rezenzion Menschenflug Treichel

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Rezension: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.10.2005, S. L3 Treichel, Hans-Ulrich: Menschenflug. ISBN 3-518-41712-6 Geld geht vor Gefühlen. Eine triviale Einsicht, die aber in Hans-Ulrich Treichels Roman "Menschenflug" auf scharfsinnige Weise deklamiert wird. Erneut hat der dreiundfünfzigjährige Schriftsteller und Literaturprofessor auf einen autobiographischen Stoff zurückgegriffen, mit dem er sich schon einmal auf Anhieb aufs literarische Podest katapultieren konnte. Bereits in der Erzählung "Der Verlorene" (1998) thematisierte der Autor deutsche Vergangenheit anhand des eigenen Familientabus. Die Eltern hatten lange verschwiegen, daß sie auf der Flucht vor den Russen im Zweiten Weltkrieg einen Bruder zurückließen. Bis zu ihrem Tod versuchten sie vergeblich, das Kind über die Suchlisten des Roten Kreuzes wiederzufinden. Im neuen Roman arbeitet der Autor mit einem historischen Vexierbild, das ständig beunruhigende Signale sendet. Hinter der meisterhaft erzählten Beziehungs- und Milieustudie um Stephan, einen Akademischen Rat an der Freien Universität Berlin, der mit Anfang Fünfzig plötzlich in eine Lebenskrise gerät und sich zu archäologischen Streifzügen in die eigene Unterwelt aufmacht, blitzen die prekären Folgen der deutsch-deutschen Wiedervereinigung und der engherzigen Inventurmentalität des Westens gegenüber dem Osten auf. Es handelt sich also um ein bleischweres historisches Bilanzprogramm, das dem Leser jedoch mit großer Leichtigkeit und Eleganz serviert wird. Mit federnder Ironie, robuster Erfindungskraft und messerscharfer Beobachtungsgabe erzählt Treichel die Geschichte einer durchschnittlichen deutschen Familie, die das ehemalige Findelkind Nummer 2307 nach langwierigen Akten-Recherchen in Celle ausfindig gemacht hat. Ein einsamer, verbitterter, versehrter Mann ist aus dem Bruder geworden. Die anfängliche Freude über die familiäre Zusammenführung weicht der Ernüchterung. Nach kühler Prüfung der Erbverhältnisse verzichtet der Familienrat darauf, sich als Verwandtschaft aus dem reichen Westen zu erkennen zu geben. Hans-Ulrich Treichel hat also einen deutschen Roman geschrieben - oder gerade nicht. Die Überzeugungskraft seiner Geschichte liegt nämlich darin, daß sie weder deckungsgleich mit dem stereotypen Bild einer bestimmten nationalen Mentalität ist noch mit einer bündigen politischen Botschaft. Vielmehr entblößt sie die Fratze aller menschlichen Natur, wie sie sich unter einer dünnen Schicht von Zivilisation und Anpassungsleistungen versteckt: Selbstsucht, Habgier, Liebesunfähigkeit. Mit solch einer offenen Erzählkonstruktion hat Treichel den ersten Trumpf in der Hand. Ein zweiter Vorzug ergibt sich aus der flimmernden Zeichnung des Protagonisten. Der Autor entlarvt den inneren Zwiespalt eines Intellektuellen, der zwar die Verhältnisse sofort durchschaut, sich aber in widersprüchliches Handeln verstrickt oder aus Feigheit totstellt. Von couragiertem Einsatz für den verlorenen Bruder keine Spur. Sein Held nämlich ist seit seinem zweiundfünfzigsten Geburtstag aus der Rolle gefallen. Dumpfe Angstvorstellungen treiben ihn um. Die Mutter, eine versteinerte Eisheilige, erscheint ihm in Albträumen. Herzschmerzen bringen ihn plötzlich der eigenen Vergänglichkeit nahe. Ist sein Vater nicht im gleichen Alter an einem Infarkt gestorben? In der Not beschließt der Didaktiker für Deutsch als Fremdsprache eine einjährige Auszeit, die ihm von Frau und Töchtern verständnisvoller gewährt wird, als ihm lieb ist. Er bezieht eine Dachwohnung in Berlin-Steglitz. Das Familiensabbatical soll, da Stephan die Lebensmitte überschritten hat, nochmals einer Selbstfindung dienen. Das Stottern seines Herzens läßt sich ohnedies nicht länger ignorieren. Noch schlimmer: Die unterdrückten Signale aus dem Innern bedrohen ihn bereits gefährlich in Form psychosomatischer Beschwerden. Eine Zeitlang, so beschließt er, will er sich ausschließlich der Frage widmen, wie er zu dem geworden ist, der er ist. Das Erzählkonzept von Krise und Lösung als pulsierendes Zentrum des Romans eröffnet dem Schriftsteller vielfältigste Spielmöglichkeiten, die er bravourös nutzt. Etwa im Porträt der dumpfen, durch das Unglück der Vertreibung aus dem ukrainischen Wolhynien und der mißtrauischen Aufnahme im alten Vaterland stumpf gewordenen Eltern des Protagonisten: im Nachdenken über den Vater, der mit amputiertem Arm aus dem Frankreich-Feldzug zurückgekommen ist und dem Sohn fremd und bedrohlich bleibt; im Bild der Mutter, die ihm als verschlingendes Wesen erscheint, das ihn noch zu ersticken droht, als sie längst tot ist. Am brillantesten aber ist Treichels Roman im soziologischen Röntgenbild der Familie, das auf einen Schlag alle unterirdischen Kälte- und Wärmeströme sichtbar macht. Allein die Passagen, die den unterschiedlichen Schwestern gewidmet sind, lohnen das Lesen des Buches. Gerda, als Kind hübsch, aber schon immer herb und streng, führt das Leben einer eleganten Dame. Obwohl sie seit Jahren mit einem verwitweten Rechtsanwalt liiert ist, heiratet sie ihn nicht, um auf die Unterhaltszahlungen ihres geschiedenen Mannes nicht verzichten zu müssen. Ganz anders Waltraud, deren Schönheit, eine

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Rezension: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.10.2005, S. L3

Treichel, Hans-Ulrich: Menschenflug. ISBN 3-518-41712-6

Geld geht vor Gefühlen. Eine triviale Einsicht, die aber in Hans-Ulrich Treichels Roman "Menschenflug" aufscharfsinnige Weise deklamiert wird. Erneut hat der dreiundfünfzigjährige Schriftsteller und Literaturprofessor aufeinen autobiographischen Stoff zurückgegriffen, mit dem er sich schon einmal auf Anhieb aufs literarische Podestkatapultieren konnte.

Bereits in der Erzählung "Der Verlorene" (1998) thematisierte der Autor deutsche Vergangenheit anhand deseigenen Familientabus. Die Eltern hatten lange verschwiegen, daß sie auf der Flucht vor den Russen im ZweitenWeltkrieg einen Bruder zurückließen. Bis zu ihrem Tod versuchten sie vergeblich, das Kind über die Suchlisten desRoten Kreuzes wiederzufinden.

Im neuen Roman arbeitet der Autor mit einem historischen Vexierbild, das ständig beunruhigende Signale sendet.Hinter der meisterhaft erzählten Beziehungs- und Milieustudie um Stephan, einen Akademischen Rat an der FreienUniversität Berlin, der mit Anfang Fünfzig plötzlich in eine Lebenskrise gerät und sich zu archäologischenStreifzügen in die eigene Unterwelt aufmacht, blitzen die prekären Folgen der deutsch-deutschenWiedervereinigung und der engherzigen Inventurmentalität des Westens gegenüber dem Osten auf. Es handelt sichalso um ein bleischweres historisches Bilanzprogramm, das dem Leser jedoch mit großer Leichtigkeit und Eleganzserviert wird. Mit federnder Ironie, robuster Erfindungskraft und messerscharfer Beobachtungsgabe erzählt Treicheldie Geschichte einer durchschnittlichen deutschen Familie, die das ehemalige Findelkind Nummer 2307 nachlangwierigen Akten-Recherchen in Celle ausfindig gemacht hat. Ein einsamer, verbitterter, versehrter Mann ist ausdem Bruder geworden. Die anfängliche Freude über die familiäre Zusammenführung weicht der Ernüchterung.Nach kühler Prüfung der Erbverhältnisse verzichtet der Familienrat darauf, sich als Verwandtschaft aus dem reichenWesten zu erkennen zu geben.

Hans-Ulrich Treichel hat also einen deutschen Roman geschrieben - oder gerade nicht. Die Überzeugungskraftseiner Geschichte liegt nämlich darin, daß sie weder deckungsgleich mit dem stereotypen Bild einer bestimmtennationalen Mentalität ist noch mit einer bündigen politischen Botschaft. Vielmehr entblößt sie die Fratze allermenschlichen Natur, wie sie sich unter einer dünnen Schicht von Zivilisation und Anpassungsleistungen versteckt:Selbstsucht, Habgier, Liebesunfähigkeit.

Mit solch einer offenen Erzählkonstruktion hat Treichel den ersten Trumpf in der Hand. Ein zweiter Vorzug ergibtsich aus der flimmernden Zeichnung des Protagonisten. Der Autor entlarvt den inneren Zwiespalt einesIntellektuellen, der zwar die Verhältnisse sofort durchschaut, sich aber in widersprüchliches Handeln verstrickt oderaus Feigheit totstellt. Von couragiertem Einsatz für den verlorenen Bruder keine Spur. Sein Held nämlich ist seitseinem zweiundfünfzigsten Geburtstag aus der Rolle gefallen. Dumpfe Angstvorstellungen treiben ihn um. DieMutter, eine versteinerte Eisheilige, erscheint ihm in Albträumen. Herzschmerzen bringen ihn plötzlich der eigenenVergänglichkeit nahe. Ist sein Vater nicht im gleichen Alter an einem Infarkt gestorben? In der Not beschließt derDidaktiker für Deutsch als Fremdsprache eine einjährige Auszeit, die ihm von Frau und Töchtern verständnisvollergewährt wird, als ihm lieb ist. Er bezieht eine Dachwohnung in Berlin-Steglitz. Das Familiensabbatical soll, daStephan die Lebensmitte überschritten hat, nochmals einer Selbstfindung dienen. Das Stottern seines Herzens läßtsich ohnedies nicht länger ignorieren. Noch schlimmer: Die unterdrückten Signale aus dem Innern bedrohen ihnbereits gefährlich in Form psychosomatischer Beschwerden. Eine Zeitlang, so beschließt er, will er sichausschließlich der Frage widmen, wie er zu dem geworden ist, der er ist.

Das Erzählkonzept von Krise und Lösung als pulsierendes Zentrum des Romans eröffnet dem Schriftstellervielfältigste Spielmöglichkeiten, die er bravourös nutzt. Etwa im Porträt der dumpfen, durch das Unglück derVertreibung aus dem ukrainischen Wolhynien und der mißtrauischen Aufnahme im alten Vaterland stumpfgewordenen Eltern des Protagonisten: im Nachdenken über den Vater, der mit amputiertem Arm aus demFrankreich-Feldzug zurückgekommen ist und dem Sohn fremd und bedrohlich bleibt; im Bild der Mutter, die ihmals verschlingendes Wesen erscheint, das ihn noch zu ersticken droht, als sie längst tot ist. Am brillantesten aber istTreichels Roman im soziologischen Röntgenbild der Familie, das auf einen Schlag alle unterirdischen Kälte- undWärmeströme sichtbar macht. Allein die Passagen, die den unterschiedlichen Schwestern gewidmet sind, lohnen dasLesen des Buches.

Gerda, als Kind hübsch, aber schon immer herb und streng, führt das Leben einer eleganten Dame. Obwohl sie seitJahren mit einem verwitweten Rechtsanwalt liiert ist, heiratet sie ihn nicht, um auf die Unterhaltszahlungen ihresgeschiedenen Mannes nicht verzichten zu müssen. Ganz anders Waltraud, deren Schönheit, eine

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italienisch-russische Mischung, sich schon zeigt, als sie noch klein ist. Mit ihrem Mann führt sie einen Hof, derkaum genug zum Leben abwirft, und kommt aus den Gummistiefeln nicht heraus. Gerda wittert mit demAuftauchen des verlorenen Bruders blitzschnell die Gefahr, bilanziert den finanziellen Schaden und wendet ihn ab.

Waltraud und Stephan dagegen sind Seelenverwandte. Der Bruder fühlt sich schon früh auf nicht ganz geheure Artzur Schwester hingezogen. Manchmal trägt er tagelang eines ihrer Wäschestücke in der Hosentasche oder spielt mitihr vor dem Spiegel das "Bis hierher und nicht weiter"-Spiel. Wie dieser Schriftsteller das Hinundherkippen derbeiden Geschwister beschreibt, die zwar Mitgefühl für den Bruder aufbringen, aber nach langem Nachdenkenimmer kleinlauter werden, immer schwankender und sich schließlich für das eigene Erbe und gegen den lästigenEindringling entscheiden, beweist große literarische Gestaltungskraft. Er zeigt keine Bösewichte, sondern zweiliebenswürdige Menschen, die im entscheidenden Moment nur an sich selbst denken.

Bei alledem kommt Hans-Ulrich Treichel ganz ohne moralischen Kommentar aus. Allerdings gelingt auch diesemSchriftsteller nicht alles. So belasten stellenweise überdeutlich psychoanalytische Versatzpassagen den Text.Ödipuskomplex und Inzestmotiv im Psychogramm der Geschwister könnte man noch hinnehmen. Aber das Bild der"Vagina dentata", das zusammen mit der "bösen Mutter" aus dem Unbewußten des Helden auftaucht, ist dann dochzu prätentiös, die Anspielungen auf die Theorien von Melanie Klein in diesem Zusammenhang wirken geradezuoberlehrerhaft. Auch die Reise nach Ägypten, die Stephan unternimmt, wirft durch ihre ZeigefingerpsychologieFragen auf. Alles viel zu eindeutig. Den Abstieg in das Innere der Pyramiden, die Suche nach den Grabkammern imDunkeln und den zwielichtigen Anblick der Sphinx muß man wohl als Rückkehr des Helden in den mütterlichenSchoß und Wiedergeburt des eigenen Ichs lesen. Aber wenn die Verwandlung im Mutterschlund auch noch in einenBeischlaf mit einer älteren Archäologin mündet, die zufällig vor Ort auftaucht, wird die Geschichte vorübergehenddoch allzusehr mit bedeutungsschwangerem Ballast beschwert.

Allerdings bleiben solche Abschweifungen inszenierte Showeinlagen des Autors und können dem gelungenenGanzen nichts anhaben. "Menschenflug" beeindruckt als Geschichte der Forschungsreise eines wankenden Heldenzu sich selbst, die sich auf der Folie deutscher Geschichte mehrfach spiegelt. Und das ist so spannend erzählt, daßman den Roman bis zum Schluß nicht einmal aus der Hand legt.

Hans-Ulrich Treichel: "Menschenflug". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 234 S., geb., 17,80[Euro].

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