Roger Graf Der Mann am Gartenzaun Roman · Roger Graf Der Mann am Gartenzaun Roman Handlung und...

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Roger Graf

Der Mann am Gartenzaun

Roman

Handlung und Personen in diesem Roman sind frei erfunden.

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Prolog

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Obwohl sie nur ein dünnes Baumwollkleid trug, fror sie nicht. Es war angenehm kühl, nach dem warmen überraschend heißen Tag mit einer Sonne, die tagsüber den Asphalt tanzen ließ wie eine Fata Morgana. Sie ging langsam die Straßen entlang. Es war still, nur die Grillen waren zu hören und weit entfernt ein Hund. Sie war schon seit einer halben Stunde unterwegs. Das Fest bei Ronny war besser geworden, als sie zuerst befürchtet hatte. Kein Kampfsaufen der Jungs, die sich gerne aufspielten und literweise Bier und Wodka tranken, bis die einen umfielen und einschliefen, und die anderen über die Mädchen herfielen. Ihre Freundin Jenny hatte bei einem solchen Fest ihre Unschuld verloren. Und wusste danach nicht einmal mehr genau, welcher der Jungs mit ihr geschlafen hatte. Vielleicht war es auch mehr als einer gewesen. Hauptsache ich bin nicht schwanger und kriege auch kein Aids, hatte Jenny gesagt. Das konnte sie nicht verstehen. Sie hätte schon mit vielen Jungs schlafen können, aber sie wollte warten, bis alles stimmte. In dieser Nacht hätte fast alles gestimmt. Aber Christian war nicht da. Und deshalb stimmte es überhaupt nicht. Christian war ihre große Liebe. Doch das wusste außer ihr niemand. Nicht einmal Jenny und der hatte sie bis jetzt immer alles anvertraut. Aber irgendwie waren sie sich fremd geworden in letzter Zeit. Jenny, so schien es ihr, konnte nicht genug kriegen von den Jungs, seit jener Nacht, als es zum ersten Mal passierte. Sie machte die Jungs richtiggehend an. Wie eine Schlampe. Manchmal wenigstens. Vielleicht aber war es auch nur ein Spiel und Jenny schlief gar nicht mit allen Jungs. Tat nur so. Spielte mit ihnen. Und die spielten gerne mit. Es gab Tage an denen wünschte sie sich so zu sein wie Jenny. Sorglos irgendwie. Nicht immer unsicher. Aber eigentlich war es nicht das, was sie am meisten störte. Es war dieses ständige Auf und Ab. Es konnte sein, dass sie sich am Morgen toll fand, wunderschön und mit allem zufrieden. Und schon am Nachmittag fühlte sie sich hässlich und nutzlos. Und abends hatte sie oft Angst, einfach so, ohne Grund. Dabei fürchtete sie sich nicht. Auch jetzt nicht, da sie allein die Straße entlang ging. Furcht kannte sie nicht, nur diese Angst, die keinen richtigen Namen hatte. Ihre Mutter fürchtete sich ständig. Vor Spinnen, vor Gewittern, vor den Nachbarn. Wie konnte eine solch ängstliche Frau überhaupt ein Kind groß ziehen? Doch das war es nicht, was ihr jetzt durch den Kopf ging. Sie dachte an Christian. Der Junge, der sie bis jetzt kaum beachtet hatte und den sie so sehr liebte. Zumindest schwärmte sie für ihn. Und der Bauch wurde ganz warm, wenn sie an ihn dachte. Aber sie dachte auch an Samuel. Der ihr immer nachschaute wie ein kleiner Hund. Ihr auf Schritt und Tritt folgte. Ihr heimlich Liebesbriefe schrieb. Ohne Absender.

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Aber sie wusste, dass sie von ihm stammten. Er machte sich Hoffnungen. Seit über einem Jahr schon. Dabei hatte sie ihm schon mehrmals klar gemacht, dass das nichts würde zwischen ihnen. Es funkte einfach nicht. Vielleicht auch, weil er ihr derart nachstellte. Ihr damit auf die Nerven ging. Mächtig sogar. Samuel war auch der Grund, weshalb sie jetzt alleine unterwegs war. Einfach weggelaufen war sie. Als er kurz auf der Toilette verschwand. Sie wollte nicht mit ihm zurückfahren. Auf seinem Roller. Ihn umklammern. Und danach wieder die Endlosschlaufe, die fast jeden Abend die gleiche war.

Warum nicht? Darum. Was mache ich falsch? Nichts. Dann komm doch mit zu mir. Nein. Komm doch. Lass mich. Du könntest es wenigstens versuchen. Das geht nicht. Nur einmal. Nein. Ein Kuss nur. Nein. Zum Abschied, nur ein kleiner Kuss. Nein. Bitte. Lass das. Sehen wir uns Morgen?

Immer ging es so. Seit Wochen. Seit Monaten. Einmal hatte sie ihm gesagt, dass sie einen anderen liebe. Wen, hatte er gefragt und war völlig ausgerastet.

Sie blieb einen Moment stehen. Der Wind schien mit jeder Minute kühler zu werden. Jemand hatte gesagt, dass das ein typischer Altweibersommer war. Sie hatte keine Ahnung was es bedeutete, fand die Umschreibung aber komisch und lachte kurz in die dunkle Nacht hinein. Der Sommer war nicht ihre Lieblingsjahreszeit. Sie mochte die Hitze nicht. Ihre Haut war viel zu hell für ein Sonnenbad. Und immer im Schatten zu sitzen war langweilig. Deshalb hatte sie sich schon zweimal verbrannt. Und danach tagelang den Körper abgesucht nach Stellen, die verdächtig aussahen. Auch wenn es idiotisch war. Hautkrebs kriegte man erst viel später. Aber ihre Mutter litt seit vielen Jahren an eingebildeten Krankheiten. Fast jede Woche eine andere. Sie dachte immer, dass sie das wahrscheinlich auch geerbt hatte. Und es eines Tages ausbrechen würde. Wie eine Krankheit. Eigentlich ist meine Mutter eine einzige Krankheit, dachte sie. Und wünschte sich, mit Christian abzuhauen. Nach Schweden. Irgendwohin, wo es kühler war und trotzdem schön.

Kein Wagen. Seit einer halben Stunde kein Wagen. Das war ungewöhnlich. Normalerweise dauerte es höchstens eine Viertelstunde bis jemand anhielt und sie mitnahm. Kein Problem damit. Sie hatte erst einmal schlechte Erfahrungen gemacht. Ein Mann, der sie befummelte. Sie hatte ihm eine Zigarette auf dem Handrücken ausgedrückt. Das reichte. Noch drei, dachte sie. Eine jetzt und die beiden letzten zu Hause. Sie zündete die Zigarette an und sog am Filter bis sie die Glut gut sehen konnte. Wie Glühwürmchen. Das hatte sie immer gemocht.

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Brennende Zigaretten in der Nacht. Wahrscheinlich hatte sie nur deshalb mit rauchen angefangen. Und natürlich weil Jenny rauchte. Sie hatte sich schon überlegt, ob sie nicht Jenny bitten solle, mit Samuel ins Bett zu steigen. Wenn sie es doch gerne machte. Was spielte es da für eine Rolle, wie der Junge aussah? Und Samuel sah nicht einmal schlecht aus. Besser als viele andere, die ihr schöne Augen machten. Aber eben. Jenny schien eine Vorliebe für die lauten Jungs zu haben. Und Samuel war ein leiser. Immerhin. Das mochte sie an ihm. Auch Christian war ein leiser Junge. Und Christian war Christian. Sie sah die Scheinwerfer eines Wagens, der sich mit hohem Tempo zu nähern schien. Falsche Richtung. Aber sie wusste, dass das nichts zu bedeuten hatte. Vielleicht hielt er trotzdem an. Bot ihr an, sie nach Hause zu fahren. Aber das würde sie ablehnen. Wenn einer eigentlich in die andere Richtung wollte, stieg sie nicht zu ihm ins Auto. Weil das ein zu großer Gefallen war. Einer, den er später einfordern konnte. Sie glaubte die Männer zu kennen. Sie glaubte das Leben zu kennen. Was auf sie zukommen würde. Manchmal wenigstens. Sie schaute den Fahrer an, als der Wagen vorbeibrauste. Viel zu schnell. Vorne zwei Jungs, hinten zwei Girls. Einmal fuhr einer zu schnell, der sie mitgenommen hatte. Verpasste eine Kurve, flog raus in eine Wiese. Es rumpelte und krachte. Aber es geschah nichts. Kein Baum weit und breit. Es gelang ihnen sogar, den Wagen wieder auf die Straße zu bringen. Erschrocken war sie schon, aber auch erstaunt darüber, dass nichts passiert war. Offenbar hatte sie einen guten Schutzengel. Sie stellte sich oft ihren Großvater als Schutzengel vor. Gestorben, als sie noch klein war. Krebs im Kopf. Vielleicht war das der Grund, weshalb ihre Mutter derart besessen war von Krankheiten die sie sich einbildete. Alles hat seinen Grund. Diesen Satz hatte sie von der Großmutter gelernt. Was auch immer geschieht, sagte sie gerne, alles hat einen Grund. Denke daran. Sie wusste nicht, ob das stimmte, aber ihre Großmutter war jetzt schon so alt, dass etwas dran sein musste. Christians Augen, die manchmal so unruhig flackerten. Als wollten sie sagen, komm, lass uns weggehen, weit weg. Alles hat einen Grund. Auch weshalb sie Jenny nichts über Christian erzählte. Sie wollte nicht, dass Jenny plötzlich auf dumme Gedanken kam. Sie blieb stehen und wunderte sich über das alte Sofa, das jemand offenbar einfach rausgestellt hatte. Einfach so, neben einen Kandelaber. Es sah so aus, als würde es schon eine Zeit lang dort stehen. Einen plötzlichen Impuls folgend setzte sie sich hin. Die Federung war weich. Es war ein seltsames Gefühl, aber irgendwie überwältigend. Wie nach einem Joint. Mitten in der Nacht auf einer leeren Landstraße. Auf einem Sofa sitzen und rauchen. Die Zweitletzte. Schade, dass

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die Batterien ihres Walkmans den Geist aufgegeben hatten. Sie rauchte die Zigarette auf dem Sofa zu Ende. Fühlte sich gut. Dachte an Christian. Und sah den Wagen, der sich langsam näherte. Die Richtung stimmte. Gut, dachte sie, stand auf und ging zum Straßenrand. Winkte. Ein Mann. Allein. Sie erkannte ihn. Einer, der in der Gegend lebte. Keine Gefahr, dachte sie. Er lächelte. Sie stieg ein. Hinten. Ihm schien es egal zu sein. Zigarette? Sie lächelte und nahm eine an. Es war nicht ihre Marke, aber das störte sie jetzt nicht. In einer Viertelstunde würde sie zu Hause sein. Der Mann fuhr los. Sie öffnete das Seitenfenster und genoss die kühle Zugluft. Sie sah nicht, wie der Fahrer sie im Rückspiegel musterte. Und wie er lächelte. Zufrieden. Als hätte er gefunden, wonach er gesucht hatte.

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1.

Um die Mittagszeit war die Hitze kaum erträglich. Die Klimaanlage im Wagen hatte ihren Geist vor zwei Jahren aufgegeben, seither fuhr er im Sommer mit offenem Fenster. Im Stau half das wenig. Die Sonne brannte auf das Autodach und er fühlte sich wie in einem Schmortopf. Vor ihm hupte ein Deutscher. Sein bleicher linker Arm baumelte aus dem Wagen und Fischer sah, wie er immer wieder heftig den Kopf schüttelte. Ungewöhnlich war es schon, dass sich die Wagen um diese Zeit vor dem Tunnel stauten. Ein Unfall vielleicht, oder ein Lastwagen, dem die Hitze nicht bekommen war. Fischer kurbelte auch das Beifahrerfenster nach unten. Die Automatik hatte nie funktioniert. Er hatte den Wagen praktisch geschenkt gekriegt, da gab es nichts zu meckern. Der Wagen fuhr und was wollte er mehr? Im Rückspiegel sah er einen gelben Sportwagen. Am Lenkrad ein Typ, der keine zwanzig war. Mit lächerlich großer Sonnenbrille und einer Frisur, die für Fischer aussah wie eine Verstümmelung. Ich verstehe diese Jungen nicht, dachte er, gleichzeitig amüsiert, weil der Typ hinter ihm möglicherweise einer seiner Kunden sein würde. Endlich ging es wieder voran. Langsam, aber immerhin. Weiter vorne sah Fischer den alten Peugeot, der den Stau verursacht hatte. Ein Mann mit langen dunklen Haaren stand hinter dem Wagen und gestikulierte, während er in ein Handy sprach. Schweiß rann Fischer von der Oberlippe. Er leckte ihn ab und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. Fast einen Monat hatten die Verhandlungen mit der Bank gedauert, bis er die Kreditzusage erhalten hatte. Ein kleines Vermögen, für das er die Bürgschaft seines Vaters benötigt hatte. Es musste klappen. Jetzt oder nie, dachte er. Er wusste, dass sich vor ihm schon andere um die alte Fabrik und das angrenzende Grundstück bemüht hatten. Sie alle waren daran gescheitert, dass die ehemalige Graphitfabrik heute einem deutschen Firmenkonglomerat gehörte, das lange Zeit nicht wusste, was sie mit dem Grundstück in Zürich anfangen sollten. Anfang des Jahres aber wurde entschieden, dass dort gebaut wird. Aber frühestens in zwei Jahren. Fischer hatte es von seinem Vater erfahren, der Kontakte zu der deutschen Mutterfirma hatte. Fischer war zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort und er hatte die richtige Idee. Ein Club, größer als alle anderen in Zürich. Ideal gelegen. Keine Nachbarn, die sich beschweren konnten, genügend Parkplatzmöglichkeiten auf dem Areal und die Autobahn in den Aargau ganz

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in der Nähe. Das war wichtig. Denn am Wochenende kam der halbe Kanton Aargau nach Zürich, um Geld auszugeben. Zusammen mit einem Kumpel, der Betriebsökonomie studierte, hatte er einen Businessplan erstellt. Ich habe eine Goldader entdeckt, dachte Fischer.

Als er in den schmalen Weg einbog, der auf das Fabrikgelände führte, trommelte Fischer voller Freude auf das Lenkrad. Die beiden anderen waren schon da. Moritz, der Bodybuilder und Kuno, der Betriebsökonom. Er würde die beiden beteiligen, aber so, dass er die Kontrolle behielt und auch am meisten Geld abkassieren konnte. Sein Vater hatte ihm dazu geraten, möglichst unabhängig zu bleiben. Gerade begeistert war er nicht gewesen, als Fischer ihm das erste Mal das Fabrikgelände gezeigt hatte. Völlig zerfallen sah alles aus, und es standen Berge von Sperrmüll herum. Doch als Fischer ihm demonstrierte, dass Strom und Wasser funktionierte und ihm auch erklärte, dass die Baupolizei keine besonderen Auflagen gemacht hatte, willigte er schließlich ein, die Bürgschaft zu übernehmen. Als Fischer den Wagen parkte und ausstieg, fühlte er sich beinahe wie ein Großgrundbesitzer. Und irgendwie war er das ja auch. Für zwei Jahre. Und eigentlich nicht richtig, aber wen kümmerte das schon? Sie hatten bereits riesige Mengen an Müll entsorgt und eine der Hallen war leergefegt, und sah aus wie eine riesige leere Konzerthalle.

»Alles klar?«, fragte Moritz, so wie er immer fragte, ohne dass er eine Antwort erwartete.

»Unglaublich, diese Hitze«, sagte Kuno, der ein graues Shirt trug, unter dem sich die Muskeln spannten.

»Es soll bis zu 35 Grad heiß werden«, sagte Fischer und reichte den anderen beiden die Arbeitshandschuhe, die er in seiner Tasche mitgebracht hatte.

»Bier?«, fragte Moritz und zeigte auf einen Kasten, der in einer Ecke stand und in dem große Eisstücke lagen.

Fischer nickte und die drei öffneten sich je eine Bierflasche. Sie tranken schweigend in der leeren Halle.

»Bis zu 2000 können hier rein«, sagte Kuno und zeigte in die Halle.

»Vergiss es«, sagte Moritz. »Ingesamt vielleicht, auf dem gesamten Gelände, aber wenn hier in dieser Halle mehr als 1000 drin sind, wird es ungemütlich.«

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»Tausend würden genügen«, sagte Fischer.

»Was ist mit dem Kino?«, fragte Kuno.

»Das hat keine Priorität. Zuerst wird der Club eingerichtet. Der Sound, die Klimaanlage, sanitäre Installationen. Die Leute wollen heute verwöhnt werden. Alles muss erste Qualität sein. Auch die Klos.«

»Und wann wird eingerichtet?«, fragte Moritz.

»Wenn die letzte Bewilligung und Auflage unterschrieben auf meinem Schreibtisch liegt.«

»Auf Fischer und auf uns«, sagte Kuno und nahm den letzten großen Schluck aus seiner Flasche.

»Auf Peter. Es war schließlich seine Idee.«

Fischer fand es seltsam von Moritz mit seinem Vornamen angesprochen zu werden. Niemand sprach ihn mit seinem Vornamen an. Seit vielen Jahren schon.

»Willst du den Steinhaufen wirklich weghaben?» fragte Kuno, als er die leere Flasche in den Kasten zurückgestellt hatte. Fischer nickte. Moritz stellte seine halbvolle Flasche auf einen Mauervorsprung.

»Na dann los«, sagte er und zog sich die Arbeitshandschuhe über.

Fischer nahm seine Flasche mit zu dem großen Steinhaufen, der hinter dem Hauptgebäude der alten Fabrik aufgeschichtet war. Niemand wusste, wozu dieser Steinhaufen gedient hatte und niemand wusste, wie lange er schon da war. Vielleicht hatten Kinder versucht einen Turm zu bauen, der dann eingestürzt war. Sie standen zu dritt einen Moment ratlos vor dem Haufen, der so hoch war, dass Fischer nicht darüber hinwegsehen konnte. Moritz, der einen Kopf größer war, reckte seinen Hals, während Kuno damit begann, erste Steine in den Handwagen zu legen. Weil sie wegen eines alten Metalltores, das sich nicht öffnen ließ, nicht bis zu dem Steinhaufen vorfahren konnten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Steine zum Wagen zu transportieren. Kuno hatte ihn besorgt, ein alter verbeulter Lieferwagen, der einst einer Gärtnerei gehört hatte, und der sich gut für den Transport der Steine eignete. Kuno hatte auch einen Abnehmer für die Steine gefunden. Nur abholen wollte sie niemand, was auch nicht weiter erstaunlich war.

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»Wir sollten die Arbeit aufteilen«, sagte Moritz. Fischer nickte und sagte ihm, dass er beim Lieferwagen warten solle um dann dort die Steine aus einem der beiden Handwagen zu übernehmen.

»Wie lange kannst du bleiben?«, fragte Fischer Kuno.

»Bis um zwei«, sagte dieser, ohne mit der Arbeit inne zu halten.

»Gut«, sagte Fischer. Er hoffte, dass sie bis um zwei eine oder zwei Ladungen schaffen konnten.

»So müssen sich Zwangsarbeiter gefühlt haben«, sagte Moritz, als er den vollen Schubkarren in die Hände nahm und wegging. Es war so heiß, dass der Steinhaufen in der Sonne flimmerte. Wie glühende Lava, dachte Fischer. Er war auf den Haufen gestiegen und hatte damit begonnen, Steine nach unten auf den Boden zu werfen. Einige der Steine waren so groß, dass er sie mit beiden Händen anheben musste. Der Schweiß rann ihm in kleinen Bächen den Körper entlang und sein Rücken schmerzte schon nach einer halben Stunde. Neidisch sah er auf Kuno, der unverdrossen Stein um Stein hob und in die Schubkarre legte. Sein Atem schien nicht schneller zu gehen, auch schien er weniger zu schwitzen als Fischer und Moritz. Dieser hatte auch seine Mühe und machte immer längere Pausen, wenn er mit einer leeren Schubkarre zurückkam. Zwischendurch hockte er im Schatten und drückte seinen Rücken durch.

»Ist der Wagen schon voll?«, fragte Kuno lächelnd.

Moritz schüttelte den Kopf.

»Wie schwer darf man den überhaupt belasten?«, fragte Fischer. Kuno schaute ihn an, als ob er nicht sicher sei, dass die Frage ernst gemeint war.

»Es ist nicht weit und du musst langsam fahren. Alles andere ist kein Problem.«

Nach einer Stunde machten sie eine Pause und tranken Bier. Moritz packte Sandwichs aus und sie aßen gierig wie selten. Fischer gefiel es. Das waren die Momente, die man nie vergisst im Leben, dachte er. »Schon seltsam«, sagte Moritz und ließ seinen Blick über das Gelände wandern. »Keine Steine weit und breit. Es ist, als habe die jemand hierher geschleppt.«

»Oder sie zusammengesucht«, sagte Kuno kauend.

»Möglicherweise zerstören wir hier ein Lebenswerk. Vielleicht sogar ein Kunstwerk.«

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Sie lachten über Fischers Vergleich.

»Vamos«, sagte Moritz schließlich. »Noch vier bis fünf Schubkarren, dann fahre ich los.«

Sie machten sich erneut ans Werk. Langsamer, aber weiterhin voller Eifer und jener Freude, die bei einer solchen Tätigkeit nur Menschen verspüren konnten, die normalerweise nur wenig oder gar nicht körperlich arbeiteten. Fischer stand wieder auf dem Steinhaufen, die Müdigkeit machte ihn unachtsam und so kam es, dass er ausrutschte und damit eine kleine Steinlawine auslöste, die neben Kuno auf den Boden prasselte.

»Pass doch auf«, sagte Kuno, ohne aber zur Seite zu weichen.

Fischer hob beschwichtigend die Arme und rieb sich den Ellbogen, mit dem er aufgeschlagen war.

»Warte mal«, sagte Kuno plötzlich.

»Da ist etwas«, sagte er und zeigte auf etwas, das er neben Fischers Fuß entdeckt hatte. Fischer schaute nach unten. Er sah einen Knochen. Zuerst nahm er ihn mit einer gewissen Belustigung war. Doch als er sah, dass sich Kuno mit ernster Miene und beinahe ehrfürchtig der Stelle näherte, blieb er wie angewurzelt stehen.

»Da ist noch mehr«, sagte Kuno und nahm einen großen Stein weg. Jetzt sah auch Fischer, dass zu dem kleinen Knochen andere, größere Knochen gehörten.

»Ist was?«, fragte Moritz, als er die beiden anderen sah.

»Da liegt ein Skelett«, sagte Fischer und versuchte vom Steinhaufen runterzuklettern, ohne dabei mit den Knochen in Berührung zu kommen.

»Ein Hund?«, fragte Moritz, ohne näher zu kommen.

»Ein Mensch«, sagte Kuno leise. »Wir haben ein menschliches Skelett gefunden.«

Moritz kam langsam näher und Fischer stellte sich neben Kuno. Schließlich starrten sie zu dritt auf den Fund. Fischer wischte sich mit dem Handschuh den Schweiß von der Stirn, während Kuno vorsichtig weitere Steine entfernte, bis schließlich der Schädel zum Vorschein kam.

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2.

Damian Stauffer nippte an einem Mineralwasser, während Staatsanwalt Federspiel Akten durchblätterte. Trotz der voll aufgedrehten Klimaanlage war es stickig in dem Büro. Stauffer saß auf dem bequemen Besuchersessel, der zu einer kleinen Sitzreihe gehörte, deren altmodische Stoffe nicht zur kühlen Atmosphäre im Raum passten. Die Bücherregale füllten zwei Wände, und alles sah aus, als würde es täglich abgestaubt, aber nie gelesen.

»Das ist interessant«, sagte Federspiel und schaute kurz auf. Hinter dem imposanten Schreibtisch wirkte er ein wenig verloren. Stauffer fiel erst jetzt auf, dass die Farbe des Tisches praktisch identisch war mit der Farbe von Federspiels Schnurrbart. Federspiel hielt eine Akte hoch und klopfte mit der Tabakspfeife auf das Papier.

»Unglaublich, dass damals niemand nach dem Alibi dieses Mannes fragte.«

»Er galt nicht als verdächtig«, sagte Stauffer.

»Trotzdem«, sagte Federspiel kopfschüttelnd.

Er war in die Akten eines Mordes vertieft, der sich vor fünfzehn Jahren in Zürich ereignet hatte. Ein Waffenhändler war in seinem Geschäft erschossen worden. Trotz intensivster Bemühungen konnte der Mord nicht aufgeklärt werden. Stauffer und seinem Team war es gelungen, zusätzliche Fakten zu sammeln und eine neue Mordhypothese zu formulieren, in der ein bis dahin unbehelligter Bekannter des Waffenhändlers eine entscheidende Rolle spielte.

»Und es gibt keinen gesicherten Aufenthaltsort?«, fragte Federspiel.

»Seine Spur verlor sich vor über zehn Jahren. Vermutlich lebt er heute in Südostasien. Thailand oder vielleicht auf den Philippinen.»

»Ich werde veranlassen, dass mit internationalem Haftbefehl nach ihm gesucht wird.«

»Es ist eine Hypothese«, sagte Stauffer. »Wir haben keinerlei Beweise.«

»Ohne Haftbefehl wird er da unten nie gefunden«, sagte Federspiel bestimmt und seine Stimme füllte den Raum wie ein einstimmiges Orchester.

Stauffer trank das Glas leer und spürte einen Druck auf der Blase. Es war ihm peinlich, während einer Besprechung auf die Toilette zu gehen. Er mochte es auch nicht, wenn sich einer seiner Mitarbeiter einen Moment aufs Klo

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zurückzog. Bei einer Besprechung baute sich eine Atmosphäre auf, die gestört werden konnte, wenn einer der Teilnehmer den Raum verließ. Stauffer bewegte sich im Sessel und versuchte eine Position zu finden, in dem sein Gürtel weniger stark auf den Unterleib drückte.

»Das ist bemerkenswert«, sagte Federspiel schließlich und legte die Akte auf den Tisch. »Gute Arbeit. Sehr gute Arbeit.«

Stauffer nickte und bedankte sich im Namen seines Teams. Sie hatten wochenlang drei alte Fälle bearbeitet, waren mit den Angaben zum Verschwinden eines kleinen Mädchens auch an die Öffentlichkeit gegangen, aber nur im Fall des Waffenhändlers ergaben sich neue Aspekte.

»Wir werden die beiden anderen Fälle noch einmal aufgreifen. Vielleicht nächstes Jahr. Allzu lange können wir nicht mehr warten.«

»Bei mir wird kein Verbrechen zu den Akten gelegt, das nicht aufgeklärt ist«, sagte Federspiel. »Egal, ob ein Fall verjährt ist oder nicht. Bedienen Sie sich ruhig.«

Er zeigte auf die angebrochene Mineralwasserflasche. Stauffer nickte, schenkte sich aber nicht nach. Federspiel stand auf und Stauffer wollte es ihm gleichtun, doch der Staatsanwalt gab ihm ein Zeichen, dass er sitzen bleiben solle. Er setzte sich neben Stauffer und zündete sich die Pfeife an. Ein angenehmer Duft stieg in Stauffers Nase. Er hatte nur ein einziges Mal an einer Pfeife gesogen und dabei festgestellt, dass der Tabak im Mund viel schlechter schmeckte, als er roch.

»Wenn nur eines dieser Verbrechen aufgeklärt wird, dann ist das ein Erfolg«, sagte Federspiel.

»Es wird mit jedem Jahr schwieriger. Zeugen werden älter, vergesslich oder sterben. Vielleicht sollte man die Bevölkerung dazu animieren, Tagebuch zu schreiben. Ich könnte mir vorstellen, dass wir in alten Tagebüchern Hinweise finden könnten, die nützlich wären.«

»Wir beide wissen, dass Täter früher oder später über ihre Taten sprechen. Nur leider werden sie oft nicht ernst genommen.«

»Würden Sie jemanden ernst nehmen, der im Suff gesteht, vor zehn Jahren einen anderen erschlagen zu haben?«

Es war eine rhetorische Frage. Er wusste, dass jeder Polizist und jeder Staatsanwalt eine solche Aussage sehr ernst nehmen würde. Stauffer stellte sich

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manchmal vor, dass die Wahrheit ein Gegenstand ist, der im Meer schwimmt. Manchmal ist er unsichtbar, manchmal verschwindet er für Jahre auf dem Meeresboden, aber es treibt ihn irgendwann wieder nach oben. Doch oft war niemand da, der ihn sehen konnte.

»Was ist mit dem Fall Studer?«

»Er steht ebenfalls auf der Liste.«

Stauffer erinnerte sich gut an den Fall. Ein achtzehnjähriges Mädchen, das verschwand und unter seltsamen Umständen tot wieder auftauchte. Auch einer der ungeklärten Mordfälle.

»Und dann wäre noch die Wahrsagerin, die in ihrer Wohnung erwürgt wurde«, sagte Federspiel.

»Sie soll angeblich dort noch herumspuken«, sagte Stauffer lächelnd. Er hatte in der Zeitung gelesen, dass es manchmal in der Wohnung, in der die Frau gelebt hatte, nach dem Parfüm roch, das sie zu Lebzeiten benutzte.

»Die Medien mögen diesen Hokuspokus.«

»Wohl wahr«, sagte Stauffer.

»Im Moment scheint es ja ruhig zu sein», sagte Federspiel.

»Bis auf die Messerstecherei vor zwei Wochen«, sagte Stauffer. Sie hatten den Täter nach drei Tagen überführt, er war ein Landsmann des Getöteten und es ging um Spielschulden und Ehre.

»Gut«, sagte Federspiel, stand auf und reichte dem verdutzten Stauffer die Hand. »Ich muss«, sagte Federspiel und schaute auf seine Armbanduhr. Eine Geste, die Stauffer an den Fall erinnern ließ, der die erste große Herausforderung für ihn und sein Team gewesen war.

Stauffer verabschiedete sich, ging den Gang entlang und suchte nach einer Toilette, fand aber keine. Er wusste, dass es unten im Eingangsbereich eine gab, deshalb eilte er die Treppen nach unten. Jemand grüsste ihn, doch als sich Stauffer nach dem Mann umsah, war er bereits wieder weg. In diesem Gebäude hatte es offenbar jeder eilig. Aus welchen Gründen auch immer.

In den Büros seiner Ermittlungsgruppe ging es ruhiger zu. Holzer war in den Ferien und wurde erst am Montag zurückerwartet. Lukas Bolliger und Anna Herold besuchten einen Fortbildungskurs. Elfie Marthaler kümmerte sich

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um einen Selbstmord, und Walter Wenger war zwar im Haus, aber nicht an seinem Schreibtisch. Nur Tanja Locher saß im Büro und spielte am Computer ein Kartenspiel.

»Alles klar?«, fragte sie, ohne aufzuschauen.

»Er gratuliert uns zu unserer guten Arbeit«, sagte Stauffer.

»Hast du es schriftlich?»

»Er lässt den Mann mit internationalem Haftbefehl suchen.«

»Das ist gut«, sagte Locher und ließ dem Satz einen Fluch folgen, weil mit dem Spiel etwas nicht so lief, wie sie es sich vorgestellt hatte.

»Unglaublich, diese Hitze«, sagte Stauffer und ging zum offenem Fenster. Kein Windhauch, nur heiße Luft, die wie eine schwere Glocke über der Stadt lag.

»Morgen soll es regnen«, sagte Locher.

»Hoffentlich«, sagte Stauffer.

Er hörte wie Wenger im Flur nach ihm fragte. Als er sah, mit welch konzentriertem Blick Wenger das Büro betrat, wusste Stauffer sofort, dass etwas geschehen war.

»Arbeit für uns«, sagte Wenger. Locher beendete umgehend das Spiel und Stauffer schloss das Fenster, als wolle er verhindern, dass Wengers Informationen nach außen dringen konnten.

»Ein Skelett. Unter einem Steinhaufen auf dem Gelände einer stillgelegten Fabrik. Draußen in Zürich-Nord.«

»Und woher wissen die, dass es ein Mord war?», fragte Stauffer.

»Niemand weiß etwas. Aber der Leichenfundort ist zumindest ungewöhnlich, oder?«

»Ein Obdachloser der starb und von seinen Pennbrüdern verscharrt wurde«, sagte Locher.

»Möglich«, sagte Wenger lächelnd. Wir sind wie Bluthunde, dachte Stauffer. Erst wenn wir eine Spur wittern, werden wir richtig wach.

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3.

In einer Ecke standen die drei jungen Männer, die das Skelett entdeckt hatten. Zwei rauchten eine Zigarette, der Dritte kratzte sich ständig am Kopf, als sei er von Läusen befallen worden. Sie betraten das Zelt, das über dem Fundort aufgeklappt worden war. Stauffer stand neben Locher vor dem Skelett, das mittlerweile vollständig freigelegt worden war. Es war ein seltsamer Anblick, denn die Knochen steckten in Kleidern, die nur teilweise verwittert waren. Die Lederjacke war noch gut als solche zu erkennen, auch die Schuhe waren gut erhalten. Die Hose war zerrissen und das dunkle Hemd sah aus, als würde es bei der kleinsten Berührung zu Staub zerfallen. Das Skelett erinnerte Stauffer an Bilder aus dem Fernsehen, wenn in Kriegsgebieten Massengräber gefunden wurden mit Soldaten, die in ihrer Uniform steckten. Es war klar, dass es sich bei dem Toten um einen Mann handelte und die Kleidung deutete darauf hin, dass es ein jüngerer Mann war, auch wenn man sich darin täuschen konnte. Doch dafür waren die Gerichtsmediziner zuständig, die würden das Alter anhand der Zähne und der Knochen bestimmen können.

»Wie viele Jahre mag er schon hier gelegen haben?«, fragte Locher.

»Mich würde interessieren, ob der Steinhaufen schon da war, oder ob jemand extra Steine herbeigeschafft hat, um den Mann hier zu begraben.«

»Wer sollte so etwas tun? Wäre es nicht viel einfacher gewesen, den Mann einfach zu begraben?«

»Gehen wir einmal davon aus, dass er hier starb. Wer auch immer den Toten begraben hat, er wollte die Leiche nicht wegtransportieren. Und er wollte trotzdem sicher sein, dass der Tote nicht sogleich gefunden wurde.«

»Was auf ein Verbrechen hindeutet«, sagte Locher. Stauffer beugte sich vor und schaute auf den Schädel des Toten. Er schien intakt zu sein.

»Wenn wir Pech haben, werden wir die genaue Todesursache nie herausfinden«, sagte er.

»Ich dachte, die Pathologen könnten heute Wunder bewirken.«

»Im Fernsehen vielleicht«, sagte Stauffer, der sich ab und zu ärgerte, wenn in einem Fernsehkrimi so getan wurde, als ob Pathologen heutzutage die Mörder überführten. Er drehte sich um, als er Schritte hinter sich hörte. Es war Wenger, der sich mit einem Notizbuch in der Hand zu ihnen gesellte.

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»Dein erster Eindruck?«, fragte Stauffer.

»Arbeit«, sagte Wenger lächelnd.

»Was sagen die Ärzte?«, fragte Locher.

»Nichts, was uns im Moment weiterhelfen würde. Sie möchten das Skelett möglich rasch an einen kühleren Ort bringen.«

Stauffer nickte. Er wusste zwar nicht, was für einen Einfluss die Hitze auf Knochen und verwitterte Kleidung hatte, aber vermutlich war es besser, das Skelett nicht allzu lange dieser Belastung auszusetzen.

»Er liegt auf einer Schicht Steine«, sagte Locher.

»Das könnte bedeuten, dass die Steine schon hier lagen, oder zumindest ein Teil davon«, sagte Stauffer.

»Die Fabrik steht seit über 15 Jahren leer. Es gab immer wieder Pläne, auf dem Gelände zu bauen, aber erst kürzlich wurde ein Projekt ausgeschrieben.«

»15 Jahre?«, sagte Stauffer nachdenklich. Das Gelände lag zwischen einer Hauptstraße und einer Eisenbahnlinie und war deshalb nicht besonders attraktiv. Aber gab es in den vergangenen zwanzig Jahren nicht immer wieder Perioden in denen in Zürich Bedarf an Wohnraum war?

»Das Problem ist der Boden«, sagte Wenger. »Vermutlich ist er belastet und müsste abgetragen werden.«

»Gab es keine Nutzung für das Areal?«, fragte Locher.

Wenger berichtete, was die drei jungen Männer vorhatten.

«Und in den Jahren zuvor?«, fragte Stauffer.

«So etwas wie ein Abenteuerspielplatz. Tagsüber für Kinder und Hunde, nachts für Punks, Obdachlose und Sportschützen.«

Stauffer schaute ihn fragend an.

»Es ist immer wieder vorgekommen, dass auf dem Gelände geschossen wurde. Offenbar gab es vor ein paar Jahren einmal einen Zwischenfall, als ein Mann angeschossen wurde.«

»Wir können demnach mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass die Leiche nicht länger als 15 Jahre hier liegt«, sagte Locher.

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»Zehn bis fünfzehn Jahre«, sagte Wenger bestimmt. Stauffer staunte. Kannte sich Wenger bei der Altersbestimmung von Knochen aus?

»Der Zustand der Kleidung«, sagte Wenger. »Und die vage Formulierung einer der Ärzte«, ergänzte er lachend.

»Die Schuhe sehen teuer aus«, sagte Locher.

»Qualität die überlebt«, sagte Wenger sarkastisch.

»Keine Armbanduhr?«, fragte Stauffer mit einem Blick auf die Handgelenke des Skeletts.

»Jemand wollte nicht, dass die Leiche schnell gefunden wird«, sagte Wenger. »Ich vermute, dass persönliche Dinge entfernt wurden, um eine Identifizierung zu erschweren.«

Stauffer ging einige Schritte zurück und betrachtete den Steinhaufen.

»Die meisten Leute dürften den Haufen gar nicht bemerkt haben. Er liegt hinter dieser Halle und der rostige Zaun ist keine Einladung, um darüber zu klettern. Man kommt nur von dieser Seite problemlos heran. Dazu muss man aber durch die Fabrikhalle gehen. Kein schlechtes Versteck.«

Wenger und Locher pflichteten ihm bei.

»Es kann sein, dass die Steine schon hier lagen, vielleicht etwas anders verteilt«, sagte Locher.

»Was fällt euch sonst noch auf?«, fragte Stauffer, der wusste wie wertvoll ein erster Eindruck für die späteren Ermittlungen sein konnte. Locher ging ebenfalls ein paar Schritte zurück, aber in die andere Richtung, bis zu dem rostigen Zaun. Sie blickte vom Zaun zum Steinhaufen und wieder zurück.

»Die Steine lagen schon da«, sagte sie. Stauffer forderte sie mit einer Handbewegung auf weiter zu sprechen.

»Wenn jemand die Steine extra herbeigeschafft hätte, dann wäre es sinnvoller gewesen, das Grab hier beim Zaun zu errichten.«

Wie nennt man ein Grab, bei dem nicht gegraben worden war?, dachte Stauffer, ohne eine Antwort zu finden.

»Das Areal liegt nicht unbedingt abgelegen. Es hätte jederzeit jemand vorbeikommen können. Das könnte bedeuten, dass der Mann hier starb.«

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»Wir wissen nicht, wie gut das Areal vor zehn oder fünfzehn Jahren gesichert war«, sagte Wenger. »Möglicherweise war es damals schwierig, überhaupt Reinzukommen.«

Stauffer nickte.

»Auch wenn er unter einer dichten Schicht von Steinen begraben war, muss es Verwesungsgeruch gegeben haben. Hunde hätten auf so etwas sofort reagiert. Das würde darauf hindeuten, dass das Gelände gesichert war, als er hier beerdigt wurde.«

»Und wenn der Tote bereits hier lag, als die Fabrik noch in Betrieb war?«, fragte Locher und Stauffer sponn den Gedanken sofort weiter.

»Wir müssen abklären, wann genau die Fabrik geschlossen wurde, wer damals hier arbeitete, und wer sich um das Gelände kümmerte.«

»Der Mann sollte in wenigen Minuten eintreffen«, sagte Wenger.

»Ein einzelner Mann?«, fragte Locher verwundert.

»Offenbar«, sagte Wenger, ohne Genaueres zu erläutern.

»Was ist mit den jungen Männern, die das Skelett gefunden haben?«, fragte Stauffer.

»Sie wollten die Steine weghaben, um Toiletten hinstellen zu können.«

»Wenn wir ihre Personalien haben, können sie nach Hause gehen.«

»Sie möchten in den nächsten Tagen auf dem Areal weiterarbeiten.«

»Macht es Sinn, das ganze Gelände nach Spuren abzusuchen?« fragte Locher.

»Kaum«, sagte Stauffer. »Wir können froh sein, wenn wir in der Nähe des Steinhaufens noch etwas finden.«

»Fontini sollte sich schon mal um die Vermisstendatenbank kümmern«, sagte Wenger und wählte auf seinem Handy eine Nummer. Der junge Informatiker hörte aufmerksam zu, als Wenger ihm die bisher bekannten Koordinaten durchgab. Es klang alles sehr vage und Stauffer bezweifelte, dass Fontini mit diesen Angaben viel anfangen konnte.

»Er kann uns Morgen eine erste Liste mit Namen liefern«, sagte Wenger nachdem er den Anruf beendet hatte.

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»Hoffentlich war es kein Junkie«, sagte Locher und Stauffer wusste, was sie andeuten wollte. In Zürich gab zu Beginn der neunziger Jahre eine offene Drogenszene. Noch heute waren zwei der damals tot aufgefundenen Junkies nicht identifiziert. Junge Menschen, um deren Schicksal sich niemand mehr kümmerte. Menschen, die von ihren engsten Angehörigen bereits abgeschrieben worden waren, als sie noch am Leben waren.

»Die Kleidung kann uns weiterhelfen«, sagte Wenger. »Und mit dem Computer kann man sein Äußeres modellieren.«

Stauffer wunderte sich wieder einmal über Wengers Ausdrucksweise. Seine Eitelkeit zeigt sich in seiner Wortwahl, dachte er.

»Was sagen wir den Medien?», fragte Locher.

»Vorerst nur eine knappe Medienmitteilung. Ich will nicht, dass das Areal von Kamerateams bevölkert wird. Morgen, wenn wir mehr wissen, machen wir eine Medienorientierung.«

»Wir sollten heute alles absperren lassen. Es liegt hier auf dem Gelände noch viel Gerümpel herum. Kann durchaus sein, dass es Gegenstände sind, die so lange hier herumstehen, wie der hier tot ist.«

»Also doch das ganze Gelände absuchen?«, sagte Locher.

»Je länger ich es mir überlege, umso mehr tendiere ich dazu.«

»Das gibt eine Menge Arbeit«, sagte Wenger.

»Wohl wahr«, sagte Stauffer. »Du kannst den Leuten jetzt sagen, dass sie den Toten abtransportieren können. Ich erwarte heute Abend einen ersten vorläufigen Bericht.«

Locher nickte und ging. Wenger und Stauffer näherten sich noch einmal der Leiche, als wollten sie ein letztes Mal Abschied nehmen.

»Es müssen zwei gewesen sein«, sagte Wenger unvermittelt.

»Wegen der Steine?«, fragte Stauffer.

»Einer allein hätte Stunden gebraucht, um das alles aufzuschichten.«

»Es ist beinahe wie ein Grabmal«, sagte Stauffer.

»Ich glaube kaum, dass das ein Ritualmord war«, sagte Wenger grinsend. »Auch wenn man heutzutage mit allem rechnen muss.«

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»Warum eigentlich nicht?«, fragte Stauffer. »Dieser Ort wäre doch ideal für satanische Rituale.«

»In dieser Stadt gibt es Orte, die es eigentlich nicht geben dürfte«, sagte Wenger, dem das Areal nicht behagte. Solche Gegenden wurden mit den Jahren zu rechtsfreien Räumen, in denen sich allerlei Gesindel tummelte. Er hatte das in den USA mehrfach beobachten können. Zuerst verkommt die Gegend, danach verkommen die Sitten. Und die Menschen.

»Die Stadt hätte das Gelände enteignen sollen, wenn die Besitzer nichts Gescheites damit anfingen.«

Stauffer schaute überrascht auf. Solche Aussagen war er von Wenger nicht gewohnt. Aber ihm war aufgefallen, dass er sich häufiger politisch äußerte, seit er noch einmal Vater geworden war.

Nachdem die Rechtsmediziner das Skelett sorgfältig auf eine Bahre gelegt hatten, wie einen Schwerverletzten, dem man keine unnötigen Schmerzen bereiten wollte, gingen Stauffer und Wenger zum großen Eingangstor. Locher war im Gespräch mit einer Polizistin, die das Gelände sicherte. Noch gab es keine Schaulustigen, das Gelände war schlecht einsehbar, am ehesten noch von der S-Bahn aus, die im regelmäßigen Takt vorbeibrauste.

Die drei jungen Männer waren gegangen, dafür stand ein älterer Mann mit einer riesigen Dogge neben einer Holzbaracke und wischte sich mit einem großen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Ein Polizist kam auf Stauffer zu und flüsterte ihm zu, dass das der Mann sei, der das Areal in den vergangenen Jahren betreut hatte. Stauffer machte Wenger ein Zeichen und sie gingen gemeinsam zu dem Mann, der unsicher lächelte, in der einen Hand das Taschentuch und in der anderen Hand die Hundeleine. Die Dogge sah müde aus und die rote Zunge hing runter wie ein alter Lappen.

»Er ist harmlos«, sagte der Mann beschwichtigend und zeigte mit dem Taschentuch in der Hand auf die Dogge.

Wenger, der Hunde nicht mochte, stellte sich neben Stauffer. Der Mann stellte sich als Herr Anwand vor. Stauffer schätzte ihn auf über sechzig. Er war kräftig gebaut und hatte einen großen Schädel mit einer erstaunlich schmalen Nase, die wie ein Fremdkörper wirkte.

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»Wahnsinn«, stammelte er mehrmals, als sie auf das Skelett zu sprechen kamen.

»Können Sie uns sagen, seit wann es hinter der Halle einen Steinhaufen gibt?«, fragte Stauffer.

Anwand schaukelte den Kopf hin und her und tupfte sich immer wieder mit dem Taschentuch über die Stirn.

»Ewig«, sagte er. »Das sind Natursteine. Die hat eine Firma da gelagert. Ist dann aber Pleite gegangen. Ist viele Jahre her. Es gab ja immer wieder Versuche, das Gelände zu vermieten, wenigstens in den ersten Jahren. Danach wurde die Firma aufgekauft von einem Internationalen Konzern und seither kümmerte sich eigentlich niemand mehr groß um das Gelände. Bis vor einem Jahr. Da erhielt ich die Mitteilung, dass sie bauen wollen.«

»Wie hieß die Firma, die die Steine hier lagerte?«

Anwand steckte das Taschentuch in die Hosentasche und tätschelte den Kopf der Dogge, die zu ihm hochschaute.

»Das war eigentlich keine Firma. Ein Mann, der damit handelte. Er wurde aber krank und ihm ging das Geld aus. Er ist, glaube ich, kurz darauf gestorben. Eigentlich hätte ich seine Erben beauftragen sollen, die Steine von dem Grundstück zu entfernen. Aber sie störten ja nicht. Und die Fensterscheiben waren zu diesem Zeitpunkt schon alle eingeworfen worden.

»Und dagegen wurde nichts unternommen?«, fragte Wenger.

»Was glauben Sie?«, rief Anwand empört. »Ich habe jahrelang nach dem Rechten geschaut, auch dann noch, als ich kaum noch dafür bezahlt wurde. Aber da fühlte sich niemand zuständig. Das Gelände gehörte einfach zum Inventar, aber niemand interessierte sich dafür. In den ersten Jahren gab es noch Geld für zusätzliche Zäune. Da hatte ich vorne in der Portierloge ein kleines Büro. Das Gelände wurde ab und zu für Filmdreharbeiten vermietet. Auch für Kinospielfilme. Der Götz George war einmal hier und ein Italiener der aussah wie ein Monsignore. Manieren hatte der. Aber meist waren es Werbefilmer oder Fotografen, die für ihre schönen Modelle einen kaputten Hintergrund brauchten. Einer hat hier fotografiert und danach angegeben, dass die Fotos in New York entstanden seien. Da habe ich bei der Zeitschrift interveniert.«

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»Wir benötigen den Namen des Mannes, dem die Steine gehörten. Der Mann, der gestorben ist.« Stauffer versuchte nicht ungeduldig zu klingen, aber die Hitze machte auch ihm zu schaffen. Er fühlte sich ausgelaugt.

»Natürlich. Baumgartner hieß er. Ich habe den vollständigen Namen und seine damalige Anschrift in den Unterlagen.«

»Und Sie wissen nicht mehr genau, wann die Steine hierher kamen?«

»Vor zehn Jahren. Plus minus ein bis zwei Jahre.«

»Und die Steine lagen immer auf einem Haufen?«, fragte Wenger.

»Mehr oder weniger. Natürlich wurde damit auch Unfug getrieben. Aber bis etwa vor fünf Jahren gab es da hinten einen Holzzaun, den man übersteigen musste, wenn man an die Steine ran wollte. Den Zaun hat jemand angezündet und seither konnte da jeder ran.«

»Ist Ihnen nie etwas aufgefallen?«, fragte Stauffer. »Verwesungsgeruch zum Beispiel?«

»Gestunken hat es ab und zu. Sehen Sie, einige Jahre lang gab es Pennbrüder, die hier übernachteten. Sie machten Feuer, verrichteten die Notdurft in einer Ecke, kotzten überall hin. Dann der Hundekot. Ich fand auch tote Katzen und schon einmal, das ist aber viel länger her, wurde hier einer tot aufgefunden. Ein Fixer.«

Wenger machte sich Notizen. Vorläufig konnten sie nicht ausschließen, dass die beiden Leichen etwas miteinander zu tun hatten.

»Wenn sie hier auf dem Gelände Kontrollgänge machten, schrieben Sie dann jeweils ein Protokoll?«

»Anfänglich schon«, sagte Anwand heftig nickend. »Später interessierte das niemanden mehr. Ich schrieb einmal im Jahr einen Bericht und forderte Geld für Sicherheitsmaßnahmen und eine Sanierung des Geländes. Doch es tat sich nichts. Und jetzt, da gebaut wird, hat man mir gekündigt. Nicht, dass es mich groß belasten würde. Ich habe genug andere Gebäude die ich verwalte. Aber Dankbarkeit kann man heute nicht mehr erwarten. Nirgendwo.«

Stauffer fragte Anwand nach einer Telefonnummer, unter der er erreichbar sei und dieser reichte ihm eine Karte, auf der er sich für die Verwaltung von Gebäuden aller Art anpries. Stauffer sah, dass Locher auf ihn zu warten schien und verabschiedete sich von Anwand. Die Dogge stand sofort auf und

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erwachte zu neuem Leben. Wenger wich zurück und streckte den Arm aus, um sich zu verabschieden. Es sah grotesk aus. Nachdem Anwand gegangen war, fuhr Stauffer zusammen mit Locher auf die Hauptwache, während Wenger sich auf dem Gelände weiter umschauen wollte.

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4.

Obwohl er im Schatten saß, rann ihm der Schweiß von der Stirn und er spürte auch, wie ein kleines Rinnsal unter seinem Arm runterlief. Seit Tagen trug er keine Krawatte, obwohl er es immer unpassend fand, wenn Männer plötzlich wie amerikanische Touristen herumliefen, nur weil es wärmer wurde. Aber diese Hitze hatte es in sich. Vielleicht war es aber auch nur das Alter das er spürte. Manchmal stand er fassungslos vor dem Spiegel und versuchte zu begreifen, was mit ihm geschah. Doch er sah nur dieses Gesicht, das immer mehr Falten kriegte und dessen Haut aussah wie schlechtes Leder. Früher war es ihm egal gewesen, dass ein Jahr ums andere verstrich. Er war sogar dankbar dafür. Aber alles hatte sich geändert an jenem Tag als sie in sein Leben trat. Dabei war es eigentlich umgekehrt. Er war in ihr Leben getreten. Und seither war jede Minute kostbar. Auch diese hier, die er im Schatten verbrachte, allein. Natürlich hätte er mit ihr gemeinsam ins Haus gehen können. In dieses alte baufällige Haus, in dem es immer nach verschimmelten Essensresten stank. Bis heute hatte er nicht begriffen, weshalb sie sich so um ihren jüngeren Bruder sorgte und kümmerte. Als hätte sie ein schlechtes Gewissen. Weil sie keine Gebrechen hatte. Weil sie es so gut hatte in ihrem Leben. Mit ihm. Er schmunzelte und zündete sich eine Zigarette an. Der schmale Weg, der neben dem Haus vorbeiführte war kaum noch auszumachen. Alles war überwuchert. Selbst der Parkplatz auf dem der schrottreife Wagen stand, sah einigermaßen pittoresk aus. Er stellte sich vor, dass eines Tages auch das ganze Haus überwachsen sein würde und sie dann mit einer Hacke bewaffnet bis zu ihrem kleinen Bruder vordringen musste. Die Begrüßung war wie immer sehr knapp verlaufen. Der kleine Bruder mochte ihn nicht. Aber das war nicht ungewöhnlich. Außer seiner Schwester schien er niemanden zu mögen. Er warf die Zigarette zu Boden, ohne einmal inhaliert zu haben. Sorgfältig drückte er sie mit dem Absatz aus. Das Haus befand sich außerhalb der Stadt und man fühlte sich hier wie am Ende der Welt. Keine anderen Häuser weit und breit. Nur der dichte Nadelwald und Gestrüpp. Er hätte nie so leben können. Ohne soziales Umfeld. Ohne Nachbarn, ohne Läden. Er wusste, dass dies einer der wenigen Unterschiede war, zwischen ihr und ihm. Sie hätte auch auf dem Lande, weit ab vom nächsten Dorf glücklich werden können. Deshalb war ihr eigenes Haus eine Art Kompromiss. Am Rande eines Dorfes und doch nicht weit vom Dorfzentrum entfernt.

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Am Abend zuvor hatten sie gehört, dass sich ein befreundetes Paar getrennt hatte. Einfach so, nach über 20 Jahren. Das hatte ihn nachdenklich gestimmt und war vermutlich auch dafür verantwortlich, dass er sich an diesem heißen Tag wieder einmal so richtig bewusst wurde, wie gut er es doch hatte. Aber dachte er nicht jeden Tag so? Er hörte, wie sie sich verabschiedete, sah, wie sie aus dem Haus kam. Diese Grazie, diese Eleganz. Er war sich sicher, dass er sich auch heute sofort in sie verliebt hätte. So wie damals. Sie lächelte, als sie auf ihn zukam.

«Im Haus ist es angenehm kühl», sagte sie und gab ihm einen Kuss.

«Wie geht es ihm», fragte er, ohne dass es ihn wirklich interessiert hätte.

«Er schaut sich im Fernsehen wieder Filme an. Er interessiert sich wieder für andere Dinge. Ich glaube, es geht ihm gut.»

Sie gingen langsam hintereinander her. Der Weg war so schmal, dass sie unmöglich nebeneinander gehen konnten. Als er den Wagen sah, atmete er erleichtert auf. Er stand noch immer im Schatten. Er machte einen Schritt auf sie zu und wollte sie umarmen, aber sie entzog sich und ging neben ihm vorbei, streifte dabei ein Gebüsch.

«Was hast du?», fragte sie.

«Ich dachte nur», sagte er, ohne auszusprechen, was er dachte.

«Wir sollten glücklich sein darüber, dass es ihm gut geht.»

«Sicher», sagte er und ging hinter ihr bis zum Wagen. Sie blieb vor dem Wagen stehen und schaute zurück.

«Von hier aus sieht man das Haus nicht», sagte sie nachdenklich.

«Er wollte es doch so, oder?»

«Aber so ganz ohne Kontakt?», sagte sie.

«Du machst dir Sorgen?», fragte er und strich ihr dabei zärtlich über die Wange.

«Ich möchte einfach, dass es ihm gut geht».

«Vielleicht braucht er Hilfe?»

Sie kniff die Augen ein wenig zusammen und er wusste, dass dies kein gutes Zeichen war.

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«Ich dachte nur», sagte er wieder und öffnete die Wagentür.

«Du hast ihn nie gemocht», sagte sie und es klang vorwurfsvoll.

«Das stimmt nicht», sagte er, aber er wusste, dass sie Recht hatte. «Ich habe einfach nie einen Draht zu ihm gefunden.»

«Sein Leben war so schwierig. Immer.», sagte sie.

«Sicher», sagte er.

Sie stiegen in den Wagen und er fuhr vorsichtig auf die schmale Straße.

«Seine Augen», sagte er und schaute kurz zu ihr.

«Was ist mit seinen Augen?» fragte sie.

«Sie flackern», sagte er.

«Das ist das Leben. Es ist in ihn zurückgekehrt.»

«Schon», sagte er.

«Lass es jetzt gut sein», sagte sie.« Wir könnten etwas essen gehen. Es ist kurz nach zwölf.»

Er nickte.

«Ein Gartenrestaurant wäre jetzt genau das richtige. Mit schönen hohen Bäumen.»

«Oben auf dem Albis, vielleicht? Da weht immer ein leichter Wind.»

«Wunderbar», sagte er, froh darüber, dass sie nicht mehr über ihren Bruder reden wollte.

Sie fuhren schweigend über die Landstraßen. Der Asphalt flimmerte und die Kühe und Schafe lagen im Schatten. Er öffnete leicht die Seitenfenster und genoss den Durchzug. Sie summte ein Lied. Wie im Paradies, dachte er. Er konnte nicht ahnen, dass ein paar wenige Kilometer entfernt in der Stadt ein paar Stunden zuvor drei junge Leute eine Entdeckung gemacht hatten, die sein kleines Paradies schon bald stören sollte.

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5.

Auch wenn es Wenger noch nicht laut ausgesprochen hatte, aber für ihn sah alles nach einem Verbrechen aus. Oder besser, die Atmosphäre am Leichenfundort, deutete auf ein Verbrechen hin. Es gab Fakten die ebenfalls dafür sprachen. Wenn der Mann eines natürlichen Todes gestorben war, hätte jemand die Polizei benachrichtigen können. Auch das Begraben eines Selbstmörders machte nicht viel Sinn. Vor allem der immense Aufwand sprach dagegen. Jemanden in der gelockerten Erde verscharren war einfacher. Er sah noch einmal konzentriert auf den Steinhaufen und versuchte sich jedes Detail einzuprägen. Gab es eine spezielle Schicht von Steinen, die auf dem Skelett lagen? Er hob einen der großen Brocken an. Wenn es ein einzelner Mann gewesen war, dann musste er kräftig sein. Sehr kräftig und ausdauernd. Vom Steinhaufen bis zur Straße gab es ein weiteres Grundstück, das ebenfalls so aussah, als hätte sich seit Jahren niemand darum gekümmert. Jetzt, da die Gebüsche hoch standen, konnte niemand von außerhalb des Grundstücks Wenger sehen. Sollten damals tatsächlich Zäune das Grundstück gesichert haben, dann hätte sich der Täter Zeit lassen können. Weshalb aber trafen sich Täter und Opfer auf dem Grundstück? Kletterten sie zusammen über einen der Zäune? Was wollten sie hier? Er hoffte, dass die gerichtsmedizinische Untersuchung keine Zweifel daran ließ, dass es sich um Mord handelte. Damit sie Klarheit hatten. Wenger ging zurück bis zur Fabrikhalle und musterte die Graffitis auf der Mauer. Er sah wie ein Team vom wissenschaftlichen Dienst eintraf, kannte aber keinen der Mitarbeiter. Die Leute nickten ihm zu und machten sich an die Arbeit.

Wenn er erschossen worden ist, könnte die Kugel irgendwo in dem Steinhaufen liegen, dachte Wenger. Bei allen anderen Tötungsarten wurde es schwieriger, Beweise zu finden. Er stand unter dem Schatten eines hohen Sommerflieders und schaute schweigend zu, wie sich die drei Männer und eine Frau daran machten, Stein für Stein zu untersuchen. Sie trugen weiße Überzüge, die in der Hitze Sonnenlicht reflektierten. Es musste eine Qual sein, in diesen Überzügen und mit den Handschuhen zu arbeiten. Und das, obwohl es kaum denkbar war, dass noch Mikrospuren gefunden werden konnten, die mit dem Toten in Verbindung standen. Doch Wenger schätzte diese Professionalität. Viele Jahre hatte er sie vermisst. Spuren die vernichtet, Akten die verschlampt worden waren. Er erinnerte sich an einen Gerichtsfall, in dem

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ein Angeklagter nicht zweifelsfrei überführt werden konnte, weil die Ermittler am Tatort geschlampt hatten. Damals war Wenger nahe dran gewesen, seinen Beruf an den Nagel zu hängen. Aber einerseits sah er für sich keine bessere Perspektive und andererseits war es genau dieser Fall, der ein Umdenken im Polizeikorps ausgelöst hatte. Seither wurde der Aus- und Weiterbildung viel mehr Platz eingeräumt und die Erkenntnisse im Ausland flossen in die tägliche Arbeit mit ein. Genau so wie seine Erfahrungen, die er in den USA sammeln konnte. Ein wenig beneidet hatte er seine amerikanischen Kollegen schon, weil sie viel öfter interessante Fälle lösen mussten. Doch mit diesem Fall könnte er vielleicht sogar amerikanische Kollegen neidisch machen. Wenn es denn ein Fall war.

Eigentlich absurd, dachte er. Ich hoffe, dass dieser arme Kerl ermordet worden ist. Weil meine Arbeit dadurch interessanter wird. Als ein Handy klingelte dauerte es einen Moment bis ihm bewusst wurde, dass es sein eigenes war. Locher war am Apparat. Offenbar hatte Fontini eine erste Liste mit in Frage kommenden Vermissten erstellt. Fünf männliche Personen, die im Verlaufe der letzten zwanzig Jahre spurlos verschwanden, ohne einen Hinweis darauf, dass sie es freiwillig taten. Denn das kam öfter vor, als man glaubte. Vor allem bei Männern. Sie wollten noch einmal von vorne beginnen, weg aus dem Alltag, weg von der Familie, weg von den Schulden. Ein Gedanke, der auch Wenger immer wieder faszinierte. Einfach weggehen und woanders neu beginnen. Seltsam, dass ich jetzt wieder daran denke. Jetzt wo ich wieder glücklich bin. Tatsächlich gab es derzeit keinen Grund für ihn, sein Leben vollständig zu ändern. Er war wieder mit einer Frau zusammen, die er liebte und sie hatten gemeinsam eine Tochter, für die er sein Leben geopfert hätte. Und trotzdem war da dieser Gedanke. Was wäre wenn? Was, wenn der Tote ebenfalls abgehauen war? Vielleicht lebte er in einem anderen Land, haute ab in die Schweiz und kam hier zu Tode? Hoffentlich gaben die Kleidung und die Schuhe etwas her. Einen Hinweis darauf, wo sie gekauft worden waren.

Obwohl es keinen Grund gab, länger am Leichenfundort zu verweilen, blieb Wenger noch eine halbe Stunde. Dabei stellte er sich immer wieder die eine Frage: Was ist damals geschehen? Wenn doch die Steine ihm eine Antwort liefern könnten. Warum eigentlich nicht?, dachte er. Waren sie nicht Zeugen des Verbrechens? Er schaute auf den Stamm des Sommerflieders, der vermutlich auch schon über zehn Jahre da stand. Noch ein Zeuge. Er berührte

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den Baum, als könne er dadurch eine Verbindung herstellen. Er wusste, dass andere ihn dafür ausgelacht hätten.

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6.

Die ganze Fensterfront war offen und es drang Verkehrslärm in den Raum. Ab und zu wehte ein leichter Wind, aber es war jeweils nur ein Hauch und dieser Hauch blies heiße Luft in den Raum. Manuel Fontini trank ein eisgekühltes Glas Wasser und ging die kurze Liste durch, die er in seinem Notebook gespeichert hatte. In den vergangenen Wochen und Monaten hatte er genügend Zeit gehabt, um an seinem Programm zu arbeiten und die elektronische Erfassung älterer ungeklärter Mordfälle voranzutreiben. Jetzt gab es eine neue Leiche und damit wurde seine Arbeit wieder konkreter. Zwar war er sich immer bewusst, dass es reale Personen waren, deren Vergangenheit er in seinem Programm abspeicherte, aber es war natürlich doch jedes Mal etwas anderes, wenn er es mit einer neuen Leiche zu tun bekam. Ihm schauderte allerdings bei dem Gedanken, sich das Skelett anzuschauen, das in Zürich gefunden worden war. Sofort nachdem ihn Wenger angerufen hatte, suchte er nach geeigneter Literatur und nach hilfreichen Seiten im Internet. Doch offenbar war es äußerst schwierig genau zu bestimmen, wie lange ein Skelett herumgelegen hatte, ehe es aufgefunden wurde. Zehn bis zwanzig Jahre waren eine sehr große Zeitspanne. Er konnte sich nicht vorstellen, wie viele Menschen in dieser Zeit spurlos verschwanden und als Opfer in Frage kamen. Deshalb hatte er sofort Lorenz Blaser kontaktiert. Einen erfahrenen Polizisten, der sich in den vergangenen Jahren um unzählige Vermisstenfälle gekümmert hatte. Als Blaser erschien, wunderte sich Fontini über dessen Aussehen. Er hatte ihn ganz anders in Erinnerung. Hatte er seine Haare gefärbt? Ein paar Kilogramm abgenommen? Fontini erkannte die Gesichtszüge, auch wenn diese kontrastreicher wirkten als früher. Er scheint seine Lebensgewohnheiten umgestellt zu haben, dachte Fontini. Sieht gesünder aus. Oder gibt sich Mühe, gesünder auszusehen.

»Ein Skelett?«, fragte Blaser und setzte sich ans obere Ende des langen Tisches.

»Männlich, vermutlich zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt, als er starb. Kann 10 bis 15 Jahre her sein.«

Blaser lachte.

»Und wo stecken Stauffer und Wenger?«

»Stauffer und Locher kommen gleich.«

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»Aha«, sagte Blaser und kratzte sich am Ohr. »Gehört Wenger nicht mehr zur Truppe?«

»Doch«, sagte Fontini, ohne weitere Erläuterung.

»Unglaublich, diese Hitze.«

Fontini antwortete nicht. Er bemerkte, dass sich Blaser mit einem Taschentuch die Stirn tupfte.

»Kaltes Wasser hilft«, sagte er und schob die Flasche Mineralwasser in Richtung Blaser. Dieser nickte, machte aber keine Anstalten aufzustehen. Doch wenig später, als Stauffer und Locher den Raum betraten, sprang Blaser beinahe auf, als hätte jemand eine Feder in seinem Stuhl aktiviert. Er reichte beiden die Hand, während Fontini lediglich die Hand zum Gruß hob. Blaser setzte sich neben Fontini, Stauffer und Locher saßen ihnen gegenüber.

»Was wir jetzt von dir benötigen sind ein paar grundlegende Informationen«, sagte Stauffer und zeigte mit einem Bleistift auf Blaser.

»Nur zu«, sagte Blaser.

»Wir gehen davon aus, dass der Mann, der heute skelettiert gefunden wurde, irgendwann einmal als vermisst gemeldet worden war«, sagte Locher.

»Das ist anzunehmen«, sagte Blaser. »Er muss aber nicht zwangsläufig in Zürich gelebt haben. Es könnte auch ein Ausländer sein, der vielleicht nur ein paar Tage in Zürich war.«

»Keine Spekulationen vorerst«, sagte Stauffer. Blaser rückte auf seinem Stuhl etwas zurück.

»Wie viele Personen kommen in Frage«, fragte Locher. »Ich meine, wie viele Menschen verschwinden in der Schweiz spurlos über einen Zeitraum von sagen wir 20 Jahren?«

«Man muss zwischen verschiedenen Gruppen unterscheiden. Etwa 80 Prozent der Vermissten tauchen relativ rasch wieder auf. Vom Rest taucht ebenfalls noch ein recht großer Prozentsatz nach einiger Zeit wieder auf. Es bleiben aber etwa 100 Personen jährlich, die verschwinden und nicht wieder auftauchen.«

Die Zahl löste sowohl bei Stauffer und Locher als auch bei Fontini erstaunen aus.

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»Diese spurlos Verschwundenen kann man in drei Kategorien einteilen: Zunächst Verunglückte und Selbstmörder, die sich einen Ort suchen an dem sie nicht so schnell gefunden werden. Dann natürlich die Menschen, die verschwinden möchten, die irgendwo ein neues Leben anfangen. Die tauchen unter weil sie beispielsweise finanzielle oder existentielle Probleme haben, oder auch weil sie auf unseren Fahndungslisten stehen. Und dann gibt es noch diejenigen, die einem Verbrechen zum Opfer fallen. Die genaue Zahl ist nicht bekannt. Aber es dürften nicht allzu viele sein. Bei Kindern ist dies sehr oft der Fall, auch wenn es in den vergangenen Jahren immer wieder Fälle von Entführungen gab. Ihr habt sicher darüber gelesen. Mütter oder Väter, die ihre eigenen Kinder entführen, weil sie das Sorgerecht nicht erhalten haben.«

»Wie ist das Verhältnis bei den Geschlechtern? Verschwinden mehr Männer als Frauen?« Locher machte sich Notizen, obwohl sie wusste, dass Stauffer von Blaser einen schriftlichen Bericht verlangen würde. Doch es half ihr, sich zu konzentrieren.

»Eindeutig«, sagte Blaser. »Zudem ist es so, dass, wenn ein Mann verschwindet, ein freiwilliges Verschwinden oder ein Selbstmord mehr in Erwägung gezogen wird als bei einer Frau. Wenn eine Frau spurlos verschwindet, sagt uns die Wahrscheinlichkeit, dass eher ein Unfall oder ein Verbrechen dahinter steckt. Aber grundsätzlich kommt alles in Frage.«

»Wie viele Personen von denen, die in den vergangenen zwanzig Jahren verschwunden sind, kommen in Frage?«, Stauffer suchte nach einer geeigneten Formulierung, fand aber keine.

»Du meinst, wie viele könnten das Skelett sein, das gefunden wurde?« Locher versuchte zu helfen, doch auch sie war mit ihrer Frage nicht zufrieden. Offenbar war es auch sprachlich schwierig ein Skelett mit dem Namen eines Menschen in Verbindung zu bringen. Skelette sind etwas, was in Schulräumen herumsteht und das man in Museen besichtigen kann.

»Es gibt verschiedene Parameter um die Suche einzuschränken«, sagte Fontini.« »Geschlecht, ungefähres Alter, Fundort und letzter Wohnort, sogar der Beruf könnte einen Hinweis liefern.«

Stauffer schaute ihn fragend an.

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»Ein Monteur kommt viel herum. Ein Büroangestellter kaum. Aber das ist nicht entscheidend. Wie gesagt, Geschlecht, Alter und Größe sind zuerst einmal die wichtigsten Faktoren.«

»Wir haben alle spurlos Verschwundenen mit einem Klassifizierungsmerkmal versehen. Eine ‚range’ von Eins bis Fünf. Eins bedeutet, ein Verbrechen ist eher unwahrscheinlich, Fünf bedeutet, dass es eindeutige Indizien und Hinweise auf ein Verbrechen gibt.«

»Wir wissen noch nicht, ob unser Skelett einem Verbrechen zum Opfer fiel«, sagte Stauffer und alle lachten über den Satz.

»Ich würde auf mindestens eine Vier tippen», sagte Locher.

»Ihr müsst versuchen den Zeitraum besser einzugrenzen. Eine ‚range’ von zehn Jahren ist sehr groß.»

Stauffer überlegte, welches deutsche Wort er für das Wort „range“ benutzen würde, doch es fiel ihm keines ein. Die Hitze schien das Gehirn zu lähmen.

»Die Zähne sind gut erhalten. Vielleicht hatte der Mann auch Knochenbrüche.« Locher dachte an ihren eigenen Bruch im Schienbein, der sie heute noch ab und zu schmerzte, wenn das Wetter umschlug.

»Knochenbrüche sind hilfreich», sagte Fontini. Niemand widersprach ihm.

Skala, dachte Stauffer. Eine Range war eine Skala. Aber war eine Skala deutsch?

»Ich habe zusammen mit Lorenz eine kleine Liste erarbeitet. Es sind genau ein Dutzend Personen. Mit denen sollten wir beginnen.» Fontini zeigte auf seinen Computer.

»Wir warten zuerst den Bericht der Gerichtsmediziner ab«, sagte Stauffer, dem das Wort Bandbreite einfiel.

»Wir könnten schon mal einige der Angehörigen ausfindig machen«, sagte Fontini unverdrossen.

»Nein, Stauffer hat Recht. Wartet bis ihr konkretere Anhaltspunkte habt. Wir werden unterdessen routinemäßig alle in Frage kommenden Fälle durchgehen.«

»Und warum nicht gleich mit der Arbeit beginnen?«, fragte Fontini.

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»Wir haben einen Toten gefunden«, sagte Stauffer. »Wenn wir jetzt die Angehörigen von Dutzenden von vermissten Personen aufsuchen wecken wir unzählige Hoffnungen. Wenn jemand so lange vermisst wird, hoffen die Angehörigen insgeheim, dass irgendwann die Leiche gefunden wird. Damit sie Ruhe haben. Eine spurlos verschwundene Person ist schwerer zu ertragen auf Dauer als ein Toter.«

Fontini konnte diesen Gedanken nachvollziehen, aber sollten nicht alle, die jemanden seit vielen Jahren vermissten interessiert daran sein, dass wenigstens einer der Fälle schnell aufgeklärt werden konnte?

»Unser Archiv steht euch jederzeit zur Verfügung. Und mich könnt ihr jederzeit anrufen. Wir sind ja sozusagen spezialisiert auf hoffnungslose Fälle. Wenn einer davon einmal ganz zu den Akten gelegt werden kann, macht uns das schon fast glücklich.«

Blaser lachte und stand auf. Diesmal gab er allen die Hand, auch Fontini, der sich nicht entscheiden konnte aufzustehen und sich deshalb nur leicht von seinem Stuhl erhob.

»Ich möchte, dass die Informationen über die in Frage kommenden Fälle auf unser System geladen werden«, sagte Stauffer und nickte Fontini zu. »Alle Daten sollten jederzeit abrufbar sein.«

»Das gibt enorm viel Arbeit«, sagte Fontini. «Ich schlage vor, dass wir zuerst nur die wichtigsten Informationen in die Datenbank geben. Personalien, Jahr und Umstände des Verschwindens. Und vielleicht noch die Namen der nächsten Angehörigen.«

Locher trommelte laut auf ihrem Notizblock.

»Wenn jemand verschwindet werden die Angehörigen doch auch gefragt, was dieser Mensch zuletzt für Kleider trug?«

»Das ist gut«, sagte Stauffer.

»Das sollte in den Akten vermerkt sein«, sagte Fontini.

»Dann haben wir schon etwas, das wir abgleichen können«, sagte Stauffer.

»Wird gemacht«, sagte Fontini erfreut und klappte sein Notebook zu.

Sie standen auf. Locher steckte den kleinen Notizblock in ihre Hosentasche. Stauffer überlegte, ob er die Fenster schließen sollte, falls es am Abend ein Gewitter geben sollte. Aber der Himmel sah nicht nach danach aus.

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7.

Stauffer wunderte sich immer wieder von neuem über die vielen Geräte und Computer mit denen kleinste Spuren analysiert wurden. Das Kriminaltechnische Institut in Zürich wurde landesweit hinzugezogen, wenn es darum ging einen Fall mit wissenschaftlich-technischen Hilfsmitteln zu lösen, oder es zumindest zu versuchen. Mehrere Brandstiftungen in der Schweiz konnten in den vergangenen Jahren nur dank der Mitarbeit des Zürcher Institutes aufgeklärt werden. Doch jetzt ging es nicht um einen Brand, jetzt ging es um die Kleider eines Toten. Während er zusammen mit Locher einen Kaffee trank und auf Auskünfte wartete, stellte er sich vor, was man in zehn oder zwanzig Jahren über die Kleider die er gerade trug herausfinden könnte. Vermutlich wäre das meiste zerfallen, weil es keine gute Qualität war. Aber waren es nicht gerade Billigkleider aus Kunststoff, die auf die Dauer unverwüstlich blieben? Er erinnerte sich daran in einem Fortbildungskurs gehört zu haben, dass Wolle sich nach etwa 20 Jahren völlig zersetzt. Er konnte sich aber nicht mehr daran erinnern, ob Baumwolle ähnlich lange haltbar war. Baumwolle war der Stoff, der am häufigsten getragen wurde. Unterwäsche, Socken, Hemden.

»Trägst du eigentlich Markenklamotten?«, fragte Locher unvermittelt. Offenbar hatte sie sich ähnliche Gedanken gemacht wie Stauffer.

»Nichts, das einen bekannten Namen trägt«, sagte Stauffer.

»Glaubst du, dass uns die Kleider tatsächlich weiterbringen?«

»Es gibt andere Menschen, die ihn in seiner Kleidung gesehen haben. Auch wenn es lange her ist. Jemand könnte sich daran erinnern. Und natürlich können wir hoffen, dass er irgendetwas Ausgefallenes trug. Seine Schuhe zum Beispiel. Die sahen teuer aus.«

Locher pflichtete ihm bei. Sie stellte den leeren Kaffeebecher auf den Fenstersims und zeigte auf eine Frau, die auf sie zukam. Stauffer hatte die Frau noch nie gesehen und ging etwas linkisch auf sie zu.

»Bachmann«, sagte die Frau während eines überraschend kräftigen Händedrucks. Sie lud Stauffer und Locher in ein Zimmer ein, in dem es schwach nach Zitronen duftete. Stauffer schaute sich um und entdeckte auf einer Kommode eine Duftlampe.

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»Das soll angeblich gut für die Psyche sein«, sagte Frau Bachmann achselzuckend. Sie setzten sich. Frau Bachmann überflog ein paar Seiten, die mit einer Büroklammer zusammengeheftet waren.

»Das Wichtigste vorab«, sagte sie und schaute kurz auf. »Wir fanden keinerlei persönliche Dinge in den Taschen des Toten. Er trug auch keine Uhr und keinen Schmuck. Die Kleidung, soweit sie noch als solche zu erkennen ist, deutet darauf hin, dass er Wert auf ein gepflegtes Äußeres legte. Die Lederjacke wurde in England hergestellt. Wir sind dabei abzuklären, ob die Firma noch existiert. Der Hersteller des Hemdes kann aufgrund des Verfalls nicht mehr identifiziert werden. Die Schuhe aber sind ganz eindeutig von der Firma Bally.«

Stauffer schaute auf. Während Frau Bachmann sprach hatte er den Kopf gesenkt und dabei seine Schuhspitzen betrachtet.

»Feinste Schweizer Qualität«, sagte Locher. Stauffer glaubte sich daran erinnern zu können, dass die Firma Bally seit längerem nicht mehr in Schweizer Besitz war, doch damals, als der Mann starb, war zumindest in dieser Hinsicht noch alles in Ordnung gewesen. Doch dann fiel Stauffer ein, dass Bally schon vor längerer Zeit einmal wegen einer Übernahme in den Schlagzeilen war. Lang war es her, seit die Firma in der Schweiz Schweizer Schuhe produzierte und die Schweizer mit ihrer stolzen Swissair in die Ferien flogen.

»Die Schuhe sind in einem ausgezeichneten Zustand. Wir sind zuversichtlich, dass wir das genaue Modell eruieren können. Wenn wir das Modell haben, wissen wir auch, in welchen Jahren es verkauft wurde.«

So einfach ist das, dachte Stauffer. Vielleicht sollte ich mir wenigstens teure Schuhe leisten, damit meine Leiche später einmal identifiziert werden kann, falls dies notwendig werden sollte.

»Können Sie anhand der Kleidung bestimmen, wann der Mann sie getragen hat?«

Frau Bachmann schmunzelte über die Frage. Stauffer schaute sie irritiert an.

»Ich würde auf einen Frühling tippen. Frühling oder Herbst.«

»Wegen der Lederjacke«, fragte Locher.

Frau Bachmann nickte.

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»Es könnte aber genauso ein kühler Sommertag, oder ein warmer Wintertag gewesen sein. Vielleicht war der Mann im Auto unterwegs, da spielt es keine so große Rolle, was man trägt.«

Stauffer hatte es kaum ausgesprochen, als ihm auch schon einfiel, wonach sie am Tatort ebenfalls noch suchen sollten. Ein Auto, das vielleicht lange herumstand, ehe es verschrottet wurde. Dass es heute immer noch dastehen würde, konnte er sich nicht vorstellen.

»Ist an der Kleidung irgendetwas speziell? Vielleicht eine Reparatur?«

Frau Bachmann schüttelte den Kopf.

»Wir fanden Mikrospuren in den Taschen der Jacke. Und natürlich auch an den Schuhsohlen. Wir werden alles analysieren, die Wahrscheinlichkeit, dass es zur Identifizierung des Toten beiträgt ist allerdings eher gering.«

»Und die Jacke ist intakt?«, fragte Locher.

Frau Bachmann schüttelte den Kopf.

»Sie hat Risse und Löcher. Das muss aber nichts bedeuten. Aber wir werden selbstverständlich die Ränder der Risse danach untersuchen, ob möglicherweise ein Projektil oder ein Messer für die Schäden verantwortlich waren.«

»Das können Sie nach so vielen Jahren nachweisen?«, fragte Stauffer verblüfft.

»Wir werden es auf alle Fälle versuchen. Mikrospuren sind oft langlebiger als die Materialien, auf denen sie sich niedergelassen haben.«

Stauffer fragte sich, ob möglicherweise sogar Fingerabdrücke nach so langer Zeit noch gesichert werden konnten. Er wusste viel zu wenig über die Möglichkeiten modernster Laboreinrichtungen. Vielleicht sollte er doch wieder einmal einen Fortbildungskurs belegen. Wenger besuchte ständig solche Lehrgänge und seine Vorgesetzte hatte Stauffer auch schon nahegelegt, seinen Mitarbeitern auch in dieser Hinsicht ein Vorbild zu sein.

»Können wir die Kleider anschauen?«, fragte Locher.

»In ein bis zwei Tagen. Wir wollen sicher gehen, dass wir auch die kleinsten Partikel sichergestellt haben.«

»Das ist gut«, sagte Stauffer, nur um irgendetwas zu sagen.

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Es begann leicht zu regnen, als sie das Gebäude verließen. Sie fuhren schweigend ins Gerichtsmedizinische Institut. Ausnahmsweise hatte Stauffer kein mulmiges Gefühl, als sie die kühlen Räume betraten. Ein Skelett ist für den Magen leichter verträglich als eine entstellte Leiche, dachte er und wusste sogleich, was es war, das ein Skelett erträglicher machte. Das Gesicht war weg. Das Gesicht machte einen Menschen aus. Seine individuellen Züge, seine Eigenheiten, alles spiegelte sich im Gesicht. Vielleicht wurden deshalb früher Menschen enthauptet. Man wollte sie nicht nur töten, man wollte sie auslöschen. Jetzt lag das Skelett ohne Kleidung auf einem Seziertisch. So sieht ein Mensch aus, der von der Natur zu Ende seziert wurde, dachte Stauffer. An uns ist es, ihm wieder ein Gesicht zu geben, ihn aus der Vergessenheit zurückzuholen.

Der Gerichtmediziner war jung und sah durchtrainiert aus. Und er hatte ein gebräuntes Gesicht, das nicht ins Neonlicht des Raumes passte. Vielleicht will er besonders gesund aussehen, hier inmitten all der Leichen, dachte Stauffer.

»Der Mann war zwischen 20 und 30 Jahre alt. Seine Zähne sind in einem guten Zustand, sie wurden regelmäßig gepflegt.«

Der Gerichtmediziner schaute zu Locher, als erwarte er von ihr eine Frage oder eine Bestätigung.

»Also kein Drogensüchtiger.« Sie sagte es nachdenklich.

»Eher nicht.«

»Das kann man an den Zähnen erkennen?», fragte Stauffer.

»Heroin hat einen verheerenden Einfluss auf die Zähne«, sagte Locher. »Zudem pflegen sich Drogensüchtige nicht mehr regelmäßig. Die meisten haben schon nach wenigen Jahren miserable Zähne.«

»Ich könnte Ihnen ein aktuelles Beispiel zeigen«, sagte der Gerichtsmediziner lächelnd und zeigte auf die Kühlfächer.

»Und wenn er Kokain genommen hat?«, fragte Stauffer.

Der Gerichtsmediziner lächelte erneut, ohne aber auf die Frage einzugehen.

»Verfärbungen an den Zähnen lassen darauf schließen, dass der Mann rauchte. Am Skelett selber fallen zwei Knochenbrüche auf. Einer am Schlüsselbein, sowie zwei Rippen. Die Wirbelsäule ist leicht verbogen, der Mann dürfte ab und zu Rückenschmerzen gehabt haben. Er war groß. Knappe

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2 Meter. Am ehesten dürfte eine Identifizierung durch einen odontologischen Vergleich möglich sein.«

Locher schaute ihn fragen an.

»Wir müssen seinen Zahnarzt finden«, sagte Stauffer.

»Ach so«, sagte Locher. »Heißt das, wir verschicken Röntgenbilder der Zähne des Skeletts an Tausende von Zahnärzten in der Schweiz?«

»Ja«, sagte Stauffer. »Und wir müssen auch jene berücksichtigen, die in den vergangenen 20 Jahren ihre Praxis aufgaben oder starben.«

»Da scheint es mir eher wahrscheinlich, dass er anhand der Kleidung die er trug von irgendjemand identifiziert wird«, sagte Locher. Der Gerichtsmediziner nickte.

»Zähne und Knochenbrüche könnten endgültige Klarheit schaffen, aber vermutlich ist es einfacher, zuerst einmal in der Vermisstenkartei nach möglichen Namen zu suchen.«

»Noch wissen wir nicht, ob wir für den Toten zuständig sind.«

»Ich glaube schon«, sagte der Gerichtmediziner und setzte ein breites Grinsen auf.

»Er wurde ermordet?«, fragte Locher interessiert.

»Hier«, sagte der Gerichtsmediziner und zeigte auf eine Rippe. Stauffer und Locher traten näher und beugten sich über das Skelett.

»Ich erkenne nichts«, sagte Stauffer.

»Ein Riss?«, fragte Locher, die ebenfalls keine besondere Auffälligkeit entdecken konnte.

»Eine kleine schmale Furche auf der Rippe. Verursacht vermutlich durch einen spitzen Gegenstand. Nicht untypisch für eine Verletzung durch ein Messer. Und es kommt noch besser. Am Leichenfundort wurde eine kleine Metallspitze gefunden. Keine fünf Millimeter lang. Mit dem Rasterelektronenmikroskop kann die Metallspitze dahingehend untersucht werden, ob sie für die Verletzung der Rippe verantwortlich war.«

»Dann war es also ein Mord? Und wir haben sogar einen Splitter der Tatwaffe? Das ist nicht schlecht, nach so vielen Jahren.«

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»Details erfahren Sie in ein bis zwei Tagen. Die genaue Analyse der Knochen dauert etwas länger. Giftstoffe lagern sich teilweise in den Knochen ab. Allerdings bezweifle ich, dass dieser Mann vergiftet wurde.«

»Was ist mit der Schädeldecke? Sie sieht zertrümmert aus.« Stauffer zeigte auf eine der Schläfen, die eingedrückt war.

»Auf dem Skelett lagen mehrere Schichten Steine. Die sind vermutlich für die postmortalen Verletzungen verantwortlich.«

Als sie zurückfuhren, überlegte Stauffer, wo sie ansetzen sollten. Derzeit gab es keinen anderen aktuellen Mordfall an dem sie arbeiteten. Am Montag waren all seine Leute wieder verfügbar. Es würde ein hartes Stück Arbeit werden. Und vielleicht undankbar enden, denn es konnte nicht ausgeschlossen werden, dass die Identität der Leiche ein Rätsel blieb. Er wusste, dass es in den vergangenen Jahren öfter solche Fälle gegeben hatte. Erst vor ein paar Wochen hatte er mit einem Kollegen aus Sachsen darüber gesprochen. Die Leute reisten viel mehr als früher und es gab unzählige Menschen, die jahrelang in Europa herumtingelten ohne einen festen Wohnsitz zu haben. Immerhin sprachen die teuren Schuhe gegen einen Obdachlosen.

»Irgendwie passt das alles nicht zusammen«, sagte Locher unvermittelt. »Was hat ein Mann der sich gut kleidet auf einem verwaisten Fabrikgelände zu suchen?«

»Darüber können wir nur spekulieren.«

»Wenn auf dem Gelände mit Drogen gehandelt wurde, dann hätten wir eine Erklärung. Damals kam Kokain als Modedroge auf. Da gab es viele Manager und andere Gutverdienende, die sich den Stoff auf der Straße besorgten.«

Stauffer schaute sie skeptisch an.

»Damals gab es in Zürich eine offene Drogenszene in der sich jeder alles besorgen konnte. Es gab doch gar keinen Grund für einen Drogendeal auf das Fabrikgelände zu gehen. Was wir jetzt brauchen könnten, wäre so etwas wie eine digitale Bibliothek, Fotos und Filme von damals, eine Dokumentation des Fabrikgeländes, etwas das zeigt, wann dieser Steinhaufen zum ersten Mal auftaucht.«

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Locher klatschte in die Hände und Stauffer erschrak derart, dass er die Bremse antippte.

»Das Gelände wurde doch oft für Filmaufnahmen verwendet. Wenn wir die Filmproduktionsfirmen abklappern, kommen wir vielleicht zu dem gewünschten Material. Vielleicht ist der Steinhaufen sogar auf einem Werbespot zu sehen.«

»Wohl wahr«, sagte Stauffer und machte in Gedanken einen Plan, wen er für welche Arbeit einsetzen wollte. Sie würden nicht darum herumkommen, mit Angehörigen vermisster Männer zu sprechen. Dafür hatte er sich und Tanja Locher vorgesehen. Wenger konnte sich um die Zusammenhänge von Kleidung, Tatwaffe und Tatort kümmern. Die anderen konnten sich mit der Geschichte des Fabrikgeländes abmühen. Zuerst aber wollte er der naheliegendsten Spur nachgehen.

»Der Mann, der damals die Steine auf dem Gelände lagerte. Wir müssen herausfinden, ob er etwas mit dem Tod des Mannes zu tun hatte. Weißt du noch, wie er hieß?«

»Ulrich Baumgartner«, sagte Locher.

» Wenn dieser Baumgartner in Zürich wohnte, wissen wir schon bald, ob er noch lebende Verwandte hat«

Sie fuhren schweigend weiter. Als sie vor einem Fußgängerstreifen anhielten, scherte ein Wagen hinter ihnen aus und überholte. Zwei Frauen, die gerade dabei waren die Straße zu überqueren blieben erschrocken stehen, als der Wagen keinen halben Meter vor ihnen vorbeifuhr. Stauffer memorierte die Autokennzahl bis Locher bestätigte, sich die Nummer notiert zu haben. Viel konnten sie nicht unternehmen, aber ein Anruf der Polizei konnte die Leute manchmal wenigstens für ein paar Wochen wieder zur Vernunft bringen.