Quelleneditionen undkein Ende? - MGH-Bibliothek4 Rudolf Schieffer halten, doch vorrangig war für...

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Lothar Gall Rudolf Schieffer (Hrsg.) Quelleneditionen und kein Ende? Symposium der Monumenta Germaniae Historica und der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften München, 22./23. Mai 1998 R. Oldenbourg Verlag München 1999

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Lothar GallRudolf Schieffer

(Hrsg.)

Quelleneditionenund kein Ende?

Symposiumder Monumenta Germaniae Historica

und derHistorischen Kommission

bei der Bayerischen Akademieder Wissenschaften

München, 22./23. Mai 1998

R. Oldenbourg Verlag München 1999

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Die Erschließung des Mittelalters am Beispiel derMonumenta Germaniae Historica

Von

Rudolf Schieffer

Ob es aus dem Mittelalter viele Quellen gibt oder im Grunde nur wenige, istnatürlich eine Frage des Blickwinkels. Neuhistoriker neigen angesichts der~aterialmengen, die sie hin- und herzubewegen gewohnt sind, häufig zueinem geringschätzigen Urteil, und sie werden darin von den Mediävisten be-stärkt, zu deren beliebtesten Topoi am Beginn von Vorträgen und Büchern dieB.ete~erung gehört, die vorgefundene karge Quellenlage biete eigentlich keinehl~rel~hende Basis zur Ergründung des jeweiligen Problems. Auf der anderenSeite tst es bis heute nicht gelungen, die Quellenüberlieferung des deutschenoder gar des europäischen Mittelalters auch nur in einer einigermaßen voll-ständigen Übersicht zu erfassen. die erst eine nähere quantitative Vorstellungvon dem gäbe, was sich zur Erforschung der Großepoche an Schriftzeugnissenalles anbietet.') Dieses Defizit ist leicht zu verstehen, wenn man sich vorAugen führt, daß allein die bayerische Zisterzienserabtei Raitenhaslach biszum Ende des Mittelalters einen Bestand von gut 1000 überlieferten UrkundenaUfweist, daß die Haupt-Urkundenreihe des Kölner Stadtarchivs 15000 Origi-nale vor dem Stichjahr 1500 zu bieten hat und daß die 4135 aus dem Spätmit-telalte üb k . .r u er ommenen Bände der Suppliken-, Lateran- und Vatlkanreglsterdes päpstlichen Archivs in Rom einen Inhalt von schätzungsweise 1,8 Millio-n~n Urkundeneinträgen in sich schließen.2) Respektable GrößenordnungenSInd a h i ., .B' uc 10 anderen Sparten anzutreffen, vor allem bei der Uberheferung vonnefen, die seit dem t2.Jahrhundert rapide anschwillt, aber auch etwa bei der

I) Intemaflon I be be" .' H' . M di A . ' m abA a ar rtet wird das Repertonum Fontium istonae e 11 eVIpnrnuugusto Potth d' ...." lb dtu ast igestum, nunc cura collegii hisroncorurn e pluribus nanoru us emen a-

R~e~ ~~ctum, das mit Bd. I, Rom 1962, zu erscheinen begann und milll~rweile ":lit Bd: 7,rarische 7: den Buchstaben M abgeschlossen hat, dabei jedoch nur im weitesten Sinne lite-2) 0' Z:lcht die urkundlichen Quellen erfaßt. .VEdle hlenangaben nach: Die Urkunden des Klosters Raitenhaslach 1034-1350. Bearb.1959?';{ Krausen. (Quellen und Erörterungen zur bayerischen Gesch., NE, 17,1.) Münchenv Ed' egesten der Urkunden des Zisterzienserklosters Raitenhaslach 1351-1803. Bearb,S~it/~rtrausen. Burghausen 1989; Erich Kuphal, Das Urkunden-Archiv.der Sta~~Köln1928 14 397. ~nventar VII. 1481-1505, in: Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von.Koln 39,den Reih~' erreIcht am 9: März I~OI die laufen~e Nr. 1,5~ der i~ ffi:ihen 10.Jh. ~Ißsetzen-1523) .. ,He,:",ann Diener, Die großen Registersenen Im vatikanischen Archiv (1378-

.10. QuFIAB 51, 1971,307.

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2 Rudo/f Schieffer

Unmenge an ländlichen Weistümern und natürlich bei Rechnungen aller Art,um ganz zu schweigen von den Hunderttausenden erhaltener mittelalterlicherHandschriften mit vermischten Texten der Geschichtsschreibung und jedwe-der sonstigen Fachprosa.I)

Genaue Zahlenangaben fallen schwer, denn - wie gesagt - gezählt, gewich-tet und verzeichnet hat diese Fülle in ihrer Gesamtheit noch niemand. Darausergibt sich erst recht, daß trotz allen gelehrten Eifers von der schriftlichen Hin-terlassenschaft des Mittelalters bis heute beileibe nicht alles, sondern sogarnur der geringere Teil im Druck erschienen und so allgemein zugänglich ge-macht worden ist. Es gehört auch wenig Prophetengabe zu der Prognose, daßeine komplette Edition der Quellen zur mittelalterlichen Geschichte niemalserreicht werden wird, weil es für eine derartige Flut von Büchern an Bearbei-tern, an Käufern, an Stellraum, letztlich an wissenschaftlichem Interesse feh-len würde. Grundsätzlich hat es die Mediävistik also nicht anders als die Er-forschung der neueren Jahrhunderte mit einer bloß partiell publizierten Quel-lenbasis zu tun, und daher stellt sich auch hier die Frage nach den Kriterien,denen die Auswahl in der Vergangenheit gefolgt ist, heutzutage folgt und inZukunft folgen könnte oder sollte.

Blicken wir zunächst zurück. Gutenbergs Erfindung zur mechanischen Ver-vielfältigung von zuvor nur handgeschriebenen Texten mittels beweglicherLettern wird üblicherweise zu den epochenabgrenzenden Vorgängen zwischenMittelalter und Neuzeit gerechner'), weshalb man mit gelinder Vergröberungsagen kann, daß alle mittelalterliche Quellenüberlieferung ursprünglich inhandschriftl icher Gestalt ins Leben trat, um dann früher oder später - und zumTeil eben bis heute noch nicht - die Schwelle zur gedruckten Verbreitung zuüberschreiten. Wann im Einzelfall dieser qualitative Sprung erfolgte, hing vonvielerlei Faktoren und anfangs in gehörigem Maße dem reinen Zufall ab. DieDrucker des späten 15., des 16. und auch noch des 17.Jahrhunderts konntenjagewissermaßen aus dem Vollen schöpfen und überall dort zugreifen, wo ihnender Erstdruck eines mittelalterlichen Textes ein besonderes Interesse ihrerKäufer und Leser zu befriedigen schien, wo er als Waffe in den geistigen,zumal den konfessionellen Auseinandersetzungen ihrer Zeit dienlich war oderauch nur den eigenen Gelehrtenruhm zu mehren versprach. Naturgemäß wardas Faktum der Publikation zunächst wichtiger als die spezifische Qualität dergerade verfügbaren Textabschrift, und dementsprechend zügig gingen diese

3) Uwe Neddermeyer, Möglichkeiten und Grenzen einer quantitativen Bestimmung derBuchproduktion im Spätmittelalter, in: Gazette du livre medieval 28, 1996, 23-32. rechnetallein für das Reichsgebiet nördlich der Alpen mit 120000-130000 erhaltenen Handschrif-ten. davon mehr als die Hälfte aus dem 15.Jh.4) Vgl. zuletzt wieder Hans-Wemer Goetz, Das Problem der Epochengrenzen und dieEpoche des Mittelalters. in: Peter Segl (Hrsg.), Mittelalter und Modeme. Entdeckung undRekonstruktion der mittelalterlichen Welt. Sigmaringen 1997, 163-172, hier 166.

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frühen Ausgaben vonstatten. Insgesamt gesehen ist damals bereits Erhebli-ches geleistet worden für die elementare Kenntnis mittelalterlicher Ge-schichtsschreibung und Rechtsquellen, weniger der Urkunden, die vielfachnoch in Archiven verborgen blieben. Eine (bislang nicht geschriebene) Quel-lenkunde des Mittelalters, die sich auf die bis etwa 1650 im Druck zugänglichgewordenen Texte beschränken würde, wiese in den genannten Gattungen zu-meist schon dieselben Schwerpunkte auf wie unsere heutigen Handbücher.I)Was in vielen Codices verbreitet gewesen war, konnte dabei leicht mehrfachgedruckt in Umlauf kommen, aber auch von raren Überlieferungen gibt esbemerkenswert frühe Drucke. Gerade in solchen Fällen zeigt sich dann derZufall der Entdeckung in seiner Rückwirkung auf die Geschichtsbilder, dennes hat beispielsweise für die Entwicklung der Vorstellungen von BarbarossasItalienpolitik schon einiges bedeutet, daß das den Staufer rühmende Epos Li-gurinus bereits 1507 im Druck erschien (nach einer einzigen. seither verschol-lenen Handschriftje), während die feindlich gestimmten Gesta Federici inLombardia eines Mailänders erst 1725 von Muratori bekanntgemacht wur-den7) und das wiederum prokaiserliche Carmen de gestis Frederici in Lombar-dia in seiner einzigen Abschrift sogar bis 1887 ungedruckt blieb''),

Die zunehmende Unübersichtlichkeit, die mit dieser ganz vom zugängli-chen Angebot bestimmten Publikationspraxis einherging, rief bald schon ord-nende Geister auf den Plan, die in dicken Folianten oder immer länger wer-denden Serienwerken unter bestimmten Gesichtspunkten zusammenzufassenSUChten,was bereits da und dort gedruckt zu finden war. Sie verschmähten imallgemeinen nicht die Gelegenheit, auch noch unedierte Texte beizumischenoder abweichende Lesarten aus inzwischen aufgetauchten Abschriften festzu-

5) Vgl. E. Ph. Goldschmidt, Medieval Texts and Their First Appearance in Print. (Supple-ment to the Bibliographical Society's Transactions, 16.) London 1943 (NO New York19~9); Dieter Mertens, Früher Buchdruck und Historiographie. Zur Rezeption historiogra-phIscher Literatur im Bürgertum des deutschen Spätmittelalters beim Ubergang vomSchreiben Zum Drucken, in: Bemd MöllerlHans Patze/Karl Stackmann (Hrsg.), StudienZum städtiSChen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. (Abh, d.Akad, Wiss. in Göttingen. Phil.-Hist. KI., 3. Folge. Nr. 137.) Göttingen 1983,83-111;Anna-Dorothee von den Brincken, Die Rezeption mittelalterlicher Historiographie durchde." I."kunabeldruck, in: Hans Patze (Hrsg.), Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußt-~1O !m s.p~tenMittelalter. (VuF, 31.) Sigmaringen 1987, 21~-~3~. . .c~ Llg~n~1 de Gestis Imp. Caesaris Friderici primi Augusti Iibri decem ca~Ine He~OlconscnplI nuper apud Francones in silva Hercynia et druydorum Eberacensl coenobio A

Chuonrado Celte reperti postlirninio restituti. Augsburg 1507; vgl. jetzt Gunther der Dich-~er,~igUrinus. Hrsg, v. Erwin Assmann. (MGH SS rer. Germ: 63.) Hannov~r 19~7.. , .) ~lre Raul sive Radulphi Mediolanensis auctoris synchroni de rebus gestis Friderici I. 10Itaha, in: Ludovicus Antonius Muratorius, Rerum Italicarum Scriptores. Vol. 6. Mediolani~725, 1173-1193; vgl. Gesta Federici I. imperatoris in Lombardia auct. cive Mediolanensi,sec. Oswaldus Holder-Egget. (MGH SS rer. Germ.) Hannover 1892.) Gesta di Federico I in Italia, a cura di Emesto Monaci. (Fonti per la storia d'Italia.) Rom~~~7; vgl. Carmen de gestis Frederici I. imperatoris in Lornbardia. Hrsg. v. Irene Schmale-

. (MGH SS rer. Germ.) Hannover 1965.

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halten, doch vorrangig war für ihre Arbeit der methodisch vernünftige Ge-danke, daß die einzelne Quelle erst in einem übergreifenden Zusammenhanginhaltlicher, zeitlicher, räumlicher oder literarischer Natur zur vollen Geltunggelange und daher in einen solchen Kontext gerückt werden müsse. Im Duktusdieser Entwicklung, die bereits im 16.Jahrhundert einsetzt, stehen berühmteNamen und illustre Unternehmungen wie die großen Konziliensammlung~nvon Jacques Merlin (1524) bis Giovanni Domenico Mansi (1759ff.)9), dieKollektionen des Reichs- und des Reichskirchenrechts von Melchior Goldast(1607), Johann Lünig (1710ff.) oder Stephan Würdtwein (1772ff.)IO), die frü-hen Sammlungen von Scriptores rerum Germanicarum, wie sie Johann Pisto-rius (1607), Johann Heinrich Boekler (1702) oder Johann Michael Heinecke(1707)11) herausbrachten, oder auch die seit 1643 erscheinenden Acta Sancto-rum der Bollandisten 12). Die einander überbietenden Neubearbeitungen dieserund ähnlicher Werke spiegeln bereits das neue Ideal der Vollständigkeit wider,das ihre Herausgeber im Unterschied zu den frühen Druckern beseelte: Darge-boten werden sollte unabhängig vom Wert des Einzelstücks möglichst alles,was sich in den vorgegebenen Rahmen zu fügen schien, und jedenfalls mehrals in den zuletzt erschienenen Sammelwerken. Seine höchste Steigerung er-fuhr dieser Gedanke bekanntlich in der vielgescholtenen, aber bis heute imganzen unersetzten Patrologie Jacques-Paul Mignes, der in der Mitte des vori-gen Jahrhunderts die gesamte lateinisch-christliche Literatur bis zur Höhe desMittelalters in über 200 Bänden zusammentrug, die zeitweise im Monatstakterschienen.U)

Die 1819 begründeten Monumenta Germaniae Historical+) sind zunächst

9) Vgl. Henri Quentin, Jean-Dominique Mansi et les grandes collections conciliaires. Paris1900; Johannes Helmrath, Konzilssammlungen, in: Lexikon für Theologie und Kirche.Bd. 6. 3. Aufl. Freiburg u. a. 1997,352-355.10) Vg1.Eckhard Muller-Mertens, Constitutiones et acta publica - Paradigmenwechsel undGestaltungsfragen einer Monumenta-Reihe, in: Kaiser, Reich und Region. Studien undTexte aus der Arbeit an den Constitutiones des 14.Jahrhunderts und zur Geschichte derMonumenta Germaniae Historica. Hrsg. v. Michael Lindner, Eckhard Müller-Mertens u.Olaf B. Rader unter Mitarb. v. Mathias Lawo. (Berlin-Brandenburgische Akad. der Wiss.,Berichte und Abh., Sonderbd. 2.) Berlin 1997, I-59, hier IS Anm. 61.11) VgI. Notker Hammerstein, Reichshistorie, in: Hans Erich Büdeker u.a. (Hrsg.), Aufklä-rung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert.(Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Gesch., ß1.) Göttingen 1986, 82-104.12) Vgl. Paul Peelers, L'eeuvre des Bollandistes. (Academie Royale de Belgique, Classedes lettres, Memoires in-Ss, 2e serie, t. 54, 5.) 2. Aufl. Brüsse11961.13) Vgl. A. G. Hamman, Jacques-Paul Migne. Le retour aux Peres de I'Eglise. Paris 1975;A. P. Orbän, Die Patrologie von Jacques-Paul Migne: Eine Felix Culpa. Leben und Werkeeines leidenschaftlichen Verlegers, in: R. I. A. Nip u.a. (Eds.), Media Latinitas. A Collec-tion of Essays to Mark the Occasion of the Retirement of L. J. Engels. (lnstrumenta Patri-stica, 28.) Steenbrugge 1996,295-304.14) Vgl. Harry Bresslau, Geschichte der Monumenta Germaniae Historica. (Neues Archivfür ältere deutsche Geschichtskunde, 42.) Hannover 1921; Horst Fuhrmann, "Sind ebenalles Menschen gewesen". Gelehrtenleben im 19. und 20.Jahrhundert. Dargestellt am Bei-

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einmal als eine aus dem Geist jener Zeit geborene nationalgeschichtliche Va-riante unter diesen großen Quellensammlungen zu verstehen. Vollständigerdenn je sollten die Schriftdenkmäler zur vaterländischen Geschichte des Mit-telalters zusammengetragen und nach einheitlichen Maßstäben einem umfas-senden Plan folgend dargeboten werden. Der Freiherr vom Stein und seineMitstreiter waren sich durchaus bewußt, daß ziemlich vieles davon längstschon einzeln publiziert und auch in frühere Sammelwerke eingegangen war,doch wollte man nun alles genauer, übersichtlicher und methodisch bedacht-samer präsentieren.ü) Die von Beginn an grundsätzlich erhobene Forderung,neue Editionen auf die Ermittlung und den Vergleich aller erreichbaren Text-Überlieferungen zu stützen, ist in der Praxis nur zögernd eingelöst worden.Wenn sich die Monumentisten der ersten beiden Generationen vielfach dochdamit begnügten, einen bereits vorhandenen Druck mit Hilfe einer eher zufäl-ligen Auswahl von Handschriften nachzubessem, so waren dafür neben prak-tischen Schwierigkeiten und einem noch unvollkommenen Reflexionsstandüber Textkritik offenbar auch Besorgnisse um einen zügigen Publikationsfort-schritt der Monumenta maßgeblich.lv) Instinktiv hat man ein Problem erahnt,das dann mit dem unaufhaltsamen, von der Klassischen Philologie ausgehen-den Siegeszug der historisch-kritischen Methode des Edierens unausweichlichheraufzog: Zu dem selbst gesetzten Ziel höchstmöglicher Vollständigkeit beider Berücksichtigung der Quellen an sich kam die sachlogisch gewordeneNotwendigkeit zur Würdigung sämtlicher Textzeugen 17), was das Arbeitsvo-lumen beträchtlich vermehrte. vor allem vor Beginn schwerer abschätzbar undtm Extremfall komplexer Überlieferungslagen geradezu menschenunmöglichmachte. Das von Max Weber mit klassischen Worten formulierte Wissen-~haftsideal dessen, der "die Fähigkeit besitzt, sich ... hineinzuste.igern in dieorstellung, daß das Schicksal seiner Seele davon abhängt: ob er diese, gerade

diese Konjektur an dieser Stelle dieser Handschrift richtig macht''t''), ein sol-ches Ideal kann sich selbstredend nicht von einem bestimmten Zeitrahmenabhängig machen, der zum Bedenken des Problems vorgegeben ist. Der Hang

~iel der Monumenta Germaniae Historica und ihrer Mitarbeiter. Unter Mitarb. v. Markus15esche. München 1996. .t/ Vgl. Ankündigung und Plan-Entwurf einer Sammlung der Quellen deutsc~er Geschich-18; des Mittelalters, in: Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschlchtskunde I,16 0,9-52. .

H~ V~1. Hartmur Hoffmann Die Edition in den Anfangen der Monumenta GerrnaniaeIston" ". B" d

Dca, In: Rudolf Schieffer (Hrsg.) Mittelalterliche Texte. Uberheferung - etun e-eut .,

17) ~ngen. (MGH Schriften, Bd. 42.) Hannover 1996, 189-232. .del m gl. Paul Maas, Textkritik. 3. Aufl, Leipzig 1957; Sebastiano Timpanaro, La genest18) etodo del Lachmann. 2. Aufi. Florenz 1981. .ten trax Weber,Wissenschaft als Beruf (1917/19), in: ders., Gesamtausgabe, Abt. I: Schrif-men nd Reden. Bd, 17. Hrsg. v. Wolfgang J. Mommsen u. Wolfgang Schluchter in Zusarn-Urn :rb. mit Birgitt Morgenbrod. Tübingen 1992, 80f.; vgl. Horst Fuhnnann, Die Sorge

en rechten Text, in: DA 25, 1969, 1-16, hier 12.

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zur Langwierigkeit, die tendenzielle Unabgeschlossenheit ist editorischemArbeiten nicht seit allem Anfang eigentümlich, sondern eine Konsequenz dermethodischen Errungenschaften des 19.Jahrhunderts, die uns dazu verholfenhaben, handschriftlich überlieferte Texte in einem nachprüfbaren Verfahrenauf ihre älteste rekonstruierbare Gestalt, im Idealfall die Urfassung, zurückzu-führen.

Das Dilemma, das sich hier auftut, hat die Monumenta Germaniae Histo-rica, die ich im folgenden als mir naheliegendes Beispiel für eine ganze An-zahl ähnlich ausgerichteter Unternehmungen im Ausland und auf der landes-geschichtlichen Ebene auch im Inland nehme, zu unterschiedlichen Reaktio-nen herausgefordert. Da der wissenschaftliche Gewinn des historisch-kriti-schen Edierens auf der Hand lag und damit den gesteigerten Aufwand recht-fertigte, kam es mehr als zuvor auf einen beherrschbaren Zuschnitt der Auf-gaben an, die man sich fürderhin stellte. Das führte zur bewußten Abkehr vonden Folianten der Frühzeit mit dem gewissermaßen flächendeckenden An-spruch, die Scriptores oder die Leges ganzer Zeitabschnitte geschlossen vor-zulegen; eher stillschweigend verzichtete man zugleich auf die Bearbeitungvon Quellen mit exzeptionell breiter Überlieferung, deren kritische Editionentweder gar nicht erst versucht wurde oder bald im Sande verlief.I'') Wäh-rend auf diese Weise gerade besonders einflußreiche Texte einer negativenSelektion der Machbarkeit anheimfielen, richtete sich das Augenmerk zuneh-mend auf Einzelquellen, die mit den gesteigerten methodischen Anforderun-gen eher kompatibel waren und nun gesondert in Reihen wie Scriptores rerumGermanicarum, Fontes iuris Germanici antiqui, Epistolae selectae, später auchQuellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters herauskamen, sobald sie einenBearbeiter fanden. Daneben legte man speziellere, meist von bestimmtenÜberlieferungsformen abgeleitete Reihen wie die Libelli de lite, die Deut-schen Chroniken oder die Staatsschriften des späteren Mittelalters auf Kiel,die den Gesichtspunkt der Vollständigkeit variabel zu handhaben gestatteten.Als weiterer Ausweg bot sich das Kriterium der relativen Seltenheit an, wasbedeutet, die umfassende Sammlung etwa der mittelalterlichen Briefüberliefe-rung oder der lateinischen Dichtung in den Epistolae und Poetae latini auf diefrühen Jahrhunderte zu konzentrieren und sich damit abzufinden, daß jenseitseiner bestimmten, nicht von vornherein festgelegten Zeitgrenze die StoffülleEinhalt gebieten wird. Wo sich alle Restriktionen aus der Natur der Sache ver-boten wie bei der systematischen Erfassung der Königs- und Kaiserurkunden,die zunehmend als die Voraussetzung erfolgversprechender Echtheitskritik

19) Dazu gehören z.B. die pseudoisidorischen Fälschungen, das Decretum Burchards vonWorms, die Papst-Kaiser-Chronik Martins von Troppau oder die Legenda aurea des Jaco-bus von Varazze.

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begriffen wurde, mußten entsprechend lange Bearbeitungszeiten und Lückenin Kauf genommen werden, die bis heute nicht behoben sind.20)

Jenseits aller Probleme einer überlieferungsgerechten Textherstellung liegtein weiterer zeitraubender Aspekt moderner Editionsarbeit im stark gewach-senen Bedürfnis nach Kommentierung der dargebotenen Quelle. Wenn ich rechtsehe, fließen hier ganz unterschiedliche Impulse ineinander, nämlich der ver-breitete Wunsch nach rascher, punktueller Benutzbarkeit der Ausgabe anjederbeliebigen Textstelle, auf die folglich sämtliche einschlägige Information zukonzentrieren ist, aber auch die paral1el zur al1gemeinen Spezialisierung stei-gende Unübersichtlichkeit des Literaturangebots, die vermehrte Nachweise na-helegt, und gewiß auch, aus der Sicht des Bearbeiters, die famose Klaviatur vonRechercheinstrumenten aller Art, gedruckten wie elektronischen, die heutzu-tage zur Ermittlung erläuternder Sachverhalte geradezu einlädt. Blickt manetwas tiefer, so scheint es hier auch um den Platz heutiger Editionen im Ge-samtverlauf der Erforschung der jeweiligen Texte zu gehen. Im 19. Jahrhundertbrachten die Monumenta vielfach Ausgaben hervor, die eine intensive Beschäf-tigung mit den darin enthaltenen Quellen überhaupt erst in Gang brachten. DieseVorreiterrolle ist da und dort auch noch bei Editionen unserer Zeit gegeben, diewie die Libri memoriales et Necrologia, die Ordines de celebrando concilio oderauch die Capitula episcoporum ein zuvor kaum beachtetes Forschungsfeld er-schließen und vermessen.U) In der überwiegenden Zahl der Fäl1e haben aberQuel1enpublikationen, die heute erscheinen, auf einen bereits vorhandenen, d. h.ohne sie gewonnenen Forschungsstand zu reagieren und ihn je nach Sachlagedurch verbesserte Textgestaltung, durch präzisierte quel1enkritische Einord-nung, durch geläuterte Echtheitsurteile zu transzendieren, was naturgemäßnicht ohne ein gewisses Maß an expliziter Kommentierung zu leisten ist. Zwei-fellos lauert hier aber auch die Gefahr des Übereifers, denn gerade in dieser Hin-sicht sind zwingende Bedürfnisse nur schwer zu definieren.

Damit stehen wir bereits mitten in der Reflexion darüber, wieweit wir es amEnde des 20. Jahrhunderts gebracht haben und weIche künftigen Wege sich ab-zeichnen. Gewiß kann man dazu in aller Bescheidenheit sagen, daß dank demFleiß und dem Scharfsinn vieler Generationen innerhalb und außerhalb derMonumenta Beträchtliches zur editorischen Erschließung oder doch wenig-stens zur regestenmäßigen Erfassung der Quel1en für zentrale Bereiche zumaldes frühen und hohen Mittelalters vollbracht worden ist und daß nicht wenigesdavon als tatsächlich abschließende Leistungen betrachtet werden darf, mitdenen im übrigen die deutsche Mediävistik seit langem auch im internationa-

20) Zu Entwicklung und Stand der einzelnen Reihen vg!. das regelmäßig erscheinende Ge-samtverzeichnis der MGH (zuletzt nach dem Stand vom Juli 1998).21) Vgl, MGH Libri memoriales et Necrologia. Nova series, seit 1979 (bisher 5 Bde.);MGH Ordines de celebrando concilio. Hrsg. v. Herbert Schneider. Hannover 1996; MGHCapitula episcoporum, seit 1984 (bisher 3 Bde.).

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len Maßstab besondere Ehre eingelegt hat. Die Gewöhnung an ein hohes Ni-veau der gedruckt zugänglichen Quellenaufbereitung bringt es mittlerweilemit sich, daß es höchst respektable und produktive Fachkollegen gibt, die sichin ihren Veröffentlichungen ausschließlich auf ediertes Material zu beziehenpflegen und für ihre konkreten Forschungen die elementaren Arbeitstechnikender Paläographie oder der Diplomatik faktisch gar nicht mehr benötigen. Manmag das wegen seiner Rückwirkungen auf die Schulung des wissenschaftli-chen Nachwuchses bedenklich finden, doch ist die Entwicklung als solche na-türlich mitnichten zu beklagen, belegt sie doch eindrücklich, daß die Vielzahlder vorliegenden Quellenpublikationen den beanspruchten Zweck erfüllt, diehistorische Forschung auf mannigfache Weise anzuregen und weiterzutreiben.Insofern kann es gar nicht anders sein, als daß sich im Laufe der Generationender Schwerpunkt von der erstmaligen Präsentation der Befunde zu derenimmer tiefer schürfender Auswertung verlagert. Es sind solche Erfahrungen,aus denen sich die selten klar ausgesprochene, unterschwellig aber durchausverbreitete Vorstellung nährt, bei der Erschließung mittelalterlicher Quellensei inzwischen eine gewisse Sättigung erreicht, das Verdauen des bereits Vor-handenen (um im Bild zu bleiben) verdiene längst den Vorrang vor dem Zube-reiten immer weiterer mundgerechter Nahrung.

Ohne Frage ist richtig, daß der Vorrat an völlig ungedruckten und zugleichlohnenden Texten, bezogen auf die Zeit bis etwa 1200, ziemlich schmal ge-worden ist; vom 13. bis zum ausgehenden 15.Jahrhundert schwillt er dannfreilich gewaltig an, vor allem was Urkunden im weitesten Sinne angeht, undberechtigt zu der eingangs getroffenen Feststellung, in rein quantitativer Be-trachtung sei die Mehrheit der mittelalterlichen Quellen noch immer unpubli-ziert. Freilich fällt diese Materialfülle nach traditionellen Maßstäben ganzüberwiegend nicht in die Zuständigkeit der Monurnenta, sondern hat, soweites sich um deutsche Geschichte handelt, vornehmlich die verschiedensten lan-desgeschichtlichen Institutionen, die Regesta Imperii oder auch die Histori-sche Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zu be-schäftigen. Tatsächlich kann man nur eindringlich wünschen, daß neue Wegegefunden werden oder wenigstens der bisherige Eifer nicht erlahmt, um bei re-gionalen Urkundenbüchern und Regestenwerken die zahlreich noch klaffen-den Lücken zu mindern und zudem tiefer ins Spätmittelalter vorzudringen,was die notwendige Voraussetzung wäre für fundierte vergleichende Studienzur Verfassungs-, zur Sozial- und zur Kulturentwicklung in den verschiedenenTeilen des mittelalterlichen Deutschland oder gar Europa, ein methodischesPostulat, das in aller Munde ist, für dessen Ermöglichung jedoch entschiedenzu wenig geschieht--)

22) Vgl. Rudolf Schieffer, Neuere regionale Urkundenbücher und Regestenwerke, in:BlldtLG 127. 1991, 1-18.

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Wo sich die Gelegenheit zur erstmaligen Publikation einer wichtigen Quelleaus dem eigenen Zuständigkeitsfeld bietet, greifen aber auch die Monumentaweiterhin gerne zu, wie sich aus letzter Zeit an der Jüngeren HildesheimerBriefsammlung des 12.Jahrhunderts23), am Brief- und Memorialbuch desPassauer Domdekans Albert Behaim von 124624), an den Necrologien desMindener Domkapitels aus dem l3.Jahrhundert25), an der Kölner Weltchronikbis 137626) oder auch der Papst- und der Kaiserchronik des Wiener TheologenThomas Ebendorfer-") demonstrieren läßt. In allen diesen Fällen besteht derGewinn für die Forschung natürlich nicht bloß wie zur Zeit der Frühdruckedarin, ein weiteres Stück mittelalterlicher Überlieferung bequem zugänglichgemacht, sondern dies zugleich mit dem Grad an Aufbereitung getan zuhaben, der von heutiger Forschung erwartet wird.

Natürlich werden ähnliche Chancen, bisher unpublizierte Quellen gleich-sam auf einen Schlag ins volle Blickfeld der Forschung zu rücken, auch künf-tig zu nutzen sein, zumal die Erfahrung älterer wie neuerer Zeit schmerzlichgelehrt hat, daß grundsätzlich der Druck der sicherste Weg bleibt, um Hand-schriftliches vor dem potentiellen Untergang zu sichern. Aber aufs Ganze ge-sehen liegt der Schwerpunkt unseres Tuns im sechsten Jahrhundert nach Gu-tenberg nicht mehr auf Ersteditionen, sondern auf dem geduldigen Bemühen,mittelalterliche Quellen, die bereits irgendwo und irgendwie gedruckt sind, inverbesserter Gestalt neu herauszubringen. Statt einer systematischen Typo-logie der Gründe, die dazu von Fall zu Fall Anlaß bieten, sei eine Reihe vonlaufenden oder kürzlich abgeschlossenen Projekten mit ihrer spezifischenZielsetzung kurz vorgestellt. Die Reichschronik des sogenannten AnnalistaSaxo aus dem mittleren 12.Jahrhundert wird derzeit für eine neue Edition vor-bereitet, weil das in Paris liegende Autograph noch nie vollständig abgedrucktworden ist.28) Bei der Denkschrift Hinkmars von Reims zum Ehestreit Lo-

23) Die Jüngere Hildesheimer Briefsammlung. Hrsg. v. Ralf De Kegel. (MGH Briefe d. dt.Kaiserzeit, Bd. 7.) München 1995.24) Das Brief- und Memorialbuch des Albert Behaim. Hrsg. v. Thomas Frenz u. PeterHerde. (MGH Briefe des späteren Mittelalters, I.), im Druck.25) Necrologien. Anniversarien- und Obödienzenverzeichnisse des Mindener Domkapitelsaus dem 13.Jahrhundert. Hrsg. v. Ulrich Rasche. (MGH Libri memoriales et Necrologia.Nova series. 5.) Hannover 1998.26) Die Kölner Weltchronik 1273/88-1376. Hrsg. v. Rolf Sprandel. (MGH SS rer. Germ.Nova series, 15.) München 1991, ebenfalls zuvor ungedruckt: Die Weltchronik des MönchsAlbert 1273n7-1454/56. Hrsg. v. Ralf Sprandel. (MGH SS rer. Germ. Nova series, 17.)München 1994.27) Thomas Ebendorfer, Chronica pontificum Romanorum. Hrsg. v. Ha raid Zimmermann.(MGH SS rer. Germ. Nova series. 16.) München 1994. Eine entsprechende Ausgabe derChronica regum Romanorum, ebenfalls von Harald Zimmermann, ist in Vorbereitung.28) Vgl. Klaus Naß. Die Reichschronik des Annalista Saxo und die sächsische Geschichts-schreibung im 12.Jahrhundert. (MGH Schriften, 41.) Hannover 1996. Die entsprechendeAusgabe ist als Bd. 37 von MGH Scriptores in Vorbereitung.

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thars 11.29), bei den Historien Richers von Reimsw) und bei der BambergerWeltchronik Frutolfs von Michelsberg-") ging oder geht es darum, mit heuti-gen technischen Hilfsmitteln den graphischen Befund der einzigen, auf denAutor zurückgehenden Handschrift zu dokumentieren, weil dies vielerleiRückschlüsse auf den Entstehungsprozeß dieser Werke, insbesondere die Vor-lagenverarbeitung zuläßt. Die Gesetze Kaiser Friedrichs 11. für sein König-reich Sizilien, bisher nur nach einzelnen Abschriften gedruckt, sind erstmals1996 in kritischer Edition, d. h. unter vergleichender Ausschöpfung der ge-samten Überlieferung, erschienen.V) Früher unbekannte oder verscholJeneHandschriften, die zugänglich geworden sind, waren oder sind Grund genugzur Neubearbeitung der Viten der Königin Mathilde=), der Mailänder Ge-schichte Arnulfsvt) oder auch der Chronik des Saba Malaspina, die bisherüberhaupt nur bruchstückhaft gedruckt ist35). Bei der Kapitulariensammlungdes Ansegis von Saint-Wandrille vom Jahre 826/27 bestand die Herausforde-rung darin, durch Auswertung einer großen Zahl von frühen Handschriften dieVerbreitungswege und die Variationsbreite des Textes zu dokumentieren, derzahlreiche Rezipienten fand36), während es für die Neuausgabe von FIodoardsReimser Kirchengeschichte vornehmlich. darauf ankam, exakt bis in dasDruckbild hinein den Umgang des Autors mit dem reichlich verarbeiteten Ar-chivmaterial seiner Kirche nachzuweisen-"), Neben solchen Einzelvorhabengrößeren und kleineren Zuschnitts ist nach wie vor von wesentlicher Bedeu-tung, daß ältere Reihen vorangetrieben und zum Abschluß gebracht werden,die auf die vollständige Sammlung und kritische Sichtung bestimmter Quel-lenkomplexe ausgerichtet sind. Die Concilia des 9. bis 1I. Jahrhundertsw), die

29) Hinkmar von Reims, De divortio Lotharii regis et Theutbergae reginae. Hrsg. v. LethaBähringer. (MGH Concilia 4, Suppl. 1.) Hannover 1992.30) Richer von Saint-Remi, Historiae. Hrsg. v. Hartmut Hoffmann. (MGH SS 38.), in Vor-bereitung.31) Die Chronik des Frutolf von Michelsberg und ihre Fortsetzungen. Teil 1. Die Chronikdes Frutolf von Michelsberg. Hrsg. v.Franz-Josef Schmale u. Christian Lahmer. (MGH SS33,1.), in Vorbereitung.32) Die Konstitutionen Friedrichs 11. für sein Königreich Sizilien. Hrsg. v. Wolfgang Stiir-ner. (MGH Constitutiones 2, Suppl.) Hannover 1996.33) Die Lebensbeschreibungen der Königin Mathilde (Vita Mathildis reginae antiquior _Vita Mathildis reginae posterior). Hrsg. v. Bemd Schütte. (MGH SS rer. Germ. 66.) Hanno-ver 1994.34) Amulf von Mailand, Liber gestorum recentium. Hrsg. v. Claudia Zey. (MGH SS rer.Germ. 67.) Hannover 1994.35) Die Chronik des Saba Malaspina. Hrsg. v. Waiter Koller u. August Nitschke, (MGH SS35.), im Druck.36) Die Kapitulariensammlung des Ansegis (Collectio capitularium Ansegisi). Hrsg. v.Gerhard Schmitz. (MGH Capitularia, Nova series 1.) Hannover 1996.37) Flodoard von Reims, Historia Remensis ecc1esiae. Hrsg. v.Martina Stratmann. (MGHSS 36.) Hannover 1998.38) Zuletzt erschien: Die Konzilien der karolingischen Teilreiche 860-874. Hrsg. v. Wil-

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Constitutiones des l-l.Jabrhunderts-'') und die Diplomata der fränkisch-deut-schen Herrscher, die derzeit vom 7. bis zum 13.Jahrhundcrt in verschiedenenProjekten in Arbeit sind+'), bringen nicht bloß weit verstreute Überlieferun-gen zwischen zwei Buchdeckel, sondern verschaffen sich dadurch erst die me-thodisch gebotenen Voraussetzungen zur Beurteilung und Einordnung jedesEinzelstücks.

Die individuelle Behandlung, die für die verschiedenartigen Objekte zuwählen ist, mag bereits andeuten, wie weit die Kunst des Edierens über die an-fängliche Druckwiedergabe und bloße Einreihung in übergreifende Kontextehinaus gediehen ist. Wir wollen mittlerweile nicht allein einen gesicherten,möglichst authentischen Wortlaut herstellen, sondern auch wissen, wie ein-deutig er verbürgt ist und welche Alternativen die Wirkung der Quelle mitbe-stimmt haben können. Wir wünschen Aufschluß darüber, aus welchen Vorla-gen und nach welchen stilistischen Mustern, gegebenenfalls mit bewußter Ab-wandlung, der Text erwachsen, womöglich im nachhinein verändert wordenist. Wir fragen nach Eigenart und Einzigkeit des Inhalts, also dem Verhältniszu anderen Quellen derselben Zeit oder desselben Genres, und wir untersu-chen, welche Verbreitung und Fortentwicklung, welche Leser und Rezipientenein Text im Laufe der Jahrhunderte gefunden, warum er letztlich die Zeitenüberdauert hat. Gewiß lassen sich nicht alle Aspekte jedesmal gleich gut erhel-len, weshalb eben von Fall zu Fall ein je eigener Zuschnitt der Aufgabe ge-sucht werden muß, aber es wäre sinnlos, den erreichten methodischen Stan-dard um bloßer Beschleunigung willen aufzugeben und damit auf Einsichtenzu verzichten, die bei entsprechendem Nachbohren durchaus zu gewinnenwären. Schließlich geht es darum, die in weiten Bereichen des Mittelaltersnicht mehr vermehrbaren Quellen soweit wie nur irgendmöglich zum Spre-chen zu bringen, und dabei darf im Sinne echter Grundlagenforschung dieaufzuwendende Mühe nicht von vornherein vom absehbaren Erkenntnisfort-schritt abhängig gemacht werden. Ob der Händewechsel in einer Nieder-schrift, die kleine Unstimmigkeit in einer Datierung oder die ungewöhnlicheSchreibweise eines Ortsnamens, die der Editor gewissenhaft ermittelt undfesthält, jemals einem künftigen Forscher zum Baustein seiner historischenArgumentation dienen wird, ist zunächst ganz ungewiß und in vielen Fällen

fried Hartmann. (MGH Concilia, Bd. 4.) Hannover 1998. In Arbeit sind ferner die Synodenvon 875 bis 909 sowie von 962 bis 1059.39) Derzeit im Druck: MGH Constitutiones et acta publica imperatorum et regum. Bd. 6/2:1331-1335. Teil 2 (1332). Bearb. v. Wolfgang Eggert. Über Stand und Perspektiven desVorhabens insgesamt vgl. den oben Anm. 10 genannten Sammelband.40) Derzeit im Druck: Die Urkunden Heinrich Raspes und Wilhelms von Holland. Hrsg. v.Dieter Hägermann u. Jaap G. Kruisheer unter Mitwirkung v. Alfred Gawlik. Teil 2: 1252-1256. (MGH DD reg. imp. Germ., 1812.).Daneben wird an den Diplomata der Merowinger,Ludwigs des Frommen, Heinrichs V., Heinrichs VI., Friedrichs Il., Konradins und Alfons'von Kastilien gearbeitet.

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eher unwahrscheinlich; dennoch muß dafür gleichmäßige Sorgfalt aufgewandtwerden, weil sich immer wieder herausstellt, daß scheinbar nebensächlicheDetails solcher Art den Ausschlag für unverhoffte Einsichten geben können.So hat - um wenigstens ein paar aktuelle Beispiele zu nennen - die durch Ein-zeleditionen geschürte, immer gründlichere Durchforschung der theologi-sehen und kanonistischen Fachprosa des 9.Jahrhunderts bis in die handschrift-lichen Erscheinungsformen hinein eine neue Grundlage für das Verständnisder literarischen Produktion und des intellektuellen Austauschs im Karolin-gerreich geschaffen+t) Es ist ebensowenig Zufall, daß die Beschäftigung mitdem Hof und dem persönlichen Umfeld Friedrich Barbarossas einen erhebli-chen Aufschwung genommen hat, nachdem seit 1990 die minutiöse Aufarbei-tung der gesamten Urkunden des Stauferkaisers in fünf Bänden abgeschlossenvorliegt.P) Und von der Breite und Tiefe historischer Kenntnisse im Spätmit-telaher hätten wir gewiß weit besser fundierte Vorstellungen, wenn es in ab-sehbarer Zeit gelänge, die weitverzweigten, wandlungsreichen Überlieferun-gen der Chronik Martins von Troppau und der Flores temporum editorisch zudurchdringen.v')

Seit über zehn Jahren entstehen neue Textausgaben der Monumenta aufelektronischem Wege, so daß inzwischen die Erfahrung von etwa 30 großenund kleineren Bänden vorliegt+') Sie besagt, daß die herkömmliche Unter-scheidung zwischen der Ausgestaltung eines druckreifen Manu- oder Typo-skripts durch den Editor und der anschließenden professionellen Herstellung

41) Vg!. Böhringer (Hrsg.), Hinkrnar von Reims (wie Anm. 29), 39ff., 65 ff.; John Maren-bon, Carolingian Thought, in: Rosamond McKitterick (Ed.), Carolingian Culture: Emula-tion and Innovation. Cambridge 1994, 171-192; Hrabanus Maurus, De institutione clerico-rum !ibri tres. Studien und Edition v. Detlev Zimpel. (Freiburger Beitr. zur mittelalterlichenGesch., 7.) Frankfurt am Main 1996, 37ff" 62ff.; derzeit im Druck: Das Konzil vonAachen 809. Hrsg. v. Harald Willjung. (MGH Concilia 2, Supp!. 2.); Hinkmar von Reims,De cavendis vitiis et virtutibus exercendis. Hrsg. v. Doris Nachtmann. (MGH Quellen zurGeistesgeschichte, 16.); Die Streitschriften Hinkmars von Reims und Hinkmars von Laon869-871. Hrsg. v. Rudolf Schieffer. (MGH Concilia 4, Supp!. 2.).42) Vg!. Alfred Haverkamp (Hrsg.), Friedrich Barbarossa. Handlungsspielräume und Wir-kungsweisen des staufischen Kaisers. (VuF, 40.) Sigmaringen 1992; Evamaria Engel/Bem-hard Töpfer (Hrsg.), Kaiser Friedrich Barbarossa. Landesausbau - Aspekte seiner Politik -Wirkung. (Forsch. zur mittelalterlichen Gesch., 36.) Weimar 1994; Alheydis Plassmann,Die Struktur des Hofes unter Friedrich I. Barbarossa nach den deutschen Zeugen seiner Ur-kunden. (MGH Studien und Texte, 20.) Hannover 1998.43) Vgl, vorerst Anna-Dorothee von den Brincken, Studien zur Überlieferung der Chronikdes Martin von Troppau (Erfahrungen mit einem massenhaft überlieferten historischenText), in: DA 41, 1985,460-531; 45, 1989,551-591; 50, 1994,611-613; Heike JohannaMierau/Antje Sander-Birke/Birgit Studt, Studien zur Überlieferung der Flores temporum.(MGH Studien und Texte, 14.) Hannover 1996.44) Vgl, allgemein die knappe Zusammenfassung von Gerhard Schmitz, Bücher oderDateien - die MGH und die EDV, in: Geschichte als Argument. 41. Deutscher Historikertagin München 1996. Hrsg. v. Stefan Weinfurter u. Frank Martin Siefarth. München 1997,74-76.

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eines Buches sich immer weiter verflüchtigt hat zugunsten eines integriertenProzesses, bei dem der Bearbeiter zunehmend stärker von der Technik in diePflicht genommen wird. Zweifellos gehört die Zukunft Systemen, bei deneneinerseits schon von der ersten Textkollation an schrittweise das spätereDruckbild angebahnt wird und andererseits der jeweils erreichte Status biszum letzten Augenblick reibungslos veränderbar bleibt. Inwieweit künftigauch bereits die Ausgangsbasis elektronisch gewonnen werden kann, hängtvon der weiteren Entwicklung der Digitalisierung der Handschriftenphotogra-phie und vom Erfolg der Bemühungen um automatische Schrifterkennung ab,die sich naturgemäß vorerst auf Material aus neuerer Zeit konzentrieren.O)

Ein ursprünglich kaum mitbedachter Nebeneffekt der elektronischen Buch-produktion liegt darin, daß die zugrundeliegenden Datensätze zusammenge-spielt und für die digitale Abfrage nach jeder beliebigen Einzelheit genutztwerden können. Eine solche elektronische Zweit- oder Parallelversion derEditionstexte von zunächst 20 Monumenta-Bänden, meist aus jüngster Zeit,ist 1996 auf CD-ROM erschienen und bildet den Auftakt zu dem umfassendenVorhaben, nach und nach neben den nachwachsenden Neuerscheinungen auchalle älteren, seit 1826 im Bleisatz entstandenen Bände, soweit nicht durchjün-gere MGH-Ausgaben überholt, elektronisch einzulesen mit dem Ziel einereinzigen Datenbank aBer relevant gebliebenen Monumenta- Texte, die ganzungeahnte Möglichkeiten der Texterschließung und des Textvergleichs eröff-nen würde.46) Vorbild ist das analoge und bereits vollständige Recherchein-strument für das Corpus Christianorum, was besagt, daß gleichdiesem alleindie Editionstexte (vermindert um die Exponenten für den Variantenapparatund die Kommentarfußnoten) und nicht auch diese Apparate und Fußnoten,ebensowenig die Einleitungen der Editoren, etwaige Übersetzungen und Indi-ces erfaßt werden.F) Die Abfrage am Bildschirm führt also stets zu einerexakt bezeichneten Textstelle, für deren editorische Bewertung und Er1äute-

45) Scanner-Technik und OCR·Programme haben in den letzten Jahren rasante Fortschrittegemacht, so daß die nahezu fehlerfreie Digitalisierung von nicht handgeschriebenen Textenin naher Zukunft kaum noch ein Problem darstellen wird. Erheblich größere Schwierig-keiten bestehen begreiflicherweise bei Handschriften, doch auch auf diesem Gebiet gibt eseinschlägige Vorhaben: Hier sei nur das ,Abbreviationes'-Unternehmen angeführt, das derBochumer Philosoph Olaf Pluta entwickelt hat und betreut. Fernziel dieses Projekts - der-zeit ein elektronisches Wörterbuch mit ca. 50000 Einträgen (und damit dem üblicherweiseherangezogenen ..Cappelli" um ein Mehrfaches überlegen) - ist ein ..generalized transcri-ber", der Handschriften selbständig lesen und entziffern kann. In diesem Fall könnte maneine Handschrift auf den Scanner legen - das Programm würde einen entzifferten Volltextliefern. Informationen dazu: hup:/Iwww.ruhr-uni-bochum.deJphilosophy/projects/ab-brev.htm.46) Zum derzeitigen Stand und Lieferumfang siehe das Gesamtverzeichnis der MGH (wieAnm. 20), 60.47) CETEDOC Library of Christian Latin Texts: CLCLT-3: Data Base for the WesternLatin Tradition (2 CD-ROM und ein Beiheft von Paul Tombeur). Turnhout 1996.

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rung der jeweilige Band konsultiert werden muß. Falls sich die für die Verbrei-tung gewählte CD-ROM-Technik auf weitere Sicht nicht bewähren sollte,bliebe die elektronische Umsetzung aller oder möglichst vieler Monumenta-Texte in jedem Falle als Gewinn an sich.

Über die intensivere Nutzung des bereits Vorhandenen oder ohnehin Entste-henden weit hinaus reichen Konzepte, die Ergebnisse editorischer Beschäfti-gung mit mittelalterlichen Quellen von vornherein auf elektronischem Wegein Umlauf zu bringen, also auf CD-ROM oder im Internet, wobei zu unter-scheiden ist, ob dies der zeitlichen Überbrückung bis zur Publikation in Buch-form dienen oder vollends an die Stelle eines gedruckten Bandes treten soll.Verwertbare Erfahrungen, zumal im Hinblick auf die langfristigen Aspekte,die gerade bei grundlegenden Texteditionen gebührende Beachtung verdie-nen, liegen verständlicherweise bislang so gut wie nirgends vor. Natürlich legtsich bei Projekten größeren Umfangs, die über Jahre hin verschiedene Ent-wicklungsstadien der Textkonstitution oder auch der wachsenden Sammlungvon Einzeltexten durchlaufen und dabei konsequent elektronisch vorangetrie-ben werden, der Gedanke nahe, bereits mit Zwischenergebnissen hervorzutre-ten, um Außenstehenden einen gewissen Zugang einzuräumen und gegebe-nenfalls auch ihr kritisches Benutzerecho auf dem weiteren Weg berücksichti-gen zu können. Immerhin wäre die elektronische Kommunikation ja geeignet,die seit Gutenberg eherne Alternative zu überwinden oder doch zu relativie-ren, wonach ein Werk entweder überhaupt nicht oder unabänderlich erschie-nen ist. Die Monumenta sind daher dabei, bei einem Projekt in München, dasder Erfassung der umfänglichen Überlieferung der Falschen Kapitularien dessogenannten Benedictus Levita gil(48), und mittelbar bei dem Berliner Akade-mie- Vorhaben der Constitutiones Kaiser Karls IV. den Versuch einer elektro-nischen Vorab-Publikation von Teilergebnissen zu machen.s") Sofern sich dietechnischen Probleme der Präsentation bewältigen lassen und das angestrebteEcho tatsächlich erzielt wird, ließen sich weitere Schritte denken. So könnteman bei präzise verabredeten technischen Standards von unterschiedlichenOrten aus arbeitsteilig am selben Vorhaben zusammenwirken und womöglichgemeinsam editorische Aufgaben in Angriff nehmen, die ob ihres Volumens inkonventioneller Behandlungsweise als nicht realisierbar gelten, oder man

48) Das Projekt ist gerade angelaufen und wird von der DFG gefördert. Es zielt von vorn-herein auf eine elektronische und eine Buchausgabe, die Zwischenergebnisse werden nochwährend der Bearbeitungszeit im Internet einsehbar sein. Vgl. dazu die Skizze von GerhardSchmitz; Die Neuausgabe der Pseudo-Kapitularien des Benedictus Levita - Ein Musterfallfür eine "elektronische Edition"? (mit einer HTML-Demonstration), in: Concilium mediiaevi. Zeitschrift für Geschichte, Kunst und Kultur des Mittelalters und der frühen NeuzeitI, 1998, hup:/Iwww.cma.d-r.de. Der genannte Artikel: hup:/Iwww.cma.d-r.de/I-98/schmitz.pdf.49) Die http-Adresse der Monumenta-Mitarbeiter bei der Berlin-Brandenburgischen Aka-demie lautet: www.bbaw.de/vhlmgh.

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könnte nach getaner Arbeit eine Unterscheidung treffen zwischen derjenigenEntwicklungsstufe, die man im Druck verewigt, und weiteren Versionen oderergänzenden Materialien, die für Spezialisten elektronisch verfügbar gehaltenwerden.S')

Die dauerhafte Verfügbarkeit schließlich dürfte aus derzeitiger Sicht dashauptsächliche Bedenken sein, wenn Überlegungen angestellt werden, voneiner gedruckten Fixierung überhaupt abzusehen und sich ausschließlich aufein elektronisches Informationsangebot zu konzentrieren. Gerade Editionengehören ja nicht zu den zum alsbaldigen Verbrauch bestimmten Gütern undsollten auch weiterhin ihren Ewigkeitswert bewahren können, was bedeutet,daß die langfristige Haltbarkeit und Verwendbarkeit der technischen Geräteebenso gewährleistet sein müßten wie die Kontinuität der Datenpflege auchüber die Lebensspanne des Bearbeiters hinaus. Ob und um welchen Preis dieseBedingungen herzustellen sind, wird die Zukunft lehren.

Der rasante technische Wandel und die Aufmerksamkeit, die er sich in dertäglichen Arbeit verschafft, drohen im übrigen mitunter den Blick zu trübenfür das Unveränderliche der Aufgabe, die uns gestellt ist. Edieren bedeutetmorgen wie gestern die möglichst allseitige, vor keiner Schwierigkeit auswei-chende Auseinandersetzung mit einem konkreten Ausschnitt der historischenÜberlieferung samt der form- und zeitgerechten Darbietung der Befunde zurweiteren Auswertung durch die Forschung. Es ist so gesehen in vielen Fällenauch kein einmaliges und dann erledigtes Geschäft, sondern etwas qualitativSteigerungsfähiges, wie sich schon innerhalb der Monumenta an wiederholtenEditionen desselben Textes ablesen läßt, und stellt im Grunde eine permanenteHerausforderung zur Verbreiterung, Festigung, Durchdringung des Funda-ments dar, auf dem alle historische Arbeit aufruht. Die einzelne Edition ge-langt, so bleibt stets zu hoffen, früher oder später an ihr Ende; das Edierenselbst bewahrt seine kritische Funktion, solange es überhaupt eine quellen-bezogene Geschichtswissenschaft gibt.

50) Dies trifft etwa auf das oben Anm.48 genannte Benedictus Levita-Unternehmen zuund wird dort zumindest teilweise realisiert. Die Bearbeiter befinden sich z. B. in Tübingenund München, haben aber jederzeit Zugriff auf sämtliche Dateien des gesamten Unterneh-mens. Die Verfügbarkeit aller das Projekt betreffenden Materialien, die sich bei konventio-neller Arbeitsweise nicht bewerkstelligen ließe. ist mithin gegeben. so daß die räumlicheTrennung keinerlei Informationsverluste zur Folge hat.