Reic der rä e - Weltbild · 2014. 10. 9. · sen konnte, aber dies war Mias Geheimnis. Niemand...

15
J AN I N E W I L K Reic� der �rä�e� Das Thienemann Leseexemplar für Buchhandel und Presse Erscheinungsmonat: Februar 2014 Bitte besprechen Sie dieses Buch nicht vor dem 14.02.2014

Transcript of Reic der rä e - Weltbild · 2014. 10. 9. · sen konnte, aber dies war Mias Geheimnis. Niemand...

  • J A N I N E W I L K

    Reic� der �rä�e�

    Das

    Thienemann

    Leseexemp

    lar

    für Buchha

    ndel und P

    resse

    Erscheinun

    gsmonat: F

    ebruar 201

    4

    Bitte bespr

    echen Sie d

    ieses Buch

    nicht vor d

    em 14.02.2

    014

    Wilk_Im Reich der Tränen.indd 3 24.10.13 14:13

  • Für alle Kinder, dieZuflucht im Reich der Tränen suchen.

    Wilk_Im Reich der Tränen.indd 4 24.10.13 14:13

  • 5

    Prolog

    Wilk_Im Reich der Tränen.indd 5 24.10.13 14:13

  • 6

    in Zug fuhr in den Bahnhof ein, stoppte mit einem lang gezogenen Kreischen, und kaum einen Atemzug später quollen Menschen mit Handys, Aktenkoffern und Laptoptaschen daraus hervor. Sie strömten den Bahnsteig entlang, stießen weiter vorne mit den Passagieren der anderen Züge zusammen und drängten ihren Zielen entgegen. Man glaubte, Tau-sende Stimmen gleichzeitig zu hören, die um ein Viel-faches verstärkt vom grauen Vordach zurückgeworfen wurden, und der Sprecher, der die Durchsagen zu den an- und abfahrenden Zügen machte, schien verzwei-felt gegen den Lärm anbrüllen zu wollen.

    Doch zwischen all den Menschen, der Hektik, dem Lärm und dem Gewusel gab es eine Insel der Ruhe: Ein kleines Mädchen in einem roten Mantel saß im Schneidersitz auf einer Bank, auf dem Schoß ein auf-geschlagenes Buch. Die meisten der vorübereilenden Menschen nahmen sie nicht einmal wahr, doch die-jenigen, die nicht so sehr in Eile waren und mit offe-nen Augen durchs Leben gingen, mit Augen, die noch bereit waren, Wunder zu sehen, bemerkten, dass ein ungewöhnlicher Schimmer über dem Mädchen lag. Die Schultasche und der Sportbeutel neben ihr erzähl-ten davon, dass sie wartete, doch sie wartete anders als andere Menschen. Als wäre sie in eine unsichtbare Blase eingeschlossen, schienen die Sekunden sich in ihrer Nähe ins Unendliche auszudehnen und doch nur

    18389_Wilk_Im Reich der Tränen.indd 6 05.11.13 08:32

  • 7

    einen Wimpernschlag anzudauern, kurz: Die Zeit ver-lor all ihre Bedeutung. Und der aufmerksame Passant, der an ihr vorüberging, spürte, wie seine Seele für einen Moment aufatmete, wie sie wie ein Verdurstender von dieser kindlichen Freiheit trank. Eine leichte Windböe, die er bisher wahrscheinlich gar nicht wahrgenom-men hatte, spielte mit einer Locke des Mädchens und ein einzelner Sonnenstrahl streichelte über ihre blas-sen Wangen. Ihr Blick war auf niemand Bestimmtes gerichtet, doch um ihre Lippen spielte ein leichtes Lä-cheln. Ihre hellgrünen Augen schienen in eine andere Welt zu sehen, eine Welt, die sich von unserer völlig unterscheiden musste.

    Das Mädchen hieß Mia und besaß eine seltene Gabe: Sie lebte viele Leben. Sie bereiste ferne Länder, schlüpfte in die Haut von Abenteurern und Schurken, jagte nach verlorenen Schätzen und rettete ganze Völ-ker vor dem Untergang. Immer wieder tauchte sie ein in die geheimnisvolle Dunkelheit des Meeres, um da-nach in den Sternenhimmel hinaufzusteigen, wo sie in der Milchstraße ihre Fußabdrücke hinterließ. Sie baute Häuser und Städte, riss sie wieder ein und ließ an ihrer Stelle Wälder und Wiesen wachsen, in unbe-kannten Farben wie Blün oder Glimrot – und all dies war für Mia so real wie die wirkliche Welt. Wenn ihr auf ihren Reisen Trauriges widerfuhr, so war ihr Herz bei ihrer Rückkehr schwer vor Kummer, und wenn sie

    Wilk_Im Reich der Tränen.indd 7 24.10.13 14:13

  • 8

    ein glückliches Abenteuer erlebte, so lächelte sie, ge-nau wie heute. Doch unter all den Welten, in denen sie lebte, gab es eine besondere. Es war ein ganz au-ßergewöhnlicher Ort, zu dem sie nur an ganz außer-gewöhnlichen Tagen reiste, ohne dass sie es beeinflus-sen konnte, aber dies war Mias Geheimnis. Niemand sollte vom Reich der Tränen erfahren.

    Von all dem ahnte der aufmerksame Passant na-türlich nichts, und hätte er sich die Mühe gemacht, stehen zu bleiben, so wäre ihm vielleicht auch die Traurigkeit aufgefallen, die in den Augen des kleinen Mädchens schwamm …

    … Königin Zenoide lebte auf dem höchsten Berg Dia - dalas in einer Burg, die man schon sieben Tagesrei-sen entfernt am Horizont sehen konnte. Ihre spitzen Wehrtürme bohrten sich in den meerblauen Himmel wie riesenhafte Dolche und ihre dicken Mauern glit-zerten schwarz von den Spinnfäden, mit denen die Königin sie umwickelt hatte. Die Burg besaß unzähli-ge Verteidigungsanlagen, die einen Eindringling auf-spießen, pfählen, köpfen oder verbrennen konnten. Niemand kam dieser Burg zu nahe, wenn Zenoide das nicht wollte. Die Königin war unangreifbar, sie war unbesiegbar, sie war ewig.

    Zenoide stand in ihrem Thronsaal und betrachtete skeptisch einen unscheinbaren Handspiegel, den ihr Diener Pavor ihr überreicht hatte.

    Wilk_Im Reich der Tränen.indd 8 24.10.13 14:13

  • 9

    »Die Hexe sagte, er sei einzigartig und würde auf jede Frage mit der Wahrheit antworten«, versicherte er ihr eifrig. »Dieses Stück sei unbezahlbar.«

    Zenoide fuhr sich mit der Zunge gierig über ihre blutleeren Lippen. »So?«, fragte sie betont gelangweilt, doch jeder in ihrem Reich wusste, dass sie es liebte, einzigartige und unbezahlbare Dinge zu besitzen.

    »Erprobt ihn, Herrin, stellt ihm eine Frage!«Die Königin konnte ihre Aufregung nicht verbergen.

    Sogar ihre Spinnenbeine, die sie normalerweise unter ihrer karmesinroten Königsrobe versteckt hielt, spreiz-ten sich hektisch zur Seite und stießen mit einem un-angenehm schleifenden Geräusch aneinander.

    »Spieglein, Spieglein in meiner Hand, wer ist die Mächtigste im ganzen Land?«

    Ihr Spiegelbild öffnete den Mund und antwortete: »Ihr seid es hier, doch Mia, hinter den sieben Wolken-bergen, wo die Bäume Sterne gebären und Kinder auf Kometen reiten, ist weit mächtiger als Ihr.«

    Ungläubig riss Zenoide die Augen auf und für einen Moment schien jedes Wesen in der Burg den Atem an-zuhalten.

    »Was hat dieser Teufelsspiegel da gesagt?«, brüllte sie wutentbrannt und fuhr zu Pavor herum.

    Ihr Diener blickte angestrengt auf seine Schuhspit-zen und begann am ganzen Leib zu zittern. »Ich … ich habe nichts gehört, Eure Hoheit.«

    Wilk_Im Reich der Tränen.indd 9 24.10.13 14:13

  • 10

    »Du bringst mir solch einen unverschämten Spiegel, der es wagt, deine Königin zu beleidigen? Du hängst wohl nicht besonders an deinem Leben, Pavor!«

    Er zog seinen Kopf ein und schloss die Augen in der festen Überzeugung, in der nächsten Sekunde von ei-nem der Spinnenbeine aufgespießt zu werden.

    Als der Schmerz jedoch ausblieb, blinzelte er vor-sichtig.

    Die Königin hatte sich umgedreht und starrte nach-denklich auf den Spiegel.

    »Du bist also der Meinung, diese Mia ist mächtiger als ich?«, fragte sie.

    Ihr Spiegelbild nickte. »Ja.«»Kann sie mir gefährlich werden?«»Ja.« Der Zauberspiegel war offenbar kein Freund

    langer Reden.»Dann lasse ich sie umgehend von meinen Soldaten

    auslöschen«, zischte Zenoide entschlossen.»Mia muss zu Euch kommen, denn nur Ihr besitzt

    die Macht, das Mädchen für alle Ewigkeit außer Ge-fecht zu setzen.«

    Eines ihrer Spinnenbeine trommelte missmutig auf den schwarzen Marmorfußboden. »Das ist zwar eine unerfreuliche Verzögerung, aber es wird zu bewerkstel-ligen sein. Ich locke sie her, und dann …«

    Ein bösartiges Lächeln umspielte ihren Mund.Pavor atmete erleichtert auf. »Dank des Spiegels seid

    Wilk_Im Reich der Tränen.indd 10 24.10.13 14:13

  • 11

    Ihr jetzt vorgewarnt, Herrin. Ihr solltet Euch über mein Geschenk erfreut zeigen und mir …« Noch ehe er sei-nen Satz beendet hatte, wusste er, dass er zu weit ge-gangen war. Niemand schrieb der Königin vor, wie sie sich zu verhalten hatte.

    Sie ließ den Spiegel sinken und drehte sich zu ihm um, ihre Augen zu kleinen Schlitzen verengt, aus de-nen schwarzer Nebel hervorquoll. »Was erlaubst du dir, du nichtsnutzige Kröte? Das habe immer noch ich zu entscheiden! Ich werde dir zeigen, was du in mei-nen Augen bist: nicht mehr als der erbärmliche Schat-ten eines Mannes!«

    Pavor wollte entsetzt aufschreien und zurückwei-chen, doch schon hatte sich eines ihrer Spinnenbeine direkt in sein Herz gebohrt.

    »Meine Herrin …«, keuchte er und sank taumelnd zu Boden.

    Wilk_Im Reich der Tränen.indd 11 24.10.13 14:13

  • Wilk_Im Reich der Tränen.indd 12 24.10.13 14:13

  • 13

    �ränen der �üdigkeit

    Wilk_Im Reich der Tränen.indd 13 24.10.13 14:13

  • 14

    »Was ist das, Mondenkind?«»Ein Sandkorn«, antwortete sie. »Es ist alles, was von meinem grenzenlosen Reich übrig geblieben ist. Ich schenke es dir.«

    aus Die unendliche Geschichte von Michael Ende

    � ie Stille im Klassenzimmer fühlte sich ein- sam an und die leeren Stühle wirkten so ver-loren wie Fische, die an Land gespült worden waren. Mia sah an ihrer Klassenlehrerin Frau Roth vorbei zur Fensterfront. Der Regen war mittlerweile so stark geworden, dass er sich in einem unablässigen Strom über das Glas zog, wie ein blickdichter Vorhang aus Wasser, hinter dem sich die Welt versteckt hielt.

    Frau Roth legte den Stift zur Seite, strich sich eine Locke hinter das Ohr und sah Mia mit besorgter Mie-ne an. »Herr Jansen hat sich über dein Verhalten be-schwert. Du hättest in seinem Unterricht wieder vor dich hin geträumt, obwohl er dich mehrfach ermahnt hat, aufzupassen.«

    Wilk_Im Reich der Tränen.indd 14 24.10.13 14:13

  • 15

    Herr Jansen trug immer denselben muffigen Anzug, erschien Mia uralt und galt als einer der strengsten Lehrer der Schule. Seine geschwollenen Augenlider er-hoben sich aus dem Gesicht wie Eierschalen, in deren Spalt fast farblose Augen schwammen und mit denen er seine Schüler voll Missfallen betrachtete.

    Frau Roth fuhr seufzend fort: »Das ist leider nicht das erste Mal, das weißt du. Auch ich bemerke oft, dass du nicht ganz bei der Sache bist.«

    »Der Unterricht bei Herrn Jansen ist langweilig«, sagte Mia leise und ihr Blick wanderte zu Herrn Jan-sens Schautafel der einheimischen Laub- und Nadel-bäume, die noch immer im Klassenzimmer stand. Fein säuberlich war darauf ein Baum neben dem an-deren abgebildet, aufgereiht wie kleine Soldaten mit grünen Köpfen. Nicht dass Mia etwas gegen Bäume gehabt hätte. Im Gegenteil, sie liebte es, im Wald zu sein, wenn der Wind durch die Blätter fuhr und es wie das Branden der Wellen klang. Auf Bäume konnte sie klettern, sich in den Baumkronen verstecken, an den Ästen schaukeln und ehrfurchtsvoll über die dicken Wurzeln streichen. Im Herbst verkroch Mia sich in das Laub wie ein Igel, um gleich darauf wieder mit einem Frühlingsschrei aufzutauchen, die Arme voll rascheln-der Blätter, damit sie sie vom Himmel regnen lassen konnte. Und das schönste Laubblatt nahm sie zum Trocknen mit nach Hause, um im Winter die papie-

    Wilk_Im Reich der Tränen.indd 15 24.10.13 14:13

  • 16

    rene Haut und die zerbrechlichen Adern nachzufah-ren, so lange, bis sie wieder das Gras, die Erde und den verklingenden Sommer riechen konnte.

    Aber auf wundersame Weise schafften es Lehrer im-mer, aus allem etwas Ödes und Langweiliges zu ma-chen. Vielleicht war das Teil ihrer Ausbildung, über-legte Mia. Damit den Kindern das Lernen auf keinen Fall Spaß machte, wurden den Lehrern Kniffe und Tricks beigebracht, um selbst ein spannendes Thema so einschläfernd wie möglich zu erklären.

    »Herr Jansen hat mir schon erzählt, dass du ihm das freimütig ins Gesicht gesagt hast.« Ein leichtes Zu-cken spielte um Frau Roths Mundwinkel, was sie mit ihrer Hand zu verdecken versuchte. »Weißt du, Mia«, fuhr sie in vertraulichem Ton fort, »bei einem Lehrer wie ihm darf man sich so etwas nicht herausnehmen, selbst wenn es das ist, was man wirklich denkt. Manch-mal muss man eben lügen.«

    Irritiert blinzelte Mia sie an. Hatte Frau Roth ihnen in der letzten Religionsstunde nicht erzählt, wie schlimm es war, zu lügen, und dass man immer die Wahrheit sa - gen sollte? Wie konnte sie von Mia plötzlich ver langen, dass sie Herrn Jansen anlog? Manchmal fand sie es unendlich schwierig, die Erwachsenen zu verstehen.

    »Leider möchte Herr Jansen, dass ich in deinem Fall etwas unternehme, und offen gestanden halte ich das auch für eine gute Idee. Ich habe deinen Eltern einen

    Wilk_Im Reich der Tränen.indd 16 24.10.13 14:13

  • 17

    Brief geschrieben.« Mia spürte, wie sich eine eisige Käl-te in ihrem Körper ausbreitete. Wie gelähmt starrte sie auf das Papier, auf dem Frau Roth ein paar Zeilen no-tiert hatte und das sie nun in einen Umschlag steckte.

    »Bitte zeig ihn noch heute deinen Eltern und bring ihn mir morgen unterschrieben zurück!«

    Mia schluckte trocken und war nicht in der Lage, zu antworten. Der Brief drückte sich so schwer in ihre Hand, als habe er das Gewicht eines Backsteins. Sie hatte Frau Roth immer gerngehabt und ihr vertraut. Wusste sie denn nicht, was sie Mia damit antat?

    Frau Roth legte eine Hand auf Mias Arm. »Da steht nichts Schlimmes drin, glaub mir. Ich habe nur ge-schrieben, dass du im Unterricht oft abwesend zu sein scheinst und auch beim Lesen etwas hinter deinen Mitschülern zurückliegst. Du könntest an einer Kon-zentrationsschwäche leiden, und deswegen habe ich deinen Eltern vorgeschlagen, dass du noch diese Wo-che bei unserer Schulpsychologin vorbeischaust.«

    »Aber …«, hob sie an, zu widersprechen, doch die Worte wollten einfach nicht aus ihr herauskommen. Wie sollte ihr Frau Roth auch glauben, dass sie sehr wohl lesen konnte? Doch immer wenn Mia ihrer Klas-se etwas vorlesen sollte, begannen sich die Buchstaben auf den Seiten plötzlich in schwarze Männchen zu ver-wandeln und so wild umherzutanzen, dass Mia ganz schwindelig davon wurde.

    Wilk_Im Reich der Tränen.indd 17 24.10.13 14:13