWahrnehmungen oder Gedanken wie mit einem Siegelring eingedrückt würden.Letzterer maß die Präzision der Erinnerung an der Qualität des Bildes, das dieWahrnehmung hinterlässt. Augustinus sah im Gedächtnis ein »Heiligtum unvor-stellbarer Größe und Weite«, voll unerschöpflichen Reichtums. Die Notwendig-keit des Gedächtnisses zur Herstellung der persönlichen Identität wurde beson-ders – im Rückgriff auf seinen empiristischen Vorläufer J. Locke (1632–1704) –vom englischen Philosophen D. Hume (1711–1776) betont.

1879 begründete H. Ebbinghaus (1850–1909) in Halle mit Hilfe von Selbstver-suchen die experimentelle Gedächtnisforschung. Zu Beginn des 20. Jahrhun-derts veröffentlichte D. E. Müller (1850–1934) in Göttingen die 3-teilige Analyseder Gedächtnistätigkeit. Das Modell der Gedächtnisspuren (Engramme) wurdevon den Amerikanern R. W. Semon (1859–1918) und K. S. Lashley (1890–1978)vorgeschlagen und später von dem kanadischen Psychologen D. O. Hebb(1904–1985) als Effekt funktionell-organisierter Neuronencluster erklärt. Die Ge-dächtnisleistungen werden schwerpunktmäßig in verschiedenen Hirnanteilenorganisiert. Während das Arbeitsgedächtnis hauptsächlich im präfrontalen Kor-tex lokalisiert ist, beruhen die Leistungen des Langzeitgedächtnisses offenbarauf Aktivitäten unterschiedlicher Hirnareale (deklaratives (explizites) Gedächt-nis: Hippokampus, präfrontaler Kortex und Schläfenlappen; prozedurales (im-plizites) Gedächtnis: Basalganglien und Kleinhirn). Auswahl für die Langzeit-speicherung und emotionale Bewertung von Gedächtnisinhalten sind geknüpftan die Filterfunktionen des Hippokampus und der Amygdala hinsichtlich be-wusster und unterschwelliger Wahrnehmung.

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Gestaltete Inhalte und affektive Eindringlichkeit des Erlebens begünsti-gen – wie oben angedeutet – das Behalten. Während »schöpferischerPausen« (z. B. im Schlaf) werden die aufgenommenen Reize geordnetund mit benachbarten Engrammen verknüpft. Zu beobachten ist ferner,dass sich die Unlusttönung ehemals unangenehmer Erinnerungen imLaufe der Zeit zwar abschwächt (»Erinnerungsoptimismus«), jedochals implizites (unbewusstes) Wissen verbleibt.

Das Gedächtnismodell einer dynamischen Internalisierung (latei-nisch: internus = inwendig) und Engrammierung (griechisch: gráphein= einritzen) impliziert die zeitliche Abfolge einer Registrierung und Ein-speicherung von Informationen zunächst über ein sensorisches Registermit einer Speicherkapazität von wenigen 100 ms. Die enkodierten Datenwerden im Arbeitsgedächtnis (Kapazität: 3–5 Chunks) zur Überführungin das Langzeitgedächtnis aufbereitet. Dieses Depot dient dem Lernenbzw. Behalten, dem Erinnern und Vergessen. Art und Umfang der En-grammierung richten sich nach den jeweiligen Aufgaben und Inhalten.So werden im deklarativen Gedächtnis sowohl erworbenes Wissen(semantisches Gedächtnis) als auch biographische Ereignisse (episodi-sches Gedächtnis) aufbewahrt. Das prozedurale Gedächtnis beinhaltetautomatisierte sensorische und motorische Fertigkeiten (z. B. Radfah-ren, Treppensteigen). Prozedurale Gedächtnisinhalte werden durch im-pliziertes, semantische durch explizites Lernen erworben. Durch Pri-ming (Bahnung) wird Erlerntes abgeglichen strukturiert (� Abb. 6.2).

Die Vorstellung einer sequentiellen Speicherung von Sinneseindrücken wurdebereits 1890 von W. James (1842–1910) vertreten (primäres und sekundäresGedächtnis). 1968 propagierten die US-Psychologen R. C. Atkinson und R. M.Shiffrin das Mehrspeichermodell mit einem – dem Kurzzeit- und Langzeit-speicher vorgeschalteten – Ultrakurzzeitspeicher (sensorisches Gedächtnis).A. D. Baddeley und G. H. Hitch sehen im Kurzzeitspeicher ein modulares Ar-beitsgedächtnis. Gegenüber der – vermutlich neuronal rhythmisierten – instabi-len Aktivitätsspur des Arbeitsgedächtnisses vollzieht sich die Speicherung imLangzeitgedächtnis über dauerhaftere strukturelle Veränderungen (Konsolidie-rung). Dabei spielt offenbar als chemische Trägersubstanz die Ribonukleinsäure(RNS) eine Rolle. Die Konsolidierung wird durch wiederholte Benutzung inForm von Üben und Trainieren gefördert bzw. durch Vernachlässigung abge-schwächt. Die Beteiligung subkortikaler Strukturen in Form limbischer Schalt-kreise sichert die Einbeziehung emotionaler bzw. kognitiver Bewertungen.

6.2 · Amnesie und Dysmnesie6237

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Die komplexe Fähigkeit des Gedächtnisses (althochdeutsch: kitheht-nissi = Denken an etwas), Empfindungen, Denkinhalte, Erfahrungenund Handlungsentwürfe aufzunehmen, über längere Zeit zu bewahrenund – quasi auf Anforderung – wieder zu vergegenwärtigen, stellt denwohl wichtigsten Faktor der kognitiven Gesamtleistungen dar. Als mitallen psychischen Funktionen verbundene lebensnotwendige Grundei-genschaft des Erinnerns (althochdeutsch: innaro = inwendig) sichertsie – außer der Kontinuität des Ich-Bewusstseins – die Organisation al-ler geplanten Aktivitäten und deren impliziten Begleitprozesse.

Die übungs- und bildungsabhängigen Gedächtnisleistungen, wozuu. a. allgemeines Wissen, Sprache, soziale Erfahrungen und Gewohnhei-ten gehören, entsprechen einem kristallisierten Funktionsbereich, dernur wenig einem Altersabbau unterliegt. Hingegen findet bereits abdem 30. Lebensjahr eine Abnahme der flüssigen kognitiven Leistungenstatt, die – überwiegend genetisch und konstitutionell bedingt – Infor-mationsverarbeitung, Umstellvermögen und Reaktionstempo umfassen(� auch Kap. 7).

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� Abb. 6.2. Mehrspeicher-Gedächtnismodell. (Nach Edelmann 1996, mit freundlicherGenehmigung vom Beltz-Verlag)

Register

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Ungeklärt ist u. a., auf welche Weise die im Gehirn räumlich-topographischorganisierten Engrammierungen beim Vorgang des Erinnerns die sequentielleErlebnisqualität einer zeitlichen Abfolge von Geschehnissen vermitteln können,d. h. das Gefühl, dass ein Vorgang früher oder später als ein anderer stattge-funden hat – unabhängig von der Eindringlichkeit und Genauigkeit des Erin-nerten.

Die quantitative und qualitative Leistungsfähigkeit des Gedächtnisseshängt ab von der Attraktivität und Gestalthaftigkeit des dargebotenenInformationsmaterials, von der Speicherkapazität des Gehirns, vonMerkstrategien und Motivationsfaktoren, Aufmerksamkeit, Konzentra-tionsvermögen, Einstellung während der Informationsaufnahme, darü-ber hinaus von der körperlich-seelischen Gesamtverfassung überhaupt.Erlebnisse und Vorstellungen werden weitaus besser reproduziert alsEmpfindungen und Gefühlstönungen.

Mit der Zahl der Wiederholungen beim Lernen wächst die struktu-relle Verfestigung der memorierten Informationen; einfachere körper-liche Bewegungsabläufe oder Wahrnehmungsakte werden z. B. auf dieseWeise automatisiert. Davon abgesehen gibt es individuell unterschied-liche Gedächtnisbegabungen (z. B. mit visuellen, auditiven, taktilen,psychomotorischen oder kinästhetischen Schwerpunkten) (Einzelheiten� Lehrbücher der Neuropsychologie).

Das störanfälligste Glied der Gedächtniskette stellt das Erinnerungs-vermögen dar. Es dient als Indikator und Messinstrument für die Qua-lität und Quantität des Wiedererkennens und Reproduzierens. Verges-sen bedeutet global einen Zerfall von Gedächtnisspuren (Extinktion).Das Erinnern folgt einer zuerst stark, dann langsam abfallenden Kurve,das Vergessen umgekehrt einer entsprechend ansteigenden.

Störungen des Gedächtnisses zeigen sich – je nach Art und Ort derSchädigung – in einer globalen oder partiellen Beeinträchtigung derAufnahme (Merken), Speicherung (Behalten) und/oder Wiedergabe(Ekphorieren) von Informationen. Entsprechende Defizite können sichäußern als:� Lücken bezüglich der unbewussten Speicherung von Reizen in Se-

kundenbruchteilen (bei Störungen des sensorischen Registers)� beeinträchtigte Fähigkeit, sich neue Eindrücke über wenige Minuten

einzuprägen (Störungen der Merkfähigkeit bzw. des Arbeitsgedächt-nisses)

6.2 · Amnesie und Dysmnesie6239

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� Herabsetzung des Vermögens, länger rückliegende Eindrücke zu re-produzieren (Störungen des Langzeitgedächtnisses)

Mängel oder Fehler bezüglich der Gedächtnisleistungen führen zu mehroder weniger deutlichen Beeinträchtigungen in Form von Desorientiert-heit und Verwirrtheit, bei stärkerer Ausprägung einhergehend mit Un-ruhe, Ängstlichkeit, Hilflosigkeit und/oder Aggressivität (� auch Abschn.

3.2 und 3.5).

Untersuchungen | | |

Diagnostisches Gespräch, Psychostatus, psychologische Leistungstests,

neuropsychologische Untersuchung, Fremdanamnese (� auch Kap. 2),

somatische Diagnostik.

Für den Bereich der klinischen Psychopathologie sind formal folgendeStörungen des deklarativen (expliziten) Gedächtnisses zu unterscheiden:

Gedächtnislücke (Amnesie)Es liegt ein zeitlich begrenzter (partieller oder globaler) Gedächtnisaus-fall vor (griechisch: mnesis = Gedächtnis). In der Assoziationskette desErinnerns fehlen einzelne Glieder; bis zum Anfang der Lücke und imAnschluss daran ist das Erinnerungsbild weitgehend komplett (einfacheoder transitorische amnestische Episode). Die Organisation der en-grammierten Gedächtnisspuren ist gestört; die neurophysiologischenGedächtnisspuren (Engramme) sind offensichtlich deformiert, frag-mentiert oder gar gelöscht. Gedächtnisdefizite für die Zeit vor der ver-ursachenden Schädigung werden retrograde, solche danach antero-grade Amnesien genannt.

Vorkommen | | |

� im Anschluss an eine qualitative Bewusstseinsstörung (� Kap. 3)

� nach Hirnschädigung (z. B. im Rahmen von Kopfverletzungen)

� episodisch bei Hirndurchblutungsstörungen

� unter starkem (emotionalen) Stress

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Zu Erinnerungsblockaden (»Aussetzer«) kann es unter starker affekti-ver Erregung (z. B. Prüfungsangst) kommen, in ausgeprägterer Form in-folge einer posttraumatischen Belastungsstörung mit Dissoziation bzw.»Verdrängung« (Blackout). Offenbar wirkt sich der Einfluss von Stress-hormonen (z. B. Kortisol) auf Amygdala und Hippokampus als neuraleModulatoren des deklarativen Gedächtnisses funktionsstörend aus, daihnen wesentliche Bedeutung bei der Verknüpfung von Gedächtnis-inhalten mit Gefühlstönungen zukommt. Eine vorgetäuschte Gedächt-nisschwäche mit plump-demonstrativen Fehlleistungen wird zuweilenim Rahmen einer Zweckreaktion (z. B. bei Rentenbegehren oder zurVorspiegelung einer verminderten strafrechtlichen Verantwortlichkeit)beobachtet (Ganser-Syndrom) (� auch Abschn. 8.3).

Sog. Wortfindungsstörungen bezeichnen das Unvermögen, für eine bestimmteVorstellung oder einen Gedanken das treffende oder überhaupt ein Wort zu fin-den (und auszusprechen). Es handelt sich dabei um ein Symptom der kortikalenmotorischen Aphasie (Lautstummheit), bei der Spontan- und Nachsprechennicht möglich sind (»Broca-Aphasie«), oder um ein solches der transkortikalenmotorischen und sensorischen Aphasie (Begriffstaubheit), bei der lediglich dieSpontansprache ausfällt (� auch Abschn. 8.10 und 8.11).

Gedächtnisschwund (Hypomnesie) – Amnestisches SyndromIm Gegensatz zur umschriebenen Gedächtnislücke gleicht ein globalerallgemeiner Gedächtnisschwund (Gedächtnisschwäche) eher einem all-mählichen Abschmelzen der Erinnerungsleistung, meist beginnend miteinem Nachlassen der Merkfähigkeit und der Neugedächtniskapazität,während frühere Lebensereignisse zunächst noch problemlos repro-duziert werden. Die Vergesslichkeit führt – vor allem während der An-fangsphase – zu erheblicher Verunsicherung, Angst und Niedergeschla-genheit. Werden die Gedächtnislücken zusätzlich durch Pseudoerinne-rungen konfabulatorisch (lateinisch: confabulari = schwatzen, plaudern),d. h. mit sinnlos-phantastischen, erfundenen Bemerkungen aufgefüllt,spricht man vom Korsakow-Syndrom (� auch Abschn. 7.10).

S. S. Korsakow (1854–1900) war Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie inMoskau. Das nach ihm benannte amnestische Syndrom bei chronischem Alko-holismus beschrieb er im Jahr 1887.

6.2 · Amnesie und Dysmnesie6241

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Vorkommen | | |

� als (meist progrientes) amnestisches Syndrom bei Hirnabbaupro-

zessen bzw. Demenz (z. B. alkoholischer oder Alzheimer-Demenz;

� auch Abschn. 7.10)

Steigerung der Erinnerungsfähigkeit (Hypermnesie)Eine Hypermnesie mit (oft vermeintlich) überdurchschnittlichen Ge-dächtnisleistungen zeichnet sich durch einen rascheren Zugriff auf zahl-reiche engrammierte Details und viele Einzeldaten (»Kalendergedächt-nis«) aus. Eine Korrelation zur Intelligenz besteht offenbar nicht; es gibtz. B. minderbegabte oder autistische Rechenakrobaten (»Zahlenkünst-ler«). Förderlich sind sicherlich ein eidetisches (griechisch: eidos = Bild)Gedächtnis mit der besonderen Fähigkeit zu einer überdurchschnitt-lichen visuellen Engrammierung und zur Strukturierung der Informa-tionen nach einfachen Analogschemata; die Gedächtnisinhalte könneninnerlich quasi »abgelesen« werden.

Davon abgesehen können sich – gegen den Willen der Betroffenen –lästige oder gar quälende Erinnerungsbilder zwanghaft repetitiv aufdrän-gen, vergleichbar dem Gedankenkreisen Depressiver (� auch Abschn. 7.1).

Vorkommen | | |

� in Verbindung mit besonderer Vigilanz und geschärfter Aufmerk-

samkeit (� Abschn. 6.1)

� in Hypnose und Traum, bei Meditation

� nach Koffeinkonsum bzw. Stimulanzieneinnahme

� bei der Asperger- bzw. Savant-Variante des Autismus (� Abschn. 8.1)

� bei Zwangsstörung (� auch Abschn. 7.4)

Zusammenfassung

Gedächtnisstörungen können sowohl die Aufnahme und Speicherung

als auch die Wiedergabe von Informationen betreffen. Sie äußern sich

entweder als umschriebene Gedächtnislücken oder als generalisierter

Gedächtnisschwund (amnestisches Syndrom) im Sinne einer Demenz.

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6.3 Erinnerungsverfälschung (Paramnesie)

Erinnerungsverfälschungen und -täuschungen zeigen sich – wie bei-spielsweise widersprüchliche Zeugenaussagen belegen – in Veränderun-gen der Gedächtnisinhalte bei der Reproduktion (Trugerinnerungen). Siesind in Form von unbewussten Ergänzungen oder Vereinfachungen auf-grund einer Tendenz zu Strukturiertheit und Prägnanz von Wahrgenom-menem alltäglich. Davon abgesehen gibt es Erlebnisse des Déjà-vu(französisch: schon gesehen), Déjà-vecu (französisch: schon erlebt), Déjà-entendu (französisch: schon gehört), Déjà-pensé (französisch: schon ge-dacht) und Déjà-éprouvé (französisch: schon erfahren). Ihnen allen ge-meinsam ist das Erlebnis einer falschen Bekanntheitsqualität, d.h., dieWahrnehmung einer Situation oder Handlung ist mit der Überzeugungverbunden, sie schon einmal erlebt bzw. gesehen oder gehört zu haben.Diese Scheinbekanntheit kann sich auf einen Gegenstand, einen Ort odereine Situation beziehen, aber auch auf die eigene Person als Illusion einesPhantomspiegelbildes (Héautoskopie; � auch Abschn. 3.4).

Im Fall einer Ekmnesie besteht das Gefühl, in der Vergangenheit zuleben. Die Betreffenden empfinden verflossene Zeitabschnitte, als ob siegegenwärtig seien. Jamais-vu-Erlebnisse vermitteln hingegen das Ge-fühl von Unbekanntheit und Fremdheit einer normalerweise vertrautenUmgebung (� auch Abschn. 3.5).

Gedächtnistäuschungen (Allomnesien) sind auch durch Implan-tation bzw. Überinterpretation »verdrängter« Traumaerlebnisse (z. B.sexueller Missbrauch, Gewalterfahrung) seitens überengagierter oderschlecht supervidierter »Therapeuten« möglich. Diese konstruierten»Pseudoerinnerungen« können psychotherapeutische Prozesse in Formvon Selbstvorwürfen und konfliktreichen Auseinandersetzungen mit derUmwelt begleiten, wobei ihnen eine entlastende Funktion durch ein ein-faches Erklärungsmodell der betreffenden Störung zukommt. Darüberhinaus sind Zuwendung und Mitleid zu erwarten, was möglicherweiseergänzenden, fantasievollen Pseudologien (Schwindeleien) Vorschubleisten mag (� auch Abschn. 7.5).

6.3 · Erinnerungsverfälschung (Paramnesie)6243

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Der Terminus »Déjà vu« wurde von dem französischen Philosophen E. Boirac(1851–1917) erstmals 1876 verwendet; der amerikanische Psychiater M. F. Osborn(1857–1935) nannte die Trugerinnerungen 1884 »illusions of memory«.

Vorkommen | | |

� im Erschöpfungszustand

� bei beginnender Psychose

� während der epileptischen Aura

� bei traumähnlichen Erlebnissen, in Trance oder in Hypnose

� als suggerierte Rekonstruktion

� unter Rauschdrogen

� im Delir

Zusammenfassung

Erinnerungsverfälschungen (Trugerinnerungen) rufen das Gefühl einer

falschen Bekanntheit hervor (Déjà-Erlebnisse), umgekehrt Jamais-Er-

lebnisse einen Eindruck von Unvertrautheit. Im übrigen sind Erinne-

rungen – entgegen subjektiver Gewissheit – suggestiv beeinflussbar

bzw. manipulierbar.

244 Kapitel 6 · Pathologie der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses

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