Rikki und der Schatz der Löwen

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Ein lustiges und spannendes Leseabenteuer: Rikki, Pit und Serafina sollen für ein Schulprojekt etwas über ihr Dorf erforschen, das mindestens 500 Jahre alt ist. Die Inschrift einer alten Steinplatte bringt sie dabei auf die Spur des geheimen Goldschatzes des Stauferkönigs!

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ISBN 978-3-417-28583-3

€D 10,95|€A 11,30|sFr. 16,50

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Rikki, Pit und Serafina sind alle drei ziemlich besonders: Rikki, weil er auf vier Rädern durch die Weltgeschichte rollt, Pit, weil seine Maße nicht unbedingt Modelqualitäten haben, und Serafina, weil sie in Sachen Mode als Künstlerkind sehr eigene Vorstellungen von Stil hat. Für ein Schulprojekt tun sich die drei notgedrungen zusammen. Sie sollen etwas über ihr Dorf erforschen, das mindestens 500 Jahre alt ist. In der Klosterkirche werden sie auf die Inschrift einer alten Steinplatte aufmerksam. Bei ihren Nachforschungen decken sie Zusammenhänge auf, die bis weit ins Mittelalter hineinreichen und nicht nur mit der Sage um einen Goldschatz von Kaiser Friedrich II., sondern offenbar auch mit Rikkis eigener Familiengeschichte verknüpft sind …

Für Kinder ab 7 Jahren. www.scm-kläxbox.de

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Rahel Träger

Rikki und der

Schatz der Löwen

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Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen: Neues Leben. Die Bibel, © Copyright der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 by SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Umschlaggestaltung und -illustration: Viktor Geist, Hannover, www.victorgeist.deSatz: Christoph Möller, HattingenDruck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, UlmGedruckt in DeutschlandISBN 978-3-417-28583-3Bestell-Nr. 228.583

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Inhalt

Kapitel 1 Start in der neuen Schule .......................... 5

Kapitel 2 Das Schulprojekt ......................................... 15

Kapitel 3 Ein geheimnisvoller Vogel ..................... 23

Kapitel 4 Ein kleines Verwirrspiel .......................... 29

Kapitel 5 Adelige Spuren ........................................... 40

Kapitel 6 Viele Fragen! ................................................ 48

Kapitel 7 Außergewöhnliche Entdeckung .......... 56

Kapitel 8 Verloren oder gestohlen? ......................... 69

Kapitel 9 Kämpfen mit Liebe ................................... 85

Kapitel 10 Ein Unglück passiert ............................... 93

Kapitel 11 Mathe mit Kaiser Friedrich II. ............ 102

Kapitel 12 Besuch im Krankenhaus und andere Pläne ...................................... 109

Kapitel 13 Ein Froschkönig für Serafina ................ 120

Kapitel 14 Ein Verdächtiger ...................................... 132

Kapitel 15 Auf Schatzsuche ........................................ 143

Kapitel 16 Der Goldschatz ........................................ 154

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Kapitel 1

Start in der neuen Schule

Siebzehn neugierige Augenpaare waren auf mich gerichtet. Das war also nun meine neue Klasse. Der Lehrer, ein vollbärti-ger Typ mit dem passenden Namen Bär, stellte mich vor.

Ganz kurz fragte ich mich, ob er sich diesen bärigen Bart des Namens wegen hatte wachsen lassen oder ob wohl einer sei-ner Urahnen ein Bär gewesen war. Name und Aussehen ließen diese Möglichkeit nicht ganz ausschließen.

„Das ist Richard Großen“, sagte Herr Bär mit tiefer Stimme, „seine Familie ist neu in unser Dorf gezogen. Begrüßt ihn doch mal.“

Ein mehrstimmiges, zum Teil etwas unmotiviertes „Hallo“ tönte mir entgegen.

„Willst du selber noch etwas sagen?“, fragte mich Herr Bär und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. „Vielleicht zu deinem, äh …“ Er deutete auf meinen Rollstuhl.

„Ja, wie ihr seht, sitze ich in einem Rollstuhl“, begann ich, „und zwar schon seit acht Jahren. An ein Leben ohne kann ich mich schon fast nicht mehr erinnern. Übrigens, nennt mich bitte nicht Richard. Mein Vater ist Archäologe, alte Dinge faszinieren ihn, deshalb auch dieser Name. Alle außer ihm nennen mich einfach Rikki.“

„Was ist denn passiert, dass du nun in diesem, äh …?“, frag-te Herr Bär. Ich konnte nur hoffen, dass mein neuer Lehrer seine Abneigung gegen das Wort Rollstuhl bald überwinden würde.

„Mit vier Jahren war meine Lieblingsbeschäftigung, auf Bäu-me zu klettern. Ich fiel oft runter und kam mit Schrammen nach Hause. Doch das war mir immer egal. Aber einmal fiel ich run-

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ter und blieb dann liegen. Tja, seitdem gehorchen mir meine Beine nicht mehr. Aber dafür habe ich jetzt diese vier coolen Räder“, sagte ich und hoffte, dass es witzig rüberkam.

Ein paar wenige Schüler lachten verhalten, einige guckten mich an, als käme ich von einem fernen Planeten und zwei Jungs verdrehten die Augen. Na ja, im Witze-Erzählen musste ich wohl noch etwas üben.

Herr Bär bat die Kinder, sich kurz vorzustellen und schickte mich dann an einen freien Platz neben einem molligen Jungen mit halblangen, zerzausten Haaren. Die Vorstellungsrunde vor-hin war etwas gar schnell gegangen, einige Namen hatte ich schon wieder vergessen. War das nun Pit oder Noah?

„Hallo“, flüsterte ich ihm zu, nachdem ich meinen Platz ein-genommen hatte. „Du bist Pit, oder?“

„Ja, hallo Rikki“, flüsterte er zurück und lächelte mich freund-lich an.

Fünf Stunden später läutete die Glocke den Schulschluss ein. Wir packten unsere Bücher und Hefte zusammen und machten uns auf den Heimweg. Ich hatte schon den ganzen Morgen mitbekommen, dass Pit wohl nicht gerade der belieb-teste Junge der Klasse war. Jetzt, auf dem Schulhof, hielten sich ein paar Schüler nicht mehr zurück.

„Ha ha, der Fettsack hat nun endlich einen passenden Freund gefunden: Beide kannst du rumrollen.“

„Ja, Mann, der eine auf seinen ‚vier coolen Rädern‘, der an-dere sieht selber aus wie ein Wagenrad!“

So und ähnlich tönte es über den Pausenhof. Pit wurde rot und lief davon. Ich fuhr hinterher. Anscheinend mussten wir in die gleiche Richtung. Da ich auf meinen Rädern natürlich viel schneller war als ein Fußgänger, hatte ich ihn rasch eingeholt.

„Was sollte das denn eben?“, wollte ich wissen. „Ach“, brummte er und starrte irgendwo Richtung Horizont,

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„das brauchst du nicht ernst zu nehmen, die sind halt einfach so.“

„Wo wohnst du denn?“, fragte ich ihn, um das Thema zu wechseln.

„Gleich hier vorn in diesem grünen Wohnblock“, gab er zur Antwort. „Und du?“

Ich zeigte mit der Hand in Richtung Wald. „Da hinten, in diesem großen, alten Haus, direkt am Waldrand.“ Interessiert schaute er mich kurz an, starrte dann aber wieder geradeaus.

„Wenn du Lust hast, kannst du mich am Nachmittag besu-chen kommen.“ Wieder sah ich Interesse und diesmal auch Freude in seinen Augen aufblitzen. „Aber bei uns herrscht noch das totale Chaos. Wir sind erst Ende letzter Woche hier einge-zogen. Es ist noch alles vollgestellt mit Kisten, die halb- oder gar nicht ausgepackt sind.“ Ich wollte ihn lieber schon mal vor-warnen, damit er keinen Schock bekam, wenn er den ersten Schritt in unser Haus machte.

„Ach, das macht mir nichts aus, ich komme gerne“, meinte Pit. Nun wollte ich ihm aber lieber gleich noch ein paar andere

Dinge über meine Familie offenbaren. Manche Leute hielten uns nämlich für etwas sonderbar.

„Ich habe noch einen kleinen Bruder“, begann ich, „der ist manchmal sehr lästig.“

„Was macht er denn? Auf Bäume klettern? Und hat er auch so einen altertümlichen Namen wie du?“, wollte Pit wissen und grinste.

„Er heißt Alexander, nach Alexander dem Großen. Mein Vater war kurz vor seiner Geburt in Ägypten an Ausgrabungen betei-ligt. Dabei fand er es wohl einfallsreich, wie aus Alexander dem Großen Alexander Großen werden würde“, grinste ich zurück. „Und das Klettern hat er bis jetzt glücklicherweise noch nicht entdeckt. Er ist zweieinhalb Jahre alt und stellt ständig irgend-

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welche dummen Sachen an. Er steckt zum Beispiel manchmal meine Schuhe in die Briefkästen der Nachbarn. Und zwar ein-zeln, nicht paarweise! Oder er versucht, das Sofa mit Haar-shampoo zu reinigen, oder er spielt Schneeballschlacht mit Klopapierfetzen – tja, lauter solche verrückten Dinge eben.“

Pit lachte laut: „Das hört sich schon mal sehr spannend an. Ich freue mich drauf, den kleinen Kerl kennenzulernen.“

„Na ja“, fuhr ich fort, „mein Vater ist auch etwas speziell. Ich habe ja in der Schule schon erzählt, dass er Archäologe ist. Er forscht, ist zum Teil auch an Ausgrabungen beteiligt und schreibt Bücher. Wenn er dann so mitten in der Arbeit steckt, dann steckt er meistens auch mitten in irgendwelchen urtüm-lichen Zeiten. Also am besten beachtest du ihn einfach nicht, wenn er seltsame Bemerkungen macht.“ Ich atmete tief durch. Ich mochte meinen Vater ja sehr und war auch sehr stolz auf das, was er leistete. Aber manchmal war es halt schon etwas peinlich, einen solchen Vater zu haben.

Pit schaute mich halb belustigt, halb ernst an. „Und deine Mutter?“, wollte er wissen.

Meine Mutter war, abgesehen von mir natürlich, noch die Nor-malste in unserer Familie. Obwohl auch sie ihre Eigenheiten hatte. Sie war leidenschaftliche Hobbygärtnerin. Das war auch einer der Gründe, warum wir hierher aufs Land gezogen waren. Der Schrebergarten in der Stadt war ihr einfach zu klein gewor-den. Zusätzlich war sie Hobbyköchin. Ihre beiden Hobbys er-gänzten sich sehr gut. Wir konnten sicher sein, dass alles, was bei ihr im Garten wuchs, einmal bei uns auf dem Teller landen würde. Langweilig waren Mahlzeiten bei uns nie. Meine Mut-ter liebte neue Rezepte. Sie sammelte sie von überall her. Von Freunden, Bekannten oder Nachbarn, aus Büchern, aus dem Internet und manchmal sogar von meinem Vater aus irgendei-ner längst vergangenen Zeit. Meistens schmeckte es echt le-

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cker. Aber manchmal aß man lieber nicht allzu viel und wartete die nächste Mahlzeit ab, in der Hoffnung auf etwas Besseres.

Das erzählte ich Pit und fragte ihn dann nach seiner Familie. In der Zwischenzeit waren wir schon vor seinem Block ange-langt. Er brummte: „Ich muss jetzt gehen. Wir sehen uns ja am Nachmittag.“ Und weg war er.

Zu Hause traf ich meine Mutter im Garten an. „Puh“, stöhnte sie und strahlte dabei, „dieser Garten ist eine Herausforderung. Hier ist alles total verwildert. Aber guck mal. Da gibt es Thy-mian, Majoran und Rosmarin. Damit habe ich unser Mittages-sen gewürzt. Hast du Hunger? Wir können gleich essen. Wo ist denn nur dein kleiner Bruder? Gerade war er doch noch hier!“

Sie strich sich mit der Hand die Locken aus dem Gesicht und schmierte sich dabei eine Dreckspur über die Stirn. Ich ent-deckte Alex hinter einem hohen Gestrüpp. Er buddelte mit einer kleinen Harke in der dunkeln Erde herum und sah aus wie ein kleines Wildschwein. Braun gestreift von oben bis unten.

Meine Mutter stöhnte noch einmal, als sie ihn entdeckte. Sie klemmte ihn sich unter den Arm und ging mit ihm auf kürzestem Weg ins Bad. Ich rollte hinterher und atmete hungrig den feinen Duft ein, der aus der Küche drang.

In die Küche selber kam ich aber nicht. Da standen Dutzende von Kisten herum und überall lag zerknülltes Zeitungspapier. „Mama, was ist denn hier passiert?“, rief ich ihr nach oben hin-terher. Beim Versuch, die Kisten alle auf eine Seite zu schie-ben, merkte ich, dass die meisten leer waren. So stapelte ich sie schnell aufeinander und schob sie in eine noch freie Ecke in der Küche. Dann kam mein sauber geduschter, splitternackter kleiner Bruder und wirbelte in dem zerknüllten Zeitungspapier herum, in das unser Geschirr in den Umzugskartons eingepackt gewesen war. Dazu kreischte er glückselig und krachte nach ei-ner gelungenen Dreifachdrehung in meinen schön gestapelten

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Kartonberg. Die Kisten flogen durcheinander und eine landete treffsicher mit der offene Seite mitten auf Alex.

Das eben noch so fröhliche Gekreische steigerte sich nun zu einem panikerfüllten Geschrei. Augenblicklich kam meine Mut-ter angerannt und sogar mein Vater steckte den Kopf aus sei-nem neuen Büro.

„Was ist denn passiert?“, wollten beide wissen. Ich angelte meinen schreienden Bruder aus dem Karton heraus.

„Bumm!“, meinte mein Bruder, als meine Mutter ihn getrös-tet hatte. Er war ein sehr aktiver kleiner Kerl, und an Kreativität mangelte es ihm auf keinen Fall. Nur seine sprachliche Aus-drucksfähigkeit war noch etwas schwach.

Nach dem Mittagessen machte ich meine Hausaufgaben und begann, ein bisschen mein Zimmer ein- und aufzuräumen. Seit einer Woche wohnten wir nun hier und ich liebte mein neues Zimmer bereits sehr. Es war geräumig und hell, mit zwei hohen Fenstern.

Der Onkel meines Vaters, Konrad, hatte bis vor einem hal-ben Jahr hier gewohnt. Ich hatte ihn nicht wirklich gekannt. An eine einzige Begegnung konnte ich mich erinnern, da war ich aber noch viel jünger gewesen. Mein Vater und er hatten da-mals einen heftigen Streit gehabt, das wusste ich noch. Mein Vater war normalerweise ein sehr friedfertiger Mensch, deshalb hatte mich dieser Streit ziemlich erschreckt und ist mir all die Jahre im Gedächtnis geblieben.

Den Anfang des Streites hatte ich nicht mitgekriegt. Doch irgendwann hatte Onkel Konrad meinem Papa vorgeworfen, dass er seine Wurzeln verleugne. Was für Wurzeln das sein sollten, hatte ich nicht so ganz verstanden.

Papas Eltern, also meine Großeltern, waren lange vor mei-ner Geburt bei einem tragischen Autounfall gestorben. Aber Papa hatte uns viel von ihnen erzählt und wir erinnerten uns zu

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verschiedenen Gelegenheiten gerne an sie. An Geburtstagen zum Beispiel, da war es bei uns Brauch, dass es so viele Ge-burtstagskuchen gab, wie das Geburtstagskind Jahre alt wur-de. Das hatte nämlich Papas Mutter auch immer so gemacht. Dieses Jahr würde ich zwölf Kuchen kriegen, Papa sogar acht-undvierzig! Das hört sich verrückter an, als es ist. Die Teigmen-ge bleibt natürlich immer die gleiche. Nur die Kuchen werden kleiner. In Papas Fall haben sie die Größe von kleinen Muffins.

Solche und andere lustige oder schöne Angewohnheiten von Papas verstorbenen Eltern hatten wir übernommen. Deshalb konnte ich ganz und gar nicht verstehen, weshalb mein Groß-onkel (also der Bruder von meinem Opa) behauptet hatte, Papa würde seine Wurzeln verleugnen.

Der Streit war dann noch weiter gegangen. Papas Berufswahl war für Onkel Konrad auch ein schlimmer Fehler gewesen. Er be-hauptete, in unserer Familie hätten die Männer schon seit vielen Generationen immer als Architekten gearbeitet. Nur mein Vater müsse mit seinen Altertumsforschungen aus der Reihe tanzen.

Mein Vater hatte natürlich auch eine Menge gesagt, aber vie-les davon hatte ich gar nicht richtig verstanden. Es war um den Wert des Menschen gegangen. Aber da ich nicht recht begriffen hatte, was Papa damit genau gemeint hatte, konnte ich mich nicht mehr gut daran erinnern.

Ja, und dann war vor einem halben Jahr plötzlich ein Brief gekommen, in dem geschrieben stand, dass Papa dieses alte Haus geerbt hätte. Meine Mutter war entzückt gewesen. Ein Haus im Grünen mit einem großen Garten, das war schon im-mer ihr Traum gewesen. Alex hatte sie mit ihrer Begeisterung schnell angesteckt. Bei Papa und mir musste sie sehr viel mehr Überzeugungsarbeit leisten. Schließlich willigten wir ihr zuliebe ein, hier herzuziehen. Der Abschied von meinen Freunden und meiner gewohnten Umgebung war mir schwergefallen. Doch

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das Haus hier gefiel mir sehr gut und auch die Lage so direkt am Waldrand fand ich nicht übel. Der Start heute Morgen in der Schule war zwar etwas zweifelhaft gewesen, aber immerhin hatte ich heute sogar schon eine erste Verabredung mit einem potenziellen neuen Freund.

Ich guckte mich nochmals in meinem Zimmer um. Einigerma-ßen ordentlich sah es aus. Ich wollte bei meinem Schulkollegen schließlich einen guten Eindruck machen! Dann ging ich nach draußen und schaute meiner Mutter zu, die eifrig im Garten wer-kelte. Kein Wunder, dass im Haus noch ein solches Durchei-nander herrscht, wenn sie sich nur um den Garten kümmert, dachte ich.

„Ist dir langweilig?“, fragte mich meine Mutter nach einer Weile.

Ich sagte ihr, dass mein neuer Sitznachbar aus der Schule heute zu Besuch kommen wollte. Dann fragte sie mich ein biss-chen aus, wie es denn in der Schule gelaufen sei. Ich erzähl-te ihr von Herrn Bär, der vermutlich sogar von den Bären ab-stammte, so bärig, äh bärtig, wie er aussah. Sie lachte und ich erwähnte auch die Jungs aus der Klasse, die diese gemeinen Bemerkungen zu Pit und mir gemacht hatten.

Meine Mutter guckte mich aufmerksam an, stemmte die Hän-de in den Rücken und gab mir ihren immer gleichen Ratschlag: „Darüber solltest du mit Gott sprechen.“

Diesen Rat hörte ich wohl schon, seit ich überhaupt hören konnte. Na ja, ich muss dazu sagen, dass er gar nicht mal so schlecht war. Ich hatte es schon so manches Mal ausprobiert. Geschadet hat es nie und fast immer hat sich an der Situation was getan. Entweder war das Problem nach einer Weile weg oder meine Einstellung dazu hatte sich so geändert, dass das Problem gar kein Problem mehr war. Also nahm ich mir auch dieses Mal ihren Ratschlag zu Herzen.

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Nun war der Nachmittag schon halb rum und Pit war immer noch nicht aufgetaucht.

„Du könntest ihn ja mal anrufen, vielleicht hat er es ver-gessen. Oder geh ihn doch einfach abholen!“, meinte meine Mutter.

Das tat ich dann auch und stand bald darauf vor dem grünen Wohnblock. Ich läutete und wartete. Kurze Zeit später riss Pit die Türe auf und blickte mich verlegen an. Seine Haare waren noch wirrer als am Vormittag.

„Entschuldige, dass ich nicht gekommen bin. Aber meine Mutter lässt mich nicht aus dem Haus, wenn ich die Hausaufga-ben nicht gemacht habe. Und bei diesen Matheaufgaben kom-me ich einfach nicht weiter. Ich habe null Chance, das fertig zu kriegen, also kann ich auch nicht raus.“

„Kann dir denn niemand helfen?“, wollte ich wissen. „Nein, meine Mutter kommt erst am Abend nach Hause“, ent-

gegnete Pit missmutig. „Ich könnte dir helfen“, schlug ich vor, „Mathe mag ich ziem-

lich gern und diese Aufgaben von heute kenne ich schon von meiner vorherigen Schule.“

„Das wäre sehr nett von dir“, meinte Pit. Er hielt mir die Türe auf und lief dann voraus zum Lift.

In der Wohnung angekommen, schluckte ich erst mal. Ent-weder war Pit auch gerade frisch eingezogen oder seine Fa-milie lebte gern im Chaos. Im Eingangsbereich verteilten sich Schuhe nach einem mir unbekannten System, sodass ich mit dem Rollstuhl unmöglich durchkam. Pit schmiss alles schnell auf einen Haufen und ging an einem großen Karton und zwei gefüllten Einkaufstaschen vorbei ins Wohnzimmer.

Ich kurvte vorsichtig hinterher. Der Fernseher lief in voller Lautstärke und vor dem Sofa stapelten sich mehrere Wäsche-körbe. Auf dem Tisch war Pits Matheheft ausgebreitet. Dane-

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ben lagen eine Chipstüte, ein halb aufgegessenes Sandwich und ein angeknabberter Apfel.

Während ich Pit die Aufgaben erklärte, merkte ich ziemlich rasch, dass Mathe wohl nicht gerade seine Stärke war. Ich frag-te ihn, ob er Lust hätte, regelmäßig zusammen zu lernen. Dank-bar nahm er mein Angebot an.

Auf dem Weg zu meinem neuen Zuhause bekannte mir Pit, dass er dieses Haus schon immer sehr interessant gefunden hätte. „Es sieht zwar alt aus, aber auch so, als hätten da mal ziemlich reiche Leute gewohnt. Dieses Türmchen auf der einen Seite habe ich mir manchmal heimlich als eigenes Zimmer er-träumt.“

Ich lachte: „Dieses Turmzimmer ist als einziges in einem schlechten Zustand. Da werden die Handwerker noch einiges zu tun haben.“

„Darf ich trotzdem mal reingucken?“, fragte Pit. „Natürlich“, antwortete ich. „Es ist nicht einsturzgefährdet

oder so. Aber es hat wohl ein paar Mal hineingeregnet. Der Bo-den ist kaputt und die Wände sind ebenfalls ziemlich gammlig. Letzten Samstag kam ein Typ hier aus dem Dorf vorbei, um zu schauen, was genau alles gemacht werden muss. Ende dieser Woche wollen sie beginnen, das Dach zu reparieren. Bewohn-bar wird das Zimmer wohl noch eine Weile nicht sein.“

Stolz führte ich Pit durch unser Haus, nur das Zimmer mei-nes Vaters ließ ich aus. Pit war begeistert.

„Genau so habe ich es mir immer vorgestellt!“, schwärmte er. „Sieh dir mal diese Wandmalereien an! Und diese herrlichen Schnörkel an der Decke!“

Das Chaos überall schien er gar nicht wahrzunehmen. Na ja, ehrlich gesagt war das nicht weiter erstaunlich. Bei ihm zu Hau-se sah es ja nicht viel besser aus.

Schließlich gingen wir wieder nach draußen, wo er auch

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gleich noch meine Mutter und meinen kleinen Bruder kennen-lernte. Mama klopfte sich ihre dreckigen Hände an der Jeans ab und schüttelte ihm dann die Hand.

„Hallo“, sagte sie zu ihm, „ich freue mich, dass Rikki schon neue Freunde gefunden hat.“ Pit wurde rot und lächelte verlegen.

„Er ist ein Fan von unserem Haus“, witzelte ich. „Oh“, machte meine Mutter. „Dann musst du unbedingt öfters

kommen. Wenn du magst, darfst du auch mal übernachten.“ Pit schien sich über das Angebot zu freuen. „Gerne“, sagte er.„Es ist schon bald Abendessenszeit. Wann musst du denn

nach Hause?“ Mama strich sich mal wieder mit der schmutzi-gen Hand durchs Gesicht und hinterließ dabei braune Spuren.

„Das ist egal“, meinte Pit. „Meine Mutter hat heute Spät-schicht. Ich bin alleine zu Hause.“

Meine Mutter und ich schauten ihn erstaunt an und Mama schlug dann vor: „Wenn du magst, kannst du bei uns essen. Vorhin habe ich ein neues Brot ausprobiert. Ich habe ein paar Sachen hineingeknetet, die ich draußen entdeckt habe. Dieser Garten ist die reinste Wunderkiste.“

„Solange Sie keine Würmer oder Schnecken reingetan ha-ben, bleibe ich sehr gerne zum Abendessen“, sagte Pit höflich.

Kapitel 2

Das Schulprojekt

In der Schule lief es eigentlich nicht schlecht. Mit Herrn Bär kam ich gut klar, auch wenn er immer noch ins Stottern kam, wenn er das Wort Rollstuhl aussprechen sollte. Auch mit den meisten Schülern kam ich recht gut aus. Aber vermutlich wa-ren sie froh, wenn ich in der Pause mit Pit rumhing und sie sich

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nicht mit mir abgeben mussten. Die Jungs spielten häufig Fuß-ball oder jagten sonst irgendwie über den Schulhof. Die Mädels hockten in kleinen Gruppen auf den Treppenstufen, steckten die Köpfe zusammen und kicherten oder kreischten, wie Mäd-chen das halt so machen.

Pit gehörte nirgendwo richtig dazu. Unsportlich wie er war, wollte ihn niemand beim Fußball dabeihaben. Rumrennen mochte er selber nicht, da ihm dazu die Puste fehlte, und zu den Mädchen gehen wollte er begreiflicherweise auch nicht. Da war es klar, dass wir zwei uns zusammentaten. Und ich mochte ihn auch wirklich gerne, wir hatten viel Spaß miteinander.

Eines hatte sich allerdings noch nicht geändert. Die drei Jungs, die am ersten Tag so gemein über Pit gespottet hat-ten, machten sich weiterhin einen Spaß daraus, uns zwei zu ärgern. Meistens glücklicherweise nur mit Worten. Manchmal ließen sie aber auch Sachen von uns verschwinden oder heck-ten irgendwelche Streiche aus, bei denen sie uns dann als die Schuldigen hinstellten. Einmal hatten sie zum Beispiel ein Glas Wasser auf Herrn Bärs Stuhl ausgeleert. Der setzte sich gleich in der ersten Schulstunde darauf und lief dann für den Rest des Morgens mit einem peinlichen nassen Fleck auf der Hose rum. Der Lehrer stellte die Klasse zur Rede. Natürlich meldete sich niemand, obwohl alle wussten, dass Ralf, Jan und Dominik die Täter waren. Als die Schulglocke klingelte, liefen die drei raus und diskutierten dabei laut über das Wasser auf dem Stuhl und dass sie gesehen hätten, wie Pit und ich das in aller Frühe vor-bereitet hätten. Klar, dass Herr Bär das hörte und ebenso klar, dass sie genau das beabsichtigt hatten. Und noch klarer, dass Pit und ich dafür ordentlich Strafaufgaben aufgebrummt bekamen.

Ich redete immer wieder ernsthaft mit Gott darüber. Ich wünschte mir so sehr, dass er zulassen würde, dass diese Jungs erwischt würden und dann ihre gerechte Strafe bekä-

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men. Oder wenigstens dass Ralf, ihr Anführer, mal einen klei-nen Fahrradunfall hätte und sich dann einige Zeit zu Hause erholen müsste. Ich wünschte ihm ja nicht wirklich etwas Tragi-sches. Aber eine kleine Rache für all diese Gemeinheiten hät-te ich schon gerne gehabt. Und wenn Ralf für eine Weile weg wäre, dann hätten Pit und ich bestimmt auch etwas Ruhe vor den anderen.

Aber Gott schien kein Ohr für alle meine Vorschläge zu ha-ben. Im Gegenteil, immer wieder kam mir beim Beten der Satz in den Sinn, den Jesus gesagt hatte: „Liebt eure Feinde!“1 . Puh, also das war bei diesen drei Jungs doch etwas zu viel verlangt.

Aber wie gesagt, sonst machte mir die Schule Spaß. Herr Bär war ganz okay als Lehrer. Der Unterricht bei ihm war interes-sant, manchmal sogar richtig spannend.

Im Moment nahmen wir im Geschichtsunterricht die Entstehung unseres Dorfes durch. Heute hatte er uns die Aufgabe gegeben, in Dreiergruppen ein Referat darüber vorzubereiten. Er gab uns dafür zwei Wochen Zeit. In der Themenwahl schränkte er uns nicht groß ein. Einzige Vorschrift war, dass es etwas sein müsse, das in der Vergangenheit unseres Dorfes eine wichtige Rolle ge-spielt hätte und mindestens fünfhundert Jahre her sei. Dominik grummelte: „Ich nehm’ einfach das Tagebuch meiner Oma, die sieht aus, als wäre sie mindesten achthundert Jahre alt.“

Nach der Schule setzten Pit und ich uns zusammen. Wer könnte oder mochte wohl noch bei uns mitmachen? Die drei Lackaffen (so nannten wir Ralf, Jan und Dominik heimlich, weil sie ihre Haare immer ganz stark stylten) hatten es mal wieder gut. Die waren schon zu dritt.

Dann waren da noch die drei Fußballer Marc, Simon und Noah, die waren auch schon eine Gruppe. Blieb für uns also nur noch eines dieser kichernden Mädchen. Davon gab es in

1 Das steht im Evangelium nach Matthäus in Kapitel 5, Vers 44

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unserer Klasse zehn Stück. Das wären dann also drei Drei-ergruppen und ein Mädchen, das übrig bliebe. Eigentlich eine einfache Rechnung – fragte sich nur, welches Mädchen wir ab-kriegen würden.

Pit meinte, es würde bestimmt Serafina werden. „Sie ist auch so etwas wie eine Außenseiterin. Sie versucht zwar immer, da-bei zu sein, aber manchmal merkt man halt doch, dass sie et-was anders ist als die anderen.“

„Hä?“, fragte ich, „anders als die anderen? Da wäre mir aber noch nie was aufgefallen. Sie kichert ständig, genau wie der Rest, und ist eher noch schräger angezogen als die übrigen Mädchen.“

„Eben“, sagte Pit. „Ihre Kleidung ist wirklich extrem. Deshalb haben die anderen öfters etwas an ihr herumzumäkeln. Serafi-nas Eltern sind Künstler. Letztes Jahr sind sie hierher gezogen. Du hättest sie damals sehen sollen. Sie war manchmal geklei-det, als käme sie direkt vom Mars und nicht nur aus einem an-deren Ort. Die anderen Mädchen haben sie ziemlich gehänselt deswegen. In der Zwischenzeit hat sie sich etwas angepasst. Aber gewisse Dinge kann sie nicht ändern. Ihren Namen, zum Beispiel. Der gibt den andern Mädchen immer wieder Grund zu lästern. Oder ihre Eltern, die einfach total aus dem Rahmen fallen.“

Ich blieb verlegen stumm. Bis jetzt hatte ich immer gedacht, nur Pit und ich würden ständig unter die Räder kommen. Be-schämt musste ich feststellen, dass ich nur auf unsere Proble-me fixiert gewesen war und sonst gar nichts mehr wahrgenom-men hatte.

„Tja, also“, meinte Pit dann, „sollen wir Serafina einfach mal anrufen und fragen, ob sie bei uns mitmachen will?“

Ich überlegte. Aber eigentlich blieb uns keine andere Mög-lichkeit. Ein Mädchen müssten wir ja auf jeden Fall noch neh-

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men. Weshalb also nicht diese Serafina. Pit mit seinem Überge-wicht und ich mit meinem Rollstuhl waren ja auch nicht gerade die Allernormalsten. Sie würde vielleicht ganz gut zu uns pas-sen. Und wenn sie künstlerisch begabt wäre, dann könnte sie ja eventuell die Gestaltung des schriftlichen Aufgabenteils über-nehmen. Das würde uns bestimmt eine gute Note einbringen. Ich versuchte schon mal, der Situation das Positive abzugewin-nen.

Wir gingen zusammen zu mir nach Hause. Pit kam seit dem ersten Schultag regelmäßig zu mir. Wir machten zusammen Hausaufgaben, und oft aß er mittags und abends auch gleich bei uns. Anscheinend mochte er das Essen meiner Mutter.

„Wer ruft an?“, fragte ich, nachdem wir gegessen und unsere Hausaufgaben gemacht hatten. „Mach du das doch bitte“, bat ich ihn dann aber gleich, „du kennst sie ja besser als ich“, fügte ich als Erklärung hinzu. Aber ehrlich gesagt hätte ich es auch sonst nicht machen wollen. Mädchen waren für mich seltsame Wesen von einem anderen Planeten. Sie waren in allem so to-tal anders als wir Jungen. Es war mir immer unangenehm, mich mit einem von ihnen zu unterhalten. Ich wusste einfach nicht, worüber.

Wir suchten im Telefonbuch Serafinas Nummer raus und Pit rief mutig an. Als er sie am Apparat hatte, sagte er höflich, dass wir noch ein Gruppenmitglied suchen würden für das Ge-schichtsreferat. Sein Gesicht erhellte sich, als er weitersprach. Er erklärte ihr den Weg zu mir nach Hause und verabschiedete sich danach.

„Sie kommt in zehn Minuten“, sagte Pit. „Sie wollte uns auch schon anrufen. Sie ist froh, dass sie bei uns dabei sein kann.“

Das waren ja schon mal gute Voraussetzungen. Ich guckte im Zimmer herum. Einigermaßen aufgeräumt sah es aus, nur ein paar schmutzige Socken gammelten links und rechts von

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meinem Schreibtisch auf dem hellgrauen Teppich. Pits Blick folgte meinem, und er dachte wohl dasselbe wie ich. Jeden-falls hob er die Socken wortlos auf und schmiss sie weit unter das Bett.

Eine Weile saßen wir ganz still da und warteten. Dann meinte Pit: „Vielleicht hätte dein Vater irgendwelche Tipps für uns, was wir als Thema nehmen könnten. Wollen wir ihn mal fragen?“

Mit einer solchen Bemerkung hatte ich schon gerechnet, seit wir die Aufgabe bekommen hatten. Nur kannte Pit meinen Va-ter noch nicht sehr gut. Wenn der einmal loslegte, war er nicht mehr zu stoppen. Ich befürchtete, dass wir dann den ganzen Nachmittag in seinem Büro hocken würden und nach einem fünfstündigen Vortrag genauso viel wüssten wie vorher. Nur, dass unsere Köpfe rauchen würden bei dem vergeblichen Ver-such, all die komplizierten Begriffe wie „Neolithikum“ oder „my-kenische Zeit“ zu verarbeiten.

Als ich noch ein kleiner Junge war, pflegte er mir abends von seinen aktuellen Forschungen zu erzählen. Etwa so, wie an-dere Väter ihren kleinen Kindern Geschichten von dem Bären Paddington erzählen. Ich konnte dabei innerhalb kürzester Zeit einschlafen. Und auch jetzt noch ging es mir bei solchen Vor-trägen ähnlich. Es schien bei mir eine Art Hirnlähmung auszulö-sen. Die Atmung verlangsamt sich, ich beginne zu gähnen, die Augenlieder werden schwerer … Ich hatte absolut keine Lust auf ein weiteres solches Experiment heute Nachmittag. Des-halb brummte ich so etwas wie: „Er ist im Moment gerade sehr beschäftigt mit seinem neusten Buch“, und guckte zum Fenster raus. Eine schmale Gestalt auf einem großen Rennrad brauste den Weg am Wald entlang. Kurz vor unserem Haus machte sie eine Vollbremsung und sprang runter. Serafina war gekommen! Sie begrüßte meine Mutter und die deutete mit der Hand Rich-tung Haustüre.

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„Los, geh sie holen!“, befahl ich meinem Freund und drehte mich nervös im Kreis herum.

Pit stand auf, zockelte die Treppe runter und öffnete die Türe. Ich konnte hören, wie sie einander begrüßten und dann die Treppe hinaufpolterten. Und dann stand sie in meinem Zimmer: Halblange, krause Haare, eine Nase, die eher nach oben als nach unten guckte und große, runde Augen in einem dunkeln Grünton. Sie trug einen kurzen, geblümten Rock und bunt ge-streifte Hosen drunter. Das T-Shirt sah aus, als hätte sie selber ein paar Farbkleckse darauf gespritzt. Hoffentlich war sie nicht so irre, wie sie aussah!

„Hallo“, sagte ich, „schön, dass du bei uns mitmachst.“ So ganz ehrlich war ich in dem Moment nicht. Aber ich dachte, Freundlichkeit könne nicht schaden, und vielleicht würde es ja noch ganz lustig mit ihr.

Sie begrüßte mich lächelnd, ließ ihre große pinkfarbene Ta-sche zu Boden gleiten und setzte sich daneben. Mit dem Rü-cken lehnte sie gegen mein Bett, ihre langen Beine streckte sie mitten in den Raum hinein. „Na, was habt ihr euch schon über-legt?“, wollte sie wissen.

„Ähm … ähh“, stotterte Pit, „wir haben noch gar nicht richtig angefangen.“

Ich versuchte, unsere Ehre zu retten und sagte das Erstbes-te, das mir einfiel: „Wir haben uns gedacht, wir könnten viel-leicht etwas über das kulturelle Leben zur Zeit des Frühmit-telalters schreiben. Vielleicht finden wir hier sogar Spuren der Merowinger oder Karolinger.“

Pit und Serafina sahen mich mit großen Augen an. Was hat-te ich da nur für einen Unsinn herausgelassen? Anscheinend hatten die Sachen, die mir mein Vater früher erzählt hatte, doch mehr Spuren in meinen Hirnwindungen hinterlassen, als ich ge-dacht hatte.

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Serafina fasste sich als Erste wieder: „Ich habe ganz verges-sen, dass dein Vater Archäologe ist. Na, dann sollte uns diese Aufgabe ja keine Schwierigkeiten bereiten. Also los, erzähl mal, was sind diese Mero- und Karodinger?“

Hilfe, so genau wusste ich doch auch nicht Bescheid! Hätte ich doch meinen Mund gehalten …

„Das waren königliche Familien im frühen Mittelalter“, sag-te ich zögernd. Bevor die anderen zwei ihre Mäuler zukrieg-ten, musste ich leider ihre sichtbare Begeisterung wieder etwas dämpfen. „Ich glaube allerdings, sie hatten ihre Zeit etwas vor der Gründung unseres Dorfes. Also hatte Pit eben schon recht, wir haben noch keine brauchbaren Ideen.“

„Meinst du, wir dürften deinen Vater um einen Tipp bitten?“, fragte Serafina nach einer Weile.

Ach, wäre mein Vater doch bloß ein langweiliger Buchhalter einer noch langweiligeren kleinen Firma. Dann müsste ich mei-ne Klassenkameraden nicht vor seinen ultra-langweiligen Aus-schweifungen über die frühzeitliche Geschichte unserer Welt schützen! Mein Vater hatte nämlich auch noch die leidige An-gewohnheit, von einem Thema zum anderen zu schweifen. Er würde nie nur beim Mittelalter unserer Region bleiben. Denn „schließlich ist ja alles irgendwie miteinander verbunden“. Beim einen Thema hat das vorherige eine Rolle gespielt und sich dann auch noch auf das nächste ausgewirkt. Nein, ich musste die beiden wirklich davor bewahren, meinem Vater irgendwel-che Fragen über vergangene Zeiten zu stellen.

Pit ersparte mir eine Antwort, indem er Serafina erklärte, was ich ihm auch gesagt hatte. Nämlich, dass mein Vater sehr mit seinem neuen Buch beschäftigt sei. Ich hatte ein etwas schlechtes Gewissen, da das nicht so ganz stimmte. Ja, mein Vater schrieb ein neues Buch. Er war aber immer bereit, sei-ne Arbeit zu unterbrechen, wenn irgendjemand etwas von ihm

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wollte. Und über geschichtliche Fragen freute er sich immer ganz besonders.

„Ich habe einen Vorschlag“, meinte Serafina. „Gehen wir doch einfach mal in unsere alte Klosterkirche und lassen uns da inspirieren. Vielleicht sehen wir ja etwas, das uns auf eine interessante Spur führt.“

Ja, genau! Darauf hätten wir Jungs eigentlich auch kommen können. Die Kirche war das Wahrzeichen unseres Dorfes. Oder besser: sein Ursprung, denn aus dem Kloster, das zu der Kir-che gehörte, war unser Dorf damals entstanden. Mittlerweile wurden die Gebäude anderweitig genutzt, denn das Kloster war schon vor über einem Jahrhundert aufgegeben worden. Dafür war die ganze Klosteranlage wunderschön restauriert worden.

Kapitel 3

Ein geheimnisvoller Vogel

Wir steckten ein paar Äpfel ein und machten uns auf den Weg. Kurze Zeit später standen wir vor dem großen Kirchenportal. Bis jetzt hatte ich die Kirche nur von außen und auch nur aus einiger Entfernung gesehen. Es war beeindruckend, wie mäch-tig sie vor uns aufragte. Goldene Lettern prangten über der rie-sigen hölzernen Pforte und gaben in der lateinischen Zählweise das Jahr ihrer Fertigstellung an: MDCCXX.

Die breite Treppe mit den acht Stufen, die zur Eingangstüre führte, war für mich ebenfalls gewaltig, jedenfalls als Hindernis.

„1720 wurde sie neu aufgebaut“, wusste Serafina. „Mmh“, brummte ich und registrierte gar nicht mehr, was sie

zusätzlich noch erzählte. Wie sollte ich da nur hochkommen? Bei solchen Gelegenheiten wünschte ich meine unnützen Beine