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Raúl Zibechi, geb. 1952, Redaktions-leiter für Internationale Politik der uru-guayischen Wochenzeitschrift Brecha,regelmäßiger Mitarbeiter der mexikani-schen Zeitung La Jornada sowie ver-schiedener anderer lateinamerikanischerund europäischer Medien. Er ist Autorzahlreicher Bücher über die neuen so-zialen Bewegungen in Lateinamerika.Im Juli 2003 wurde er für seine Chroni-ken über die Volksrevolte 2000–2001 inArgentinien mit dem Premio José Martíausgezeichnet.John Holloway, geb. 1947 in Dublin, ist Politikwissenschaftlerund lehrt seit 1993 an der BUAP in Puebla/Mexiko. Seine Arbeitenzeigen den starken Einfluss der zapatistischen Bewegung in Mexiko.In Deutschland wurde er bekannt durch sein Buch Die Welt verändern,ohne die Macht zu übernehmen.

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Raul ZibechiBolivienDie Zersplitterung der MachtMit einem Vorwort von John HollowayAus dem Spanischen übersetzt von Horst Rosenberger

Edition Nautilus

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Die Originalausgabe des vorliegenden Buches erschien im Januar 2007 unterdem Titel Dispersar el poder. Los movimientos como poderes antiestatales beiLallevir, S.L. /Virus editorial, Barcelona. |© Raúl Zibechi |© 2008 für die deut-sche Ausgabe: EDITION NAUTILUS Verlag Lutz Schulenburg | Schützen-straße 49a | D-22761 Hamburg | www.edition-nautilus.de | Alle Rechte vor-behalten |Das Vorwort von John Holloway wurde aus dem Englischen übersetztvon Lars Stubbe | Umschlaggestaltung: Maja Bechert, www.majabechert.de |Deutsche Erstausgabe Februar 2009 | Druck und Bindung: Fuldaer Verlags-anstalt | 1. Auflage | ISBN 978-3-89401-591-6

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Vorwort

Wenn Du denkst, dass Bolivien weit weg ist, dann lass essein. Mach Dir nicht die Mühe, dieses Buch zu lesen. Gibes besser einem Freund.

Dies ist ein Buch über Dich. Über Deine Hoffnungen undÄngste, über die Möglichkeiten zu leben, ja zu überleben.De te fabula narratur, lieber Leser, und vergiss dies nicht,während Du Dich in die Revolte in Bolivien stürzt.

Die Zeit hat einen Salto geschlagen. Bolivien wurdeals rückständiges, unterentwickeltes Land angesehen, dass,wenn es Glück hatte, darauf hoffen konnte, eines Tagesin der Zukunft den Entwicklungsstand eines Landes wieDeutschland zu erreichen. Vielleicht gibt es auch jetzt nochLeute, die das denken. Mit der immer offensichtlicheren, im-mer stärker Angst einflößenden Desintegration der kapitalis-tischen Welt wird der Fluss von Zeit-Hoffnung-Raum um-gekehrt. Für immer mehr Europäer ist Lateinamerika zumKontinent der Hoffnung geworden. Und jetzt, wo wir überdie Bewegungen in Bolivien lesen, sagen wir nicht, »armeMenschen, haben sie irgendeine Hoffnung darauf, mit unsgleichzuziehen?«, sondern vielmehr, »Wie großartig! Kön-nen wir in Deutschland (oder wo auch immer) möglicher-weise hoffen, etwas Ähnliches zu tun? Können wir jemalsdarauf hoffen, wie die Menschen in Cochabamba oder ElAlto zu handeln?« Von der Antwort auf diese einfache Fra-ge hängt die Zukunft der Welt ab.

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Es gibt eine Umkehr im Fluss der Inspiration und des Ver-ständnisses. Subcomandante Marcos kündigte dies an, als eram Ende eines Interviews für ein italienisches Video von1995 auf die Frage, was Europäer tun könnten, um die Za-patisten zu unterstützen, antwortete: »Das Beste, was ihr ma-chen könnt, ist, in euren eigenen Ländern zu revoltieren, undwenn wir hier fertig geworden sind, werden wir rüberkom-men und euch helfen.« Aber natürlich musste der Fluss derHilfe und des Denkens und der Inspiration nicht erst auf denErfolg der zapatistischen und anderer Rebellionen in La-teinamerika warten. Die Rebellen aus der ganzen Welt, aberinsbesondere aus Europa, sind scharenweise nach Chiapas,Argentinien, Venezuela und Bolivien gefahren. Manchmalnur zum Sehen und Romantisieren, häufig jedoch zum Be-staunen, zum Helfen und vor allem, um von den dortigenExperimenten zu lernen.

Raúl Zibechi kommt nach Bolivien, um zu lernen. Wiewir kommt er mit Fragen, Fragen, deren Bedeutung weitüber die Grenzen Boliviens hinausreichen. Wie verändernwir die Welt und erschaffen eine andere? Wie befreien wiruns vom Kapitalismus? Wie erschaffen wir eine auf Würdeaufbauende Gesellschaft? Welche Rolle hat der Staat undwelche Möglichkeiten gibt es, die Gesellschaft durch Be-wegungen zu verändern, die den Staat ablehnen? Was machteine Bewegung aus, die den Staat ablehnt? Was bedeutet»den Staat ablehnen« in Bezug auf die Einzelheiten der All-tagspraxis? Kann eine Bewegung, die den Staat ablehnt, überlange Zeit aufrechterhalten werden, ohne dass sie sich insti-tutionalisiert? Wie können wir uns eine Bewegung in derStadt vorstellen, die die Gemeinschaft1 zur Grundlage hat?Nicht alle diese Fragen werden ausdrücklich erwähnt, aberes ist eindeutig, dass Zibechi, ein uruguayischer Wissen-schaftler und Journalist, dessen umfassende Schriften überdie neuen antisystemischen Kämpfe in Lateinamerika sehr

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einflussreich sind, die wichtigsten praktischen und theoreti-schen Fragen, die sich durch die Kämpfe in Lateinamerikaund der Welt der letzten ca. fünfzehn Jahre aufgetan haben,mit einbringt. Er greift diese Fragen auf und bringt sie zumLeben, indem er sie durch die Brille der Erfahrung in El Altobetrachtet, die Aymara-Stadt oberhalb von La Paz, die dasZentrum der sozialen Revolten der ersten fünf Jahre diesesJahrhunderts war.

Zibechi nimmt uns mit in die Stadt. Die zapatistische Be-wegung hier in Mexiko stellte in den letzten fünfzehn Jah-ren eine enorme Inspirationsquelle in der ganzen Welt dar.Aber die Zapatistinnen und Zapatisten von Chiapas sindBauern: Sie leben im Wesentlichen davon, dass sie ihre ei-genen Böden bestellen und sie werden von eng geknüpftenGemeinschaften unterstützt. Für uns, die wir keine Bauernsind, wirft dies die Frage des urbanen Zapatismus auf, dasheißt, wie wir die Fragen des Zapatismus in unseren urba-nen Bewegungen widerhallen lassen können? Wie könnenwir autonome antikapitalistische, den Staat ablehnende Be-reiche oder Momente in der Stadt erschaffen? El Alto liefertuns viele Anregungen. Eins der zentralen Ergebnisse in Zi-bechis Analyse ist, dass die Gemeinschaften, die die Grund-lage der Revolte in El Alto bildeten, keine Reproduktion derländlichen Gemeinden sind, aus denen viele der Bewohnerkamen. Sie sind vielmehr ein spezifisch städtisches Phäno-men, Formen gegenseitiger Unterstützung und kollektiverOrganisierung, die aus den spezifischen Problemen des Le-bens in einem schwierigen städtischen Umfeld entstandensind.

Diese Formen der Unterstützung und Organisierung sindin die Praxis des Alltagslebens verwoben. Hierin liegt diewahre Stärke der Revolte. Die wirklichen Kräfte gesell-schaftlicher Veränderung liegen nicht dort, wo sie sichscheinbar befinden. Sie befinden sich weder in den Institu-

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tionen noch in den Parteien, sondern im alltäglichen Kon-takt der Menschen, im täglichen Weben der gesellschaft-lichen Interaktionen, die nicht nur für das Überleben not-wendig sind, sondern die Grundlage des Lebens darstellen.Ausgehend von dieser nicht-sichtbaren Ebene erhebt sich dieRevolte und die Stärke der Revolte wird davon abhängen,wie weit es ihr gelingt, innerhalb dieses täglichen Webensder Gemeinschaft zu verbleiben. Der Schlüssel zum Erfolgder bolivianischen Revolte besteht darin, dass sie den Staatablehnt: nicht nur in dem Sinne, dass die Menschen sich ge-gen den Staat auflehnten und ihn daran hinderten, seine Plä-ne umzusetzen, sondern in dem viel tieferen Sinne, dass dieRevolte sich der Trennung entgegensetzt, die der Staat ver-körpert. Dort, wo der Staat Menschen spaltet, spaltet er dieAnführer von den Massen, trennt er das Politische vom Öko-nomischen, das Öffentliche vom Privaten und so weiter. DerKampf in Bolivien widersetzt sich beständig dieser Tren-nung und bindet alles kollektive Handeln fest an die Ge-meinschaft. Der Kampf ist die beständige Erschaffung undNeuerschaffung der Gemeinschaft – ein zentraler Punkt, derzu häufig von Wissenschaftlern und Aktivisten vergessenwird.

Die Asymmetrie steht im Zentrum von Zibechis Bericht.Wir bekämpfen den Kapitalismus, indem wir uns von ihmunterscheiden, wir bekämpfen den Staat, indem wir etwasanderes sind. Aus der bolivianischen Erfahrung können wirlernen, dass dies realistisch ist. Die Bolivianer haben dasalte Regime nicht mittels Wahlen gestürzt, nicht mittelsParteien, sondern einfach, indem sie die Stärke der Ge-meinschaft gegen die des Staates gestellt haben. Und dieses»etwas anderes«, das wir dem Kapital entgegenschleudern,diese Gemeinschaft, die wir durch den Kampf erschaffenund wieder erschaffen, ist potenziell der Embryo einer an-deren Gesellschaft. Ich sage »potenziell«, denn es gibt kei-

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ne Sicherheit: Zibechi nimmt die Widersprüche dieses Pro-zesses sehr genau wahr und warnt davor, dass der gegen denStaat gerichtete Aufstand, wie so viele Revolutionen zuvor,dazu führen kann, dass am Ende der Staat, gegen den er sichrichtet, gestärkt wird. Und dennoch, die Untersuchung zuEl Alto zeigt uns die Kraft und die praktische, alltäglicheDurchführbarkeit dieser anderen Welt, die noch nicht exis-tiert und die deshalb als Noch-Nicht existiert, als Kampf.

Die Zukunft der Menschheit hängt jetzt von unsererFähigkeit ab, innerhalb des alten, verfaulten und zunehmendgewalttätigeren Kapitalismus Blitze, Andeutungen, Vorah-nungen, Fragmente der Welt der Würde, die wir erschaffenwollen, zum Leben zu bringen. Dies ist es, was die Men-schen von El Alto tun. Dies ist die Herausforderung, die sieuns zuspielen.

Das Buch ist schön, aufregend, anregend: Für mich ist eseine große Ehre, auf diesem Wege mit ihm verbunden zusein. Lies es und gib es Deinen Freunden.

John HollowayPuebla, Mexiko, 11. Januar 2009

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Einleitung

»Wenn die Subjekte autonome Produzentinnen und Produ-zenten von Reichtum, Wissen und Kooperation gewordensind, ohne die Notwendigkeit eines äußeren Kommandos,wenn sie die Produktion und gesellschaftliche Reproduktionselbst organisieren, dann gibt es keinen Grund für eine über-greifende, souveräne Macht außerhalb ihrer eigenen Kraft.«Antonio Negri / Michael Hardt, »Die Arbeit des Dionysos«

Die Folge von Kämpfen und Aufständen, in denen die boli-vianischen Völker seit 2002 die Hauptrolle gespielt haben,ist möglicherweise die tiefgreifendste »Revolution in derRevolution« seit dem zapatistischen Aufstand 1994 gewe-sen. Für die Völker des lateinamerikanischen Kontinentssind die Kämpfe in Bolivien ein zentraler Bezugspunkt undlebendiger Lehrstoff für die Herausforderungen, die uns diesoziale Emanzipation stellt. Während der Zapatismus in den1990er Jahren eine neue Form von Politik jenseits des Staa-tes sichtbar gemacht hat, zeigen uns die bolivianischen Be-wegungen, dass der Aufbau nicht-staatlicher Mächte nichtnur wünschenswert, sondern möglich ist; dass die Machtnicht unbedingt ein von der Gesellschaft getrenntes und ihrübergeordnetes Organ sein muss und dass es möglich ist, dieersehnte andere Welt zu schaffen, ohne zuvor diesen Alb-traum durchleben zu müssen, den der Staat seit jeher für alleLibertären, bei Marx angefangen, gewesen ist.

Seit 1989 haben die Volksmassen und indianischen Völ-

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ker Lateinamerikas Revolten und Aufstände angeführt, diedas neoliberale Herrschaftsmodell in die Enge getrieben ha-ben. Der Caracazo-Aufstand 1989 in Venezuela und dieAuf-stände der ecuadorianischen Indios seit 1990 haben gezeigt,dass es möglich ist, von den Gemeinschaften und Stadttei-len der Armen aus Widerstand zu leisten und in die Offen-sive zu gehen. Diese Revolten haben eine zentrale Rolle beider Delegitimierung des Wahlparteiensystems gespielt, indas sich die Demokratie verwandelt hat.

Der Zapatismus hat seit 1994 den Kontinent und die Weltmit einem Aufstand erhellt, der nicht auf die Übernahme derMacht, sondern auf den Aufbau einer neuen Welt abzielt. Erhat die Bedeutung der Schaffung von (dörflichen, kommu-nalen und regionalen) Autonomien von unten aufgezeigt. Inden letzten Jahren versucht er, eine politische Kultur, die aufgegenseitigem Zuhören basiert, das als Ausgangspunkt füreine nicht-institutionelle Politik von unten begriffen wird,auf ganz Mexiko auszudehnen. Mit den Juntas de Buen Go-bierno (Räte der Guten Regierung, autonome Selbstregie-rung der fünf zapatistischen »Landkreise«) haben uns dieZapatistas gezeigt, dass es – wenigstens im kleinen Maß-stab – möglich ist, nicht-bürokratische Machtformen aufzu-bauen, die auf der Rotation der Repräsentanten basierenund nichts mit den staatlichen Herrschaftspraktiken gemeinhaben.

Die Landlosenbewegung in Brasilien beweist seit Jahrendie Bedeutung einer Landreform von unten und ist heutenicht nur die wichtigste soziale Bewegung des Landes, son-dern setzt auch auf die Zusammenarbeit mit jungen Armenaus den Großstädten, um den Kampf gegen den »linken Neo-liberalismus« voranzutreiben.

Die argentinischen Piqueteros (Erwerbslosenbewegung)verlagerten den Schwerpunkt der Kämpfe von den Klein-städten in die Großstädte und von den Festangestellten auf

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die Erwerbslosen und die vom Neoliberalismus margina-lisierten Menschen. Der argentinische Volksaufstand am19. und 20. Dezember 2001 belegte, dass man ohne Par-teiapparate und Caudillos, ohne Avantgarden und Füh-rungsparteien kämpfen und siegen kann, und dass dieorganisatorischen Notwendigkeiten kein Klotz am Beinder Volksmassen sein müssen, sondern von den bereits imAlltagsleben der Ärmsten bestehenden Organisationsfor-men ausgehen und diese ausdehnen, verbessern und ver-tiefen können.

Welchen Beitrag leisten die bolivianischen Kämpfe fürdie lateinamerikanischen Völker und uns Menschen, die wireine neue Welt schaffen wollen? Die »Kriege« um das Was-ser und Erdgas (2000 und 2003) zeichneten sich wie die an-deren Kämpfe auf dem Kontinent durch die Abwesenheitvon Avantgarden und Führungsapparaten aus. Es warenAuf-stände, die außerhalb der Gewerkschafts-, Bauern- oderParteiverbände organisiert und gewonnen wurden, ohne einoben und unten, ohne die klassische Trennung zwischenFührern und Geführten. Außerdem haben diese Auseinan-dersetzungen gezeigt, dass für den Kampf und den Sieg dasbereits Bestehende ausreicht: vor allem die traditionellenDorfgemeinschaften (ayllus) sowie die städtischen Wasser-verbrauchergemeinschaften und die Nachbarschaftsvereini-gungen (juntas vecinales). Dass die Kämpfe und Aufständevon denselben Organisationen getragen werden, die im All-tagsleben verankert sind und seine Organisierung überneh-men, ist eines der neuen Wesensmerkmale der (immergleichzeitig sozialen und politischen) Bewegungen Latein-amerikas. Ich halte es für notwendig, diesen Punkt genauerzu untersuchen.

Die Revolution ist die Geburtshelferin der Geschichte.Dieser Ausspruch von Marx fasst eine Vorstellung der Revo-lution zusammen, die von den Marxisten begraben wurde.

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Marx blieb dagegen dieser Sichtweise des sozialen Wandelstreu, der zufolge die revolutionäre Tat nur ein Markstein imlangen Prozess der Erschaffung dieser anderen Welt ist.

Die Revolution trägt zur Geburt der neuen Welt bei, abersie erschafft sie nicht. Diese neue Welt gibt es bereits in ei-nem gewissen Maß und, um weiter wachsen zu können,muss sie in einem Kraftakt geboren werden: der Revolution.Ich denke, dass die Ereignisse in den Territorien der Bewe-gungen – die meiner Meinung nach die Schaffung einer an-deren Welt darstellen, die nicht nur neu ist, sondern anders,und von anderen Denkweisen bestimmt wird – mit denSchlussfolgerungen zu tun haben, die Marx aus der Erfah-rung der Pariser Kommune zog: »Die Arbeiterschaft hat kei-ne Utopie, die sie als ›Volkserlass‹ einsetzt. Sie hat keineIdeale zu verwirklichen; sie hat nur die Elemente der neuenGesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoßder zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelthaben.«1

Ich möchte etwas näher auf den Passus »in Freiheit zu set-zen« eingehen, denn ich denke, dass er eine Schlüsselvor-stellung ausdrückt, die das gesamte theoretische Werk vonKarl Marx durchzieht. Der Kommunismus ist potenziell inder kapitalistischen Gesellschaft vorhanden. Im Kommunis-tischen Manifest kommt dies deutlich zum Ausdruck, wennbei der Analyse des Übergangs vom Feudalismus zum Ka-pitalismus dargelegt wird, wie die bürgerliche Gesellschaftallmählich aus dem Inneren der feudalen Gesellschaft ent-standen ist. Auf ähnliche Weise würde der Übergang vomKapitalismus zum Kommunismus erfolgen. Die neue Ge-sellschaft ist kein Ort, zu dem man gelangt, sie ist nicht et-was, was sich außerhalb befindet und erobert werden müss-te, und sie ist in keinem Fall etwas, was man einsetzenwürde. Marx beschreibt den revolutionären Wandel als ei-nen Prozess, in dem das Potenzielle-Latente, das in der Welt

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der Unterdrückten verwurzelt ist, wächst und wie eine Blü-te aufgeht: deshalb benutzt er auch den Ausdruck »in Frei-heit setzen«.

Marx spricht auch nicht von Spontaneität, dieser Begriffwurde erst von Kautsky und danach von Lenin bei seinerzentralstaatlichen Abdrift eingeführt2, sondern er verwendetdie Adjektive »selbstständig« oder »eigentümlich«. SeinWerk ist von der Vorstellung der Eigentätigkeit der Arbei-terschaft durchzogen, die ihm zufolge auf natürliche Weisein Erscheinung tritt. Er behauptet – zu Recht oder zu Un-recht –, dass die durch die Entwicklung des Kapitalismusausgelöste Konzentration der Arbeiterschaft die Vorausset-zung für deren Einheit auf Grundlage der Selbstbildungschaffen würde, und setzt darauf, dass diese Einheit die Herr-schaftsgrundlage der Bourgeoisie – die Konkurrenz unterden Arbeitern – aushöhlen würde. Er sucht also im Innerender Klasse sowohl die Schwächen, die sie unterdrückt, alsauch die Kräfte, die sie befreit.

Ich behaupte, dass dieses »in Freiheit setzen« sowie dieBegriffe »Eigentätigkeit« und »Selbstorganisierung« zu ei-ner Auffassung von der Welt und dem sozialen Wandelgehören, die sich auf die Vorstellung stützt, dass die Prozes-se sich auf natürliche Weise abspielen, das heißt, angetrie-ben von ihren eigenen inneren Dynamiken.

Die innere Dynamik der sozialen Kämpfe entwirft dem-nach ein Geflecht sozialer Beziehungen zwischen den Un-terdrückten, das ihnen zunächst das materielle und geistigeÜberleben sichert. Mit der Zeit und dem Niedergang desherrschenden Systems wächst auf Grundlage dieser Bezie-hungen eine neue, also andere Welt heran. Diese dehnt sichimmer weiter über die Gesellschaft aus und drängt die »al-ten« gesellschaftlichen Beziehungen, bei denen es sich vorallem um staatliche Beziehungen handelt, nach und nach anden Rand des gesellschaftlichen Geschehens.

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Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist voll mit Gebur-ten von neuen Welten, die »alte« gesellschaftliche Bezie-hungen hervorgebracht haben. Diese dramatische Tatsachehat verheerende Folgen gehabt. In aller Regel haben dieRevolutionen keine neuen Welten erschaffen, sondern dieRevolutionäre haben versucht, die neue Welt von den Staats-apparaten aus aufzubauen. Wenn auch die meisten Revolu-tionen die Lebensbedingungen der Bevölkerung verbesserthaben, was zweifellos eine wichtige Errungenschaft war,sind sie eben nicht in der Lage gewesen, diese neuen Wel-ten hervorzubringen. Ganz unabhängig von den guten Ab-sichten der jeweiligen Revolutionäre ist es einfach nicht vonder Hand zu weisen, dass der Staat kein geeignetes Werk-zeug zur Erzeugung emanzipatorischer sozialer Beziehun-gen ist.

Das Revolutionärste, was wir in dieser Hinsicht machenkönnen, ist die Schaffung neuer sozialer Beziehungen im In-neren unserer Gebiete, Beziehungen, die im Kampf entste-hen, von ihm getragen werden und sich mit ihm ausdehnen.

In Bolivien, wie in anderen Ländern des Kontinents, hat derWahlsieg von Evo Morales am 22. Januar 2006 eine politi-sche Konjunktur eingeleitet, die eine vollkommen neue Her-ausforderung an die sozialen Bewegungen stellt. In einigenLändern hat die Regierungsübernahme von progressivenKräften die Schwächung der Bewegungen bewirkt, da es denneuen Machthabern gelungen ist, sich einige Sektoren ein-zuverleiben und andere zu isolieren. Wir müssen aus diesenErfahrungen lernen, um die Zerschlagung der sozialen Be-wegungen zu verhindern. Die politische Bühne der nächstenJahre wird entscheidend von den Beziehungen der Bewe-gungen mit diesen linken Regierungen bestimmt werden. Siekönnen entweder durch die Einführung minimaler Verände-rungen zu einer neuen Legitimierung der Staaten und des

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neoliberalen Modells führen oder aber neue und stärkereFortschritte der Kräfte bewirken, die für den Aufbau eineranderen Welt kämpfen.

Die Konjunktur bestimmt nicht die Kraft einer Bewe-gung, sondern bedingt lediglich ihre Ausdehnung. DieseKraft kann jedoch von anderen Variablen beeinflusst wer-den, die genau genommen nichts mit der politischen Kon-junktur zu tun haben. Welche Beziehungen die Menschen,die Teil dieser Bewegungen sind, mit den Potenzialitätendieser Bewegungen haben, ist möglicherweise die wichtigs-te dieser Variablen: ob sie eine direkte Verbindung mit denihnen innewohnenden Kräften haben, sie fördern und ver-tiefen, oder ob sie ihnen als Mittel dienen, um bestimmteZwecke zu erreichen.

Auf die Grenzen der Bewegungen ist schon häufig hin-gewiesen worden. Die Bewegungen seien zwar dazu gut, umRegierungen zu schwächen und zu stürzen, um die Gesell-schaft zu mobilisieren oder um das neoliberale Modell zudelegitimieren, es fehle ihnen jedoch an der »anderen Hälf-te«: Sie seien unfähig, eine klare Strategie zu entwickeln,eine Führungsrolle zu übernehmen und an die Macht zu ge-langen, um ihr Programm in die Praxis umzusetzen.

An dieser Stelle sind nur zwei Formen von Politik mög-lich: eine Politik, die auf den Grenzen und Beschränkungenbasiert, oder eine, die auf die inneren Kräfte setzt. Wenn wirvon den Grenzen ausgehen, stellen wir das, was wir nichttun können, in den Mittelpunkt. Dies führt dazu, dass wiruns im Unvermögen einrichten, wodurch wir uns gewisser-maßen selbst in eine Art Sackgasse bugsieren, in der wir ste-hen bleiben und warten bzw. hoffen, dass uns »jemand« wie-der herausführt. Wer sich nur zwischen den Grenzen aufhält,stellt das in den Vordergrund, was den Bewegungen bishernicht gelungen ist. Diese Haltung impliziert verschiedeneLesarten: Die eine setzt offen auf den Staat, entweder durch

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direkte Allianzen mit der Regierung oder durch indirektePakte, was in beiden Fällen letztendlich zur Unterwerfungunter Staat und Regierung führt. Die eher an der Basis Aus-gerichtete setzt dagegen auf die »Strukturierung« der ver-schiedenen Bewegungen, um die Mobilisierung und den so-zialen Druck effektiver zu gestalten. Sie versucht, dieBewegungen mit der Kohärenz und Kapazität auszustatten,die nötig sind, um die politische Tagesordnung zu beein-flussen. Es handelt sich um zwei Versionen desselben Pro-jekts: Das Subjekt der Veränderungen ist nicht mehr diemobilisierte Gesellschaft, sondern der Staat oder die Partei-Organisation bzw. verschiedene Mischformen aus beiden.Für die eine wie die andere Lesart ist die politische Kon-junktur »alles«.

Tatsächlich ist die Konjunktur Quantität in dem Maße, indem die Kraft der Bewegung Qualität ist. Die eine kann sichjedoch nicht in die andere verwandeln. Von daher ist esdurchaus natürlich, dass der staatszentrierte Blick die Fragenach der Nützlichkeit der Kraft der Bewegung aufwirft. Sieist, wie die Emanzipation, nicht nützlich, sie kann nicht alsTauschwert verschachert werden. Noch schlimmer, sie istnur für diejenigen von Interesse – oder hat einen Ge-brauchswert, wenn man will –, die sie erleben, fühlen undpraktizieren. Deshalb ist die emanzipatorische Kraft in derRegel auch nicht in den großen Liturgien zu finden, mit de-nen die politische und soziale Linke glaubt, Veränderungenvorantreiben zu können. Dies gilt sowohl für Parteikongres-se als auch für Sozialforen.

Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, kann – undsollte – sie nicht »definiert« werden. Wir können sie nur(wieder)erkennen wie Marx mit seinem hic Rhodus hic sal-ta. Denn, was wir die Kraft einer Bewegung nennen, stehtmit den menschlichen Erfahrungen in Verbindung, mit denBeziehungen, die Männer und Frauen in Bewegungen un-

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tereinander und mit anderen aufbauen. Beziehungen, die, in-dividuell und kollektiv, aus Schmerz entstehen. »Die Kraftbildet sich im Schmerz«, sagt Negri3 und fügt hinzu: »Allegroßen kollektiven Subjekte entstehen ausgehend vomSchmerz, wenigstens diejenigen, die gegen die von derMacht dekretierte Enteignung der Zeit des Lebens kämp-fen.« Schmerz kann man jedoch nicht vermitteln, man kannihn nur teilen, und da er eben genau »über die Logik, dasRationale und die Sprache hinausgeht«, ist er »ein Schlüs-sel, der das Tor zur Gemeinschaft öffnet«.4

Die den Bewegungen innewohnende Kraft ist also in derLage, die Menschen, uns alle und jeden einzeln, zu verän-dern. Dies gilt jedoch nur in dem Maße, in dem wir an die-sen Beziehungen in Bewegung teilnehmen, und es gilt nichtfür die Bewegungen als Institutionen. Demonstrationen undrituelle Aufmärsche verändern nicht die Menschen, auchwenn Straßenaktionen manchmal die Kräfte der Verände-rung verkörpern können. Dies war zum Beispiel am 19. und20. Dezember 2001 in Argentinien der Fall und in den denk-würdigen Tagen des »Wasserkriegs« 2003 in Bolivien.

Subcomandante Marcos erinnert uns daran: »Von untenaus gesehen, ist lernen gleichbedeutend mit wachsen.«Gleichzeitig weist er aber darauf hin: »Die Aussaaten vonunten werden nie sofort geerntet.«5 Der Zapatismus unter-streicht auf diese Weise die Bedeutung des kollektiven Ler-nens und die Notwendigkeit, die Lernprozesse zu einemDreh- und Angelpunkt der Bewegungen zu machen. Gleich-zeitig signalisiert er die Notwendigkeit, einen Zeitbegriff zuentwickeln, der von den internen Rhythmen abhängt undnicht von den Rhythmen des Systems. Dies beinhaltet je-doch, dass die Instrumentalisierung der Mittel nach Maßga-be der Zwecke aufgegeben werden muss. Es gibt nicht dengeringsten Unterschied zwischen Zwecken und Mitteln; derZweck ist in den Mitteln, wie Marcos sagt.

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In den tiefgehendsten Erfahrungen ist der Druck zurÜberwindung der Grenzen spürbar. Wenn dieser – tenden-ziell überschäumende – Druck die innewohnende Kraft derBewegungen ist, dann ist es evident, dass die Konjunktur sienicht beeinträchtigt. Außen und innen lösen sich in diesemStadium, in diesem Spannungsfeld, auf. Der Druck zurGrenze hin (Emanzipation) kennt keine anderen Grenzenund Einschränkungen als die Grenzen des Drucks selbst.Deshalb verwirklicht sich diese Kraft auch nie und wirdnicht dinglich, sie ist immer ein unvollendetes Werden. Alsautonomes, nur von sich selbst abhängendes Spannungs-verhältnis dehnt sich die Kraft in dem Maße aus, in dememanzipatorische Beziehungen – das heißt Manifestationendieser Kraft – gebildet und geschaffen werden. Das ist dasEinzige, was wir als Macht bezeichnen können. Potenzierenund Intensivieren heißt demnach, das Beziehungsgeflecht zuvertiefen und dabei darauf zu achten, dass es nicht zu Herr-schaftsformen gefriert.

Die Bewegung der Aymara knüpft jedoch nicht nur an dieanderen Kämpfe auf dem Kontinent an, sondern fügt ein we-sentliches neues Element hinzu: den Aufbau von nicht-staat-licher Macht. Darunter verstehe ich Machtorgane, die nichtvon der Gesellschaft abgespalten sind, die keine eigenen Ka-der bilden, weder um Entscheidungen zu fällen noch um zukämpfen und auch nicht, um interne Konflikte zu lösen.Während der Staat das Monopol der Gewaltausübung be-sitzt, die von einem von der Gesellschaft abgetrennten Kör-per (der zivilen und militärischen Bürokratie) beschlossenund ausgeübt wird, ist diese Kompetenz in der Welt der Ay-mara über die gesamte Gesellschaft verteilt und wird vonden Vollversammlungen auf dem Land und in der Stadt be-stimmt.

Die Fähigkeit des Aufbaus von dezentralisierten, nicht-

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staatlichen Machtorganen verbindet die Bewegung der Ay-mara mit den zapatistischen Räten der guten Regierung.Beide stellen – unabhängig von ihren Unterschieden undEigenheiten – einen wesentlichen Beitrag zur Emanzipationdar. In Chiapas erfolgt der Aufbau dieser Machtorgane aufexplizite Weise, während kommunale Machtorgane wie dieAymara-Kasernen ein impliziter Bestandteil der Bewegungsind – was in erheblichem Maße damit zu tun hat, dass dieAymara keine eigentlichen »befreiten« Gebiete besitzen.Beide Prozesse bewegen sich jedoch in vergleichbaren Span-nungsfeldern und werden von ähnlichen Wünschen getra-gen.

Die nicht-staatlichen Machtorgane der Aymara sind anOrten entstanden, an denen kommunitäre Maschinen funk-tionieren. Es handelt sich dabei um für indigene Agrar-gemeinschaften typische soziale Mechanismen, die »aus-gelagert« und »dekommunalisiert« wurden, um von derGesellschaft in Bewegung als nicht-staatliche Formen derMobilisierung und Schaffung von kollektiven Räumen ge-nutzt werden zu können, in denen das »gehorchende Be-fehlen« in der alltäglichen Praxis funktioniert. Über dieseMechanismen lösten die Aymara-Gesellschaft und anderegesellschaftliche Gruppen Boliviens starke Mobilisierungenaus, die zwei Präsidenten gestürzt und das neoliberale Mo-dell in die Enge getrieben haben, ohne staatliche Strukturenaufzubauen. Es kann jetzt nicht darum gehen, über die Ent-wicklung in den nächsten Jahren zu spekulieren. Das beste,das wünschenswerteste Szenario ist, dass die neue Regie-rung zum Träger und Sprecher der Veränderungen wird,ohne den Bewegungen ihre Kraft und gesellschaftlicheHauptrolle zu nehmen. Allerdings sollten uns Erfahrungenwie die argentinische – wo ein erheblicher Teil der Bewe-gungen von der fortschrittlichen Regierung von NéstorKirchner vereinnahmt worden ist – vor den goldenen Ketten

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staatlichen Machtorganen verbindet die Bewegung der Ay-mara mit den zapatistischen Räten der guten Regierung.Beide stellen – unabhängig von ihren Unterschieden undEigenheiten – einen wesentlichen Beitrag zur Emanzipationdar. In Chiapas erfolgt der Aufbau dieser Machtorgane aufexplizite Weise, während kommunale Machtorgane wie dieAymara-Kasernen ein impliziter Bestandteil der Bewegungsind – was in erheblichem Maße damit zu tun hat, dass dieAymara keine eigentlichen »befreiten« Gebiete besitzen.Beide Prozesse bewegen sich jedoch in vergleichbaren Span-nungsfeldern und werden von ähnlichen Wünschen getra-gen.

Die nicht-staatlichen Machtorgane der Aymara sind anOrten entstanden, an denen kommunitäre Maschinen funk-tionieren. Es handelt sich dabei um für indigene Agrar-gemeinschaften typische soziale Mechanismen, die »aus-gelagert« und »dekommunalisiert« wurden, um von derGesellschaft in Bewegung als nicht-staatliche Formen derMobilisierung und Schaffung von kollektiven Räumen ge-nutzt werden zu können, in denen das »gehorchende Be-fehlen« in der alltäglichen Praxis funktioniert. Über dieseMechanismen lösten die Aymara-Gesellschaft und anderegesellschaftliche Gruppen Boliviens starke Mobilisierungenaus, die zwei Präsidenten gestürzt und das neoliberale Mo-dell in die Enge getrieben haben, ohne staatliche Strukturenaufzubauen. Es kann jetzt nicht darum gehen, über die Ent-wicklung in den nächsten Jahren zu spekulieren. Das beste,das wünschenswerteste Szenario ist, dass die neue Regie-rung zum Träger und Sprecher der Veränderungen wird,ohne den Bewegungen ihre Kraft und gesellschaftlicheHauptrolle zu nehmen. Allerdings sollten uns Erfahrungenwie die argentinische – wo ein erheblicher Teil der Bewe-gungen von der fortschrittlichen Regierung von NéstorKirchner vereinnahmt worden ist – vor den goldenen Ketten

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warnen, die ein Staatsapparat darstellt, der von Personen ge-leitet wird, die den Bewegungen nahe stehen.

Für alle, die wir auf die Emanzipation setzen, liegen diezentralen und entscheidenden Herausforderungen nicht oben,sondern unten. Von daher geht es auch nicht darum, den Re-gierenden die Schuld zu geben oder sie gar des »Verrats«zu bezichtigen. Die Kraft der Bewegungen wie ihr heiligesFeuer zu hüten, ist eine alltäglicheAufgabe aller, die wir dar-auf setzen, eine neue Welt zu schaffen. Eine neue Welt, dieim Herzen der Völker schlägt, ein Herz, das frei von Hier-archien und Caudillos in der Gesellschaftlichkeit des Volkesgeschaffen wird; eine Welt, die aus der Kraft der Brüder- undSchwesterlichkeit entsteht; der Antriebskraft jeglichen Wan-dels; Grundlage und Licht des Lebens.

Der vorliegende Text hätte ohne die Mitarbeit, Unterstüt-zung und Beteiligung zahlreicher Personen nicht entstehenkönnen. Ich danke allen, die mir ihre Zeit gewidmet und mirin Interviews und Gesprächen ihre Erfahrungen mit den Be-wegungen auseinandergesetzt haben. Álvaro García Linerafür seine Hellsichtigkeit und seinen Blick fürs Ganze. Bru-no Rojas für seine statistischen Informationen über El Alto.Félix Patzi für seine Analyse der Welt der Aymara als Alter-native zum Kapitalismus, und Pablo Mamani Ramírez fürseine ausführlichen Erläuterungen über die Funktionsweiseder Nachbarschaftsvereinigungen. Silvia Rivera Cusicanquifür ihre scharfsichtige und anregende Analyse der Lage voneinem feministischen Standpunkt aus. Den Performance-künstlerinnen Mujeres Creando für ihre provokative, böse,rebellische Unnachgiebigkeit, die zum Denken anregt.

Óscar Olivera, Giselle, Claudia, Marcelo und Marcelanahmen mich herzlich in Cochabamba auf und luden michzu Debatten und Workshops ein. Mit Dunia und Patriciakonnte ich an einem aufschlussreichen Treffen von Haus-

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haltshilfen teilnehmen. Óscar und Omar Fernández ver-schafften mir die Möglichkeit, an Versammlungen undTreffen der »Bewässerungsberechtigten« des kämpferischenTals teilzunehmen, in dem vor drei Jahrzehnten die erstenStraßenblockaden erprobt wurden. Abraham Grandidierscheute keine Mühen, um mir die unglaublichen Erfahrun-gen der Wasserkooperativen im Süden von Cochabamba zuvermitteln.

In El Alto teilten mir die Mitglieder der Gruppe Jóvenesde Octubre (Abraham, Elías Uvaldo, Álex und Jhony) ihreErfahrungen mit den öffentlichen Plätzen der Stadt als nicht-institutionellen Räumen der Debatte und Selbstbildung mit.Marco Quispe und Julio Mamani Conde vermittelten mirihre umfassenden Kenntnisse über die Geschichte und Ge-genwart der sozialen Bewegung in ElAlto, Juan Carlos Con-dori seine Erfahrungen in der Schule Warisata und mit demKampf der Aymara-Bauernbewegung in der Region Acha-cachi.

Der permanente Gedankenaustausch mit dem ColectivoSituaciones ist für mich seit Jahren eine Quelle der Inspira-tion und hat entscheidenden Einfluss auf mehrere Abschnit-te dieses Textes gehabt. Die Beiträge von Raquel GutiérrezAguilar, ihr tiefes menschliches Engagement, ihre Scharf-sinnigkeit und Kreativität haben das gesamte Buch geprägt.Luis Gómez ist in vieler Hinsicht Koautor dieses Buches.

Pola und Agustín sind, wie immer, auf jeder Seite präsent.

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