revanche - Kino macht Schule · 2009. 3. 19. · Title: revanche Author: Michael Created Date:...

18
kino macht schule Revanche Materialien zu einem Film von Götz Spielmann www.kinomachtschule.at

Transcript of revanche - Kino macht Schule · 2009. 3. 19. · Title: revanche Author: Michael Created Date:...

  • kino

    mac

    htsc

    hule

    RevancheMaterialien zu einem Film von Götz Spielmann

    www.kinomachtschule.at

  • INHALTSVERZEICHNIS

    Stab und Besetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3Die Geschichte – was wird erzählt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4Formale Qualitäten – wie wird erzählt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4Vorbereitung und Einstimmung vor dem Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5Die Charakterisierung der Hauptfiguren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6Raum und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9Die Erzählperspektive – Distanz und Nähe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14Fragen zum Einstieg in die Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18Über die Autorin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

    Impressum: Herausgeber, Medieninhaber:Filmladen Filmverleih Mariahilferstraße 58/7 1070 Wien Tel: 01/523 43 62-0 [email protected]

    Autorin: Dr. Martina LassacherRedaktion und Layout: Michael Roth Internet: www.kinomachtschule.at

    www.revanche.atwww.filmladen.at

    kino macht schule

    Revanche 2

  • Götz SpielmannREVANCHE

    Regie und Drehbuch: Götz SpielmannKamera: Martin GschlachtSchnitt: Karina ResslerTon: Heinz Ebner, Bernhard BambergerAusstattung: Maria GruberKostüm: Monika ButtingerProduktion: Spielmannfilm, Prisma FilmProduzenten: Mathias Forberg, Heinz Stussak, Götz Spielmann, Sandra BohleMit: Johannes Krisch, Ursula Strauss, Andreas Lust, Irina Potapenko, HannesThanheiser, Hanno Pöschl, u. a.

    Österreich 2007, 121 Minuten, Farbe, 35 mm/1 : 1,85/Dolby DigitalVerleih in Österreich: FILMLADEN FILMVERLEIH

    kino macht schule

    Ein Augenblick Freiheit 3

  • “Aber eines würde ich ihn schon noch fragen – warum er die Frau überhaupt mitgenommen hat.”

    Die Geschichte – was wird erzählt?

    Alex liebt Tamara und Tamara liebt Alex, ihre Liebe muss jedoch geheim bleiben. Tamara arbeitet alsProstituierte, und Alex ist Hausmeister in dem Bordell, in dem sie arbeitet. Eine Beziehung zwischenden beiden würde der Chef nicht dulden. Susanne liebt Robert und Robert liebt Susanne. DieVerbindung des Polizisten und der Verkäuferin ist jedoch davon überschattet, dass der ersehnteNachwuchs ausbleibt. Die Schicksale dieser vier Menschen verquicken sich, als Alex eine Bank über-fällt. Tamara wird von Robert erschossen. Alex flieht auf den entlegenen Bauernhof seines Großvaters.Susanne, die sich öfter um den “alten Hausner” kümmert, beginnt ein sexuelles Verhältnis mit Alex.Alex, der Robert für Tamaras Tod verantwortlich macht, schmiedet Rachepläne. Unterdessen hackt erfür den Großvater das Feuerholz für den Winter.

    Formale Qualitäten – wie wird erzählt?

    Erzählt man den Inhalt von Götz Spielmanns neuem Film REVANCHE, kann man leicht zu der Annahmegelangen, dass es sich hier um eine triviale, wenn nicht haarsträubende Räuber- undGendarmgeschichte handelt, und tatsächlich hat der Regisseur auch zum Teil mit Motiven (um nicht zusagen Klischees) gearbeitet, die einer solchen oder ähnlich ausgerichteten Genres entstammen könn-ten. Was hier kurz umrissen wurde, ist jedoch nur die Geschichte des Films. Eine Geschichte wird erstzu einer Erzählung, indem sie erzählt wird, und da kommt es nicht so sehr darauf an, was erzählt wird,sondern wie es erzählt wird. Es ist wichtig, aus welcher Perspektive eine Geschichte erzählt, in welcherArt die Geschichte präsentiert und wie mit Raum und Zeit umgegangen wird.

    Auch die filmische Erzählung bedient sich wie jede Erzählung bestimmter narrativer, strukturaler undformaler Elemente, um emotionale, psychologische und gedankliche Entwicklungen darzustellen,Spannung aufzubauen oder bestimmte Handlungselemente besonders hervorzuheben. Diese Elementestehen mit dem dargestellten Inhalt in einem engen Zusammenhang. Erst aus ihrer Zusammenschauerschließt sich die Bedeutung der filmischen Erzählung. Hinter REVANCHE und seiner Wirkung steht einbesonders sorgfältig durchdachtes Konzept, um diese Bedeutung (und die damit verbundene Wirkung)zu erzielen. Dieses Konzept bedient sich ganz bewusst bestimmter Elemente der Trivialunterhaltung, umsie dann gekonnt auf eine höhere Ebene und in einen ganz neuen Rahmen der Interpretation zu stellen.

    kino macht schule

    Revanche 4

  • Vorbereitung und Einstimmung vor dem Film:

    • Achtet darauf, wie nah oder wie fern die Figuren im Film dargestellt werden.• Im Film kommen vier Schwarzblenden vor. Versucht euch zu merken, wo sie sind.• Achtet darauf, was für eine Musik in dem Film verwendet wird.

    (bei kleineren Gruppen nur eine Aufgabe auswählen, sonst mehrere Gruppen bilden)

    Die Charakterisierung der Handlungsfiguren

    Die Figuren in einer filmischen Erzählung entfalten sich vor dem Auge des Betrachters auf drei verschie-denen Ebenen: in ihrem Sein, in ihrem Tun und in ihrem Status, den sie in der Hierarchie im Vergleichmit anderen Figuren haben. In REVANCHE gibt es sechs Figuren, die auf diesen Ebenen mehr oderweniger näher definiert sind: Alex, Tamara, Robert, Susanne, Alex’ Großvater, der “Hausner”, undKonecny, der Chef des Bordells.

    Das Sein einer Figur wird definiert durch Dinge wie einen Namen, die äußere Erscheinung, eineBiographie. In REVANCHE fällt auf, dass alle Figuren auf dieser Ebene eher spärlich ausgestattet sind.Sie tragen zwar ihnen klar zugewiesene Namen, aber bei Alex und Tamara erfahren wir nur ihreVornamen, Hausner und Konecny haben nur Nachnamen und Robert und Susanne haben zwar einenFamiliennamen, aber auch den erfahren wir nur ein einziges Mal ganz nebenbei, als Susanne dasTelefon abhebt und sich mit “Kargl” meldet.

    Die äußere Erscheinung dieser Figuren orientiert sich an Stereotypen. Tamara und Susanne tragen ent-weder Allerweltskleidung oder die typische Berufskleidung der Prostituierten und derProvinzverkäuferin. Robert trägt im Dienst seine Uniform, bei seinen Laufrunden einen Jogginganzug,und ist ansonsten genau so unauffällig wie die beiden Frauen. Der alte Hausner schaut aus wie der typi-sche Bauer aus einer fast vergessenen Welt, egal ob er seine Arbeitskluft trägt oder sich für denKirchenbesuch am Sonntag in Schale wirft. Und Konecny trägt die typischen, etwas zu engen hellenAnzüge eines Bordellchefs und bringt auch genau den richtigen Leibesumfang für die Rolle mit. Alex istam ehesten eine schillernde Figur in diesem Ensemble, aber auch er erfüllt mit seinen schmuddeligenKleidern und strähnigen Haaren, der Tätowierung auf der Schulter und dem Ring im Ohr perfekt dieRolle des alternativ angehauchten Exhäftlings, der es nicht schafft, sich wieder in ein “normales” Lebenzu integrieren. Diesen typisierten Rollenbildern entspricht auch die klare Zuweisung der Figuren zuRäumen, etwa wenn Alex sich außerhalb des Bordells mit und ohne Tamara praktisch nur in schäbigenWohnungen, Hotelzimmern oder auf dem schäbigen Hof des Großvaters aufhält, Susanne und Robertjedoch in einem Wohnzimmer, das einer Werbung für Bankdarlehen entnommen sein könnte.

    Über die Biographie dieser sechs Menschen erfahren wir kaum etwas, was persönlich und nichtAllgemeingut ist. Von Tamara wissen wir nur, dass sie Ukrainerin ist und irgendwo noch eine Familie hat,mit der sie regelmäßig telefoniert. Über Alex erfahren wir, dass er wegen Diebstahls im Gefängnis warund neben dem Großvater auch eine Mutter hat. Hausners Frau ist vor nicht allzu langer Zeit gestorben,und Robert und Susanne wünschen sich schon lange ein Kind, mit dem es nicht klappt. Susanne hatteeine Fehlgeburt. Von Konecny wissen wir gar nichts. Alles, was wir außer diesen spärlichenInformationen von der Biographie dieser Menschen zu wissen glauben, sind Zuweisungen, die wir auto-matisch machen, weil wir glauben, ihre Vergangenheit zu kennen. Wir kennen doch die Geschichten vonjungen Frauen, die aus dem Osten in der Hoffnung eines besseren Lebens nach Österreich kommen

    kino macht schule

    Revanche 5

  • und als Prostituierte im Wiener Rotlichtmilieu landen. Auch über Häfenbrüder und ihreWiedereingliederung in die Gesellschaft wissen wir einiges. .Und das Landleben, mit sturen Bauern,braven Polizisten und langweiligen Verkäuferinnen, kennen wir auch aus vielen Geschichten. Der Trickdaran ist, dass diese klischeehaften Zuweisungen von uns als Zuschauern kommen, der Film selbst hatsie uns nicht geliefert. Er bleibt im Hier und Jetzt und versagt uns eine persönliche Biographie seinerFiguren, die uns Aufschluss geben könnte über ihr Handeln im Verlauf des Films.

    Hier verbirgt sich eine doppelte Botschaft, nämlich zum einen, dass Klischees immer einen wirklichenKern haben, den wir alle aus unserer Wirklichkeitserfahrung kennen und der als Hintergrund konnotativin der Geschichte dieses Films mitspielt. Zum anderen aber auch das Gegenteil, nämlich dass manimmer genau hinschauen muss, um über die Grenzen des Klischees hinausgehen zu können, und daskann nur im konkret Gezeigten geschehen, in der Momentaufnahme der Handlungen, die wir beobach-ten können. Das Weglassen der biographischen Elemente verhindert jedoch auch eine falsche, weilleicht in Sentimentalität abgleitende Bindung des Zuschauers an die Figuren, ein Umstand, der durchandere filmische Mittel noch unterstützt wird, worauf wir später noch zurückkommen werden.

    Die Figuren verharren auch deshalb nicht in ihren Klischees, weil sie auf der Ebene des Tuns immer wie-der genau, wenn auch mit einer gewissen Beiläufigkeit und Knappheit, in ihren Handlungen beobachtetwerden. Wenn Alex bewegungslos wartend vor sich hinstiert, aber dann in einer unglaublichenBehändigkeit in einer Rolle rückwärts über das Bett turnt, um Tamara die Tür zu öffnen, weiß mansofort, dass man es hier mit einem zu tun hat, der verliebt ist. Und wenn er jedes Handtuch in denBordellräumen an die exakt richtige Stelle legt oder verbissen Holzscheit um Holzscheit spaltet, siehtman, dass er seine Arbeit ernst nimmt. Die Tatsache, dass Tamara regelmäßig mit ihrer Familie telefo-niert, weist sie als gute Tochter aus, und Susannes soziales Bewusstsein kristallisiert sich darin, dasssie Hausner zum Kirchenbesuch abholt, weil sie weiß, dass ihr Mann etwas dagegen hat, dass er nochAuto fährt. Wenn Hausner seinem Enkel spontan einen Schnaps anbietet, als dieser nach demBanküberfall aufgewühlt bei ihm auftaucht, erkennt man darin mehr Sensibilität als man auf den erstenBlick bei ihm vermuten könnte. Und wenn Robert seinen Rasen exakt Bahn für Bahn mäht, ohne einenZentimeter daneben zu fahren, weiß man sofort, dass man es hier mit einem sehr korrekten Charakterzu tun hat. Über die kleinen Handlungen, die den Personen zugeteilt werden, werden Wertigkeiten ver-mittelt, die über das Klischee hinausweisen.

    Beziehungen

    Wenn wir die Figuren in Bezug auf ihre Handlungsfunktion innerhalb der Erzählung betrachten, könnenwir etwas Interessantes beobachten. Die traditionelle Zuweisung von Attributen wie Hauptspieler –Gegenspieler – Mitspieler geschieht in REVANCHE ebenso wenig wie eine eindeutige Bevorzugunginnerhalb der Hierarchie der handelnden Personen. Abgesehen von Konecny, dessen Rolle in demAugenblick fallen gelassen wird, in dem sie ihre Funktion erfüllt hat, gibt es eine Ausgewogenheit zwi-schen den Figuren, was ihre Funktion als Hand-lungsträger, ihre Häufigkeit des Vorkommens, dieAndeutung von ihrem inneren Geschehen betreffen. Es gibt deshalb auch keine Heldenfigur, mit der wiruns identifizieren können. Vielmehr entsteht durch das, was zwischen den Figuren geschieht, eineMultiperspektive auf das Geschehen, die sich ständig verändert und mitunter überraschendeWendungen nimmt. Als Zuschauer sind wir dadurch angehalten, uns unser eigenes Urteil zu bilden, undindem wir das tun, entwickeln wir immer mehr Respekt vor den Figuren und ihren Handlungen. Siekommen uns nicht auf einer ersten Ebene näher, was z.B. durch biographische Daten und dergleichen

    kino macht schule

    Revanche 6

    Regisseur Arash T. Riahi (links) bei den Dreharbeiten

  • ermöglicht werden könnte, sondern auf einer zweiten Ebene, die bereits ein (mit)reflektierendes Elemententhält und dadurch authentischer wird.

    Zwei Paare, die sich lieben. Im Fall von Alex und Tamara wird die Liebe ganz unreflektiert und naiv imursprünglichen Sinn ausgelebt. Ihr Antrieb ist die Körperlichkeit, die zwischen den beiden herrscht.Dass Alex Tamara wirklich lieb hat, erkennen wir daran, wie er sie in die Arme nimmt, wie seine Handihren Hintern umfasst, wie er sie küsst und wie er sie unter der Dusche wäscht.

    Die fast unschuldige Sexualität, die die beiden verbindet, kontrastiert mit der professionellen Sexualität,die Tamara mit ihren Kunden an den Tag legt. Mit Alex ist sie eine Liebende, aber vor allem eineGeliebte und auf eine selbstverständliche Weise nackt. Mit dem Besucher des Bordells (hier bleibt derFilm wohltuend bei einer spärlichen Andeutung) ist sie eine Prostituierte, ihre Nacktheit hat eine ganzandere Funktion. Sie ist zweckgebunden auf den Voyeur ausgerichtet und in keiner Weise erotisch, imGegensatz zu der Sequenz mit Alex unter der Dusche. Wir sehen nicht, was der Voyeur sieht, dieKamera enthält es uns vor.

    Auch die Sexualität, die später zwischen Susanne und Alex ein verbindendes Element sein wird, unter-scheidet sich in ihrer Qualität von derjenigen, die zwischen Alex und Tamara herrscht. Sie ist auf mehre-ren Ebenen zweckgebunden und drückt vor allem die Verzweiflung aus, die Susanne und Alex zusam-menführt. Im Vergleich zur sexuellen Begegnung zwischen Alex und Tamara, wo der Kamerablick ankonkreten Details hängen bleibt und sie hervorhebt, ist die filmische Darstellung der Sexszene zwischenAlex und Susanne nüchtern und roh im wortwörtlichen Sinn. Wir erleben sie wie einen Schattenriss, wasder Szene einen abstrakten Charakter verleiht. Da konkrete Darstellungen besser geeignet sind, dieEmotionen des Zuschauers anzusprechen, erleben wir auch Alex’ und Tamaras Beziehung viel emotio-naler als die von Susanne und Alex.

    Dass Alex Tamara liebt, wird kein einziges Mal ausgesprochen, und dass er womöglich eifersüchtig aufTamaras Job ist, kommt nur in flüchtigen Ansätzen zum Ausdruck. Die Sequenz, wo Alex sich vorKonecny unter dem Bett versteckt, könnte aus einem trivialen Witz stammen. Dass sie trotzdem nichtwitzig ist, hängt damit zusammen, dass die Kamera Alex’ Gesicht in Relation zur Gesamtausrichtung

    kino macht schule

    Revanche 7

  • des Films erstaunlich nahe kommt und dass wir sehen, was Alex aus seiner Perspektive sehen kann –auch dieser subjektive Kamerablick

    ist im Film selten und fällt daher auf. Hier wird geschickt ein Motiv aus der Welt des Slapsticks entliehenund ihm gleichzeitig ein Kamerablick entgegengesetzt, der den Realismus des Geschehens deutlichmacht. Durch diesen Bruch, dass etwas, über das wir im Kino schon öfter gelacht haben, keinenAugenblick lang zum Lachen ist, entfaltet sich das ganze tragische Moment einer Beziehung, die aufGrund der Umstände keine Zukunft haben kann.

    Das persönlichste, was Alex jemals zu Tamara sagt, ist: “Würde ich gerne einmal kennen lernen, deineLeute.” In dieser fast nebenbei hin gestreuten Bemerkung kommt zum Ausdruck, dass Alex eineBeziehung möchte, die über die heimlich abgezwackten Stunden am Nachmittag hinausgeht, er träumtvon einem gemeinsamen Leben mit Tamara. Sie nickt nur dazu und übergeht es damit. Im Gegensatzzu Alex hat sie ihre Träume wahrscheinlich mit dem Grenzübertritt nach Österreich begraben und sichan das Leben, das sie führt, angepasst. Als der Chef sie provokant auffordert, guten Abend zu sagen,als sie zur Arbeit kommt, tut sie es einfach und freundlich. Und als Alex ihr von dem geplantenBanküberfall erzählt, weil “es so nicht weitergehen kann”, antwortet sie schlicht: “Was geht nicht wei-ter? Alles ganz normal.” Dass sie Alex trotzdem lieb hat, merkt man an der Angst, die sie um ihn hat.

    Robert und Susanne sind als Paar der Gegenpart zu Tamara und Alex. Sie leben in einem schönenHaus, haben einen gepflegten Rasen, sichere Jobs und Freunde und Eltern, die zum Essen kommen.“Alles richtig. Alles in Ordnung”, wie Alex später einmal bemerkt. Das einzige, was ihnen zu ihrem“Glück” fehlt, ist ein Kind. Beide leiden darunter, aber im Gegensatz zu Tamara und Alex werden hierGefühle nicht direkt ausgelebt. Susanne macht sogar Witze darüber. Auf ihre Fehlgeburt angesprochen,sagt sie mit einem Lacher: “Und wir Deppen haben schon das Kinderzimmer eingerichtet!” Auch Robertleidet unter seiner Kinderlosigkeit (und wahrscheinlich noch mehr unter dem Umstand, dass “es an ihmliegt”). Sein Zusammenbruch nach Tamaras Tod erfolgt, als ein Kollege Vater wird. Trotzdem spricht ernüchtern über Susannes Ansinnen, ein Kind zu adoptieren – “da weiß man doch nie, was für einenCharakter das hat.” Im Gegensatz zu Alex und Tamara haben er und Susanne keinen naiven Zugangzum Leben und zu ihren Träumen, sie stehen schon über ihren Gefühlen und damit außerhalb von sichselbst.

    Die spannungsgeladenste Beziehung ist die zwischen Alex und Robert, schon allein deshalb, weil die beiden langeZeit nicht wissen, dass sie eine haben, und Robert wird es vielleicht nie erfahren. Tamara ist der Punkt, an demsich die beiden Männer begegnen. Der eine hat die Frau geliebt, der andere hat sie getötet. Beide tragen ein Fotovon ihr mit sich herum, auf einem ist sie lebendig, auf dem anderen tot. Dieses Foto in zweifacher Ausfertigung istein wichtiger Gegenstand im Film, an ihm werden die Gefühle der beiden Männer aufgehängt, und es ist dafür ver-antwortlich, dass Susanne zwei und zwei zusammenzählen kann und Alex als Bankräuber “entlarvt”.

    kino macht schule

    Revanche 8

  • Die Begegnungen zwischen Robert und Alex sind nach einem sorgfältigen Schema aufgebaut. Beimersten Mal trägt Alex die Maske des Bankräubers, Robert die Uniform des Polizisten, ihre Begegnungist die von zwei Fremden, mit einem tragischen Ende. Bei der zweiten Begegnung haben beide ihreVerkleidungen abgelegt (oder nur gewechselt?), aber Robert weiß nicht, dass Alex ihn “kennt”. Erbegrüßt ihn bei seinem Lauf durch den Wald mit “Servus”, aber Alex antwortet nicht. Beim dritten Malist die Begegnung nicht mehr zufällig, Alex geht ganz bewusst und nach einem geplanten Timing an derBank vorbei, bei der Robert immer seine Laufpause verbringt. Dieses Mal antwortet Alex auf RobertsGruß. Kurz vorher haben wir ihn dabei beobachtet, wie er seine Pistole lädt. Er zielt auf Alex, als derwegläuft, schießt aber nicht. Beim dritten Mal sitzt Alex schon auf der Bank, als Robert ankommt. Auchdieses Mal geht der Kontakt von Robert aus, der Alex anspricht und ihn fragt, ob er nicht der Enkel vomHausner sei. Sie machen Smalltalk, wie zwei Männer, die sich zufällig bei einer Bank im Wald getroffenhaben, und Robert setzt sich zu ihm. Und jetzt spricht ihn Alex auf das Geschehen an, das zu TamarasTod geführt hat.

    Was jetzt geschieht, fasst die Essenz des Films in einigen wenigen Worten zusammen. Robert, der überseine Schuldgefühle weder mit seiner Frau noch mit seinen Kollegen wirklich sprechen konnte, vertrautsich ausgerechnet Alex an, dem vermeintlich Fremden, dessen Geliebte er getötet hat, ohne das zuwissen. Sie sprechen in halben Sätzen miteinander, und als Alex ihn fragt, ob er keine Angst vor derRache des Bankräubers habe, verneint er das implizit. “Aber eines würde ich ihn schon noch fragen”,sagt er, “warum er die Frau überhaupt mitgenommen hat.” Er denkt logisch-linear und kann deshalbTamaras Anwesenheit im Auto nicht verstehen. Sie hatte keinen Part beim Banküberfall, und deshalbhätte sie nicht da sein dürfen. Aber so, wie Robert die Situation im Nachhinein analysiert, funktionierenGefühle und Ängste nicht, und deshalb ist es anders gelaufen. Ganz ähnlich ist der Film selbst struktu-riert – die gängigen Muster, die wir erwarten, werden immer wieder gebrochen, und wir müssen ganzgenau hinschauen, um die tiefere Bedeutung dahinter zu begreifen. Alex wirft nach dem Gespräch mitRobert die Pistole in den Teich. Er braucht sie nicht mehr.

    Raum und Zeit

    Was die Ebene der Raum- und Zeitdimension anlangt, spielt REVANCHE gerne mit Gegensätzen. Bilderdes Stadtlebens werden – manchmal in direkten Schnitten – mit denen des Land-Lebens zum Vergleichangeboten.

    Zeichnen sich die Bilder des Wiener Rotlichtmilieus und der Kontext, in dem sie gezeigt werden, durchschummrige Farben, eine unbestimmte Enge und auch eine gewisse Unvorhersehbarkeit aus, was alsnächstes geschehen wird, so sind die Bilder des Landlebens

    kino macht schule

    Revanche 9

  • in einem klaren und eindeutigen Licht gehalten und signalisieren einerseits Weite und andererseitsVorhersehbarkeit der alltäglichen Handlungen, die jeden Tag in derselben Art und Weise wiederkehren.

    Die Essenz dieses Gegensatzes spiegelt sich in den Begegnungen zwischen Alex und seinemGroßvater wider, der davon überzeugt ist, dass Alex als fast natürliche Folge des Stadtlebens zu einem“Lump” geworden ist. Wenn die beiden zu Anfang überhaupt miteinander reden, reden sie aneinandervorbei. Alex will über das Schneiden des Feuerholzes sprechen und muss eigentlich gleich wieder weg,wie er ständig betont. Aber Hausner geht darauf nicht ein, er spricht über das Begräbnis seiner Frauund scheint gar nicht zu merken, dass Alex darauf wiederum nicht reagiert.

    Als Alex jedoch nach dem Banküberfall auf Hausners Hof fest sitzt und das Feuerholz des Großvaterslangsam wächst, kommt Bewegung in die Beziehung der beiden. Am immer gleichen Küchentisch beider immer gleichen Brotzeit fragt Alex mit einer kaum merklichen Kopfbewegung zur Todesanzeige derGroßmutter, die an der Wand hängt: “Fehlt sie dir?”. Hausners Antwort ist symptomatisch für dieWelten, die ihn von seinem Enkel trennen. Es sei schon ein Elend, meint er, die ganze Arbeit alleinmachen zu müssen. Alex kann die Frage nur stellen, weil er selbst gerade unter dem Verlust seinerGeliebten leidet – ein Verlust, der stark im Verlust der körperlichen Beziehung verankert ist, die er mitder Geliebten hatte (dass er sich auf eine sexuelle Beziehung mit Susanne einlässt, hat schließlich auchdamit zu tun). Hausner denkt da offensichtlich viel pragmatischer, die Sehnsucht, die Alex treibt, scheinter nicht zu kennen, denn er wird – das ist seine tiefe Überzeugung – seine Frau ohnehin bald wiedertreffen (“das erwarte ich schon noch”). Das erinnert an eine Bemerkung aus Doris Lessings Biographie,dass die Generationen nach dem zweiten Weltkrieg die Generationen vor dem Krieg schon deshalb nieverstehen könnten, weil sie alles durch den Spiegel der sexuellen Sehnsucht und ihrer Befriedigungbetrachteten. Die Generationen vor dem Krieg hätten ganz andere Prioritäten gehabt, ihre Handlungenund Lebensanschauungen dadurch eine ganz andere Gewichtung. Hausners Leben gruppiert sich umdas natürliche Tag für Tag, um den Wechsel der Jahreszeiten und darum, wie hart jemand arbeitenkann, um in diesem Wechsel bestehen zu können. Die wiederholten Bilder, in denen wir beobachtenkönnen, wie er Alex beim Holzmachen zusieht, sind im Film bewusst gesetzt. Dass Alex ganz sichereine Frau finden wird, weil er “arbeiten kann”, ist für Hausner natürlicher Ablauf und Lebensweisheitzugleich.

    Dementsprechend hängt sich auch die positive Entwicklung der Beziehung zwischen den beiden ansolch pragmatischen Dingen auf. “Die Äpfel sind auch bald so weit”, sagt Hausner einmal während ihreransonst schweigsamen Brotzeit. Später bringt er Alex ein Stück Apfel zum Probieren – eine fast zärtli-che Geste innerhalb ihrer Begegnung. “Die besten Winteräpfel weit und breit”, kommentiert derGroßvater. Wirklich wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Alex positiv reagiert. Er nimmt das StückApfel und isst es, und auf die Frage des Groß-Vaters antwortet er: “Ja, eh gut.” Ab diesem Zeitpunktreden die beiden nicht mehr aneinander vorbei, einer hat auf den anderen adäquat reagiert und damiteine Basis geschaffen, auf der Weiteres möglich wird.

    kino macht schule

    Revanche 10

  • Hausner kann nun seine Schwächeanfälle zugeben und es geschehen lassen, dass Alex ihn zurUntersuchung ins Krankenhaus bringt. Vorher war er nicht bereit, den Hof deshalb zu verlassen, undwollte das nur tun, “wenn sie mich hinaustragen”. Jetzt hat sich die Situation geändert. Alex hat sich anseine pragmatische Sichtweise angepasst, er wird sich um den Hof kümmern, während der Großvaterweg ist, und Hausner kann sich darauf verlassen. Die letzten Bilder des Films zeigen Alex beiTätigkeiten, die früher der Großvater erledigt hat. Farben, Licht, Kameraausschnitt und Blickwinkel sinddabei eine Reminiszenz an frühere Bilder des Films und machen deutlich, dass Alex sich nun in dengleichen Räumen wie der

    Großvater bewegt. Er ist im wörtlichen Sinn in seine Fußstapfen getreten.

    Der Film spielt auch mit Räumen, indem er seine Figuren in regelmäßigen Abständen an den gleichenOrten einfängt, und damit eine Entwicklung deutlich macht, die in ihnen im Zusammenhang mit diesenRäumen geschieht. Wenn Alex immer wieder minutiös beim

    Holzhacken im Schuppen beobachtet wird, dient das nicht nur als Vorbereitung für die spätereBemerkung des Großvaters, dass er “arbeiten kann”. Das Holzhacken wird zu einer Metapher für Alex’seelischen Zustand, für seine Verzweiflung, seine Wut, seine Rachegedanken, aber auch für seine

    kino macht schule

    Revanche 11

  • Schuldgefühle und seine Fähigkeit, sich und anderen zu verzeihen. Durch die ständige Wiederholung ineiner immer größeren Dichte dringt es ein in unser Unbewusstes und gewinnt dabei den Status einerPrüfung und einer damit verbundenen Läuterung, ähnlich den Aufgaben, die Parsifal erfüllen muss, umam Ende des heiligen Grals würdig zu werden. Das Holzhacken wird damit zum Archetyp der Quest, derSuche zum Höheren, und unbewusst auch als solcher erfahren.

    Ein wichtiger Ort im Film ist der Teich. Bei ihm macht Robert jeden Tag eine Pause in seiner Laufrundeund ermöglicht durch diese Regelmäßigkeit Alex, ihm auf seinen Wegen zu folgen

    und diese zu kreuzen. Dort findet das wichtige Gespräch der beiden Männer über Schuld statt, und dortwirft Alex schließlich auch die Pistole ins Wasser, mit der er Robert eigentlich töten wollte. Wir sehenihn dabei in einer Totalen aus weiter Entfernung, sehen die Wasserfontäne

    und hören das platschende Geräusch, mit dem die Pistole ins Wasser fällt. Dieses Geräusch haben wirschon einmal ganz zu Anfang des Films vernommen, und wir erinnern uns jetzt daran, dass wir alsZuschauer schon einmal an diesem Teich gestanden sind, jedoch aus einer viel näheren Perspektive,aus der wir die Bäume sehen konnten, die sich im Wasser spiegelten, eine verkehrte Welt. Wir warengezwungen, dieses Bild fast quälend lange zu betrachten, während die Kredits am oberen Bildranderschienen und im Hintergrund die typischen Teichgeräusche zu hören waren: Wind, Vogelgezwitscher,Grillen, Frösche, ein Käuzchen. Dann kam plötzlich etwas durch die Luft geflogen und fiel mit einemlauten Geräusch ins Wasser und riss uns unerwartet aus unserer friedlichen Betrachtung. Während wirjetzt Alex aus weiter Ferne bei seinem Tun beobachten, wird klar, dass wir zu Beginn des Films dieganze Szene aus seiner Perspektive erlebt haben. Die quälend lange Zeit, die wir in der Betrachtungverharren mussten, ist die Zeit, die Alex braucht, um zu seiner Entscheidung zu kommen, den Mordplanaufzugeben. Durch diesen Trick erfahren wir praktisch am eigenen Leib die emotionale Spannung, die indiesem Tun enthalten ist.

    kino macht schule

    Revanche 12

  • Die Hinführung zum Beginn des Films weist noch auf eine andere Bedeutungsebene hin, die sich aller-dings erst erschließt, wenn man genau hinschaut. Nach der Eingangssequenz am Teich sehen wir kurzSusanne, die ihrem Mann von der Terassentür aus beim Rasenmähen zusieht. Dann kommt eine ersteSchwarzblende, von denen es im Film insgesamt vier gibt. Auf schwarzem Grund taucht der schlichtgehaltene weiße Titel des Films auf. REVANCHE. Allein dieser Titel verweist auf den Grundton desFilms. Er hätte auch “Rache” oder “Schuld und Sühne” heißen können, aber diese Titel wären zu dra-matisch gewesen und hätten dem lakonischen und distanzierten Blick, der auf die Handlung und ihreFiguren geworfen wird, nicht entsprochen. REVANCHE ist außerdem ein Wort, das Alex selbst benutzenwürde, es passt zum Umfeld, in dem er sich bewegt. Die zweite Schwarzblende erscheint zwischenKonecnys Angebot an Tamara, ihr eine eigene kleine Wohnung “zur Verfügung” zu stellen, und derBeobachtung von Roberts Schießübungen bei der Polizei. Die dritte zwischen Alex im Hotel, als erTamaras Sachen nach ihrem Tod abholt, und der Arbeit des Holzschneidens auf dem Hof, und hier istes zum ersten Mal, dass er bei dieser Arbeit gezeigt wird. Die vierte Schwarzblende befindet sich zwi-schen der Sequenz, wo Alex den Großvater ins Krankenhaus bringt und der, in der das Gespräch mitRobert am Teich stattfindet.

    Die Schwarzblenden haben dabei nicht, wie man zuerst vermuten könnte, die Funktion, ein neuesUmfeld zu zeigen oder neue Figuren einzuführen, vielmehr weisen sie auf eine Veränderung desGeschehens hin, auf ein neues Kapitel der Geschichte, das dadurch markiert wird. Wenn der Film nacheinem Vorspann, den wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht richtig einordnen können, mit einerSchwarzblende und dem Titel beginnt, ist das wie ein Signal, jetzt genau aufzupassen. Wenn KonecnyTamara in einer seiner Wohnungen haben möchte, ist damit auch eine Drohung verbunden, die dieGeschichte in eine neue Bahn lenkt, denn durch diese Bedrohung ist Tamara zur Flucht aus demBordell gezwungen und Alex zu schnellem Handeln – womöglich wäre der Banküberfall unter anderenUmständen nur ein naiver Traum geblieben. Die Schießübungen Roberts wiederum weisen darauf hin,dass er nicht immer zielsicher trifft, und dadurch ist das Unglück, bei dem Tamara umkommt, schonvorbereitet. Nach der dritten Schwarzblende beginnt Alex mit der Arbeit des Holzmachens, das dadurchvon Anfang an eine Dimension erhält, die über das eigentliche Tun hinausweist. Alex muss mit TamarasTod und allem, was damit verbunden ist, fertig werden. Vor der vierten Schwarzblende ist die Beziehungmit dem Großvater in eine neue Phase getreten, und danach wird das entscheidende Gespräch mitRobert stattfinden, das Alex von seinen Mordgedanken abbringt. Die Schwarzblenden haben dieFunktion eines Vorhanges, und mit dieser Einteilung in fünf Akte hat sich Götz Spielmann bei keinergeringeren als der klassischen Tragödie bedient. Der Film trägt zwar nicht den Titel “Schuld undSühne”, aber er verweist in seiner Struktur auf etwas, was einen solchen Namen tragen könnte. Zu die-sem Spiel zwischen Trivialität und Pathos passt auch das innere Ende der Geschichte: Susanne wird einKind von Alex bekommen und damit wahrscheinlich ihre Beziehung mit Robert retten. Eine solche “Tat”kann nur in der Wirklichkeit des abgeschiedenen Waldviertels oder in einem kitschigen Heimatromangeschehen – oder in der klassischen Tragödie.

    Beim Abspann des Films laufen die Kredits auf schwarzem Grund herunter. Während der Film auf derBildebene zu Ende ist, geht er jedoch auf der Tonebene noch weiter. Ähnlich wie beim Vorspann, derauf der Tonebene von natürlichen Geräuschen bestimmt war, hören wir beim Abspann Vogelgezwitscherund die charakteristischen Geräusche eines heran nahenden Gewitters. Schließlich das Geräusch vonRegen. Dadurch, dass der Film auf der Tonebene weitergeht, wird ein imaginärer Raum geschaffen,indem wir uns Alex, der mit den Äpfeln im Haus verschwunden ist, weiter denken. Das dient zum eineneinem sehr realen Eindruck, den der Film bei uns hinterlässt, ist jedoch auch dafür verantwortlich, dasswir noch lange darüber nachdenken, weil er das offene Ende, das in den letzten Bildern des Filmsangedeutet ist, unterstützt.

    kino macht schule

    Revanche 13

  • Die Tonebene von REVANCHE zeichnet sich durchgehend durch das Spiel mit diesen natürlichenGeräuschen aus, die allerdings sehr oft überhöht sind. Wind und Zwitschern, eine Autotür, die zuge-schlagen wird, Alex’ Fußstapfen im Wald, ein vorbeifahrender Zug vor seinem Wohnungsfenster werdenviel lauter wahrgenommen, als wir das in Wirklichkeit könnten. Gleichzeitig gibt es keine nicht diegeti-sche Musik (i.e., es kommt keine Musik im Film vor, die nicht natürlich in die Handlung integriert ist).Hausner spielt ein paar Mal Ziehharmonika, Tamara singt einmal ein paar Zeilen eines Liedes, inSusannes Kinderzimmer kann man das leise Klingen eines Traumfängers vernehmen. Aber es gibt keineMusik, die bestimmte Sequenzen aus dem Off untermalt. Durch diese Handhabung des Tones wirdeinerseits wieder ein Raum geschaffen, in dem die Handlung “real” wird, andererseits wird jede falscheEmotionalität oder Spannung, die ja eine Hauptintention begleitender Musik aus dem Off ist, vermieden.

    Die Erzählperspektive – Distanz und Nähe

    Ähnlich wie der Film seine Figuren durch ganz bestimmte Muster der Charakterisierung aus einer res-pektvollen Distanz heraus betrachtet, ist auch die Erzählhaltung, die die Kamera einnimmt, auf diesenDuktus abgestimmt. Es gibt keine Nahaufnahmen in REVANCHE. Die Totale und Halbtotale sind häufigeEinstellungen, und wenn die Kamera den Figuren doch einmal ein wenig näher kommt, geschieht das inder bewussten Absicht, etwas besonders zu betonen, wie zum Beispiel Alex’ Hand auf TamarasHintern, oder seinen Gesichtsaudruck, als er sich unter dem Bett vor dem Bordellchef versteckt.

    Oft werden die Figuren nicht nur von weit weg gezeigt, sondern die Kamera nimmt zusätzlich einenBlick ein, der sie uns durch halboffene oder geschlossene Türen sehen lässt.

    Der distanzierte Blick auf sie wird noch einmal durch etwas “hindurchgeschleust”, gewissermaßen vor-gefiltert für das Auge des Betrachters. Dadurch wird aber gleichzeitig ein Fokus auf sie gerichtet, undsie kommen uns auf einer ganz anderen als der visuellen Ebene näher (hier geschieht auf der Ebenedes Diskurses das Gleiche an unbewusster Reflexion wie durch die Multiperspektive der Narration).Etwas Ähnliches geschieht, wenn wir die Figuren oder ihren Gesichtsausdruck nur im Spiegel sehenkönnen. Wie der Spiegel das Licht zurückwirft und nur ein Abbild des Gezeigten darstellt, sind auch dieEmotionen, die sich auf diesen Gesichtern und in diesen Körpern spiegeln, nur ein Abbild derWirklichkeit. Gleichzeitig wird durch den Spiegel auf der unbewussten Reflexionsebene eine

    kino macht schule

    Revanche 14

  • Verdoppelung und damit Verdichtung erzeugt, besonders wenn mehrere Spiegel im Spiel sind, die diePersonen bis ins Unendliche reflektieren.

    Die Kamera bedient sich dabei meist einer passiven (das heißt unbewegten), objektiven Haltung, wasbedeutet, wir sehen die Figuren von außen aus der Haltung eines neutralen Erzählers und nur ganzpunktuell mit dem personalen Blick der Figuren. Als Alex ins Hotel zurückfährt, um Tamaras Sachen zuholen, bleibt die Kamera starr und unbeweglich immer auf den gleichen Punkt gerichtet: ein Kasten voreiner schäbigen Hotelzimmerwand, mit

    einem schäbigen Bett im Vordergrund. Alex bewegt sich wie im Theater aus diesem Bild hinaus undwieder herein, auf der Tonebene hören wir sein Weinen, aber wir können ihn nicht sehen, weil er sichirgendwo außerhalb des linken Bildrandes befindet. Als er sich in seiner Verzweiflung aufs Bett setzt,sehen wir ihn nur von hinten und können zwar seine zitternden Schultern, aber sein Gesicht nichtsehen.

    Diese Technik wird sehr häufig angewandt. Über lange Zeit hinweg können wir die Figuren immer nurvon hinten bei ihren Gesprächen belauschen, egal ob es sich um Alex und Hausner,

    kino macht schule

    Revanche 15

  • Alex und Susanne, Robert und Susanne oder Alex und Robert handelt. Durch diese Erzählhaltung wer-den wir gewissermaßen dazu verdammt, Abstand zu halten, im Hintergrund zu bleiben – die Intimität,bei den Gesprächen “live” dabei zu sein, wird uns dadurch verwehrt.

    REVANCHE erzielt durch diesen Umgang mit der Kamera, gepaart mit einem mitunter extrem langsa-men Schnitt (gemessen an den normalen Sehgewohnheiten der meisten Zuschauer), seine außerordent-lich hohe Spannung. Dadurch, dass wir immer außen vor gelassen werden, und das für lange Zeit, wer-den wir immer neugieriger auf das, was sich zwischen den Figuren abspielt. Beim Fortschreiten dieserEntwicklungen ändert sich auch die Erzählhaltung der Kamera, bzw. werden Entwicklungen auch durchdie Änderung der Erzählhaltung markiert.

    Als Hausner und Alex sich langsam näher kommen, sehen wir die beiden am gleichen Küchentisch wieimmer sitzen, aber aus einem anderen Blickwinkel, von vorn. Als Alex Susanne erzählt, warum er sichso brutal verhält, sehen wir die beiden am Tisch von vorn. Und als Robert seiner Frau endlich seinewahren Gefühle über die Vorkommnisse offenbart, sehen wir ihn und Susanne auf der Couch sitzendvon vorne, und wir können dieses Mal Roberts Tränen hautnah miterleben. Diese Technik markiert dieVeränderung, die zwischen den Figuren vor sich gegangen ist. Hausner wird Alex nach dieserEinstellung den Apfel zum Kosten bringen, zwischen Susanne und Alex gibt es nach diesem Gesprächeinen Ansatz von Zärtlichkeit, Susanne wird Tamaras Foto wegwerfen und damit einen neuen Anlauf inihrer erstarrten Beziehung mit Robert einleiten.

    In dem entscheidenden Gespräch am Teich zwischen Alex und Robert geschieht auf Kameraebeneetwas, was vorher im Film noch nie geschehen ist. Als es um die Frage geht, warum Tamara in demFluchtauto gesessen ist, wird das Gespräch nicht mehr mit starrem Kamerablick von hinten betrachtet,sondern wechselt in eine Schuss/Gegenschusstechnik,

    kino macht schule

    Revanche 16

  • in der der Blick der Figuren auf den jeweils anderen enthalten ist. Wir sehen Alex, wie Robert ihn in die-ser Situation sieht, und Robert, so wie ihn Alex wahrnimmt. Hier wird durch den Wechsel derKameraperspektive unbewusst erfahrbar, dass sich ein persönliches Moment in die Begegnung der bei-den Männer geschlichen hat.

    Das letzte Gespräch zwischen Susanne und Alex im Film macht diese veränderte Haltung noch deutli-cher. Susanne ist gekommen, um mit ihm darüber zu sprechen, dass Robert nie erfahren darf, was zwi-schen ihnen geschehen ist. Er wäscht sich am Waschbecken die Hände, und wir sehen – ein gewohnterAnblick für uns – sein Gesicht im Spiegel, als Susanne ihn bittet, zu schwören, dass er nichts erzählenwird. In diesem Augenblick dreht sich Alex jedoch um und sagt einfach: “Ich schwöre.” Die äußereHinwendung zu Susanne impliziert hier eine innere. Wir sehen beide von vorne. Sie setzen sich an denTisch, und der Blickwinkel der Kamera bleibt so, dass wir ihre Gesichter sehen können. Das FotoTamaras liegt zwischen ihnen auf dem Tisch. In der Folge kommt die Kamera den Figuren so nah, wiesie es im Film noch nie war, und wir erleben in Schuss/Gegenschusstechnik Susannes Erkenntnis, dassAlex der Bankräuber und damit derjenige ist, der ihrem Mann nach dem Leben trachtet oder getrachtethat.

    kino macht schule

    Revanche 17

  • Die Kamera bleibt lange auf den Gesichtern stehen und macht den Bogen der unterschiedlichenEmotionen deutlich, die sich zwischen den beiden in diesen wenigen Augenblicken abspielen, umsomehr, als wir diesen Kamerablick und die Nähe der Einstellungen nicht gewohnt sind. Es ist etwas ganzBesonderes, was wir hier sehen, und etwas ganz Besonderes ist auch der zweideutige Dialog, den diebeiden führen. Wenn Susanne nach ihrer Entdeckung noch einmal darauf zurückkommt, dass er Robertnichts sagen soll und er antwortet “Mach dir keine Sorgen”, dann wird da zwischen den Zeilen auchgesagt, dass sie ihn nicht verraten und Alex Robert nichts antun wird. Das Foto Tamaras, das in dieserDeutlichkeit noch einmal auf dem Tisch gezeigt wird, markiert das vorläufige Ende einer Geschichte,denn wie es weitergeht, bleibt offen. Susanne geht, und Alex geht die Äpfel aufsammeln und verschwin-det damit im Haus. Wie im Theater sind sie beide abgetreten, und wir bleiben als Zuschauer alleinzurück mit den Geräuschen des herannahenden Gewitters.

    Fragen zum Einstieg in die Diskussion

    • Warum heißt der Film “Revanche” (und zum Beispiel nicht “Rache” oder etwa “Schuldund Sühne”?)? Was verbindet ihr mit diesem Titel?

    • Welche Funktion haben die Schwarzblenden, die ein paar Mal im Film vorkommen?• Das Holzhacken ist ein immer wiederkehrendes Motiv. Was verbindet ihr damit? • Auf welch verschiedene Weisen wird Sexualität dargestellt? Welche Funktionen erfüllt

    sie? Was kommt durch die Darstellung zum Ausdruck?• Woran erkennt man, dass Alex Tamara wirklich lieb hat?• Woran erkennt man, dass Robert ein sehr korrekter Mensch ist?• Was sind die Beweggründe für Susanne, mit Alex ein “Panscherl” anzufangen? - Und für

    Alex?• Welche Rolle spielt das Foto von Tamara?• Warum sitzt Tamara in dem Auto, mit dem Alex nach dem Banküberfall flüchtet? Was ist

    der Grund, dass sie unbedingt dabei sein will?• Wodurch unterscheiden sich die Welten von Hausner und Alex? • Wie steht Robert dazu, dass er Tamara “versehentlich” erschossen hat? Wie ist sein

    Verhalten danach?

    Über die Autorin

    Dr. Martina Lassacher, Literaturwissenschafterin. Leiterin des Internationalen Kinderfilmfestivals Wien.Lehrveranstaltungen am Institut für Sprachen und Literaturen der Universität Innsbruck. Seit 2007Lehrende an der Kinderuni Wien (Bereich Filmwissenschaft). Pädagogische Begleitunterlagen zu Filmendes Internationalen Kinderfilmfestivals und zu „Kino macht Schule“.

    kino macht schule

    Revanche 18