Rezensionsessay: Popitz "Phänomene der Macht"

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Rezensionsessay über Popitz Buch "Phänomene der Macht". Wissenschaftliche Verwendung nur unter korrekter Zitierung, Link auf das Dokument oder http://derjesko.de erwünscht.

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Jesko Habert, Rezension: Popitz' «Phänomene der Macht»

Rezensionsessay

Heinrich Popitz«Phänomene der Macht»

Inhaltsverzeichnis

1. Einführung........................................................................................................................3 2. Ausgangsfragen und Grundprämissen.............................................................................3 3. Thesenstruktur und Argumentation..................................................................................4

3.1. Vier Arten der Macht...............................................................................................4

● Aktionsmacht........................................................................................................4

● Instrumentelle Macht............................................................................................4

● Autoritative Macht................................................................................................5

● Datensetzende Macht / Technisches Handeln.......................................................6 3.2. Absolute Gewalt......................................................................................................7

4. Die Entgrenzung menschlicher Macht.............................................................................8 5. Popitz' «Phänomene der Macht» im Kontext des Kalten Krieges...................................9 6. Bewertung und abschließende Bemerkung......................................................................9

Quellenangabe..................................................................................................................9

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Jesko Habert, Rezension: Popitz' «Phänomene der Macht»

1. EinführungDer deutsche Soziologe Heinrich Popitz hat dem Werk «Phänomene der Macht» eineanthropologisch wertvolle Theorie dargelegt, die das Thema „Macht“ in allen Fassetten behandelt.Hierbei übersteigt er Max Webers Ansatz, indem er Gewalt in ihrer Extremform als „Todesmachteines Menschen über andere Menschen“ der Macht unterordnet, welche wiederum als „dasVermögen, sich gegen Fremde Kräfte durchzusetzen“ definiert wird. Popitz' Ansatz ist vonbedeutender Wichtigkeit für die soziologische Sicht auf Machtausübung, da er schlüssig darlegt,wie sich Machtstrukturen ausbilden und entwickeln können. Dies ermöglicht nicht nur eineerweiterte Sicht auf historische Ereignisse und der Entstehung unserer Gesellschaft und ihrerMachtordnung, sondern auch die Möglichkeit, sich ausbildende Machtstrukturen zu erkennen undmöglicherweise zu verhindern. Dies hatte für Popitz eine große aktuelle Relevanz, da die ersteAuflage im Jahre 1968, und damit inmitten eines von gegensätzlichen, kriegerischen Mächtengeprägten Zeitalters erschien. Im Kapitel 5 werde ich weiter auf diesen historischen Kontext unddessen Beeinflussung auf «Phänomene der Macht» eingehen.

2. Ausgangsfragen und GrundprämissenZu den zentralen Fragen in «Phänomene der Macht» gehört die, worauf Macht beruht. WelcheBedürfnisse und Situationen rufen sie hervor? Welche Eigenschaften und Fähigkeiten führen zumMachtgewinn und -erhalt? Warum müssen Menschen Macht erleiden? Zur Beantwortung dieserFragen legt er folgende Grundprämissen fest, von denen aus er seine Argumentation darlegt. Dieseseien zwar im historischen Prozess entstanden, trotzdem jedoch allgemeingültig.

1. Macht ist machbar und menschlich. Machtverhältnisse sind nicht unantastbar, sondernveränderbar, da sie von Menschen gemacht wurden und nicht, wie früher dargestellt,gottgegeben. Diese Prämisse gehörte zur Politik der griechischen Polis, die dementsprechend diebestmögliche Ordnung zu schaffen suchten. Eine Wiederbelebung erfuhr diese Idee mit derSchaffung der neuzeitlichen Verfassungsstaaten.

2. Macht ist omnipräsent. Sie ist in modernen Gesellschaften überall auffindbar. Alsvergesellschaftete Form unterwerfen wir uns täglich verschiedenen Machtverhältnissen. Dieslässt sich seit dem Fall der verstaatlichten, zentralen Macht im Ancient Regime beobachten. Esentstehen die Macht der öffentlichen Meinung, des Eigentums und der Volksmassengewalt.Vergesellschaftete Macht führt nicht zur Staatsentmachtung, lässt Machtkonflikte aber durch dieganze Gesellschaft gehen. So entwickeln sich Konflikte zwischen Geschlechtern oderGenerationen.

3. Macht ist Freiheitsbegrenzung. Daher ist jede Macht fragwürdig und rechtfertigungsbedürftig.Historisch wird dies in den nationalen Freiheitskämpfen Europas und Emanzipation von Frauenund gesellschaftlichen Minderheiten deutlich. Machtausübung wird heute als Eingrenzung derSelbstbestimmung empfunden. Sie bleibt jedoch unvermeidbar, z.B. in der beschützenden Machtder Eltern über ihr Kind. In modernen Gesellschaften bleibt sie immer begründungsbedürftig.

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3. Thesenstruktur und ArgumentationPopitz unterteilt die Arten der Macht in vier nicht weiter reduzierbare Grundtypen, welche sichwesentlich unterscheiden. Diese Machtarten können miteinander kombiniert auftreten odervollkommen alleine. Was jedoch der wohl wichtigste Aspekt ist: sie bauen aufeinander auf. Um diedritten Art der Macht auszuüben, sind in der Regel zuvor die beiden ersten Stufen aufgetreten.Einzig die vierte Art steht ein wenig außerhalb; sie tritt zwar mit den meisten Machtformenzusammen auf, steht aber nicht in der zeitlichen Abfolgekette der ersten drei Formen.

3.1 Vier Arten der Macht

Verletzende Aktionsmacht . Die Aktionsmacht existiert in drei Ausprägungen: Der Minderungsozialer Teilhabe von Beherrschten, der materiellen Schädigung dieser und schließlich derkörperlichen Verletzung, was im extremsten Fall den Tod bedeutet. (Überschneidungen sindmöglich.) Die körperliche Verletzung ist meist mit den stärksten Emotionen verbunden, denn„körperliche Schmerzen“ sind nie nur körperlich, da niemand unabhängig von seinem Körperempfinden kann. Aktionsmacht ist aus drei Gründen ungleich verteilt: durch die Unterschiede in derangeborenen Stärke, Intelligenz, Begabung etc., durch Übungsgewinne und durch die Verteilungkünstlicher Steigerungsmittel. Aktionsmacht ist in seiner ursprünglichen Form auf einzelneAktionen begrenzt, die jeder im günstigsten Moment an sich reißen kann. Der in dieser SituationBeherrschende übt aber keine dauerhafte Macht über den anderen aus und verliert das Interesse amOpfer, sobald das Ziel erreicht ist. Sie kann allerdings auch mit präventivem Charakter vollzogenwerden, um sich instrumentelle Macht zu sichern (s.u.). Bsp.: Der bewaffnete Räuber übt nur indiesem Moment Macht aus, sobald die Forderungen erfüllt sind, erlischt sie.

Da der Mensch grundsätzlich sehr verletzungsoffen ist (durch den Körper, die ökonomische Ab-hängigkeit von Subsistenzmitteln und von sozialen Verhältnissen), muss er diese Macht, wenn sie inihm überlegener Form auftritt, erleiden. Diese Verletzbarkeit ist nicht aufhebbar. Solange derMensch lebt, kann ihm etwas angetan werden.

Instrumentelle Macht . Die Instrumentelle Macht lenkt das Verhalten der Beherrschten dauerhaft,nicht jedoch die Einstellung (s.u.). Sie beruht auf der glaubhaften Verfügung über Belohnungen undStrafen, die jedoch nicht mehr ausgeübt werden müssen. Dementsprechend wird erst dieAktionsmacht benötigt, um als glaubhafter Machtausüber aufzutreten. Durch weitere Drohungenund Versprechen erübrigt sich dann die Aktionsmacht i.d.R., da im Betroffenen Angst bzw.Hoffnung geweckt wird und so zu voreilendem Gehorsam führt. Dies gilt jedoch nur, wenn derBeherrschte sich beobachtet fühlt, er also bestraft werden könnte. Elementar hierfür ist dieDichotomie des Herrschenden: der Beherrschte gehorcht und wird belohnt, oder er tut es nicht undwird bestraft – dazwischen gibt es keine Abstufung. Für die Machtinstitutionalisierung existierendrei wichtige Tendenzen: Entpersonalisierung des Verhältnisses (die Macht hängt nicht mehr an derPerson, sondern an der Rolle), Formalisierung (Regeln und Rituale formen das Verhältnis – wasWillkür als Regelausnahme nicht ausschließt) und die Integrierung in übergreifende Ordnungen (sodass sich beide gegenseitig stützen). Diese drei erhöhen die Stabilität, denn der Machtgewinn

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erschwert auch eine Rückgängigmachung. (Die Entfernung einer herrschenden Rolle ist schwererals die einer herrschenden Person.) Mit der Institutionalisierung geht eine Ausweitung vonReichweite, Geltungsgrad und Wirkungsintensität (Durchsetzungs- und Innovationskraft) einher.Die Grundtypen von institutionalisierten Herrscherrollen sind der Patriarch (wegenAufrechterhaltung sozialer Kontinuität), Richter (wegen Aufrechterhaltung der Norm bei Brüchen)und Heerführer (wegen Aufrechterhaltung bei äußerer Bedrohung). Bsp.: Der Offizier muss denSoldaten nicht mit realen Strafen bei Fernbleiben von Übungen versehen, wenn die Drohungweiterhin glaubwürdig erscheint. Der Soldat wird das Fernbleiben vermeiden, wenn die Gefahrbesteht, dafür bestraft werden zu können. Fühlt er sich jedoch unbeobachtet, wird er dies tun.

Der Mensch muss diese Macht erleiden, da er konstitutiv zukunftsorientiert handelt. Er rechnet sichaus, dass eine gleiche Handlung zur gleichen Belohnung/Strafe führt und wird deshalb so weit ge-horchen, dass er dem Beherrschten u.U. sogar als Helfer zur Seite stehen wird um Belohnung zuerhalten. Instrumentelle Macht ist als Alltagsmacht notwendig für jede dauerhafte Machtausübung.

Autoritative Macht . Die innere, autoritative Macht lenkt sowohl das Verhalten als auch die Ein-stellung und sogar die Wahrnehmung des Betroffenen. Sie ist bei den Beherrschten so verinnerlicht,dass sie keiner Kontrolle mehr von außen bedarf, da der Beherrschte scheinbar „freiwillig“, wie ausinnerer Einsicht gehorcht, also nicht nur eine vollständige Bindung (Vollzug der Strafe bz.Belohnung nicht mehr nötig), sondern eine latente Bindung (Die Autoritätsperson muss nicht mehrphysisch existent sein) vorliegt. Erst die Ersetzbarkeit der Realität durch Vorstellung fesselt denAbhängigen permanent, also auch in unbeobachteten Situationen. Symbol dieser Macht sindautoritative Respektpersonen, von denen man sich Anerkennung erhofft. Auf diese Weise istautoritative Macht eine Fortführung der instrumentellen Macht: die Belohnung wird zurAnerkennung durch die Autorität, die Strafe zum Entzug dieser Anerkennung. Es gibt vierKennzeichen, die auf das Vorhandensein von Autorität hinweisen: die Verhaltensanpassung sowohlin kontrollierten als auch in unkontrollierten Situationen, die Anpassung von persönlicherEinstellung und Meinung (psychische Anpassung), scheinbare Waffenlosigkeit und Aufschauen desAbhängigen zur Autoritätsperson (Prestigeeindruck). Diese Macht manifestiert sich meist innormativen Ordnungen und ihren Repräsentanten. Bsp.: Der Professor muss dem Studenten nichtmit schlechten Noten drohen wenn er nicht lernt. Stattdessen hat der Student dies so verinnerlicht,dass er es von selbst tut, auch wenn er nicht „überwacht“ wird, um Anerkennung des Professorsoder der Gesellschaft zu gewinnen.

Da der Mensch auf soziale Anerkennung anderer angewiesen ist, muss er auch diese Macht erlei-den. Er ist außerdem auf Autoritäten als Maßstabssetzer angewiesen, da er als orientierungsbedürfti-ges Wesen seinen Selbstwert durch die gesellschaftliche Achtung definiert, die wiederum von derAutorität repräsentiert wird. Autoritäre Anerkennung führt zu einem positivem Selbstwertgefühl.Das Vorhandensein von Autorität ist hierbei ein Beziehungsphänomen, denn es setzt keinebestimmten Eigenschaften voraus. Es lassen sich höchstens Eigenschaften finden, die in eineAutorität hineininterpretiert werden, bzw. solche, die die Übernahme von Maßstäbenwahrscheinlicher machen: Selbstsicherheit und Eindeutigkeit. Die extreme Weiterführung der

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Autoritativen Macht ist die Autorität der Nachwelt. Hier existiert eine imaginierte lebensbewertendeInstanz, als höchste erreichbare Anerkennung des lebensüberdauernden Ruhms. Die eigentlicheUmsetzung des Ruhms ist nicht relevant, schon die Vorstellung bestimmt das Verhalten als Variantedes vorweggenommenen Gehorsams. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich die ambivalente Variantedes „verkannten Genies“ entwickelt, in dessen Vorstellung die Nachwelt diese Lebensbewertungaufgrund noch nicht vorhandener Maßstäbe durchführen wird. Diese Vorstellung hat sich wiederumvon der Autoritativen Macht gelöst, da sie nicht mehr zu Normkonformität führt.

Datensetzende Macht. Die Macht des Datensetzens wirkt über die Lebensbedingungen derBeherrschten über den Umweg von „technischen (vom Mensch gefertigten) Objekten“ (=„Artefakte“). Durch technisches Handeln ändert der Hersteller nicht nur den Zustand desbearbeiteten Gegenstandes bzw. der Natur, sondern auch die Lebensbedingungen der betroffenenMenschen, indem er Daten/Vorraussetzungen für die Situation anderer schafft. Bsp.: Durch dieKonstruktion bestimmter Wohnungen übt der Architekt Herrschaft über den Lebensstil der darinwohnenden aus. Oder: Der Erbauer einer Atombombe herrscht damit direkt über eine Großzahlvon Menschen, indem er ihre Situation ändert – selbst wenn er sie nicht einsetzt.

Durch das Bedürfnis auf bestimmte technische Objekte zur Lebenserhaltung und später auch zurWohlstandssteigerung ist der Mensch für das Erleiden der datensetzenden Macht offen. DerSchöpfer des Artefaktes übt somit datensetzende Macht über den Datenbetroffenen aus, diese istzwar erst latent, kann aber durch Kombination mit anderen Machtarten gefestigt werden. Im Bezugauf technisches Handeln gibt es folgende wichtigen Modi: Verwenden, Verändern und Herstellenvon Artefakten. Das Verwenden ist ein zentraler Punkt, da jedes technische Handeln auf den Zweck,die Brauchbarkeit des Artefaktes angewiesen ist. Dafür verändert der Mensch Vorgefundenes undschafft eine neue Realität durch erlernbares, differenzierbares und steigerungsfähiges Handeln: derHerstellung. In diesem Prozess entsteht stets die Eigentumsfrage, die auf drei Weisen gelöst werdenkann: Der Hersteller ist Eigentümer, alle Gruppenmitglieder der Gruppe des Herstellers sindEigentümer (Gemeineigentum) oder der Eigentümer ist jemand anderes, wie dies beiSklavenhaltung (Eigentümer besitzt die Person des Herstellers) oder verkaufter Arbeit (Eigentümerbesitzt Produktionsmittel) der Fall ist. Auf Basis dieser Frage sind alle sozialen Ordnungen auchEigentumsordnungen. Durch die Organisation unseres Handelns und der Einsicht in die Natur derDinge können wir die Effizienz unseres technischen Handelns in Quantität und Qualität steigern.Dies beginnt schon mit der Koordination gleicher Tätigkeiten und endet mit prozessualerArbeitsteilung, wie sie in den heutigen Industriegesellschaften ausgeübt wird. Mit dieserEffektivitätssteigerung steigt auch das mögliche Machtpotential.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Mensch durch seine Verletzbarkeit, seine Zu-kunftssorge, die Bedürftigkeit nach Maßstäben und Anerkennung und seine Angewiesenheit aufArtefakte Macht erleiden muss. Auf der anderen Seite hat der Mensch die Fähigkeit zu Verletzen,Angst und Hoffnung zu erzeugen, Maßstäbe zu setzen und technisch zu handeln, kann alsopotentiell Macht über andere ausüben – es gibt immer die Chance zur Machtausübung. Instrumen-

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telle und autoritative Macht steuern dabei das Verhalten des Betroffenen (wobei Erstere nur dasVerhalten, Letztere auch die Einstellung beherrscht), Aktions- und datensetzende Macht verändernhingegen die Situation des Betroffenen (wobei die Aktionsmacht die Person unmittelbar trifft, diedatensetzende Macht hingegen über die Lebensbedingungen entscheidet).

3.2 Absolute Gewalt

Mit dem Akt des Tötens, der absoluten, nicht steigerbaren Aktionsmacht erhält der Ausübende einSymbol des absoluten Sieges. Er hält den unleugbaren Machtbeweis, den er sogar noch steigernkann, indem er den Glauben an ein Weiterleben der Seele zerstört (z.B. Leichenschändung). Diemeisten Herrschaftsverhältnisse im großen Maßstab beruhen auf dieser Todesfurcht, die schließlichzur Ehrfurcht vor dem „Herrn über Leben und Tod“ werden kann. Dies wiederum ist die Basis fürden Glauben an einen gottähnlichen Herrscher, der damit die absolute Gewalt über jeden Aspekt desLebens erhält. Im extremsten Fall kann dies so weit gehen, dass, wie in den Konzentrationslagernder Nationalsozialisten, den Gefangenen sogar der Selbstmord verboten wird – der Herrschendeerhält das absolute „Tötungsmonopol“.

Absolute Gewalt tritt historisch bis zum Grad der Völkerauslöschung auf. Zwar lässt das nicht aufeinen ewigen „Kampf um Leben und Tod“ (s.83) in der menschlichen Geschichte schließen –nichtsdestoweniger ist diese absolute Gewalt keine Randerscheinung oder ein „Betriebsunfall“ (S.83) sondern ein Teil der sozialen, weltgeschichtlichen Ökonomie. Drei Voraussetzungen müssen ineiner Gesellschaft erfüllt sein, um absolute Gewalt zu ermöglichen: Glorifizierung, Gleichgültigkeitund spezifische Intelligenz des technischen Herstellens. Eine Glorifizierung gleich welcher Artsichert als Rechtfertigung die alte Macht bzw. sorgt für den angestrebten Umbruch, eineGleichgültigkeit der Täter gegenüber den Opfern ermöglicht erst die Verletzungsmächtigkeit durcheine Entmenschlichung der Opfer und durch die technische Waffenentwicklung wird die Herrschaftweniger über viele erst möglich („Kriegeraristokratie“). Mit Feuerwaffen wurde diese letzteMöglichkeit über größere Entfernung hinweg möglich und erweiterte den Aktionsradius; mit derAtombombe wurde nicht weniger als eine vollkommen neue Art des Tötens entwickelt. Alle dreiVoraussetzungen steigern sich wechsel- und gegenseitig.

Für den absoluten Herrscher besteht in der Vollkommenheit der absoluten Gewalt des Todes jedochauch immer eine Gefahr, denn nicht nur er, sondern jeder Mensch kann sie ausüben. So stellen derAttentäter und der Märtyrer Antagonisten zur absoluten Herrschaft dar, weil sie ihm die letztlicheMacht über Leben und Tod entnehmen. So kann die Macht durch die Möglichkeit des Todesvollkommen sein, genau aus dem selben Grund lässt sie sich jedoch auch nicht hundertprozentigmonopolisieren.

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4. Die Entgrenzung menschlicher GewaltDie menschliche Gewalt als Form der Machtausübung über andere Menschen ist potentiellgrenzenlos. Hierfür gibt es drei Gründe, die in ihrer Kombination erschreckende Ausmaße vonGewaltausübung erreichen kann. Zuerst ist dies die Entwicklung stets effektiverer künstlicherGewaltsteigerungsmittel. Historisch gesehen ist es immer einfacher geworden, immer mehr Men-schen töten zu können. Den Höhepunkt findet dies in der Entwicklung der Atombombe. Mit derstetigen Effektivitätssteigerung im technischen Handeln hat sich auch die datensetzende Machtvergrößert: wer heute diese Macht hat, kann sehr viel mehr Menschen über sehr viel längere Zeit„beherrschen“ (ihre Lebensumstände ändern), als dies früher der Fall war. (Z.B. durch den Baueines Atomkraftwerkes). Nicht zuletzt deshalb liegt ein Angelpunkt der Machtkontrolle in derKontrolle des menschlichen Handelns. Dass diese Kontrolle ein ähnlich großer Schritt ist wie dieErfindung des modernen Verfassungsstaates, erkennt Popitz selbst – er hält diesen Schritt jedoch fürmöglich.

Als weitere Gründe für die Gewaltentgrenzung kommen anthropologische Merkmale des Menschenhinzu: Die Instinktentbundenheit und die Realitätsentbundenheit. Da wir nicht mehr an unserenInstinkt gebunden sind, sind wir sowohl vom Handlungszwang also auch von derHandlungshemmung befreit. Gewaltakte sind deshalb nicht auf bestimmte Motivationen etc.eingeschränkt, ebenso wie nichts uns automatisch zur Gewalt zwingt. Es mag zwarZusammenhänge zwischen Aggression und Gewalt geben, Letztere setzt aber mitnichten eineAggression voraus. (Kriege sind selten von Aggression verursacht, sondern vielmehr durchZweckrationalität). Dies lässt folgenden Schluss zu: der Mensch muss nie, kann aber immer Gewaltausüben. Die Realitätsentbundenheit bedeutet, dass die Vorstellungskraft der Gewalt jede realexistierende Gewalt übersteigen kann. Diese Vorstellung ist nicht an die Realität gebunden. DieGefahr liegt hierbei darin, dass die vorgestellte Eigengewalt meist enorm erfolgreich ist. Sie kannzwar eine Kompensation von Aggression u.ä. darstellen, kann aber auch in die Realität umgesetztwerden. Diese drei Entgrenzungen vergrößern das mögliche Gewaltpotential weltweit, da dieEffektivität der Gewaltsteigerungsmittel stetig wächst.

Es gibt jedoch eine Chance der Eingrenzungen: soziale Ordnungen. Deshalb, so schon Freud, istGewalt (bzw. nach Hobbes die Angst davor) ordnungsstiftend. Denn Gewalt ist dauerhaft nur durchsoziale Institutionen eingrenzbar. Um sich vor der Gewalt zu schützen, muss die Institutionallerdings selbst zum Mittel der Gewalt greifen. Daraus ergibt sich die Frage, wie man diegewaltbegrenzende (institutionalisierte) Gewalt eingrenzt. Die Antwort hat sich historisch nur inden griechischen Polis, im demokratischen Rom und in der Neuzeit gefunden, jedoch überall aufgleiche Weise: Grundgesetze, Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit, Verfahrensnormen und dieGleichheit vor dem Gesetz.

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5. Popitz' «Phänomene der Macht» im Kontext des Kalten KriegesAn mehreren Stellen wird deutlich, dass Popitz einen speziellen Anlass für die Betrachtung vonMachtphänomenen hatte. Dies wird umso offensichtlicher, wenn man sich das Veröffentlichungs-datum ansieht. 1968 spitzte sich der Vietnamkrieg zu, das Wettrüsten zwischen den USA und derUdSSR erreichte erschreckende Ausmaße und auf den Straßen protestierten weltweit Studentengegen die vorherrschenden Machtstrukturen. Popitz setzt sich in «Phänomene der Macht» aufwissenschaftlicher Basis mit dieser Thematik auseinander und widmet vor allem derGewaltpotenzierung durch die Atombombe eine gesonderte Betrachtung. Wie er in dem Aufsatz„Gewalt“ abschließend feststellt, lässt sich die „neue Art des Tötens“ nicht allein durch Abrüstungund Rüstungsbegrenzungen eindämmen. Vielmehr müsse die Entwicklung neuer Waffen an sichverhindert werden, da auf diese Weise die dreifache Entgrenzung von Gewalt gestoppt werdenkönne. Er erkennt jedoch selbst die Schwierigkeit dieses Schrittes, da dies einen großen Teil desFortschritts technischen Handelns bedeuten würde – wie er an anderer Stelle erwähnt, sind diemeisten technischen Entwicklungen der Menschheit durch Kriegstechnik entstanden. Die einzigeMöglichkeit sieht er in der Erkenntnis, dass gegenseitiges Aufrüsten im atomaren Zeitalter unserBedürfnis nach Sicherheit nicht mehr, wie dies bei konventionellen Waffen wäre, befriedigt,sondern sogar noch größere Unsicherheit schafft. So zeigt auch sein Schluss, dass Sicherheit heutenur noch eine Sicherheit beider Seiten bedeuten kann. Des weiteren müssen aber auch dieVorraussetzungen für absolute Gewalt, Glorifizierung und Indifferenz, vermindert werden.

6. Bewertung und abschließende BemerkungMeiner Meinung nach hat Popitz mit seinen Betrachtungen der Machtphänomene einen wichtigenBeitrag zur Vermeidung von zukünftigen Konflikten gemacht. Die Entwicklung einesMachtapparats, wie ihn diktatorische Regimes aufbauen, wird plausibel erklärt, so dass man diesebereits in ihren Entstehungsformen erkennen kann. Auch seine Bezugnahme auf die neueSituationslage im Zeitalter der Atombombe zeugt von der Wichtigkeit seiner Thematik. Popitzerkennt die Schwierigkeit, diesen Prozess aufzuhalten oder zu beenden, wenn er einmal begonnenhat, gibt jedoch klare Ansätze dafür, wie sich unsere Gesellschaft ändern muss, um einen Atomkriegzu verhindern. Auch von der Form gibt es wenig an «Phänomene der Macht» auszusetzen. Popitzerklärt auf verständliche und gut strukturierte Weise eine an sich komplizierte Thematik und hältsich an leichte Formulierungen, die trotz ihrer Allgemeinverständlichkeit nicht auf denwissenschaftlichen Tiefgang verzichten müssen. An manchen Stellen könnten einige Beispiele dasErklärte besser veranschaulichen, an sich setzt Popitz diese jedoch schon sehr hilfreich ein. Alles inallem ist «Phänomene der Macht» ein informatives, gut durchstrukturiertes Werk, das man auchNicht-Soziologen empfehlen kann.

Quellenangabe

Popitz, H., 1986. Phänomene der Macht: Autorität – Herrschaft – Gewalt – Technik. Tübingen: Mohr.

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