RassinierPaul DieJahrhundert Provokation WieDeutschland

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Paul Rassinier DIE JAHRHUNDERT- PROVOKATION Wie Deutschland in den Zweiten Weltkrieg getrieben wurde Mit einem Nachwort von David Irving GRABERT-VERLAG-TÜBINGEN

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  • Paul Rassinier

    DIE JAHRHUNDERT- PROVOKATION

    Wie Deutschland in den Zweiten Weltkrieg getrieben wurde

    Mit einem Nachwort von

    David Irving

    GRABERT-VERLAG-TBINGEN

  • Schutzumschlag: Creativ GmbH, Stuttgart bersetzung aus dem Franzsischen: Claude Michel

    Titel der franzsischen Originalausgabe: Les responsables de la seconde Guerre mondiale

    Nouvelles Editions Latines, Paris 1967

    CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

    Rassinier, Paul: Die Jahrhundert-Provokation: wie Deutschland in den Zweiten

    Weltkrieg getrieben wurde/Paul Rassinier. [bers. aus d. Franz. von Claude Michel].

    Tbingen: Grabert, 1989 (Verffentlichungen des Institutes fr Deutsche Nachkriegsge-

    schichte ; Bd. 16) Einheitssacht.: Les responsables de la seconde

    Guerre mondiale < dt. > ISBN 3-87847-100-9

    NE: Institut fr Deutsche Nachkriegsgeschichte < Tbingen > Verffentlichungen des Institutes . . .

    ISBN 3-87847-100-9 ISSN 0564-4186

    by Nouvelles Editions Latines, Paris Deutsche Ausgabe 1989 by Grabert-Verlag,Tbingen

    7400 Tbingen, Postfach 1629 Printed in Germany

    Alle Rechte der Verbreitung durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tontrger aller Art oder durch auszugsweisen Nachdruck sind

    vorbehalten.

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    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort 7

    Erster Teil: Der Versailler Vertrag, Hitler-Deutschland und die allgemeine Abrstung 13

    I. Der Versailler Vertrag und Hitlers Machtbernahme in Deutschland 15

    1. Die Wahlen vom 14. September 1930 15 2. Die Reichsprsidentenwahlen

    vom 13. Mrz 1932 22 3. Die Reichstagswahlen vom 31. Juli und

    6. November 1932 29 4. Hitler wird Reichskanzler 39

    II. Hitlers Auenpolitik 48

    1. Vom Versailler Vertrag zur allgemeinen Abrstung 48

    2. Frankreich gegen die allgemeine Abrstung 56 3. Hitler schlgt die allgemeine Abrstung vor 65 4. Deutschlands wirtschaftlicher Wiederaufbau 73 5. Prsident Roosevelts Politik 75 6. Die Barthou-Note vom 17. April 1934 80

    III. Dem Krieg entgegen 86

    1. Der Rstungswettlauf 86 2. Englands Annherung an Deutschland 96 3. Der franzsisch-sowjetische Bndnispakt 104

    IV. Die Judenfrage 119

    1. Hitler und die Juden 119 2. Die Rassengesetze vom September 1935 124

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    3. Die Konferenz von Evian 126 4. Die Reichskristallnacht 128

    Zweiter Teil: Zwischen Krieg und Frieden 137

    Einleitung: das Jahr 1938 139

    V. Der Anschlu 146

    1. Die Sendung des deutschen Landes sterreich 146

    2. sterreich und der Nationalsozialismus 152 3. Skrupellose Polemiker 163

    VI. Die Sudetengebiete 167

    1. Ein Mosaik von Minderheiten 167 2. Hitler und die tschechoslowakische Frage 174 3. Chamberlains Kampf fr den Frieden 184 4. Das Mnchener Abkommen 194

    Ein letztes Wort 205

    Dritter Teil: Dem Krieg entgegen 211

    VII. Die Teilung der Tschechoslowakei 213

    1. Am Tag nach Mnchen 213 2. Die Tschechen verletzen die

    Mnchener Vertrge 220 3. Die polnische Kehrtwendung 230 4. Die Intervention Pius XII. 243 5. Der deutsch-sowjetische Pakt 250

    VIII. Die letzten Tage 266

    Anmerkungen Nachwort von David Irving Personenverzeichnis

    312 345 351

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    Vorwort

    Ich wrde Judas retten, wenn ich Jesus wre.

    Victor Hugo

    Der Verfasser dieser Abhandlung war ein Widerstands- kmpfer der ersten Stunde. Zusammen mit Georges Bidault und zwei anderen ehrenhaften Mnnern, Henri Ribire und Kommandant Lierre, grndete er die Bewegung Libration- Nord. Als Grndungsmitglied wurde er 1943 von der Ge- stapo verhaftet und in deutsche Konzentrationslager ge- schleppt, wo er neunzehn Monate verbrachte. Er kam als Kriegsinvalide zurck und konnte sein Lehramt nicht mehr ausben. Er erhielt die goldene Verdienstmedaille und das Abzeichen des Widerstands.

    Er ist auch ein Sozialist. Er war fnfzehn Jahre lang Gene- ralsekretr des sozialistischen Verbands im Territoire-de- Belfort und Abgeordneter der zweiten Assemble Constitu- ante (gesetzgebenden Versammlung). Innerhalb der Soziali- stischen Partei gehrte er dem pazifistischen Flgel um Paul Faure an. Mit anderen Worten: er sprach sich fr das Mn- chener Abkommen aus. Daher sind die von ihm verfochte- nen Thesen weder die der Widerstandsbewegung noch die der jetzigen Sozialistischen Partei.

    Fr viele ist das ein Widerspruch. Es ist nmlich schwer begreiflich, da die ihm in den deut- schen KZs zugefgten Leiden sich nicht auf die berlegun- gen eines ehemaligen Deportierten auswirken und seine Ge- dankenfhrung nicht steuern. Der Verfasser mu zunchst festhalten, da er ohne Rachsucht aus der Deportation zu- rckkehrte. Die Talionslehre (Auge um Auge, Zahn um Zahn) ist eine primre Reaktion, wenn nicht die eines Pri-

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    mitiven, und man mu sie den Anhngern des Alten Testa- ments berlassen.

    Viel verlockender ist die Vergebung der Snden. Der au- erordentliche Reichtum des Neuen Testaments, das ebenso mythisch und unhistorisch ist wie das alte, rhrt davon her, da es diesen rationalen moralischen Wert zu seinem Grund- gesetz erhob. So erffnete es der Menschheit die Tore zur Brderlichkeit und zog sie aus der betretenen Bahn der Ra- che und des Hasses heraus. Sollte die Sndenvergebung ei- nes Tages zum Grundgesetz unserer Zivilisation werden, dann wird man dem in manch anderer Hinsicht so anfecht- baren Christentum danken mssen, sie ihr eingebracht zu haben.

    Die Anwendung dieses Leitsatzes wrde sofort erkennen lassen, da nicht etwa die Menschen zu verdammen sind, sondern die Ereignisse, ber die sie, die Unglcklichen, nicht Herr werden knnen. Im vorliegenden Fall war es der Krieg! Bedauern wir all diejenigen, die diese Grundwahrheit nicht begreifen! Lassen wir sie allein mit ihren primitiven Re- aktionen und schreiten wir vorwrts in Richtung auf mensch- liche Brderlichkeit!

    Man mte die Rinde des Sozialismus kaum abkratzen, um zu erkennen, da ihm eine gleichgeartete Philosophie zu- grunde liegt. Und wenn man wei, da die Essener, denen wir den Geist des Neuen Testaments verdanken, diese Lehre als erste in Anwendung brachten, kann man nicht umhin, ei- nen Zusammenhang herzustellen. Viele taten es brigens schon und behaupteten, Christus sei der erste Sozialist der Welt gewesen. Der Sozialismus ist in der Tat die Lehre der menschlichen Brderlichkeit schlechthin. Er erkennt die Teilung der Men- schen in Gesellschaftsklassen oder in rivalisierende Nationen nicht an: er leidet unter dieser Teilung und will sie abschaf- fen. Mit Gewalt? Der Brite Robert Owen (17711858), die Franzosen Saint-Simon (17601835), Fourier (17721837), Louis Blanc (18111882) und alle Sozialisten jener Zeit, de-

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    nen man die dumme Bezeichnung utopistische Sozialisten gab, waren Pazifisten. Erst Karl Marx, mit seiner Theorie des Klassenkampfes, der Machtergreifung auf den Barrikaden und der Diktatur des Proletariats, fhrte Gewalt und Ha in den Sozialismus ein.

    Freilich baute Marx seine Theorie lediglich auf gesell- schaftlicher Ebene auf und mit der Absicht, die armen Schichten zum Angriff auf die reichen zu bewegen: er arbei- tete somit auf den Brgerkrieg hin. Im Namen des Sozialis- mus dehnten ihn seine geistigen Erben auf die reichen und die armen Nationen aus: auf den Krieg berhaupt.

    Der Sozialismus als Denkgebude und als Doktrin hat mit alledem nichts zu tun, und keiner stellte besser als Jean Jaurs mit seinem Leben unter Beweis, da der Sozia- lismus keine Lehre des Kampfes ist, sondern eine der Ver- stndigung zwischen allen Menschen und allen Vlkern. Da- mals folgten ihm die Sozialisten nicht: sie traten in den Krieg ein. Aber bereits 1917 (Kienthal und Zimmerwald) waren sich viele ihres ideologischen Verrats bewut, und alle hatten seine Fhrte wiedergefunden, als sie sich gegen den Versail- ler Vertrag aussprachen.

    Der Verfasser ist in dieser Fhrte geblieben. Er hat nie verstanden und wird bestimmt nie begreifen, da die Sozialistische Partei Frankreichs innerhalb von zwan- zig Jahren eine vollstndige Kehrtwendung machen konnte. Am 14. Juli 1919 verfgte die Sozialistische Partei: Der Ver- sailler Vertrag geht aus dem wohl skandalsesten Mibrauch der Geheimdiplomatie hervor, verletzt offen das Selbstbe- stimmungsrecht der Vlker, knechtet ganze Nationen, er- zeugt neue Kriegsgefahren und zieht Gewaltmanahmen ge- gen smtliche Befreiungsbewegungen nach sich, nicht nur in Ruland, sondern auch in allen Lndern des frheren Habs- burgischen Reichs, in Ungarn, im gesamten Orient und in Deutschland. Dieser Vertrag kann in keiner Weise die Zu- stimmung der Sozialistischen Partei erhalten. Er mu nicht teilweise gendert, sondern vollstndig neu ausgearbeitet

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    werden. 1938, auf dem Parteitag in Royan, beschlo sie, da sie die nationale Unabhngigkeit sowie die Unabhn- gigkeit aller Nationen verteidigen werde, die durch die Un- terschrift Frankreichs geschtzt sind. Das heit, sie werde den Versailler Vertrag, der damals in keiner Weise die sozia- listische Zustimmung erhalten konnte, im ursprnglichen und vollstndigen Wortlaut verteidigen. 1938, als alle Voraus- setzungen zu einer Korrektur dieses Vertrags erfllt waren, die sie 1919 forderte!

    Es wre eigentlich zutreffender zu behaupten, da der Ver- fasser doch zu gut verstanden hat: 1938 wie heute hatten die Freimaurer (deren tatkrftiges Element die Juden ausma- chen) die Mehrheit im Vorstand der Sozialistischen Partei, weil sie in der Partei selbst in der Mehrzahl waren. Und nur deshalb konnte Lon Blum diese antisozialistische Entschlie- ung von dem Parteitag 1938 freilich mit knapper Mehr- heit verabschieden lassen. Lon Blum ging es nicht darum, ein gerechtes Verhltnis zwischen den Nationen her- zustellen, sondern Hitler wegen seiner Rassenpolitik nieder- zukmpfen, also wegen einer Ideologie, die zudem mit der damaligen Debatte nichts zu tun hatte.

    Man htte Lon Blum noch verstanden, wenn Verhandlun- gen mit Hitler nicht mehr mglich gewesen wren. Das war aber nicht der Fall. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, da der Parteitag von Royan, auf dem er diese Ent- schlieung verabschieden lie, im Juni 1938 stattfand; die im September darauf abgehaltene Mnchener Konferenz brachte indes wohl den Erweis, da durchaus annehmbare Kompromisse aus den Gesprchen hervorgehen konnten, die man mit Hitler zu fhren berhaupt gewillt war.

    Einige Tage nach diesem berhmt-berchtigten Parteitag hatte die internationale Konferenz von Evian (6. bis 15. Juli 1938) besttigt, da ein annehmbarer Kompromi mit Hitler erzielt werden konnte sogar ber die Juden! Die vorliegende Schrift will zeigen, da eine angemessene Lsung der damals offenen europischen Streitfragen durch

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    Verhandlungen mit Hitler bis zum 3. September 1939 mg- lich war. Anhand der Dokumente will sie daher diejenigen nennen, die solche Verhandlungen verhinderten.

    Sie geht aber weit ber die Umstnde hinaus, unter denen die Feindseligkeiten erffnet wurden und die, wie in jedem Krieg, nur eine schlechte Zusammensetzung von Vorwnden sind. Der berschrift liegt zweifellos die Absicht zugrunde, eine bestimmte Politik in Frage zu stellen und sie anders zu beleuchten, als es seit Kriegsende der Fall ist. Es ist zum Bei- spiel undenkbar, da der Versailler Vertrag und seine Urhe- ber nicht mehr die Hauptschuld am Zweiten Weltkrieg tra- gen: Alles rhrte von dort her, der Verfasser zeigt es auf, und daher ist es nur verstndlich, da er diese brigens vorstzli- che Unterlassung ausgleichen will. Die Sache wird meist gut ins Werk gesetzt: die lstigen Fakten werden einfach ver- schwiegen, und man gibt es bisweilen auch unbefangen zu. So legte Ren Rmont, Professor fr Zeitgeschichte an der Pariser Sorbonne, eine Bibliographie des Zweiten Weltkriegs vor (Bulletin de la Socit des Professeurs dhistoire et de g- ographie de lEnseignement public, Oktober 1964) und be- merkte unverfroren, sie sei lediglich der Ausdruck einer persnlichen Auswahl und einer Subjektivitt. Tatschlich verweist diese Bibliographie nur auf solche Titel, die den offi- ziellen Thesen entgegenkommen.

    Das hat, offen gestanden, mit Geschichte nichts mehr zu tun, das ist Politik, und die schlimmste dazu.

    Die goldene Regel der Geschichtsschreibung und -wissen- schaft ist die Sachlichkeit, und nicht die Subjektivitt. Man mu mit solch schndlichen Methoden Schlu machen.

    Das hat der Verfasser getan. Die Dokumente, auf die sich seine These sttzt, spiegeln keine persnliche Auswahl wi- der: Er hat nmlich alle angefhrt, die mit der Kriegsschuld zusammenhngen und bislang verffentlicht wurden. Alle was sie auch immer aussagen. Und somit spiegelt die Ab- handlung die eigentliche Sachlage wider.

    Paul Rassinier

  • Das Versailler Diktat rief eine unertrgliche Wirtschaftslage in Deutschland hervor. Die hufig geplnderten Lebensmittellden stehen unter dem Schutz des Heeres.

  • Erster Teil

    Der Versailler Vertrag Hitler-Deutschland und die allgemeine

    Abrstung

    Der Vertrag ist eine der abscheulichsten Handlungen eines

    grausamen Krieges in der zivilisierten Geschichte.

    John Maynard Keynes

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    I. Der Versailler Vertrag und Hitlers Machtbernahme in Deutschland

    1. Die Wahlen vom 14. September 1930

    Am 14. September 1930 wurden sich die traditionellen po- litischen Kreise in Deutschland erstmals der Gefahr bewut, die die Nationalsozialistische Partei bzw. National-Sozialisti- sche Deutsche Arbeiter-Partei und ihr Fhrer fr die Staats- form darstellten. Bis dahin hatten sie sich eher aus Passivitt denn aus berzeugung zur republikanischen Form der Insti- tutionen von den Bedingungen leiten lassen, unter denen der Erste Weltkrieg1 fr sie zu Ende gegangen war.

    An jenem Tag hatten Wahlen stattgefunden, um einen pltzlich aufgetretenen Meinungsstreit zwischen Reichskanz- ler Brning (Zentrum) und der Reichstagsmehrheit zu schlichten, also kurze Zeit, nachdem Brning den Sozialde- mokraten Mller am 30.3.1930 abgelst hatte.

    Zur allgemeinen berraschung, auch Hitlers, erhielt die NSDAP 6 407 000 Stimmen (18,3% der Whlerschaft) und bildete im neuen Reichstag eine parlamentarische Fraktion mit 107 Abgeordneten. Bei den vorhergehenden Wahlen am 20. Mai 1928 hatte sie lediglich 810 000 Stimmen (2,6% der Whlerschaft) und 12 Mandate erhalten: dieser Sprung nach vorn war beeindruckend und konnte die Geister nur in Un- ruhe versetzen.

    Es gab Ende 1930 allerdings auch wenige gute Geister in der Welt zumindest unter ihren politischen Fhrern. Dafr hatte sie ganz andere Sorgen.

    Ein Jahr zuvor, am 25. Oktober 1929, hatte sich in New York ein Ereignis abgespielt, das durch eine malose Ent- wicklung der Produktionsindustrie Amerikas hervorgerufen

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    worden war sowie durch eine wilde Spekulation und eine so gewaltige Kreditinflation, da der einheimische Verbrauch die Waren nicht mehr aufnehmen konnte: der Brsenkrach an der Wallstreet, der eine seit Jahren latente Wirtschafts- krise von noch nie dagewesenem Ausma ans Licht brachte. Das Ausma war so gro, da die Krise sich auf die gesamte Welt, vor allem auf Europa, ausweitete, und bei allen An- strengungen war es seitdem keinem Staat der Welt gelungen, ihrer Herr zu werden.

    Die Krise gehorchte einem einfachen Mechanismus: Ar- beitslosigkeit und Absatzflaute hatten den Wallstreet-Krach verursacht, weil die meisten, deren Einnahmen verringert oder gar auf Null gesunken waren, ihre Schulden nicht mehr mit den Mitteln des Kredits und dem Verkauf auf Abzahlung zurckzahlen konnten. In Europa war das ohnehin schon kri- tische Gleichgewicht zwischen Erzeugungs- und Verbrauchs- mglichkeiten noch empfindlicher erschttert worden als in den USA. Das durch den Ersten Weltkrieg zerrttete Europa war zwangslufig empfindlicher gegenber der Krise als die Vereinigten Staaten, die der Krieg bereichert hatte und die nicht nur schuldenfrei waren, sondern nahezu berall ber bedeutende Kreditreserven verfgten. Die Absatzflaute, die weltweit Arbeitslosigkeit nach sich zog, welche ihrerseits wiederum, wie in einem Teufelskreis, diese Absatzflaute ver- strkte, konnte nur noch schrecklichere Folgen haben. Ge- naue Statistiken darber liegen nicht vor, aber man sprach von etwa dreiig Millionen Arbeitslosen in der damaligen in- dustrialisierten Welt, und die Marxisten, die im Aufwind wa- ren, verkndeten siegessicher deren baldigen Zusammen- bruch in einer allgemeinen Krise des Kapitalismus . . .

    In dieser unheilvollen Atmosphre, die sich gleich einer Kettenreaktion zusehends verschlimmerte, war man einzig darauf bedacht, mit wirtschaftspolitischen Manahmen die Staatsform zu retten. Die deutschen Wahlen vom 14. Septem- ber 1930 wertete die Weltffentlichkeit, trotz des Blitzauf- stiegs des Nationalsozialismus, insofern als nebenschliches

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    Ereignis, als sie in dem Augenblick keine Beziehung zwi- schen ihnen und dem Wallstreet-Krach herstellte, da sie den Wahlausgang fr ein ausschlielich politisches, streng lokales und daher leicht einzudmmendes Ereignis hielt. Die Erfah- rung gab brigens Anla, es nicht tragisch zu nehmen: am 4. Mai 1924 hatte die NSDAP schon einmal 1 918 000 Stimmen (6,6% der Whlerschaft) erhalten und 32 Abgeordnete in den Reichstag entsandt, und schon damals hatte es einen schnen Schreck gegeben. Am 7. Dezember desselben Jahres war sie allerdings auf 908 000 Stimmen (3% und 14 Sitze) zu- rckgefallen, am 20. Mai 1928 sogar auf 810 000 Stimmen (2,6% und 12 Sitze).

    Nur die Deutschen teilten nicht diesen Optimismus: Seit zehn Jahren hatten sie mit den Schwierigkeiten zu kmpfen, die der Versailler Vertrag ihnen bereitet hatte. Sie hatten die Entwicklung genau verfolgen knnen und wuten, da die deutschen Verhltnisse in den Jahren 1924 und 1930 mitein- ander nichts gemein hatten und auch nicht vergleichbar wa- ren. Um ihre Einschtzung der Lage zu verstehen, mu man auf das Jahr 1914 zurckgehen.

    Im Jahr 1914 war Deutschland ein blhendes, im Auf- schwung befindliches Land. Seine Industrie, die durch den Umfang wie auch durch die Qualitt ihrer Erzeugnisse an er- ster Stelle in der Welt stand, war fast zum Alleinlieferanten des sterreichisch-Ungarischen Reichs, der Mitteleuropa- und Balkanlnder, Rumniens, Bulgarien sowie des Osmani- schen Reichs geworden. Sie hatte sich in weiten Teilen Afri- kas und bis zum Fernen Osten durchgesetzt. Sie griff auf Nord- und Sdamerika ber, forderte im eigenen Land Frankreich und sein Kolonialreich sowie England und sein Commonwealth heraus. Ruland erschlo sich ihr, ein Ab- satzmarkt, der mehrere Hundertmillionen von Verbrauchern zhlte und sich stndig ausdehnte. Deutschland hatte den hchsten Lebensstandard der Welt, seine Sozialgesetze ge- hrten zu den fortschrittlichsten, und das erzeugte vielfach Neid.

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    Diesen riesengroen Absatzmarkt hatte der Versailler Ver- trag auseinandergenommen und ins Lager der Siegermchte bergehen lassen, namentlich der Briten, die sich mit US- Hilfe den Lwenanteil angeeignet hatten. Von vier Kriegs- jahren erschpft, kehrte Deutschland zu einer Friedenswirt- schaft mit verminderten Produktionsmglichkeiten zurck: gehemmt durch den Raub einiger rohstoffreicher Gebiete (Saarland, Ostoberschlesien), eines erheblichen Teils seiner Industrieausrstung (Demontage der Fabriken, welche die Alliierten sich angeeignet hatten) und Verkehrsanlagen (Ei- senbahn, See- und Fluschiffahrt). Deutschland war auer- dem um seine Kunden gebracht worden und nicht mehr in der Lage, irgend etwas irgendwohin zu exportieren. Seine nahezu unversehrte Arbeitskraft war durch die Schlieung seiner Fabriken (mit Ausnahme jener Werke, die fr die Kriegsentschdigungen arbeiteten) zur Arbeitslosigkeit ver- urteilt worden. Eine astronomische Kriegsschuld2 erdrckte den Staat und zwang ihn zu Auslandsanleihen, um sie zu til- gen.

    Es wird aber nur den Reichen geliehen. In den ersten Jah- ren fand Deutschland trotz der Bemhungen des US-Han- delsministers Hoover, der die Gefahr erkannt hatte, kaum Geldgeber oder zu wenige, um den wirtschaftlichen Zusam- menbruch im Jahre 1923 zu vermeiden, als seine Goldreser- ven erschpft waren. Die infolge des Rapallo-Vertrags (16. April 1922) zurckgewonnene Kundschaft der Russen (die wegen ihres politischen Systems von dem Versailler Vertrag ferngehalten worden waren) hatte auch nicht zum Ausgleich der Handelsbilanz gereicht.

    Nun half die Angst vor dem Bolschewismus den Anglo- Amerikanern zu begreifen, was Frankreich nie verstand: Sie eilten Deutschland zu Hilfe und investierten das zum Wieder- aufbau seiner Wirtschaft notwendige Kapital.

    Die Amerikaner waren brigens auch am ehesten in der Lage, das zu tun. Sie waren als die groen Sieger aus dem Krieg hervorgegangen. Ihre Goldreserven hatten sich von

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    2930 Milliarden Dollar im Jahre 1913 auf 4283 im Jahre 1919 erhht; der berschu ihrer Auenhandelsbilanz war von 691 Millionen auf 4 Milliarden Dollar gestiegen, und ihre Ge- samtforderungen an die brigen Staaten, die sich 1919 auf 8750 Millionen Dollar beliefen, hatten stndig zugenom- men. England schuldete ihnen 21, Frankreich 14,5, Italien 8 Millionen als Kriegsentschdigung.3 Die USA waren reich, sehr reich. Mit diesem vielen Geld konnten sie unter ande- rem ihre industrielle Ausrstung weiter ausbauen, zur ersten Wirtschaftsmacht der Welt aufsteigen, im eigenen Land das Kreditwesen, das ihnen 1929 so abtrglich wurde, in groem Mastab entwickeln.

    Auerdem konnten sie Geld ans Ausland leihen. Also ge- whrten sie Deutschland Kredite; zunchst, im Jahre 1924, mit Vorsicht, ab 1928 aber in verstrktem Mae. Aus Angst vor dem Bolschewismus folgten ihnen die Briten auf diesem Weg, aber vorsichtiger und behutsamer.

    Im Jahre 1929 mute Deutschland immer noch auf seine frheren Absatzmrkte verzichten und lebte nahezu aus- schlielich mit Hilfe dieser Anleihen, die seit 1924 auf 7 Mil- liarden Dollar angewachsen waren . . .4

    Zur selben Zeit hatten die Vereinigten Staaten das wh- rend des Krieges angehufte Riesenvermgen ganz als In- landsinvestitionen und Auslandsdarlehen angelegt. England, Frankreich und Italien, bei denen Deutschland vom Dawes- Plan zum Young-Plan seine restlichen Kriegsschulden nicht mehr begleichen konnte, konnten wiederum ihre eigenen Zahlungen nicht mehr leisten. Schlielich setzte der Wall- street-Krach die USA nicht nur auerstande, im Ausland weiter zu investieren, sondern zwang sie zur Rckfhrung dieser Auslandsinvestitionen, um den Folgen im eigenen Land zu begegnen.

    England, das der finanzielle Zusammensturz der Amerika- ner zur Aufgabe der Goldwhrung im Jahre 1931 veranlate, schlo sich dem amerikanischen Vorgehen an. Diese Zurck- ziehung der Gelder machte Deutschland sehr zu schaffen:

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    Am 1. Juli 1930 gab es laut offizieller Statistik wieder 1 061 000 Arbeitslose. Und es hatte auerdem nicht den An- schein, als knne sich die Lage so entscheidend verndern, da die Hochkonjunktur in die USA sowie nach England zu- rckkehre; das Manna, das ihm bislang zum berleben ver- holfen hatte, wurde ihm entzogen; der Schatten einer neuen Pleite lag fr lange Zeit, wenn nicht fr immer, auf der deut- schen Zukunft.

    Da entstand zum zweitenmal in Deutschlands politischen Fhrungskreisen wie in seiner ffentlichkeit eine Strmung, die sich als unumkehrbar erweisen sollte: die Erkenntnis nmlich, da man sich mglichst bald vom Versailler Vertrag loslsen msse, dessen wirtschaftliche Klauseln die jetzige Lage verursacht htten.

    Und in der Tat verschlechterte sich die Lage. Der Wahlaus- gang vom 14. September 1930 trug auch dazu bei. Am ande- ren Ende des politischen Spektrums hatten die Kommuni- sten 1 325 000 Stimmen hinzugewonnen (4 590 000 gegen 3 265 000 am 20. Mai 1928) und zogen in den neuen Reichstag mit 77 Abgeordneten gegen frher 54 ein, die das Gegen- stck zu den 107 Hitler-Abgeordneten bildeten. Dagegen hatten die Sozialdemokraten rund 500 000 Stimmen verloren (8 576 000 gegen 9 153 000) und nur noch 143 gegen frher 153 Sitze errungen. Hugenbergs Deutschnationale Partei, die nicht so rechts beheimatet war wie die NSDAP, fiel von 4 382 000 auf 2 458 000 Stimmen zurck und zhlte nur noch 41 Mandate gegenber 71. Nur das katholische Zentrum be- hauptete seine Position mit 4 127 000 (gegenber 3 750 000) Stimmen und 68 (gegenber 62) Abgeordneten. Die brigen Stimmen entfielen auf zahlreiche Grppchen parteilose Demokraten, Konservative, Bauern usw. , die sich kaum gegen den Einflu erwehren konnten, den der Nationalsozia- lismus auf sie ausbte.

    Der neue Reichstag zhlte 577 Mitglieder. Den parlamentarischen Spielregeln gem mute die So-

    zialdemokratische Partei als strkste Partei die neue Regie-

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    rung bilden. Sie war es auch im alten Reichstag gewesen und hatte nach den Wahlen vom 20. Mai 1928 die Regierung um ihren Vorsitzenden, den neuen Reichskanzler Hermann Ml- ler, gebildet. Angesichts des Rckzugs der anglo-amerikani- schen Gelder und der nachfolgenden Arbeitslosigkeit waren am 29. Mrz 1930 die politischen und wirtschaftlichen Fh- rungsspitzen Deutschlands, die Vertrauten Prsident Hin- denburgs, Reichsbankprsident Schacht sowie die Groindu- striellen, zu der berzeugung gelangt, da die Krise schlimm werden wrde. Sie wrde nur mit herkmmlichen Mitteln zu berwinden sein, und nicht mit denen der Sozial- demokratie: Diese war auf den Marxismus versessen, von der kommunistischen Demagogie gebannt und zu aufwendi- gen Ausgaben fr die Arbeiterklasse geneigt, obwohl die da- malige Konjunktur eine Sparpolitik verlangte.

    Im Reichstag war das Mller-Kabinett einer Behelfskoali- tion (Hugenbergs Deutschnationaler Partei, katholischem Zentrum und Kommunisten) bei einer Abstimmung am 27. Mrz 1930 unterlegen. Die Deutschnationale und die Kom- munistische Partei, eine erstaunliche Vereinigung der Ex- treme, stimmten bei smtlichen Abstimmungen grundstz- lich gegen alle Regierungen. Die schwache nationalsozialisti- sche Vertretung und die parteilosen Abgeordneten hatten sich angeschlossen.5 Der Fraktionsfhrer des Zentrums, H. Brning, der die Krise ausgelst hatte, sollte am 29. 3. 1930 gem den parlamentarischen Spielregeln die Nachfolge an- treten.

    Nach dem Wahlausgang vom 14. September 1930 kam es nicht mehr in Frage, einen Sozialdemokraten mit der Regie- rungsbildung zu betrauen: Der neue Reichstag nahm zu den Sozialdemokraten von vornherein eine feindlichere Haltung als der bisherige ein; auerdem stand die SPD nicht mehr so hoch in der Gunst der ffentlichkeit. Die Sozialdemokraten hatten insgeheim (offiziell wre es eine Selbstverleugnung gewesen) erkennen mssen, da die bisherige Politik von Reichskanzler Brning besser an die Erfordernisse der Lage

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    angepat war, und hatten sich am 29. Mrz (zwei Tage nach dem Sturz der Regierung Mller) mit diesem Rckschlag leicht abgefunden: Sie hatten es dem katholischen Zentrum keineswegs belgenommen, von den Regierungsgeschften verdrngt worden zu sein, und waren sogar gefgig seiner Mehrheit beigetreten. Gerechtfertigt hatten sie ihre Haltung mit der Billigung nicht etwa seiner Politik, sondern der der Kommunistischen Partei, und mit dem Bestreben, die Bil- dung einer weiter rechts beheimateten Regierung (Hugen- berg) zu verhindern. Auch im September 1930 sollten sie sich nicht anders verhalten.

    Der im September 1930 in seinem Amt besttigte Kanzler Brning wollte den Sozialdemokraten nicht zuviele Zuge- stndnisse machen, um nicht die verschiedenen Nationalen und Konservativen zu verlieren, die Hitler noch nicht end- gltig fr sich eingenommen hatte, durfte diesen wiederum auch nicht zuviele machen, wenn er jene nicht verlieren wollte. Auf diese Weise hatte er eine, wenn auch schwache Mehrheit im neuen Reichstag gefunden. Die Verlagerung von nur 23 Stimmen reichte allerdings, um in die Minderheit zu geraten. Dafr war die Mehrheit um so verstndnisvoller: Als Kanzler Brning in schwierigen Situationen mehrmals den Artikel 48 der Verfassung anwenden mute, der den Not- stand regelte und den Erla von Notverordnungen vorsah, erhob sie Proteste gegen das Verfahren nur in einer Form, die eher einer stillschweigenden Zustimmung gleichkam. Das trat vor allem dann ein, wenn die Sozialdemokraten, die nicht fr ihn stimmen, ebensowenig gegen ihn stimmen konn- ten, sich der Stimme enthielten.

    So erreichte man ohne groe Mhe das Jahr 1932 . . .

    2. Die Reichsprsidentenwahlen vom 13. Mrz 1932 Das Jahr 1932 wurde vor allem durch die Reichsprsiden-

    tenwahlen gekennzeichnet. Die Amtszeit des Reichsprsi-

  • 23

    denten Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg ging zu Ende. Die Entwicklung der Lage wollte es, da dieses Jahr auerdem durch zwei Reichstagswahlen geprgt wurde, die durch Auflsung des Gremiums notwendig wurden.

    Seit 1930 hatte sich die Lage noch verschlechtert. Die An- glo-Amerikaner hatten mit immer mehr Schwierigkeiten zu kmpfen gehabt und ihre Gelder weiterhin zurckgezogen. Da die wirtschaftlichen Bestimmungen des Versailler Ver- trags unantastbar waren (vor allem wegen Frankreich, dem ein gemeiner Gauner namens Klotz seine Ansichten aufge- drngt hatte), hatte Deutschland nicht den geringsten Ab- satzmarkt aus der Vorkriegszeit zurckgewonnen. Es konnte nur solche Erzeugnisse ausfhren, die ausschlielich in Deutschland hergestellt wurden (Dieselmotoren), deren Qualitt konkurrenzlos war (Osramlampen) oder die zu Lu- xusartikeln zhlten (unter anderem Porzellan- und Glaswa- ren). Das reichte aber nicht aus, um die deutschen Arbeiter und Fabriken zu beschftigen, vor allem nicht im Bereich der Schwerindustrie. Der russische Markt, den der Vertrag von Rapallo erschlossen hatte, war durch die Mglichkeiten Ru- lands sowie durch die bolschewistische Diktatur stark be- schrnkt und stellte daher nur einen schwachen Beitrag dar. Seine Goldreserven waren wieder erschpft. Reichskanzler Brning bat vergeblich, man mge ihm den sterreichischen Markt zurckgeben. Die von der Krise gleichermaen be- troffenen sterreicher waren damit einverstanden.

    Am 24. Mrz 1931 beschlossen beide Lnder nach gehei- men Verhandlungen ab September 1930 eine Zollunion zu grnden. Frankreich erhob groes Geschrei, als dies vorzei- tig bekannt wurde: Das sei der erste Schritt zur Vereinigung beider Lnder, zum Anschlu, den beide deutsche Staaten seit 1918 forderten, kurzum zu einem wieder erstarkten Deutschland. Frankreich wollte aber an seiner Seite ein schwaches, ewig schwaches Deutschland haben, um sich fr immer vor einem Abenteuer wie dem Ersten Weltkrieg zu schtzen. Die franzsische Regierung zog Deutschland und

  • 24

    sterreich vor den Vlkerbund, unter Berufung auf Artikel 48 des Vertrags von St. Germain, der die Unabhngigkeit sterreichs fr unveruerlich erklrte und den mittel- oder unmittelbaren Anschlu an einen anderen Staat ohne seine Zustimmung untersagte.6 Aus Verlegenheit brachte der Vl- kerbund die Sache vor den Internationalen Gerichtshof in den Haag; aber noch ehe sich dieser Anfang September 1931 mit 8 gegen 7 Stimmen gegen die Zollunion ausgesprochen hatte, hatten Deutschland und sterreich ihren Plan fallen- gelassen.7

    Daraufhin wandte sich der Reichsprsident an die Verei- nigten Staaten und setzte sie in Kenntnis, da Deutschland auerstande war, seine Kriegsschuldzahlungen zu leisten, auch wenn sie durch den Young-Plan erheblich erleichtert worden waren. Prsident Hoover nahm diese Mitteilung ernst und unterbreitete England, Frankreich und den Glu- bigern des Reichs offiziell ein eventuell verlngerbares Zah- lungsmoratorium zugunsten Deutschlands. Alle erklrten sich damit einverstanden, auer Frankreich, das immer noch an der Theorie des erbrmlichen Klotz festhielt: Der Boche wird zahlen! Diesmal setzten sich jedoch die USA und Eng- land darber hinweg: Das Moratorium trat in Kraft, brachte Deutschland aber nicht das bentigte Geld, so da die Lage sich dort nicht verbesserte.

    Die Kohlehalden wurden in Deutschland immer hher. Am 1. Januar 1932 waren offiziell 5 392 248 Arbeitslose8 regi- striert. Durch ihren Wahlsieg vom 14. September 1930 ermu- tigt und durch das wachsende Elend gereizt, versuchten Na- tionalsozialisten und Kommunisten mit Gewalt die Herr- schaft auf der Strae zu bekommen. Die Kommunisten wa- ren sich jedoch nicht der Richtung bewut, in die sich die Lage entwickelte, vertrauten auf ihre damalige Theorie der Radikalisierung der Massen und glaubten, deren Gunst si- cher zu sein. Sie hatten sich daher vorgenommen, jede f- fentliche Kundgebung der Nationalsozialisten zu unterbin- den, und nicht umgekehrt die Nationalsozialisten, wie heute

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    gewhnlich angenommen wird.9 Zwischen beiden Extre- men, auch untereinander, und der Regierungsmehrheit wurde es immer lauter.

    In dieser Stimmung fand am 13. Mrz 1932 die erste Reichsprsidentenwahl statt.

    Der betagte Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg (86 Jahre alt), der 1925 den Sozialdemokraten Ebert abge- lst hatte, war ein konservativer, monarchistischer Junker aus dem deutschen Osten (Posen). 1925 hatte ihn eine vom Zentrum bis zur uersten Rechten reichende Koalition ge- whlt unter dem Zeichen der marxistischen Gefahr, die So- zialdemokraten und Kommunisten darstellten. War das Zen- trum damals der Ansicht gewesen, die SPD knnte vor der KPD schtzen, so wurden diese von rechts gleich behandelt: die Sozialdemokraten wrden das Bett fr die Kommunisten machen. Die Sozialdemokraten hatten ihn daraufhin heftig bekmpft und unter anderem dessen beschuldigt, sich nach dem kaiserlichen Regime zu sehnen und ein Sttzpfeiler der schlimmsten Reaktion zu sein. Trotzdem hatten sie nicht die Gunst der Kommunisten gewonnen, fr die sie nach wie vor die eigentliche Grundsule der Reaktion, nmlich Verrter an der Arbeiterklasse, Abtrnnige, Sozialfaschisten, waren.

    In Wirklichkeit verhielt sich Hindenburg dieser Konser- vative und Monarchist, der sich in der Tat nach der alten Re- gierungsform sehnte und die aus dem Willen des Volkes her- vorgegangenen Institutionen nur zwangslufig angenommen hatte dann als Reichsprsident sehr korrekt. Er nahm den Sozialdemokraten wegen ihrer schonungslosen Wahlkam- pagne nicht nur nichts bel, er kam, da die Sozialdemokrati- sche Partei nach seiner Wahl mit der Regierungsbildung be- traut worden war, mit ihren einzelnen Reichskanzlern sehr gut zurecht und trennte sich von dem letzten, Hermann Ml- ler, erst, als dieser am 27. Mrz 1930 im Reichstag ber- stimmt wurde und er, beziehungsweise ein anderer Sozialde- mokrat, keine neue Mehrheit finden konnte. Und die Sozial- demokraten hatten das nicht vergessen.

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    Mittlerweile hatte sich die deutsche ffentlichkeit den Ex- tremen zugewandt, und die SPD hatte die Gefahr deutlich er- kannt, die Nationalsozialismus und Kommunismus fr die Demokratie darstellten. Sie war zu der berzeugung ge- langt, da sie nur durch eine Koalition aller Parteien, die mit den demokratischen Institutionen verbunden waren, ge- bannt werden knne.

    Unter dem Druck der Ereignisse verfielen die Sozialdemo- kraten auf den Gedanken, da Hindenburg, der sich wh- rend seiner Amtszeit so gut verhalten hatte, Kandidat einer solchen Koalition sein knnte: vorausgesetzt, da er darin einwilligte, als Bollwerk der demokratischen Institutionen gegen den Nationalsozialismus und den Kommunismus zu wirken, so wie er seit 1925 dem Marxismus-Bolschewismus entgegengewirkt hatte. Er sei erwiesenermaen ein Ehren- mann: bernahm er eine Verpflichtung, so hielt er sie ein, man knne seinem Wort vertrauen. Und er willigte ein. Der Unglckliche wute nicht, worauf er sich einlie und da ei- nes Tages mchtigere Ereignisse ihn zwingen wrden, anders zu handeln. Die Sozialdemokraten verbreiteten die Idee sei- ner Kandidatur mit Hilfe des Reichsbanners Schwarz-Rot- Gold.10 (Diese Organisation hatten sie als Kampfverband der SPD 1924 gegrndet, um auf die ffentlichkeitsbereiche propagandistisch einzuwirken, die sich ihrem Einflu entzo- gen.) Die gemigten und demokratischen Kreise, das ka- tholische Zentrum hatten an dem Prinzip der Alleinkandida- tur Hindenburgs nichts auszusetzen.

    Hitler lie sofort und laut verknden, da, da sich die Be- mhungen des Reichsbanners offiziell gegen ihn und die Kommunisten richteten, es den Kommunisten frei stehe, dem Reichsbanner beizutreten, dann seien die Manahmen vor allem gegen ihn gerichtet. Sie traten ihm nicht bei. Zahl- reiche antikommunistische Whler entdeckten aber dabei die Tugenden des Nationalsozialismus, und wenn es bei dieser Wahl nicht mehr NSDAP-Whler gab, lag es einzig an dem Ansehen des alten Generalfeldmarschalls.

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    Die Wahlen vom 13. Mrz erbrachten folgende Ergeb- nisse:

    Hindenburg: 18 651 697 Stimmen, 49,6% Hitler: 11 339 446 Stimmen, 30,1% Thlmann: 4 983 341 Stimmen, 13,3% Dsterberg: 2 447 729 Stimmen, 6,9% Winter: 111 470 Stimmen, 0,3% 11 Ein zweiter Wahlgang war erforderlich: Trotz seines Anse-

    hens hatte der Marschall die absolute Mehrheit um 0,41% verpat, und das widersprach allen Erwartungen. Bei der Stichwahl am 10. April 1932 wurde er mit 19 359 633 Stimmen (53%) gewhlt; mit nunmehr 13 418 051 Stimmen erzielte aber Hitler den greren Stimmengewinn, das waren in etwa die Stimmen Dsterbergs, der zu Hitlers Gunsten zurckge- treten war. Gegenber dem ersten Wahlgang verzeichnete Thlmann, der seine Kandidatur aufrechterhalten hatte, eine Einbue von ber einer Million Stimmen (etwa den Anteil, den Hindenburg hinzugewonnen hatte).

    Fr Hitler war dieser Wahlausgang mehr als ein Erfolg, er war ein Triumph. Gegenber den Wahlen vom 14. September 1930 hatte er den Stimmenanteil der Nationalsozialistischen Partei verdoppelt. In allen Reichstagsfraktionen wurden die Gemter erschttert, vor allem aber in der Fraktion des ka- tholischen Zentrums: der einflureiche Baron von Papen wie der General Kurt von Schleicher, Abgeordneter und rechte Hand von Verteidigungsminister General Groener, fhlten sich zur NSDAP hingezogen. Die Vorstellung, man wrde sich frher oder spter mit Hitler abfinden mssen, breitete sich demnach sehr schnell aus.

    Von nun an berstrzten sich die Ereignisse. Deutschland htte mit der Untersttzung seiner frheren Feinde aus die- ser tragischen Lage herauskommen knnen. Diese Hilfe ver- weigerten sie ihm aber trotz Prsident Hoovers Drngen und Englands Geneigtheit immer noch, weil Frankreich sein Veto eingelegt hatte. Deutschland versuchte trotzdem auszuhal- ten, indem es sein Schicksal eigenen Notmanahmen und

  • 28

    dem sterilen Spiel der Politik berlie. Deutschland hoffte immer noch, Frankreich wrde eines Tages begreifen, da es sich hier nicht nur um das deutsche Schicksal handele, son- dern um das der ganzen Alten Welt, und wrde deswegen nachgeben.

    Frankreich gab aber nicht nach. In Deutschland wurden Intrigen gesponnen, als Frucht geheimer Kontakte zwischen von Papen und von Schleicher einerseits, von Papen, von Schleicher und Hitler andererseits. Strittige Probleme und Spannungen tauchten auf, etwa die Auflsung der SA-Ver- bnde (das waren 400 000 Mann, die bei NSDAP-Kundge- bungen in militrischer Art fr Ordnung sorgten) oder der staatliche Ankauf von Lndereien pleite gegangener Ostjun- ker, um das Land dann an Bauern ohne Grund und Boden zu verteilen. All das erzeugte zwischen Reichsprsident und Kanzler Spannungen, die von Papen und von Schleicher so geschickt nhrten, da sie nach dem Rcktritt von Reichs- wehrminister Groener (13. Mai) auch den Brnings (30. Mai) erwirkten, aber auch die Ernennung von Papens zum Nachfolger Brnings (1. Juni), die Auflsung des Reichstags (4. Juni) und schlielich neue Reichstagswahlen (31. Juli).

    Nun setzte der letzte, unbndige Ansturm der Nationalso- zialisten auf die Institutionen ein, der in sechs Monaten, auf den Tag genau, Hitler in die Reichskanzlei bringen sollte.

    Das war die erste Folge von Frankreichs Starrsinn. Die zweite Folge war spter der Krieg. Denn nichts

    nicht einmal der Krieg, als er ausgebrochen war konnte je- mals die franzsischen Fhrungsspitzen von der verbrecheri- schen Dummheit dieses ihres Starrsinns berzeugen, den die Wahl Roosevelts zum US-Prsidenten im November 1932 noch mehr verstrkte.

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    3. Die Reichstagswahlen vom 31. Juli und 6. November 1932

    Bei den Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932 konnten die

    Nationalsozialisten 230 Mandate (statt der bisherigen 107) erringen und mehr als 350 000 zustzliche Stimmen gegen- ber dem zweiten Wahlgang der Reichsprsidentenwahl auf sich vereinigen (13 779 000 gegen 13 418 000). Die Kommuni- sten gewannen 12 Sitze hinzu (89 gegen 77) und das katholi- sche Zentrum 7 (75 gegen 68). Dagegen gingen die Sozialde- mokraten von 143 auf 133 zurck. Es saen 608 Abgeordnete im neuen Reichstag.12 Die brigen 81 verteilten sich auf die Bayerische Volkspartei, die Deutschnationale Partei sowie die liberal-demokratischen Parteien. Auf Hitler und seine Gegner verteilten sich deren Sympathien in etwa dem glei- chen Ma.

    Gring wurde zum Reichstagsprsidenten gewhlt, mit den Stimmen der Deutschnationalen Partei, die sich der Hoffnung hingab, diese Einhaltung der parlamentarischen Spielregeln wrde die Nationalsozialisten besnftigen. Mit ihrem Einzug in die Institutionen markierte die NSDAP je- denfalls einen entscheidenden Punkt: der Wolf im Schafstall.

    Da die Kommunisten grundstzlich gegen alle Regierun- gen stimmten, war eine gegen Hitler eingestellte Regierung im neuen Reichstag unvorstellbar: die Verbindung der Ex- treme (230 Nationalsozialisten + 89 Kommunisten) lag weit ber der absoluten Mehrheit.

    Wiederum war jede von Hitler gebildete Regierung eben- sowenig denkbar (230 Nationalsozialisten + rund 30 Sympa- thisanten = 260 Abgeordnete). Hitler htte die Zustimmung des katholischen Zentrums (75 Abgeordnete) gebraucht, um ber eine Mehrheit von etwa 330 Abgeordneten zu verfgen. Im katholischen Zentrum waren aber die Geister, trotz der Bemhungen von Papens und von Schleichers, noch nicht reif fr eine Koalitionszusage.

    Alles in allem: ein handlungsunfhiger Reichstag.

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    Die Verkndung des Ausnahmezustands und der Artikel 48 der Verfassung htten zwar die Bildung eines mit Notver- ordnungen regierenden Kabinetts ermglicht. Wie sehr es un- ter Brning auch mglich war, diesen Artikel gelegentlich und unter bestimmten Voraussetzungen anzuwenden, ohne die parlamentarischen Institutionen in Frage zu stellen, so durfte er doch nicht stndig in Anwendung gebracht werden. Es hiee sonst die Institutionen vorbergehend auer Kraft zu setzen. Die von den Nationalsozialisten geschrten Stra- enunruhen hatten einen solchen Grad erreicht, da dieses Vorgehen bestimmt zum Brgerkrieg fhren wrde, einem Brgerkrieg, den zu bndigen die Reichswehr ohnehin nicht mehr in der Lage wre, da sie durch den Rcktritt General Groeners sehr verunsichert und ber die Person Schleichers uneinig war.

    Wenn der Artikel 48 der Verfassung prsidiale Notverord- nungen zulie, verfgte er aber, da der Reichsprsident diese Manahmen unverzglich dem Reichstag zur Kenntnis zu geben hatte und da sie auf Verlangen des Reichstags auer Kraft zu setzen waren. Niemals wrde der neue Reichstag einer prsidialen Verordnung zustimmen.

    Kanzler Papen war somit zur Unbeweglichkeit verurteilt. Angesichts dessen trat Schleicher, der zudem verrgert

    war, nicht zum Kanzler ernannt worden zu sein, mit Hitler in Verbindung. Dieser hatte am 5. August, also unmittelbar nach den Wahlen, seine Forderungen wissen lassen: die Kanzlerschaft und die gesamte Regierungsgewalt oder gar nichts. Ferner den Posten des preuischen Ministerprsiden- ten, das Reichs- und das Preuische Ministerium des Innern, das Landwirtschafts- und das Justizministerium fr seine Par- tei sowie ein Propagandaministerium fr Goebbels. Schlei- cher, der im Fall von Papens Rcktritt nach dem Amt des Reichskanzlers strebte, lehnte natrlich ab. Hitler lie nicht locker. Er sah nicht, da er die Reichskanzlei ohne weiteres von innen erobern knnte, wenn er nur darin einwilligte, ei- nem Koalitionskabinett beizutreten, das mit der Zustim-

  • 31

    mung des Reichstags regieren wrde. In diesem Fall knnte nmlich zwischen ihm und dem katholischen Zentrum ein Abkommen geschlossen werden. Am 15. August 1932 star- tete er einen neuen Angriff: Schleicher sagte ihm, da er im besten Fall den Posten des Vizekanzlers bernehmen knnte, und da Hitler die Achseln zuckte, veranlate Schleicher, da Hindenburg am nchsten Tag Hitler zu sich rief. Der Mar- schall empfing ihn im Stehen, wiederholte sein Angebot und stellte ihm sogar die Kanzlerschaft in einer Koalitionsregie- rung, die im Einvernehmen mit dem Reichstag regiert htte, in Aussicht. Schlielich appellierte er an sein Nationalgefhl. Hitler beharrte auf seinem Standpunkt. Noch am selben Abend verffentlichte die Prsidialkanzlei ein Kommuniqu, das Goebbels Propagandaapparat berrumpelte und erst- mals nach langer Zeit Hitlers Sache einen empfindlichen Schlag versetzte: Das Kommunique bedauert, da Herr Hitler sich nicht in der Lage sehe, entsprechend seinen vor den Reichstagswahlen abgegebenen Erklrungen eine vom Vertrauen des Herrn Reichsprsidenten berufene Nationalre- gierung zu untersttzen.13

    Das war sehr geschickt fr die ffentliche Meinung, blieb aber ohne jede Wirkung auf den Reichstag, in dem nur das Gesetz der Zahl regierte. Von Papen blieb Kanzler, eine neue Auflsung des Reichstags war aber offenbar unvermeidlich.

    Sie erfolgte am 12. September 1932 infolge eines von den Kommunisten gestellten Mitrauensantrags, dem die Natio- nalsozialisten zustimmten. Durch die Verbindung der Ex- treme berstimmt, entschlo sich Papen zum Rcktritt im Einverstndnis mit Reichsprsident Hindenburg.14 Diese Ab- stimmung verpate Hitler insofern einen zweiten beson- ders harten Schlag, als nun von seiner Verbindung mit den Kommunisten die Rede war.

    Bei den Wahlen vom 6. November 1932 verlor die NSDAP tatschlich ber zwei Millionen Stimmen und 34 Mandate im Reichstag, in dem Hitlers Partei knftig nur noch 196 Abge- ordnete statt der bisherigen 230 entsenden konnte. Die Kom-

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    munisten verzeichneten einen Zuwachs von 700 000 Stimmen und brachten es von 89 auf 100 Sitze. Die Sozialdemokraten, die 700 000 Whler an die Kommunisten verloren hatten, ver- fgten nur noch ber 121 Sitze (gegenber 133). Hugenbergs Deutschnationale Partei gewann rund eine Million Stimmen hinzu und ihre Strke wuchs von 37 auf 52 Reichstagsman- date. Das katholische Zentrum hatte seinerseits nur leichte Einbue: 70 Sitze gegen 75.

    Im Hinblick auf die notwendige Regierungsmehrheit war die politische Landschaft des neuen Reichstags nicht besser als die bisherige: eine Mehrheit war ebenso unauffindbar. Es bestanden weiterhin nur zwei mgliche Gruppierungen. Eine links: sie wrde Sozialdemokraten und Kommunisten um das katholische Zentrum, das sich angeschlossen htte, vereinigen; und eine der uersten Rechten, die um die NSDAP sowohl die Deutschnationale Partei Hugenbergs wie auch das katholische Zentrum zusammenschlieen wrde mit der Einschrnkung allerdings, da im letzteren nur Papen und Schleicher sowie eine kleine ihnen ergebene Minderheit diese Konstellation angenommen htten. Indem die Kommunisten die erste ablehnten, machten sie die zweite unvermeidlich.

    Bei diesen Wahlergebnissen fiel besonders Hitlers Rck- gang auf. Lon Blum schlo daraus, da er nunmehr von der Macht ausgeschlossen war, ja sogar von der Hoffnung, die Macht jemals zu ergreifen (Le Populaire, 8. November 1932).

    Dieser Rckgang erklrte sich durch Hitlers Ablehnung vom 14. August 1932, den Posten des Vizekanzlers oder des Kanzlers ohne die vollen Machtbefugnisse anzunehmen, durch seine Verbindung mit den Kommunisten, um das Pa- pen-Kabinett am 12. September 1932 im Reichstag zu str- zen, und durch einen dritten Fehler, den er am 28. Oktober 1932, also acht Tage vor den Wahlen, beging. An diesem Tag tat sich die NSDAP ein zweites Mal mit den Kommunisten zusammen, die, der Meinung der Gewerkschaften und der

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    Sozialdemokraten ungeachtet, einen Streik in den Berliner Verkehrsbetrieben ausgelst hatten.

    Hitlers Geldgeber aus der Industrie werteten seine erste Entscheidung so, als habe er durch seine Unnachgiebigkeit Deutschland in eine Sackgasse gebracht, und die beiden an- deren, als habe er keinen anderen Ausweg gefunden, als es ins Chaos zu strzen, zudem im Einverstndnis mit den Kommunisten und im selben Stil. Gelder zu Propaganda- zwecken waren schwerer, in der letzten Woche kaum noch aufzutreiben: das war sozusagen eine Wahlkampagne mit Nachla in einer Stimmung, die nicht nur durch den Rckgang der Parteispenden wegen der Hitler-Politik ge- kennzeichnet war, sondern auch durch immer mehr Beden- ken in der ffentlichkeit.

    Hitlers abschlgige Antwort auf das Angebot des Reichs- prsidenten vom 14. August 1932 hatte auerdem fr viel Un- mut innerhalb der eigenen Reihen gesorgt. Entstanden war eine Gegenstrmung, die die Auswirkungen der Ablehnung auf die politische Ausrichtung der Partei (Anstiftung zu so- zialen Unruhen, Zusammenarbeit mit der Kommunistischen Partei), auf ihre Propagandafonds und schlielich auf den Wahlausgang geahnt hatte. Und in dem Mae, wie sich ihre Ahnungen besttigten, wurde diese Strmung strker. An ih- rer Spitze stand Gregor Strasser, der mit Joseph Goebbels zu den beiden wohl einflureichsten Mnnern der Partei nach Hitler zhlte. Ein bedeutender Teil des militanten Kaders von einem Drittel war die Rede15 untersttzte Gregor Strasser, und im Reichstag waren es rund sechzig Abgeord- nete.

    Die Opponenten vertraten die Auffassung, da es haupt- schlich um die Machtergreifung ging, und selbst wenn man dabei sein Versprechen nicht halten sollte; da Hitler sich verpflichten konnte, entweder sich an einem Kabinett zu be- teiligen oder selbst eines zu bilden, das im Einverstndnis mit dem Reichstag regieren wrde, und da man dann im- mer noch sehen knnte. Dank dem Einflu, den man im

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    Lande hatte, wrde man, einmal an der Macht, ob mit der ganzen oder nur einem Teil der Regierungsgewalt, ohnehin nach Belieben walten knnen.

    Das war nicht schlecht gedacht. Jedenfalls war eine inner- lich zerrissene, vor der Spaltung stehende Partei in den Wahl- kampf gegangen. Zu dem Mangel an Tatkraft war ein Mangel an Geld hinzugekommen, und das alles hatte zu dieser von Gregor Strasser und seinen Anhngern so sehr befrchteten Wahlniederlage gefhrt, die sie aber in ihrer berzeugung bestrkt hatte.

    Mit solch einer zwiespltigen Partei und leeren Kassen, dachten jeder fr sich der amtierende Kanzler Papen und sein Rivale Schleicher, knne Hitler nach den Wahlen vom 6. November 1932 nicht eine erneute Auflsung des Reichstags riskieren und gegebenenfalls wieder vor die Wh- ler treten. Bleibt er hartnckig, so werden die etwa sechzig Abgeordneten, dachten sie, von ihm Abstand nehmen und sich an einer Regierungsmehrheit beteiligen, was die Aufl- sung ohnehin verhindern wird. Ein Auseinanderbrechen des Nationalsozialismus erffnete auerdem herrliche Aussich- ten auf eine von allen Fallen befreite Zukunft, da die abklin- gende Anziehungskraft, die Hitler auf die ffentliche Mei- nung ausbte, ihn nicht berleben wrde.

    Da schaltete sich Msgr. Kaas, der Fraktionsvorsitzende des katholischen Zentrums, ein. Prlat Kaas schtzte die selbstische, intrigante Politik, die Papen und Schleicher hin- ter den Kulissen trieben, nicht besonders. Angesichts der Wahlergebnisse vom 6. November 1932 dachte er, der Augen- blick sei gekommen, diese Politik durch eine Gruppenpolitik (im Hinblick auf eine Regierung der nationalen Konzentra- tion) abzulsen.

    Schon bei der ersten Sitzung seiner parlamentarischen Gruppe am 10. November gab er eine bersicht ber die po- litische Landschaft im neuen Reichstag und schlo daraus, wolle man schwere Unruhen vermeiden, so msse Deutsch- land dringend zu der Regierungsstabilitt zurckfinden, die

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    es seit Brnings Rcktritt verloren hatte; jede andere Mg- lichkeit sei durch die Haltung der Kommunisten ausgeschlos- sen, und nur eine loyale Zusammenarbeit mit dem National- sozialismus komme in Frage. Das katholische Zentrum msse seiner Ansicht nach die Voraussetzungen fr diese loyale und nahezu einhellige Zusammenarbeit schaffen; seine Fraktion machte sich diese Auffassung zu eigen.16

    Daraufhin rief Prsident Hindenburg am 19. November 1932 Hitler wieder zu sich und wiederholte ihm sein Angebot vom 14. August, allem voran die Kanzlerschaft, unter der Voraussetzung, da er sich nach der Verfassung richte. Wider Erwarten lehnte Hitler erneut ab. Dann bot er ihm den Po- sten des Vizekanzlers in einem Kabinett Papen an, das, wenn es sein mte, mit prsidialen Notverordnungen regieren wrde. Auch hier lehnte Hitler ab. Man stand, wollte man die Reichstagsauflsung verhindern, vor der Notwendigkeit, die Papen und Schleicher bereits in Betracht gezogen hatten, nmlich Gregor Strasser von Hitler loszulsen. Aber der Stellvertreter Hitlers zgerte, worauf Schleicher Prsident Hindenburg berzeugen konnte, da Papen aus der Sack- gasse schon deshalb nicht herauskomme, weil er das Ver- trauen Strassers ebenso wenig habe wie das Hitlers, whrend er, von Schleicher . . .

    Am 2. Dezember 1932 lste er von Papen in der Reichs- kanzlei ab. Vergeblich versuchte er den alten Marschall zu berzeugen, er knne sich mit der Erklrung des Staatsnot- stands durchschlagen.

    Am 23. Januar 1933, also 52 Tage nach bernahme der Kanzlerschaft, war Schleicher an dem gleichen Punkt ange- langt wie Papen am 2. Dezember 1932. Hitler hatte pltzlich Angst gehabt, er, Schleicher, knne eine Militrdiktatur ein- setzen, hatte endlich seine Haltung gelockert und erkennen lassen, da er unter bestimmten Bedingungen die Kanzler- schaft anzunehmen bereit sei, ohne die ganze Regierungsge- walt zu fordern; worauf Gregor Strasser ins Glied zurckge- treten war. Die NSDAP stand auf einmal eintrchtig wie

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    Gregor Strasser mit

    Goebbels Oktober 1931

    beim Aufmarsch der SA-Gruppe

    Nord in Braunschweig

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    noch nie zuvor um ihren Fhrer, der sie wieder fest in der Hand hatte. Das Vertrauen der Geldgeber war allmhlich zu- rckgekommen, und das Geld war wieder in die Kassen ge- flossen.

    Hitler hatte einen glcklichen Einfall gehabt. Denn an diesem 23. Januar 1933 ersuchte Reichskanzler

    Schleicher Prsident Hindenburg um die Erklrung des staatlichen Notstands, bei einer ganz neuen Auslegung von Artikel 48 der Reichsverfassung: Auflsung des Reichstags und Vollmachten, um Neuwahlen zu verhindern und diese angeblich vorbergehende Kaltstellung des Parlaments zu er- mglichen. Mit der Reichswehr, deren Untersttzung er si- cher sei, werde die Operation schnell ber die Bhne gehen.

    Das hie aber, von Hindenburg mehr zu verlangen, als er Papen verweigert hatte und Hitler noch verweigerte. Mit dem Unterschied, da es sich hier um eine Militrdiktatur handelte, und nicht, wie bei Hitler, um eine auf paramilitri- sche Verbnde gesttzte. Der Reichsprsident lehnte den Vorschlag als verfassungswidrig ab und bat Schleicher, er mge doch noch einen Versuch starten in Richtung auf eine parlamentarische Regierung, wie er es ihm versprochen habe. Hindenburg zweifelte aber am Erfolg seines Kanzlers und beauftragte daher Papen, die Mglichkeit einer Regie- rung mit Hitler als Kanzler und Papen als Vizekanzler, bei Einhaltung der Verfassung, zu erkunden; das war gerade die Formel, die Hitler mittlerweile anstrebte.

    Nicht da Hindenburg nun von Hitler ganz berzeugt war, im Gegenteil. Noch einen Tag zuvor hatte er verchtlich von dem bhmischen Gefreiten gesprochen. Aber seit sechs Monaten war Deutschland nicht mehr regiert worden, die Wirtschaftslage verschlechterte sich, die Zahl der Arbeitslo- sen wuchs, und damit die Straenunruhen zu Gunsten Hit- lers, die Lage war explosiv, und man mute einfach daraus herauskommen. ber den Ausweg hatte er sich endlich der Auffassung Msgr. Kaas, des Fraktionsfhrers des katholi- schen Zentrums, angeschlossen. Auerdem war er gegen die

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    Entwicklung zu nachgiebigeren politischen Positionen nicht gleichgltig gewesen, zumindest dem Anschein nach.

    Fnf Tage lang schlug sich Schleicher in einer Atmosphre herum, in der alles gegen ihn stand: am 28. Januar 1933 er- fuhr er, da das Kabinett Hitlervon Papen so gut wie gebil- det war und da die NSDAP Riesenkundgebungen in ganz Deutschland fr den 30. Januar vorbereite. Es war nun aus- geschlossen, da der Reichsprsident Hitler nicht zum Reichskanzler ernennen wrde, und deshalb reichte Schlei- cher ihm seinen Rcktritt ein.

    Alles spielte sich ab, wie Hitler es vorgesehen hatte: am 30. Januar, sptvormittags, war Hitler Reichskanzler, und am selben Abend wurde er am Balkon der Reichskanzlei be- jubelt, im Freudentaumel eines ganzen Volkes.17

    Und hier beginnt das eigentliche Drama. Von den elf Mitgliedern der Regierung Hitlervon Papen

    waren nur drei Nationalsozialisten. Daran sieht man, zu wel- chen Zugestndnissen Hitler mittlerweile bereit gewesen

    Hitler am Balkon der Reichskanzlei, 30. Januar 1933. Er grt den ihn huldi- genden Fackelzug

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    war. Das Kabinett sollte im Rahmen der Verfassung regieren. Hitler war in der Minderheit: 3 gegen 8. Papen, der dessen deus ex machina gewesen war, dachte, er knnte Hitler be- herrschen und um so leichter im Zaun halten, als er der Un- tersttzung Prsident Hindenburgs sicher war. In Wirklich- keit war es Hitler, der dort herrschte. Verfassungsrechtlich er- reichte er die Auflsung des Reichstags und Neuwahlen am 5. Mrz 1933, bei denen seine Partei 43,7% der abgegebe- nen Stimmen auf sich vereinigte und 288 Mandate errang. Sein Partner von Papen (Hugenberg) erzielte seinerseits 8,3% der Stimmen und 52 Sitze. Diese 340 Abgeordneten hatten im neuen Reichstag (646 Sitze) die absolute Mehr- heit.

    Ein Kabinett Hitlervon Papen, in dem der zweite diesmal in der Minderheit stand, stellte sich am 21. Mrz 1933 dem Reichstag vor. Hitlers Erklrung zur Lage der Nation wurde mit 441 gegen 94 Stimmen (die der anwesenden Sozialdemo- kraten und einiger Einzelgnger; das katholische Zentrum hatte fr Hitler gestimmt) gebilligt. Zwei Tage spter, am 23. Mrz, wurde ihm mit dem Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich die Generalvollmacht gewhrt mit 441 gegen 94 Stimmen (der Sozialdemokraten).

    Die Kommunisten waren von dem Reichstag ausgeschlos- sen worden. Haftbefehle lagen vor. Manche von ihnen waren schon hinter Schlo und Riegel, die brigen versteckten sich oder flohen ins Ausland. Auch ein Dutzend Sozialdemokra- ten waren verhaftet worden, oder sie nahmen an den Sitzun- gen nicht teil, da Haftbefehle gegen sie erlassen worden wa- ren.

    Die Hitler-Diktatur stand.

    4. Hitler als Reichskanzler

    Da die Politik Hitlers umstritten war und immer noch

    umstritten ist, ist durchaus natrlich. Es ist zum einen unser

  • 40

    angeborenes Recht, alles in Frage zu stellen, selbst die ratio- nalste Politik, die auf den unbestrittensten moralischen Grundstzen unserer Auffassung des Humanismus verankert ist; zum anderen war die Hitler-Politik fr diesen Humanis- mus, angesichts der heiligsten und unantastbarsten Men- schenrechte, hchst anfechtbar. Es ist nicht berflssig, daran zu erinnern, da der Verfasser zu denjenigen zhlte die sie bis zur uersten Grenze bis zur Deportation an- gefochten haben, und da er von dieser Meinung nicht abge- kommen ist, was seine Widersacher bei regelmigen Presse- kampagnen auch immer behaupten mgen.

    Eines ist dagegen unanfechtbar, zumindest in einer Welt, die nahezu allgemein18 annimmt, da die Regierung der Ge- sellschaftsverbnde auf der Mehrheitsregel beruht: das ist die Legitimitt Hitlers. Mindestens 52% der Whler hatten ihn in die Reichskanzlei gebracht und waren von vornherein entschlossen, ihm die Generalvollmacht bedingungslos zu er- teilen, nur unter der Voraussetzung, da Papen sein Vize- kanzler sein wrde.19

    Zumindest stand seine Wahlkampagne unter diesem Motto, und die Whlerschaft war gewarnt. Im Reichstag drckte sich diese Mehrheit mit 53,13% der Sitze (340 von 646) aus. Die Generalvollmacht erhielt er aber mit mehr als der Zweidrittelmehrheit: Freilich enthielt seine Reichstags- rede vom 23. Mrz 1933, in der er sie forderte, folgende Stelle: Die Regierung beabsichtigt dabei, von diesem Ge- setz nur insoweit Gebrauch zu machen, als es zur Durchfh- rung der lebensnotwendigen Manahmen erforderlich ist. Weder die Existenz des Reichstags noch des Reichsrats soll dadurch bedroht sein. Die Stellung und die Rechte des Herrn Reichsprsidenten bleiben unberhrt; die innere bereinstimmung mit seinem Willen herbeizufhren, wird stets die oberste Aufgabe der Regierung sein. Der Bestand der Lnder wird nicht beseitigt, die Rechte der Kirchen wer- den nicht geschmlert, ihre Stellung im Staate nicht gen- dert. Die Zahl der Flle, in denen eine innere Notwendigkeit

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    vorliegt, zu einem solchen Gesetz die Zuflucht zu nehmen, ist an sich eine begrenzte.

    Und an die Adresse des katholischen Zentrums fgte er so- gar hinzu, da die Reichsregierung, die im Christentum die unerschtterlichen Fundamente der Moral und Sittlichkeit des Volkes sieht, grten Wert auf freundschaftliche Bezie- hungen zum Heiligen Stuhl legt und sie auszugestalten sucht.20

    Man knnte die Meinung vertreten, da das katholische Zentrum nicht fr Hitler gestimmt htte, wenn seine Erkl- rung diese Versicherungen nicht enthalten htte, und man wrde hchst wahrscheinlich richtig liegen. Damit Hitler im Reichstag berstimmt und seine Legitimitt angefochten wurde, htte auch Papens parlamentarische Fraktion gegen ihn stimmen mssen, und am 23. Mrz 1933 war eine solche Mglichkeit vllig ausgeschlossen, selbst wenn Hitler diese beteuernde Erklrung nicht abgegeben htte: Wir drfen nmlich nicht vergessen, da am 1. Dezember 1932 Papen mit weniger Garantien den Reichsprsidenten vergeblich um die Generalvollmacht ersucht hatte, da am 23. Januar auch Schleicher sie, verbunden mit einer Kaltstellung des Reichs- tags, fr sich gefordert hatte, da beide durch diese Haltung aneinander gebunden waren und da sie Hitler nicht verwei- gern konnten, was sie fr sich verlangt hatten, selbst wenn sie gewut htten, da Hitler wortbrchig wrde. Von Papen gehrte ohnehin der Regierung an, in deren Namen er sie forderte.

    Selbst in der Annahme, da Hitlers Erklrung besagte Ver- sicherungen nicht enthalten htte und die parlamentarische Fraktion von Papens sich dem katholischen Zentrum ange- schlossen htte, um ihn im Reichstag zu berstimmen, blieb immer noch der Volkswille, Quelle aller Legitimitt in der demokratischen Staatsform. Da es hier nicht zur Reichstags- auflsung kam, wurde nicht auf ihn verwiesen: in der Ge- schichtsforschung darf man keine Schlsse aus einem Ereig- nis ziehen, das ausgeblieben ist, im vorliegenden Fall also

  • 42

    mutmaen, wie das Volk reagiert htte. Man kann dennoch annehmen, da Hitler, zu diesem Zeitpunkt im Aufwind, aus Neuwahlen noch strker hervorgetreten wre unter der Vor- aussetzung, da Wahlen noch in geordneten Verhltnissen durchgefhrt werden konnten was angesichts der Atmo- sphre, in der die Wahlen vom 5. Mrz 1933 stattfanden, al- lerdings sehr fraglich war.

    Am 5. Mrz zhlte Deutschland ber 6 Millionen Arbeits- lose,21 das heit mindestens 15% der berufsttigen Bevlke- rung. Wenn man bedenkt, da zeitgenssische Wirtschaftsex- perten die 5%-Marke als Schwelle der sozialen Unruhen an- sehen, war diese Schwelle weit berschritten. Unruhen hat- ten brigens auch die letzte Wahlkampagne gekennzeichnet: am 27. Februar 1933 wurde der Reichstag von einem Geistes- kranken oder Psychopathen in Brand gesteckt, und Hitler war geschickt genug, um den Kommunisten dieses Verbre- chen anzulasten;22 die meisten politischen Kundgebungen verwandelten sich in geordnete Feldschlachten: 18 National- sozialisten und 51 Nazi-Gegner wurden ermordet.23

    Da Neuwahlen zu einer von Hitler hoch gewonnenen Macht- probe auf der Strae gefhrt htten, ist demnach keine ge- wagte Behauptung. Zumal er fr die berwltigende Mehrheit der ffentlichen Meinung als ein vom Volk gewhlter Reichs- kanzler erschienen wre, dem der Reichstag den Posten ver- weigert htte. Neuwahlen wren nichts anderes als ein Auf- stand gegen die Entscheidung des Reichstags gewesen.

    Wir drfen uns nmlich keine Illusionen machen: waren die Parteimitglieder (10 bis 12% der Bevlkerung wie in al- len Lndern) fr alle innenpolitischen Fragen empfnglich, die Hitlers beteuernde Erklrung angeschnitten hatte, so war die ffentlichkeit dagegen vllig gleichgltig. Nur eines beschftigte sie: die sechs Millionen Arbeitslosen, die sie dem Versailler Vertrag zuschrieb, und ab 1930 stand dieses Thema im Mittelpunkt aller Wahlkampagnen. Fr die mei- sten war Hitler offenbar der einzige, der sie von dieser Last befreien knnte.

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    Dieser nahezu allgemeinen Ansicht entsprach die Denk- haltung der Groindustriellen. Am 20. Februar 1933 fand im Amtsgebude des Reichstagsprsidenten (Gring) eine ge- heime Zusammenkunft statt, an der, auer Gring und Hit- ler, Reichsbankprsident Schacht, Krupp von Bohlen, Bosch und Schnitzler (I.G. Farben), Vgler (Vereinigte Stahl- werke), Thyssen und rund zwanzig weitere Magnate aus der Schwerindustrie teilnahmen. Alle zollten Hitler viel Beifall, als er erklrte, er wrde unter anderem diesen teuflischen Wahlen, der Demokratie, den Wirtschaftsklauseln des Ver- sailler Vertrags, der Abrstung ein Ende machen. Ich reichte ein Tablett und erhielt drei Millionen Reichsmark, erklrte Hjalmar Schacht in Nrnberg.24

    Diese Verbindung der Hochfinanz und der ffentlichen Meinung konnte Hitler nur zum Triumph verhelfen. Ohne auf das Heer zurckgreifen zu mssen, dessen Untersttzung General und Altkanzler von Schleicher ihm zugesagt hatte, da dieser ebenfalls auf die Einheit des Reichs, die Wiederher- stellung der inneren Ordnung sowie die Rckkehr zu den Grenzen vor 1914 bedacht war.

    Hitler hielt bekanntlich sein Versprechen nicht. Innerhalb der drei folgenden Monate wurde Deutschland von einem Netz allmchtiger Kreis- und Gauleitern berzogen. Die Op- position wurde unter anderem durch eine unerbittliche Poli- zei, die errichteten Konzentrationslager geknebelt. Deutsch- land befand sich nun in folgender besonderer Lage. An sei- ner Spitze stand ein Kanzler, der moralisch eine Legitimitt verloren hatte, die das Volk ihm aber politisch (der gesell- schaftlich einzig geltende Standpunkt) nicht streitig zu ma- chen gedachte. Deutschland gab der Hitler-Diktatur mehr- mals seine Zustimmung: am 1. April 1933, angesichts der er- sten Wirtschaftsmanahmen gegen die Juden, gab es seitens des Volkes keine Reaktion, wenn, dann der Zustimmung. Ebensowenig am 14. Juli 1933, als die NSDAP zur Einheits- partei erklrt und die anderen Parteien, wenn sie sich nicht schon vorher aufgelst hatten, verboten oder aufgelst wur-

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    den. Am 1. Mai 1933 schlossen sich die bislang opponieren- den Gewerkschaften Hitler bei riesigen ffentlichen Kundge- bungen an.

    Die unbeugsamen Regimegegner versteckten sich aus Angst oder flohen ins Ausland (wo sie als Apostel des Jakobi- nismus auftraten, sich aber lcherlich machten durch ihr Un- vermgen zu verhindern, was in Deutschland geschehen war, oder sie traten dort fr den Krieg gegen das neue Regime ein, um ihr Versagen wettzumachen). Einen Abgeordneten Baudin gab es im Deutschland von 1933 nicht; und sollte es einen gegeben haben, erfuhr es niemand. Hitler war wirklich der Ausdruck des Volkswillens, und seine Legitimitt wurde somit unbestreitbar. Ohnehin hatten alle Staaten der Welt seine Regierung anerkannt.

    Man hat auch gesagt, da die unter Hitlers Regie durchge- fhrten Wahlen vom 5. Mrz 1933 nichts anderes als ein Druck der Macht auf die Whlerschaft gewesen seien. Dann mu man aber auch diesen Druck messen. Bei den Reichs- prsidentenwahlen vom 13. Mrz 1932, also whrend Br- nings Kanzlerschaft, erzielte die NSDAP 30,1% der abgege- benen Stimmen und 37,3% bzw. 33,1% bei den Reichstags- wahlen vom 31. Juli bzw. 6. November 1932. Durchschnitts- quote: 33,5%. Bei den Wahlen vom 5. Mrz 1933 vereinigte seine Partei 43,7% der Stimmen auf sich und wies damit eine Steigerung von 10,2% auf. Knnten wir zu diesen 10,2% all diejenigen zhlen, die gern dem Sieg zu Hilfe eilen und nach dem Motto wo Tauben sind, fliegen Tauben hin fr Hitlers Wahlkandidaten gestimmt haben, ohne da irgendein Druck auf sie ausgebt wurde, drfte die Prozentzahl jener, die dem Druck gefolgt sind, alles in allem sehr gering sein.

    Es ist nicht sinnvoll, Hitlers Machtergreifung in Deutsch- land lnger zu kommentieren: man hat alles gesagt, zumin- dest das Wesentliche, wenn man festgestellt hat, da er an der Macht mit dem Einverstndnis des deutschen Volkes war, das ihm zehn Jahre lang (bis Stalingrad) ein auergewhnli- ches Vertrauen entgegenbrachte, was er auch immer tat. Nur

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    eine Frage bleibt offen: Ist ein Volk in einer Demokratie be- rechtigt, der Demokratie auf dem demokratischen Weg zu entsagen? Die Antwort ist einfach und deutlich: Und wenn es mir behagt, geschlagen zu werden?

    Hier taucht eine Zusatzfrage auf: Da ein Volk niemals eine Entscheidung einstimmig trifft, welches Verhltnis mu dann zwischen Mehrheit und Minderheit bestehen? Meines Wis- sens ist diese Frage prinzipiell und unter Bercksichtigung der Menschenwrde einzig von P. J. Proudhon beantwortet worden, und zwar in Du principe fdratif, das eine Art Ge- sellschaftsvertrag ist, aber anspruchs- und inhaltvoller als der Rousseausche, wenn auch etwas berladener. Was die Regie- rung der Gesellschaft anlangt, erlegt die Mehrheit praktisch berall der Minderheit ihr Gesetz auf und tut ihr Zwang an. Zwischen den einzelnen Regierungsformen bestehen heute nur noch feine Unterschiede, und sie betreffen nicht das Prinzip der Gewalt, welche die Mehrheit der Minderheit an- tut, sondern ihren Grad. Es gilt als stillschweigendes ber- einkommen, da ein bestimmter Grad nicht berschritten werden darf. Dieser Grad ist aber nicht genau definiert, da in keinem Gesetz verankert. So ungenau er auch immer fest- gelegt war, hatte das Deutschland von 1933 ihn gegenber al- len Regimegegnern (Kommunisten, Sozialdemokraten, Ju- den usw.) bestimmt weit berschritten.

    Es handelt sich aber um ein innenpolitisches Problem, und kein Volk war jemals berechtigt, sich in die inneren Angele- genheiten eines anderen einzumischen. Zumal ein vergleich- bares Phnomen irgendwann im Verlauf der Geschichte an- derer Vlker, ja sogar als Begleiterscheinung, zu beobachten war: das demokratische Frankreich von 1944 stand jenem Deutschland von 1933 in nichts nach. Und Ruland vor und nach 1944? Und Jugoslawien seitdem? Und China? und Kuba? Auch wenn wir die politische Haltung der meisten Deutschen von damals mibilligen, mssen wir doch festhal- ten, da die Besserwisser gerade diejenigen sind, die allen voran vor ihrer eigenen Tr kehren mten. Die schlimmste

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    aller Gewalten, die einem Menschen angetan wird, ist schlielich, ihm keine Arbeit zu geben oder ihn fr einen un- gebhrlichen Lohn arbeiten zu lassen, und diese Gewalt hat Hitler zweifellos keinem Deutschen angetan, was auch zu seinem Erfolg beitrug.

    Da dies in theoretischer Hinsicht nicht ausreicht, um die anderen Gesichtspunkte seiner Innenpolitik gelten zu lassen, ist unbestreitbar. Es fragt sich aber, ob er nicht in der Praxis zu diesen Gesichtspunkten eben durch jene Lage gedrngt wurde, die die Politik der anderen Vlker in Deutschland ge- schaffen hatte. Wahrscheinlich ist es noch zu frh, um diese Frage zu stellen: Die antideutsche Welle, die wegen einer an- geblichen Wiedergeburt des Nazismus seit zwanzig Jahren (gesehen von 1967) berall in der Welt schlgt, trgt jeden- falls nicht dazu bei. Wir mssen nur hoffen, da die knfti- gen Historiker und Soziologen vor allem die Soziologen diese Frage mit Anklang an dem Tag stellen, an dem die Ge- mter sich beruhigt haben und Ruhe wieder eingekehrt ist.

    Damit ist die durch Hitlers Machtbernahme aufgetretene Frage von den falschen Problemen befreit, die zu Propagan- dazwecken auf sie aufgepfropft wurden. Es ist nun mglich, das eigentliche Problem zu errtern, angesichts dessen alle anderen fr den unparteiischen Beobachter nur noch als Krimskrams erscheinen: den Zweiten Weltkrieg.

    Fast dreiig Jahre (betrachtet von 1967) nach den Kriegser- eignissen berwiegt weiterhin die Meinung, da Hitler und das deutsche Volk allein die Schuld an diesem Weltkrieg tr- gen.25 Wir leben in einer wahrlich seltenen geistigen Verwir- rung: die Verfechter dieser Ansicht merken nicht einmal, da die Kriegsschuld, wre sie begrndet, dann ganz auf diejeni- gen zurckfallen wrde, die Hitler an die Macht gebracht ha- ben, ich meine diejenigen, deren Politik das deutsche Volk zu dieser extremen Lsung gedrngt hat. Und gleich einem Bu- merang wrde sie ihnen aufs Gewissen zurckfallen, weil ge- rade sie diese Politik getrieben oder gefrdert haben: Das Huhn ist fr sein Ei verantwortlich.

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    Unsere Untersuchung, die die eigentlichen Urheber des Zweiten Weltkriegs nennen will, mute zunchst den Auf- stieg Hitlers zur Macht Schritt fr Schritt verfolgen und ihn mit der Politik in Zusammenhang bringen, die ihm als Sttze diente. Wir glauben auf unwiderlegbare Weise gezeigt zu ha- ben, da die unter franzsischer Regie immer wieder bekrf- tigte Unantastbarkeit der Wirtschaftsklauseln im Versailler Vertrag diese Sttze abgab und da dieser Vertrag uerst hart und unbillig war. Es ist offenbar, da Hitler niemals an die Macht gekommen wre, wenn Frankreich, England und die USA nach dem Wallstreet-Krach 1929 Deutschland ge- genber die gebotene Solidarittspolitik betrieben htten, anstatt sich auf diese Unvershnlichkeit zu versteifen.

    Und als Hitler an der Macht war, kam es letztlich zum Krieg, weil Frankreich, England und die Vereinigten Staaten die Politik fortsetzten, die ihn an die Macht gebracht hatte.

    Diese Politik htte vertretbar sein mssen, wollte man dem deutschen Volk vorhalten, sein Schicksal Hitler anver- traut zu haben, nachdem alle eingeschlagenen Lsungswege sich als Sackgassen herausgestellt hatten, und ihm die Schuld am Zweiten Weltkrieg anlasten.

    Sie war es aber nicht, so da die Schuld nun sie als Ursa- che trifft. Wir haben nachgewiesen, da sie Hitlers Auf- stieg zur Macht verschuldete: Es lt sich ebensogut nach- weisen, da der Zweite Weltkrieg nicht unvermeidlich war auch mit Hitler an der Macht.

    Das soll im folgenden geschehen, indem die Entwicklung der Lage eingehend untersucht wird.

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    II. Hitlers Auenpolitik

    1. Vom Versailler Vertrag zur allgemeinen Abrstung Hitlers Auenpolitik hinsichtlich des Versailler Vertrags

    ging damals grundstzlich von denselben berlegungen aus wie die der Weimarer Republik die nicht nationalsoziali- stisch war! und setzte sie in der Praxis konsequent fort. Es gilt vor allen Dingen, die Grundzge dieser Politik am 30. Ja- nuar 1933 festzuhalten, als Reichsprsident Hindenburg un- ter dem Druck der Ereignisse, die die Politik der Sieger- mchte in seinem Land hervorgerufen hatte, Hitler zum Reichskanzler ernannte.

    Am 7. Mai 1919 war die deutsche Delegation nach Versail- les zur feierlichen bergabe des Vertrags eigens bestellt26 worden. Nachdem der Delegationschef, Graf Brockdorff- Rantzau, die Friedensbedingungen zur Kenntnis genommen hatte, war er wie niedergeschmettert. Deutschland wurde von einer echten Panik ergriffen. Gerade hatten die Deut- schen die zweifellos sechs dstersten Monate ihrer Ge- schichte, gelebt. Ende April, also einige Tage zuvor, hatte Kommissionsprsident Hoover27 dafr gesorgt, da die seit der Unterzeichnung des Waffenstillstands getroffenen Ma- nahmen etwas gelockert wurden: Deutschland durfte 29 Mil- lionen Goldmark ausfhren, um Lebensmittel zu kaufen, einige seiner Schuldforderungen in den neutralen Staaten waren freigegeben worden, so da es unter anderem Konser- ven in den skandinavischen Lndern und Weizen in Argenti- nien kaufen konnte.

    Bis dahin war aber die Handelssperre unnachgiebig gewe- sen: Deutschland durfte nur unter Aufsicht der Alliierten ein- oder ausfhren, die ebenso wachsam wie streng waren.28

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    Ohnehin war diese Sperrmanahme berflssig: Das Em- bargo, das auf Deutschlands Goldreserven und seinen Schuldforderungen im Ausland lastete, lhmte das Wirt- schaftsleben vllig, und da Deutschland nichts auszufhren hatte, konnte es ebensowenig etwas einfhren. Schlielich hatten die alliierten Mchte ebenfalls seine Verkehrswege und -mittel in Beschlag genommen und die Lieferung der, in der Waffenstillstandsvereinbarung vorgesehenen, 5000 Loks und 150 000 Eisenbahnwagen gefordert, so da im Lande selbst Lebensmittel und Rohstoffe nur in nahezu unbedeu- tendem Mae von den Erzeuger- zu den Verbrauchergebie- ten befrdert werden konnten.

    Im Winter 191819 hatten die Haushalte berall, mit Aus- nahme des Ruhrgebiets, unter den mangelnden Kohleliefe- rungen gelitten. Alles in allem: vier Millionen Mnner, die in keinen Bereich des wirtschaftlichen Lebens eingegliedert werden konnten, der Hunger, die Klte, ein finsteres Elend; eine Revolution, die im Januar im Blut erstickt werden mute, die im Mai aber immer noch schwelte, und der Bol- schewismus vor der Tr . . .

    Fr die Deutschen konnte der Friedensvertrag nur hart sein: Die Waffenstillstandsvereinbarung und die ihnen seit- dem auferlegten Bedingungen deuteten allzusehr darauf hin. Die Ende April getroffenen Entlastungsmanahmen hatten dennoch die Hoffnung aufkommen lassen, da die vom Frie- densvertrag geschaffene Lage, wie schwer auch immer, doch ertrglich sein wrde. Nun aber wurden die Handelssperre und das Embargo auf Deutschlands Goldreserven und seine auslndischen Schuldforderungen nicht nur nicht aufgeho- ben29; zu dem abzutretenden Eisenbahnmaterial kamen au- erdem umfangreiche Lieferungen an Industrie- und Land- wirtschaftsmaschinen hinzu, und als Krnung wurden Deutschland alle auswrtigen Mrkte (sterreich-Ungarn, Armenien, Afrika und Ferner Osten) weggenommen.

    Darber hinaus sollten die Deutschen als Entschdigung und Reparationen einen Betrag zahlen, der von einer Bot-

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    Georges Clemenceau, Leiter der Friedenskonferenz, trifft in Versailles ein

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    schafterkonferenz zwar erst nach Prfung festgesetzt wer- den, der aber den sehr harten Bedingungen des Vertrags ent- sprechen wrde30. Als geborene Volkswirte und Meister bild- hafter Darstellung erkannten die Deutschen sofort, da ihr Land in eine Art Handelshaus, wohl gelegen in einer der ver- kehrsreichen Hauptstraen der Welt, verwandelt war, an de- ren Toren aber Schildwachen standen, um eventuellen Kun- den den Eintritt zu verbieten und sie zum Kauf in England aufzufordern. Alle ihnen entzogenen Mrkte hatte nmlich England bekommen, bis auf einige Brosamen, die Frank- reich zugestanden worden waren. Ein Land mit fnfundsech- zig Millionen Einwohnern war zum Betteln verurteilt in ei- ner Welt voller Ressentiments, die keine grozgigen Almo- sen geben wrde und durch die militrischen Vertragsbestim- mungen gedachte, ihm jederzeit ihren Willen aufzwingen zu knnen. Das Ergebnis waren Arbeitslosigkeit und Elend als Dauerzustand und obendrein die Hrigkeit!

    In einem 443seitigen Buch, das heute noch als wertvolle volkswirtschaftliche Abhandlung und als Denkmal des ge- sunden Menschenverstands gilt, unterbreitete die deutsche Regierung unter Scheidemann Gegenvorschlge. Sie beein- druckten die britische Delegation, namentlich Premiermini- ster Lloyd George, sowie die amerikanische und Prsident Wilsons Sekretr Lansing. Die von Clemenceau geleitete franzsische Delegation blieb dagegen unnachgiebig; die b- rigen richteten sich, wenn auch widerwillig, nach Frankreich aus, und die deutsche Regierung erwirkte nichts.

    Schlielich unterzeichnete sie den Vertrag am 28. Juni 1919, protestierte dabei aber leidenschaftlich, da ihr das Messer an der Kehle sitze und sie nicht anders handeln knne.

    Es sei bemerkt, da der britische Nationalkonom Keynes diesen Vertrag als eine Herausforderung der Gerechtigkeit und der Vernunft bezeichnete, als einen Versuch, Deutsch- land der Versklavung zuzufhren, als ein Gewebe von jesuiti- schen Auslegungen zur Bemntelung von Ausraubungs- und

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    Unterdrckungsabsichten.31 Lloyd Georges selbst, so An- dr Franois-Poncet32, schwrte, der Kaiser werde in einem Kfig durch die Straen gefhrt und dann gehngt werden, und man werde Deutschland zur Wiedergutmachung der von ihm verursachten Schden so auspressen bis man die Kno- chen knacken hrt. Die Amerikaner lehnten den Vertrag ihrerseits ab und schlossen am 25. August 1921 einen eige- nen, etwas vernnftigeren und humaneren Friedensvertrag mit Deutschland.

    Den Versailler Friedensvertrag griffen die Deutschen in der Zwischenkriegszeit nicht etwa mit Bezug auf die allge- meine, systematische Kritik eines Keynes oder Lloyd Ge- orge, sondern neben den Gebietsabtretungen vor allem auf Grund seiner militrischen Klauseln an, und damit hatten sie meistens Erfolg bei den Englndern, den Amerikanern so- wie in weiten Teilen der franzsischen ffentlichkeit. Der Vertrag enthielt hierin nmlich eindeutige gegenseitige Ver- pflichtungen und bot, falls diese eingehalten wrden, einen ausgezeichneten Zugang zum Kern des Problems.

    Die militrischen Bestimmungen (Landheer, Marine, Luftstreitkrfte) umfassen den ganzen Teil V des Vertrags- werks. Sie lassen sich in wenigen Punkten zusammenfassen: Berufsheer von 100 000 Mann fr das Heer und 15 000 fr die Marine; Zerstrung der Befestigungsanlangen und Kriegsfa- briken; Ablieferung aller greren Kriegsschiffe, U-Boote, fast aller Handelsschiffe; Materiallieferung an die Alliierten. Im Anhang sind Brgschaften fr die Durchfhrung ver- zeichnet: Besetzung des linken Rheinufers sowie der Brk- kenkpfe Kln, Koblenz, Mainz und Kehl; allmhliche Ru- mung, je nachdem der Vertrag erfllt wird; Saarland an den Vlkerbund unter Frankreichs Verwaltung fr fnfzehn Jahre, anschlieend Volksabstimmung im Saargebiet ber franzsische oder deutsche Zugehrigkeit; Pfndung weite- rer Gebiete im Falle einer Nichterfllung. Die gegenseitige Verpflichtung ist dem Teil V vorangestellt und lautet:

    Um die Einleitung einer allgemeinen Rstungsbeschrn-

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    kung aller Nationen zu ermglichen, verpflichtet sich Deutschland, die im folgenden niedergelegten Bestimmun- gen ber das Landheer, die Seemacht und die Luftfahrt ge- nau innezuhalten.

    Das war klar: Die deutsche Abrstung sollte einer allge- meinen Abrstung vorausgehen. Das war um so klarer, als das der alliierten Antwort (Mantelnote) auf die deutschen nderungsvorschlge beigelegte Schreiben Clemenceaus vom 16. Juni 1919 diese Verpflichtung erluterte:

    Die Alliierten und Assoziierten Mchte betonen nach- drcklich, da ihre Bedingungen bezglich der deutschen Bewaffnung nicht nur darauf abzielen, Deutschland an einer Wiederaufnahme seiner Politik der militrischen Aggression zu hindern. Sie bilden auch den ersten Schritt zum Abbau und zur allgemeinen Begrenzung der Rstung, die die be- zeichneten Mchte als bestes Mittel, den Krieg zu verhten, anstreben; dem Vlkerbund wird es obliegen, diesen Abbau und diese Begrenzung als erstes zu verwirklichen. Es ist ebenso gerecht wie notwendig, mit der zwangsweisen R- stungsbegrenzung bei dem Staat zu beginnen, der die Verant- wortung fr ihr Anwachsen trgt.

    Clemenceau, Leiter der franzsischen Delegation bei der Friedenskonferenz, sprach das nicht deutlich aus, und man kann diesen Text nur fr das nehmen, was er aussagt das ta- ten die Deutschen brigens auch. Clemenceaus Haltung whrend der Verhandlungen berechtigte aber zu der Ansicht, da er die wirtschaftlichen Vertragsbestimmungen fr vllig unverwirklichbar hielt. Da sie dennoch Deutschland aufge- zwungen wrden, forderte er von den Englndern und Ame- rikanern, weil er bei Nichterfllung einen juristischen Grund haben wollte, nicht nur der Rumung des linken Rheinufers und der Brckenkpfe zu entgehen, sondern auch weitere deutsche Gebiete zu pfnden.

    Das ist zumindest, was unter dem Gewebe von jesuiti- schen Auslegungen zur Bemntelung von Ausraubungs- und Unterdrckungsabsichten, vom Machthunger und Hege-

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    moniestreben zu verstehen ist, die Keynes und Lloyd Ge- orge Frankreich zuschrieben.

    Im Januar 1923 war Deutschland tatschlich vllig entkrf- tet; die Paritt seiner Whrung zum Dollar war von vier zu eins im Oktober 1918 auf eintausendsechzig zu eins gefallen. Da Deutschland nicht mehr zahlen konnte, erteilte Poincar den franzsischen Truppen unter General Degoutte den Be- fehl, am 11. Januar 1923 das Ruhrgebiet zu besetzen und die Bergbauproduktion zu beschlagnahmen. Gegen den Willen der Englnder und zur groen Entrstung der Amerikaner erfolgte das.

    Gem der Artikel 203 bis 210 des Versailler Vertrags lie sich die ernannte Interalliierte Militrkontrollkommission (I. M. K. K.) unter Fhrung des franzsischen Generals Nol- let am 16. September 1919 in Berlin nieder. Als erstes ver- teilte sie die 383 Offiziere sowie die 737 Unteroffiziere und Mannschaften, die sie umfate, auf ganz Deutschland, um die Durchfhrung seiner Entwaffnung zu berwachen33.

    Am 16. Februar 1927 berichtete Marschall Foch vor dem Heeresausschu der franzsischen Abgeordnetenkammer ausfhrlich ber die Arbeiten dieser Kommission. Er habe sie aufmerksam verfolgt und an Ort und Stelle im Auftrag des Vlkerbunds nachgeprft. Er knne nun versichern, da mit dem 31. Januar 1927 die Entwaffnung Deutschlands voll- endet sei.

    Am 28. Februar 1927 verlie die Interalliierte Kontroll- kommission Deutschland.

    Zwischenzeitlich hatte die Vollversammlung des Vlker- bunds am 25. September 1925 beschlossen, eine Vorberei- tende Kommission fr die Konferenz ber die Beschrnkung der nationalen Rstungen auf ein mit der nationalen Sicher- heit und der Erfllung der sich aus einer gemeinschaftlichen Aktion ergebenden Verpflichtungen vereinbares Mindest- ma zu grnden. Wie lang sie auch immer war, so lautete ihre Bezeichnung tatschlich. Ihre Mitglieder waren am fol- genden 12. Dezember ernannt worden34. Die erste, zum 15.

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    Inflation 1923:

    Mit Waschkrben und Last- wagen werden die Geld-

    massen transportiert. Wer sein Geld nicht sofort

    ausgab, hatte Stunden spter nur noch wertloses Papier.

    Porto fr einen Brief von Berlin nach London: 1 094 000 000 Mark.

    6. Oktober 1923, Dsseldorf. Die Schupos werden von der franzsischen Besatzungs- truppe aus der Stadt vertrieben.

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    Februar 1926 vorgesehene Versammlung konnte erst am 18. Mai 1926 stattfinden.

    Und nun begannen die Schwierigkeiten.

    2. Frankreich gegen die allgemeine Abrstung Nahezu fnf Jahre lang (18. Mai 1926 bis 24. Januar 1931)

    versuchte die Kommission vergeblich, die ihr gestellte Auf- gabe zu bewltigen. Ihr Scheitern ist auf ihre Zusammenset- zung und, bezglich der Rstungsbegrenzung, auf die beson- deren berlegungen der einzelnen Mitgliedsstaaten zurck- zufhren. Die USA urteilten auf Grund des Streits, den sie mit Japan im Pazifik hatten, England ebenso; Japan war von seinen Konflikten mit China besessen, und China von seinen mit Ruland usw. Diese Differenzen konnten aber schlimm- stenfalls nur rtlich begrenzte Konflikte hervorrufen, die sich auf dem Verhandlungsweg leicht vermeiden lieen: Of- fensichtlich konnte ein zweiter Weltkrieg nur aus den euro- pischen Streitfragen hervorgehen; waren diese von der deutschen Frage beherrscht, mute letztere in den Mittel- punkt der Diskussion rcken.

    Die im Versailler Vertrag verankerte gegenseitige Ver- pflichtung betraf ohnehin nur die deutsche Frage, und sie hatte auerdem die Grndung der Kommission veranlat. In allen Diskussionen und hufig nach langen weltpolitischen Abschweifungen kam man letzten Endes stets auf sie zurck, stie immer alles auf sie. Es wurde daher ausschlielich ber sie und die entsprechenden Stellungnahmen der Kommis- sion debattiert.

    Der russische Standpunkt wurde berhaupt nicht beach- tet. Als die russische Abordnung in der vierten Sitzungspe- riode vom 30. November bis 2. Dezember 1927 erstmals an der Diskussion teilnahm, forderte ihr Delegierter Litwinow unter anderem die Entlassung smtlicher Mannschaften der Landheere, der Flotten und der Luftwaffen . . ., die Zerst-

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    rung smtlicher Waffen . . ., die Abschaffung jeder militri- schen Ausbildung.

    Selbstverstndlich gibt es fr eine vllig abgerstete Welt keine Kriegsgefahr, und auf eine solche Welt mu abgezielt werden. Zur Debatte stand aber die Begrenzung der Rstun- gen, und nicht ihre Abschaffung. Der Vorschlag war einfach zu leicht abzuweisen. Mglicherweise verfolgten die Russen hierbei auch kein anderes Ziel.

    Der deutsche Standpunkt war dagegen sehr fest. Benoist- Mchin hat ihn hchst wahrscheinlich am deutlichsten darge- legt. Er fat die erste Intervention, die Graf Bernstorff im Namen der deutschen Abordnung whrend der ersten Sit- zungsperiode im Mai 1926 machte, wie folgt zusammen:

    Die Alliierten haben dem Reich ein 100 000