Rogers1957a

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Carl R. Rogers Die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Persönlichkeitsentwicklung durch Psychotherapie Im Jahr 1957, bei einem Vortr vor dem Counseling Center Staff an der Universität von Chico machte Rogers zunächst nicht viel Eindruck mit seiner, wie es vielen schien, allzu simplen Theorie über Psychotherapie und Persönlichkeitsveränderung, an der den Experten auch eine Menge wichtiger Kenntnisse zu fehlen schien. Tatsächlich entpuppte sich dieser Auatz jedoch bald als einer von Rogers' fruchtbarsten Beitren auf dem Gebiet der Psychotherapie und wurde eine seiner heuristisch wichtigsten Schriften: Er gab damit den Anstoß zu einer ganz außer- ordentlichen Fülle von Forschungsarbeiten, die in der Folge von ihm selbst und weltweit von vielen anderen in Angriff genommen wurden - und dabei eine weiehende Bestätigung vieler Elemente brachten. Heute gilt der Artikel als ein Klassiker der Fachliteratur. Diese Thesen haben die Psychotherapieforschung und das Verständnis von Psychotherapie nicht nur im klientenzentrierten Bereich nachhaltig beeinfiußt. Das Modell hat sich als sehr lebensfähig erwiesen. Ungeach- tet zahlreicher »Ergänzungs- und Uminterpretationsversuche« durch andere stand Rogers bis zuleꜩt zu diesem Artikefl und bezog sich in seinen Arbeiten - in denen er die hier aufgestellten Bedingungen für Persönlichkeitswachstum noch oft und immer genauer beschrieb - immer wieder darauf Nach wie vor bildet dieses Modell die wichtigste Grundlage für das Verständnis nicht nur der psychotherapeutischen, sondejeder helfenden Biehung. Wie Rogers selbst schreibt, handelt es sich hier um einen Ausschnitt aus einer größeren theoretischen Konzeption, an der er 1957, dem Jahr der Enʦtehung dieses Artikels, gerade arbeitete und die er 1959 1 Vgl. etwa das 1983 geführte Interview Rogers, CR. / Heppner, P.P. / Rogers, ME./ Lee, L.A, Gart Rogers: Refiections on his lif in: Joual of Counseling and Development 63 (1984) 14-20; dt.: Carl Rogers: Betrachtungen über sein Leben, in: itschrift für Personenzentrierte Psychologie und Psychotherapie 2 (1985) 207-213, hier 209. inweis: Kursiv geschriebene Anmerkungen wurden der besseren Verständlichheit halber bei der Überseꜩung von mir eingefügt. pfs] 165

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Carl R. Rogers

Die notwendigen und hinreichenden

Bedingungen für Persönlichkeitsentwicklung

durch Psychotherapie

Im Jahr 1957, bei einem Vortrag vor dem Counseling Center Staff an der

Universität von Chicago machte Rogers zunächst nicht viel Eindruck mit

seiner, wie es vielen schien, allzu simplen Theorie über Psychotherapie

und Persönlichkeitsveränderung, an der den Experten auch eine Menge

wichtiger Kenntnisse zu fehlen schien. Tatsächlich entpuppte sich dieser

Aufsatz jedoch bald als einer von Rogers' fruchtbarsten Beiträgen auf

dem Gebiet der Psychotherapie und wurde eine seiner heuristisch

wichtigsten Schriften: Er gab damit den Anstoß zu einer ganz außer­

ordentlichen Fülle von Forschungsarbeiten, die in der Folge von ihm

selbst und weltweit von vielen anderen in Angriff genommen wurden -

und dabei eine weitgehende Bestätigung vieler Elemente brachten. Heute

gilt der Artikel als ein Klassiker der Fachliteratur.

Diese Thesen haben die Psychotherapieforschung und das Verständnis von Psychotherapie nicht nur im klientenzentrierten Bereich nachhaltig

beeinfiußt. Das Modell hat sich als sehr lebensfähig erwiesen. Ungeach­

tet zahlreicher »Ergänzungs- und Uminterpretationsversuche« durch

andere stand Rogers bis zuletzt zu diesem Artikefl und bezog sich in seinen Arbeiten - in denen er die hier aufgestellten Bedingungen für

Persönlichkeitswachstum noch oft und immer genauer beschrieb -

immer wieder darauf. Nach wie vor bildet dieses Modell die wichtigste

Grundlage für das Verständnis nicht nur der psychotherapeutischen,

sondernjeder helfenden Beziehung.

Wie Rogers selbst schreibt, handelt es sich hier um einen Ausschnitt aus einer größeren theoretischen Konzeption, an der er 1957, dem Jahr

der Entstehung dieses Artikels, gerade arbeitete und die er 1959

1 Vgl. etwa das 1983 geführte Interview Rogers, C.R. / Heppner, P.P. / Rogers, ME./ Lee, L.A, Gart Rogers: Refiections on his life, in: Journal of Counseling and Development 63 (1984) 14-20; dt.: Carl Rogers: Betrachtungen über sein Leben, in: Zeitschrift für Personenzentrierte Psychologie und Psychotherapie 2 (1985) 207-213, hier 209. {Hinweis: Kursiv geschriebene Anmerkungen wurden der besseren Verständlichheit halber bei der Übersetzung von mir eingefügt. pfs]

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veröffentlichte (»Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen«, 1959a). Er stellt hier seine Theorie der Psychotherapie und des Persönlichkeitswachstums in den »Wenn-dann«-Formulierungen der experimentellen Forschung dar. Erbezeichnet diese Darstellung selbst als »rigorous«, was sowohl »rigoros,streng« wie auch »ganz genau«, Ja »peinlich genau« heißt. Und so genauwollen sie auch gelesen sein, will man sie richtig verstehen und nichtdurch die Brille verschiedener inzwischen leider populär gewordenerMißverständnisse und Verkürzungen betrachten.

So etwa ist beispielsweise kaum beachtet worden, daß Rogers hier von sechs und nicht nur von drei Bedingungen spricht. Nach wie vor gültig - gerade auch angesichts der Behauptungen von der Notwendigkeitergänzender Technillen oder integrativer Verfahren - ist auch dieSchärfe Jener Formulierungen, in denen er gegen Ende des Artihelsschreibt, welche Behauptungen signifihanterweise hier nicht aufgestelltwerden, das heißt, was alles mit dieser Theorie nicht behauptet wird:Etwa daß verschiedene Kliententypen verschiedene therapeutische Be­dingungen bräuchten oder daß Psychotherapeuten spezielle Kenntnissebesitzen müßten. Aufschlußreich ist auch, welchen Stellenwert Rogersder Diagnose für die Psychotherapie - besser: für die Sicherheitsbedürfnisse der Psychotherapeuten -- und den psychotherapeutischen Tech­niken zuweist. Es ist bemerlwnswert, wie deutlich Rogers von Anfang anden fundamentalen Unterschied zu den herrschenden Auffassungen unddamit die Radilmlität seiner Hypothesen hervorstrich. Auch nach 50Jahren personzentrierter Bewegung haben diese Klarstellungen nichts anAktualität eingebüßt.2 pfs

Seit vielen Jahren bin ich in der Psychotherapie mit Menschen beschäf­

tigt, die sich in einer Notlage befinden. In den letzten Jahren fand ich

mich zunehmend damit befaßt, aus dieser Erfahrung die allgemeinen

Prinzipien zu abstrahieren, von denen ich den Eindruck habe, dru1 sie

aus ihr folgen. Ich habe mich bemüht, irgendeine Regelmäßigkeit,

irgendeine Einheit zu entdecken, die in diesem heiklen und komplexen

Gewebe der zwischenmenschlichen Beziehung, von dem ich in der

2 Rogers 1957a: The necessary and sufficient conditions of therapeutic personality change, zuerst veröffentlicht in: Journal of Consulting Psychology, 21,2 (1957) 95-103. Übersetzung und Abdruck mit Genehmigung des Autors. Deutschsprachige Erstpublikation. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Manfred Werkmei.�ter und Peter F. Schmid.

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therapeutischen Arbeit so beständig in Anspruch genommen bin, ent­

halten zu sein scheint. Eines der aktuellen Ergebnisse dieser Be­

mühung ist ein Versuch, in formalen Begriffen eine Theorie der

Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Be­

ziehung aufzustellen, die die Phänomene meiner Erfahrung einschließt

und enthält. Was ich mit diesem Artikel möchte, ist, einen sehr kleinen

Ausschnitt aus dieser Theorie etwas vollständiger herauszustellen und

seine Bedeutung und seinen Nutzen zu erforschen.

Das Problem

Die Frage, der ich mich hier zuwenden möchte, lautet: Ist es möglich, in

klar definierbaren und meßbaren Begriffen die psychologischen Be­

dingungen zu nennen, die notwendig und hinreichend sind, eine

konstruktive Persönlichkeitsveränderung herbeizuführen? Mit anderen

Worten: Kennen wir mit einiger Genauigkeit jene Elemente, die wesent­

lich sind, wenn sich eine psychotherapeutische Veränderung ergeben

soll?

Bevor ich zur Hauptsache komme, lassen Sie mich ganz kurz noch

den zweiten Teil der Frage vornehmen. Was ist gemeint mit Aus­

drücken wie »psychotherapeutische Veränderung« oder »konstruktive

Persönlichkeitsveränderung«? Dieses Problem verdient ebenfalls eine

tiefe und ernsthafte Betrachtung, aber lassen Sie mich für jetzt eine

dem gesunden Menschenverstand genügende Bedeutung vorschlagen,

auf die wir uns für die Absichten dieses Artikels vielleicht einigen

können. Diese Ausdrücke besagen: eine Veränderung in der Persönlich­

keitsstruktur des Individuums sowohl an der Oberfläche wie auch auf

tieferen Ebenen, und zwar in einer Richtung - die Kliniker würden mir

hier zustimmen -, die stärkere Integration, weniger inneren Konflikt

und mehr Energie bedeutet, die für effizientes Leben nutzbar ist; eine

Verhaltensänderung weg von im allgemeinen als unreif betrachteten

Verhaltensweisen und hin zu solchen, die als reif angesehen werden.

Diese kurze Beschreibung mag ausreichen, um die Art von Veränderung

zu bezeichnen, deren Vorbedingungen wir im folgenden erörtern wollen.

Sie mag ebenso die Art und Weise nahelegen, wie dieses Kriterium der

Veränderung bestimmt werden kann. 3

3 Daß dies ein meßbares und bestimmbares Kriterium ist, wurde in Forschungsar­beiten. die bereits abgeschlossen sind, dargelegt. Siehe Rogers/Dymond 1954. insbesondere die Kapitel 8, 13 und 17.

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Die Bedingungen

Bei der Betrachtung meiner eigenen klinischen Erfahrung wie auch der

meiner Kollegen zusammen mit der einschlägigen Forschung, die

zugänglich ist, habe ich einige Bedingungen abgeleitet, die mir notwen­

dig erscheinen, eine konstruktive Persönlichkeitsveränderung anzubah­

nen, und die zusammengenommen auch aussehen, als wären sie

hinreichend, diesen Prozeß in Gang zu setzen. Während ich an diesem

Problem gearbeitet habe, hat es mich überrascht, wie einfach das ist,

was da zum Vorschein kam. Mit der folgenden Darstellung wird keine

Versicherung für ihre Richtigkeit abgegeben; ich bringe aber die

Erwartung zum Ausdruck, daß sie den Wert einer jeden Theorie hat,

nämlich den, daß sie eine Reihe von Hypothesen aufstellt oder impli­

ziert, die offen sind für Verifikation oder Falsifikation, womit zugleich

unsere Kenntnis des Gebietes geklärt und erweitert wird.

Weil ich mit diesem Artikel keine Spannung erzeugen möchte, werde

ich sogleich in mehreren ganz genauen und kurz zusammengefaßten

Begriffen die sechs Bedingungen nennen, bei denen ich dazu gekommen

bin, sie für grundlegend für den Prozeß der Persönlichkeitsveränderung

zu halten. Dabei ist die Bedeutung einer Anzahl von Ausdrücken nicht

unmittelbar evident, sie werden aber in den folgenden erläuternden

Abschnitten erklärt werden. Es ist zu hoffen, daß diese kurze Darstel­

lung für den Leser eine viel größere Bedeutung haben wird, wenn er

den Artikel zu Ende gelesen hat. Lassen Sie mich ohne weitere

Einführung die grundlegende theoretische Position formulieren.

Damit sich konstruktive Persönlichkeitsveränderung ereignet, ist es

notwendig, daß die folgenden Bedingungen gegeben sind und über eine

gewisse Zeitspanne hinweg andauern:

1. Zwei Personen befinden sich in psychologischem Kontakt.

2. Die erste, die wir Klient nennen werden, befindet sich in einem

Zustand der Inkongruenz, ist verletzbar oder ängstlich.

3. Die zweite Person, die wir Therapeut nennen werden, ist kongruent

oder integriert in der Beziehung.

4. Der Therapeut empfindet eine bedingungslose positive Zuwendung

dem Klienten gegenüber.

5. Der Therapeut empfindet ein empathisches Verstehen des inneren

Bezugsrahmens des Klienten und ist bestrebt, diese Erfahrung dem

Klienten gegenüber zum Ausdruck zu bringen.

6. Die Kommunikation des empathischen Verstehens und der be­

dingungslosen positiven Zuwendung des Therapeuten dem Klienten

gegenüber wird wenigstens in einem minimalen Ausmaß erreicht.

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Keine anderen Bedingungen sind notwendig. Wenn diese sechs Be­dingungen gegeben sind und über eine bestimmte Zeitspanne hinweg

andauern, ist dies hinreichend. Der Prozeß der Persönlichkeitsentwick­

lung wird folgen.

Eine Beziehung

Die erste Bedingung gibt an, daß ein Minimum an Beziehung, ein

psychologischer Kontakt, vorhanden sein muß. Ich stelle die Hypothese

auf, daß eine positive Persönlichkeitsveränderung von Bedeutung nur in

einer Beziehung zustandekommt. Dies ist natürlich eine Hypothese,

und sie kann vielleicht widerlegt werden.

Die Bedingungen 2 bis 6 definieren die Charakteristika der Bezie­

hung, die als wesentlich erachtet werden, indem die notwendigen

Charakteristika jeder der Personen in der Beziehung definiert werden.

Alles, was mit dieser ersten Bedingung beabsichtigt ist, ist die Feststel­

lung, daß die zwei Leute in einem gewissen Ausmaß miteinander in

Kontakt stehen, daß jeder von ihnen im jeweiligen Erfahrungsfeld des

anderen einen wahrnehmbaren Unterschied ausmacht. Wahrscheinlich

genügt es, wenn jeder nur unterschwellig einen Unterschied ausmacht,

selbst wenn der Einzelne sich dieser Wirkung nicht bewußt sein mag.

So dürfte es schwierig sein zu wissen, ob ein katatoner Patient die

Gegenwart eines Therapeuten so wahrnimmt, daß das einen Un­

terschied für ihn ausmacht - einen Unterschied welcher Art auch

immer - aber es ist fast sicher, daß er auf irgendeiner organischen

Ebene diese Veränderung tatsächlich spürt.

Außer in einer solch schwierigen Grenzsituation wie der eben

beschriebenen wäre es relativ leicht, diese Bedingung in operationalen

Begriffen zu definieren und so von einem hartgesottenen

Forschungsstandpunkt aus, festzustellen, ob die Bedingung vorhanden

ist oder nicht. Die einfachste Methode der Bestimmung beinhaltet

einfach das Bewußtsein von beiden, Klient und Therapeut. Wenn jeder

von beiden sich dessen bewußt ist, daß er mit dem anderen in

persönlichem oder psychologischem Kontakt steht, dann ist diese

Bedingung erfüllt.

Die erste Bedingung der therapeutischen Veränderung ist so einfach,

daß sie vielleicht als eine Voraussetzung oder Vorbedingung bezeichnet

werden sollte, um sie von denen, die noch folgen, zu unterscheiden.

Ohne sie jedenfalls hätten die übrigen Punkte keine Bedeutung, und

das ist der Grund dafür, sie miteinzubeziehen.

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Der Zustand des Klienten

Es wurde ausgeführt, daß es notwendig sei, daß der Klient »sich in einem Zustand der Inkongruenz befindet, verletzbar oder ängstlich ist«. Welche Bedeutung haben diese Begriffe?

Inkongruenz ist ein grundlegendes Konstrukt in der Theorie, die wir entwickelt haben. Sie bezieht sich auf eine Diskrepanz zwischen der aktuellen Erfahrung des Organismus und dem Selbstbild des Indivi­duums, insofern es diese Erfahrung repräsentiert. So wird vielleicht ein Mensch auf einer ganzheitlichen oder organismischen Ebene Angst empfinden vor der Universität und vor Prüfungen, die im dritten Stock eines bestimmten Gebäudes abgehalten werden, weil diese möglicher­weise eine Unzulänglichkeit in ihm aufzeigen. Da eine solche Angst vor seiner Unzulänglichkeit fraglos im Widerspruch steht zu seinem Selbst­konzept, wird diese Erfahrung in seinem Bewußtsein (verzerrt) als eine unbegründete Angst repräsentiert, die Treppen in diesem Gebäude hinaufzusteigen oder in irgendeinem Gebäude und bald auch als unbegründete Angst, das offene Universitätsgelände zu überqueren. Wir haben da eine fundamentale Diskrepanz zwischen der erfahrenen Bedeutung der Situation, wie sie von seinem Organismus registriert wird, und der symbolischen Repräsentation dieser Erfahrung im Bewußtsein, und zwar auf ein solche Weise, daß mit dem Bild, das er von sich selbst hat, kein Konflikt aufkommt. In diesem Falle Furcht vor seiner Unzulänglichkeit zuzugeben, würde dem Bild, das er von sich selbst hat. widersprechen; wenn er sich selbst unverständliche Ängste eingesteht, widerspricht es seinem Selbstkonzept nicht.

Ein anderes Beispiel wäre die Mutter, die immer dann bestimmte Krankheiten entwickelt, wenn ihr Sohn Pläne macht, von zu Hause wegzugehen. Der eigentliche Wunsch liegt darin, die einzige Quelle ihrer Befriedigung festzuhalten. Dies bewußt wahrzunehmen, wäre unvereinbar mit dem Bild, das sie von sich selbst als einer guten Mutter hat. Krankheit dagegen verträgt sich mit ihrem Selbstkonzept, und die Erfahrung wird auf diese verzerrte Weise symbolisiert. Daher gibt es auch hier wieder eine grundlegende Inkongruenz zwischen dem wahr­genommenen Selbst (in diesem Fall als kranke Mutter Aufmerksamkeit nötig zu haben) und der aktuellen Erfahrung (in diesem Fall der Wunsch, ihren Sohn festzuhalten).

Wenn das Individuum nicht das Bewußtsein einer solchen Inkon­gruenz in sich selbst hat, dann ist es lediglich verwundbar im Hinblick auf die Möglichkeit von Angst und Desorganisation. Irgendeine Erfah­rung könnte so plötzlich oder so offensichtlich auftreten, daß die

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Inkongruenz nicht verleugnet werden könnte. Deshalb ist die Person im Hinblick auf eine solche Möglichkeit verletzbar.

Wenn das Individuum in sich selbst dunkel eine solche Inkongruenz wahrnimmt, dann entsteht ein Spannungszustand, der als Angst be­kannt i�t. Die Inkongruenz muß nicht in voller Schärfe wahrgenommen werden. Es genügt, daß sie unterschwellig wahrgenommen wird - das heißt als bedrohlich für das Selbst ausgemacht wird, ohne jedes Bewußtsein vom Inhalt dieser Bedrohung. Solche Angst ist oft in der Therapie zu beobachten, wenn das Individuum an irgendein Element seiner Erfahrung herankommt, das in scharfem Gegensatz zu seinem Selbstkonzept steht.

Es ist nicht leicht, eine genaue und operationale Definition für diese zweite der sechs Bedingungen zu geben, doch ist dies bis zu einem gewissen Grad schon erreicht worden. Einige Forscher haben das Selbstkonzept definiert mittels eines vom Individuum vorgenommenen Q-Sort4 aus einer Liste von Items, die sich auf das Selbst beziehen. Dasgibt uns ein operationales Bild vom Selbst. Das ganzheitliche Erfahrendes Individuums ist schwieriger zu erfassen. Chodorkoff (1954) hat esals ein Q-Sort definiert, das von einem Kliniker vorgenommen wird, derunabhängig dieselben Items, die sich auf das Selbst beziehen, sortiert,wobei er seine Zuordnung auf das Bild gründet, das er vom Individuum

4 Das Q-Sort, entwickelt von William Stephen,qon, einem Forscher an der Universität Chicago (The study of behavior. Q-technique and its methodology, Chicago [Univernity of Chicago Press] 1953), ist ein Schätzverfahren, das in der experimen­tellen Psychologie, vor allem in der Persönlichkeitsdiagnostik und in der Psychoth­erapieforschung -- beispielsweise zum Vergleich von Selbstideal-Bildern vor und nach der Psychotherapie - gerne benutzt wurde. Dabei werden von der Versuchsperson eine größere Anzahl von Items (meist Kärtchen mit Behauptungen,z. B. Eigenschaflsbe..qchreibungen) nach dem Grad sortiert, nach dem sie ihrerMeinung nach einen bestimmten Sachverhalt oder eine Person charakterisieren. DerBeurteiler muß die Karten bestimmten Kategorien zuordnen. Die Ergebnisse desQ-Sorts können mit Hilfe der sogenannten Q-Technik der Faktorenanalyse weiterberechnet werden. - Rogers und seine Mitarbeiter haben das Q-Sort für dieCounseling-Forschung adaptiert und vielfach verwendet. Die spezifische Form, dieRogers entwickelte, wurde SIO-Q-Sort genannt (»Seif, Ideal, Ordinary«): DenKlienten wurden 100 Karten mit solchen »self-referent items« (Karten mitAussagen, die tatBächlich von Klienten gemachten Äußerungen entnommen waren,z. B. »Ich bin ein gehorsamer Mensch«, »Ich bin ein harter Arbeiter«, »Ich binliebenswert«) gegeben, die er in 9 Kategorien zu ordnen hatte (von auf die eigenePerson am ehe..qten zutreffenden Aussagen bis zu solchen, die am wenigstenentsprechen). 3 verschiedene Sorts (»S« zum Selbstkonzept, »I« zum Idealbild und»O« zum Bild vom normalen Menschen) zu 3 verschiedenen Zeitpunkten (vor,während und nach der Therapie) wurden vorgenommen. Die Ergebnisse wurdenunter anderem in Rogers/ Dymond 1954 veröffentlicht.

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durch projektive Tests gewonnen hat. Seine Zuordnung umfaßt daher

sowohl unbewußte wie bewußte Elemente der Erfahrung des Indivi­

duums und gibt so (auf eine zugegebenermaßen unvollkommene Weise) die Gesamtheit der Erfahrung des Klienten wieder. Die Korrelation

zwischen diesen beiden Zuordnungen gibt ein rohes operationales Maß der Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung, wobei eine niedrige

bzw. negative Korrelation natürlich einen hohen Grad von Inkongruenz darstellt.

Die Echtheit des Therapeuten in der Beziehung

Die dritte Bedingung lautet, daß der Therapeut innerhalb der Grenzen

dieser Beziehung eine kongruente, echte, integrierte Person sein sollte.

Das heißt, daß er innerhalb der Beziehung frei und tief er selbst ist,

wobei seine gegenwärtige Erfahrung exakt von seinem Bewußtsein, das

er von sich selbst hat, repräsentiert ist. Es ist dies das Gegenteil davon,

eine Fassade zu präsentieren, sei es wissentlich oder unwissentlich. Es ist nicht notwendig (noch ist es möglich), daß der Therapeut ein

Musterknabe ist, der diesen Grad von Integration, von Ganzheit in

jedem Aspekt seines Lebens an den Tag legt. Es genügt, daß er exakt er

selbst ist, in dieser Stunde dieser Beziehung, daß er in diesem grundsätzlichen Sinn ist, was er tatsächlich zu diesem Zeitpunkt ist.

Es sollte somit klar sein, daß dies einschließt, sogar bei Verhaltens­weisen er selbst zu sein, die nicht als ideal für die Psychotherapie

gelten. Seine Erfahrung ist möglicherweise: »Ich fürchte mich vor diesem Klienten« oder »Meine Aufmerksamkeit ist so sehr auf meine

eigenen Probleme fixiert, daß ich ihm kaum zuhören kann.« Wenn der Therapeut diese Gefühle seinem Bewußtsein gegenüber nicht verleug­

net, sondern fähig ist, sie frei zu sein (genauso wie er seine anderen Gefühle ist), dann ist die Bedingung, die wir aufgestellt haben, erfüllt.

Es würde uns zu weit wegführen, die verwirrende Angelegenheit hinsichtlich des Ausmaßes zu erörtern, bis zu dem der Therapeut diese

Realität in sich selbst dem Klienten gegenüber offen kommuniziert.

Sicher ist es für den Therapeuten nicht das Ziel, seine eigenen Gefühle

zum Ausdruck zu bringen oder auszusprechen, sondern primär, daß er dem Klienten in bezug auf sich selbst nichts vormachen sollte. Manch­

mal ist es möglicherweise für ihn nötig, einige seiner eigenen Gefühle

auszusprechen (entweder dem Klienten gegenüber oder einem Kollegen

oder Supervisor gegenüber), wenn sie den beiden folgenden Be­

dingungen im Wege stehen.

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Es ist nicht allzu schwierig, eine operationale Definition für diese dritte Bedingung vorzuschlagen. Wir greifen dazu wieder auf die Q-Technik

zurück. Wenn der Therapeut eine Reihe von für die Beziehung relevan­ten Items sortiert (und dabei eine ähnliche Liste wie die von Fiedler

[1950 und 1953] und Bown [1954] verwendet), wird das seine Wahrneh­mung seiner Erfahrung in der Beziehung ergeben. Wenn mehrere Beurteiler, die das Gespräch beobachtet oder eine Aufzeichnung davon

gehört (oder einen Tonfilm davon gesehen) haben, jetzt dieselben Items sortieren, um ihre Wahrnehmung der Beziehung darzustellen, wird diese zweite Zuordnung wohl jene Elemente des Verhaltens und der

gefolgerten Einstellungen des Therapeuten festhalten, deren er sich

nicht bewußt ist, ebenso aber jene, deren er sich bewußt ist. So würde

eine hohe Korrelation zwischen der Zuordnung des Therapeuten und der Zuordnung des Beobachters in Rohform eine operationale Definition

der Kongruenz oder Integration des Therapeuten in der Beziehung

darstellen; und eine niedrige Korrelation würde das Gegenteil zeigen.

Bedingungslose positive Zuwendung

In dem Ausmaß, in dem der Therapeut selbst ein warmes Akzeptieren

von jedem Aspekt der Erfahrung des Klienten als einem Teil dieses Klienten empfindet, empfindet er eine bedingungslose positive Zuwen­

dung. Dieses Konzept wurde von Standal (1954) entwickelt. Das bedeutet, daß es da keinerlei Bedingungen des Akzeptierens gibt, kein

Gefühl wie »Ich mag dich nur, wenn du so und so bist«. Es meint ein

Wertschätzen der Person, wie Dewey diesen Begriff5 gebraucht hat. Es

ist der Gegenpol zu einer selektiven Bewertungshaltung - »Du bist

schlecht auf diese Weise, gut auf jene«. Es schließt in ebensolchem

Maße ein Gefühl der Akzeptanz für den Ausdruck von negativen,

»schlechten«, schmerzhaften, ängstlichen, abwehrenden, abnormalen

Gefühlen durch den Klienten ein wie für seinen Ausdruck von »guten«,

positiven, reifen, vertrauensvollen, sozialen Gefühlen; es schließt im

gleichen Maße Akzeptieren von Verhaltensweisen ein, in denen er sich

inkonsistent, wie von solchen, in denen er sich konsistent zeigt. Es

meint ein Anteilnehmen am Klienten, aber nicht auf eine besitzergrei­

fende Art oder auf eine Weise, die lediglich die eigenen Bedürfnisse des

Therapeuten befriedigt. Es meint ein Anteilnehmen am Klienten als

einer selbständigen Person, die ihre eigenen Gefühle, ihre eigenen

5 »prizing« .

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Erfahrungen haben darf. Ein Klient beschreibt den Therapeuten als einen, der »unterstützt, daß meine eigene Erfahrung mir gehört ... daß

[dies] meine Erfahrung ist, und daß ich es bin, der sie im Augenblick

hat: daß ich denke, was ich denke, fühle, was ich fühle, will, was ich will, Angst habe vor dem, wovor ich Angst habe: keine ,Wenn und Aber, oder ,Nicht-Wirklich«<. Das ist die Form des Akzeptierens, von der die Hypothese aufgestellt wird, daß sie notwendig ist, wenn eine Persönlich­keitsveränderung geschehen soll.

Wie die beiden vorangegangenen Bedingungen ist auch diese vierte Bedingung eine Angelegenheit des Ausmaßes6, was unmittelbar dann klar wird, wenn wir versuchen, sie in Begriffen bestimmter Forschungs­verfahren zu definieren. Eine solche Methode, sie zu definieren, wäre,

das Q-Sort für die Beziehung in Betracht zu ziehen, wie es bei der dritten Bedingung beschrieben wurde. In dem Ausmaß, in dem aussage­

fähige Items bedingungsloser positiver Zuwendung sowohl vom Thera­peuten als auch von den Beobachtern als charakteristisch für die

Beziehung zugeordnet werden, könnte man sagen, daß bedingungslose

positive Zuwendung vorhanden ist. Solche Items könnten Aussagen in

folgender Reihung enthalten: »Ich fühle keine heftigen Reaktionen, was der Klient auch sagt«; »Ich empfinde weder Zustimmung noch Ableh­

nung für den Klienten und seine Aussagen -- einfach Akzeptieren«; »Ich fühle Wärme dem Klienten gegenüber - für seine Schwächen undProbleme ebenso wie für seine Möglichkeiten«; »Ich neige nicht dazu,

ein Urteil über das zu fällen, was der Klient mir erzählt«; »Ich mag denKlienten«. In dem Ausmaß, in dem beide, Therapeut und Beobachter,diese Items als charakteristisch wahrnehmen, oder ihr Gegenteil alsuncharakteristisch, kann man sagen, daß die vierte Bedingung gegeben

ist.

6 Der Ausdruck »bedingungslose positive Zuwendung« ist vielleicht unglücklich, weil er sich wie ein absolutes, ein Alles-oder-Nichts-Konzept anhört. Es ist wahrscheinlich von der Beschreibung her klar, daß eine vollkommen bedingungs­lose Zuwendung außer in der Theorie nicht existiert. Von einem klinischen und erfahrungsbezogenen Standpunkt her glaube ich, die genaueste Bestimmung liegt darin, daß der effiziente Therapeut bedingungslose positive Zuwendung für den Klienten in vielen Augenblicken des Kontakts mit ihm empfindet, auch wenn er von Zeit zu Zeit eine bedingte positive Zuwendung für ihn empfindet - und vielleicht manchmal eine negative, obwohl dies in einer effizienten Therapie nicht wahrscheinlich ist. In diesem Sinne existiert eine bedingungslose positive Zuwendung in einem gewissen Ausmaß in jeder Beziehung.

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Empathie

Die fünfte Bedingung ist die, daß der Therapeut ein genaues empathi­

sches Verstehen vom Bewußtsein des Klienten und seiner eigenen Erfahrung empfindet. Die private Welt des Klienten so zu spüren, als ob es die eigene wäre, ohne jemals die Qualität des »als ob« zu verlieren -das ist Empathie, und das scheint für die Therapie wesentlich zu sein. Die Wut, Angst oder Verwirrung des Klienten zu spüren, als wären es die eigenen Gefühle, jedoch ohne daß die eigene Wut, Angst oder

Verwirrung damit verknüpft wird, das ist die Bedingung, die wir uns zu beschreiben bemühen. Wenn die Welt des Klienten für den Therapeuten

so klar ist und er sich in ihr frei bewegt, dann kann er dem Klienten gegenüber sowohl kommunizieren, daß er versteht, was dem Klienten

selber klar bekannt ist, als auch zum Ausdruck bringen, was diesem an

Bedeutung in seinen Erfahrungen kaum zu Bewußtsein kommen mag.

Wie ein Klient diesen zweiten Aspekt beschreibt: »Von Zeit zu Zeit, mit mir in einem Gewirr von Gedanken und Gefühlen, verstrickt in ein

Gespinst von wechselseitig auseinanderlaufenden Linien der Bewegung, mit Impulsen von verschiedenen Teilen von mir, und ich mit dem

Gefühl, daß das alles zu viel ist und so - dann peng!, geradeso wie ein Sonnenstrahl sich seinen Weg durch Wolkenbänke und ein Gewirr von Blattwerk bricht, um einen Lichtkreis auf ein Gewirr von Waldpfaden zu werfen, kam eine Bemerkung von Ihnen. [Es war] Klarheit, ja

Entwirrung, eine zusätzliche Drehung zum Bild, ein Zurechtrücken. Dann das Ergebnis - das Gefühl voranzukommen, die Entspannung. Das waren Sonnenstrahlen.« Daß eine solche durchdringende Empathie für die Therapie wichtig ist, wird durch die Untersuchung von Fiedler (1950) belegt, in der bei der Beschreibung von Beziehungen durch

erfahrene Therapeuten Items wie die folgenden hoch veranschlagt

werden: Der Therapeut ist gut in der Lage, die Gefühle des Patienten zu

verstehen. Der Therapeut ist niemals im Zweifel darüber, was der Patient

meint. Die Bemerkungen des Therapeuten passen genau zur Stimmung und zum Auffassungsvermögen des Patienten.

Der Tonfall des Therapeuten drückt seine Fähigkeit aus, die Gefühle des Patienten vollständig zu teilen.

Eine operationale Definition der Empathie des Therapeuten könnte auf verschiedene Weise zustandegebracht werden. Es könnte das Q-Sort

angewendet werden, wie es bei der dritten Bedingung beschrieben

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wurde. In dem Ausmaß, in dem Items, die eine genaue Empathie beschreiben, sowohl von seiten des Therapeuten als auch von seiten der Beobachter als charakteristisch zugeordnet würden, würde diese Be­dingung als gegeben betrachtet werden.

Eine andere Methode, diese Bedingung zu definieren, wäre es, für den Klienten wie für den Therapeuten, eine Liste von Items zu sortieren, die die Gefühle des Klienten beschreiben. Jeder würde dabei unabhängig zuordnen, die Aufgabe wäre es, die Gefühle wiederzugeben, die der Klient während eines eben gerade abgeschlossenen Gesprächs empfunden hat. Wenn die Korrelation zwischen der Zuordnung des Klienten und der des Therapeuten hoch ist, könnte man sagen, daß eine genaue Empathie gegeben ist, eine niedrige Korrelation dagegen würde zum gegenteiligen Schluß führen.

Wieder eine andere Methode, Empathie zu messen, bestünde darin, daß geübte Beurteiler die Tiefe und Genauigkeit der Empathie des Therapeuten auf der Grundlage des Anhörens von Gesprächsaufzeich­nungen einschätzten.

Die Wahrnehmung des Therapeuten durch den Klienten

Die letzte der aufgestellten Bedingungen ist, daß der Klient in einem Mindestausmaß die Akzeptanz und Empathie, die der Therapeut für ihn empfindet, wahrnimmt. Wenn keine Kommunikation über diese Einstel­lungen zustande gekommen ist, existieren diese, soweit es den Klienten betrifft, in der Beziehung nicht, und der therapeutische Prozeß könnte nach unserer Hypothese nicht in Gang gesetzt werden.

Da Einstellungen nicht auf einem direkten Weg wahrgenommen werden können, wäre es etwas genauer zu sagen, daß Verhaltensweisen und Worte des Therapeuten vom Klienten so aufgefaßt werden, daß sie bedeuten, daß der Therapeut ihn in einem gewissen Ausmaß akzeptiert und versteht.

Eine operationale Definition dieser Bedingung wäre nicht schwierig. Der Klient könnte nach einem Gespräch eine Q--Sort-Liste von Items zuordnen, die sich auf Eigenschaften beziehen, die die Beziehung zwischen ihm und dem Therapeuten darstellen. (Es könnte die gleiche Liste wie für die dritte Bedingung verwendet werden.) Wenn mehrere das Akzeptieren und die Empathie beschreibende Items als für die Beziehung charakteristisch vom Klienten zugeordnet werden, dann kann diese Bedingung als gegeben betrachtet werden. Beim gegenwärti­gen Stand unseres Wissens müßte die Bedeutung von »in einem Mindestausmaß« willkürlich festgelegt werden.

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Einige Bemerkungen

Bis zu diesem Punkt ging es um den Versuch, kurz und sachlich dieBedingungen vorzustellen, bei denen ich dazu gekommen bin, sie alswesentlich für psychotherapeutische Veränderung zu erachten. Ich habenicht versucht, den theoretischen Kontext dieser Bedingungen darzule­gen, noch zu erklären, was ich für die treibende Kraft ihrer Wirksam­keit halte. Solch erklärendes Material wird der interessierte Leser inder bereits erwähnten Dokumentation finden (Rogers/Dymond 1954).

Ich habe jedoch zumindest eine Definitionsmöglichkeit, in operationa­len Begriffen, für jede der erwähnten Bedingungen genannt. Ich habedies getan, um die Tatsache zu betonen, daß ich nicht von verschwom­menen Eigenschaften rede, die idealerweise gegeben sein sollten, wennein ebenso verschwommenes Ergebnis erzielt werden soll. Ich stelle hierBedingungen vor, die sogar beim gegenwärtigen Stand unserer Technikgrob meßbar sind, und ich habe spezielle Verfahren für jedes Beispielvorgeschlagen, auch wenn ich überzeugt bin, daß von einem ernsthaftenForscher noch adäquatere Meßmethoden entwickelt werden könnten.

Meine Absicht war es, den Gedanken hervorzuheben, daß wir es nachmeiner Ansicht hier mit einem Wenn-dann-Phänomen zu tun haben,bei dem es nicht wesentlich ist, die treibende Kraft zu kennen, um dieHypothesen zu testen. Um es von einem anderen Gebiet her zuveranschaulichen: Wenn eine Substanz, die wir mittels einer Reihe vonVerfahren als die Substanz, die als Salzsäure bekannt ist, identifizierthaben, mit einer anderen Substanz gemischt wird, die wir in eineranderen Reihe von Verfahren als Ätznatron identifiziert haben, werdenSalz und Wasser die Produkte dieser Mischung sein. Das ist so, gleichob man das Ergebnis nun der Zauberei zuschreiben oder es in denzutreffendsten Begriffen der modernen Chemie erklären mag. Auf diegleiche Weise wird hier postuliert, daß bestimmte definierbare Be­dingungen bestimmten definierbaren Veränderungen vorausgehen unddaß diese Tatsache unabhängig von unseren Bemühungen existiert, siezu erklären.

Die resultierenden Hypothesen

Der hauptsächliche Wert jeder in unzweideutigen Begriffen aufgestell­ten Theorie ist es, daß spezielle Hypothesen daraus abgeleitet werdenkönnen, die verifizierbar beziehungsweise falsifizierbar sind. So kön­nten die hier als notwendig und hinreichend postulierten Bedingungen,

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selbst wenn sie mehr unzutreffend als zutreffend sind (was ich nicht

hoffe), doch noch die Wissenschaft auf diesem Gebiet voranbringen,

indem sie eine Verfahrensgrundlage bieten, von der aus Fakten von

Irrtümern ausgesondert werden können.

Die Hypothesen, die sich aus der hier aufgestellten Theorie ergäben, wären in dieser Reihenfolge:

Wenn die genannten sechs Bedingungen (wie sie operational

definiert wurden) existieren, dann wird eine konstruktive Persönlich­keitsveränderung (wie definiert) beim Klienten stattfinden. Wenn eine oder mehrere dieser Bedingungen nicht vorhanden ist oder sind, dann wird eine konstruktive Persönlichkeitsveränderung

nicht stattfinden.

Diese Hypothesen gelten für jede Situation, ob sie nun als »Psycho­

therapie« bezeichnet wird oder nicht.

Einzig die Bedingung 1 ist dichotomisch (entweder sie ist gegeben

oder nicht), die restlichen fünf treten in verschiedenem Ausmaß auf,

jede auf ihrem Kontinuum. Weil das so ist, folgt daraus eine weitere

Hypothese, und sie ist wahrscheinlich die, die am einfachsten

getestet werden kann:

Wenn alle sechs Bedingungen gegeben sind, dann wird die konstruk­

tive Persönlichkeitsveränderung beim Klienten um so ausgeprägter

sein, je höher das Ausmaß ist, in dem die Bedingungen 2 bis 6

gegeben sind.

Zur Zeit kann die obige Hypothese nur in dieser allgemeinen Form

aufgestellt werden - was einschließt, daß alle Bedingungen das gleiche

Gewicht haben. Empirische Studien werden zweifelsohne noch eine

wesentliche Verfeinerung dieser Hypothese erlauben. Es kann zum

Beispiel sein, daß die anderen Bedingungen weniger wichtig sind, wenn

die Angst ein großes Ausmaß beim Klienten erreicht. Oder wenn die

bedingungslose positive Zuwendung ein großes Ausmaß hat (wie bei der

Liebe der Mutter zu ihrem Kind), daß dann vielleicht ein mäßiges

Ausmaß an Empathie ausreichend ist. Aber im Augenblick können wir

über solche Möglichkeiten nur spekulieren.

Einige Implikationen

Signifikante Auslassungen

Wenn es irgendeine überraschende Besonderheit in der Formulierung

gibt, mit der die notwendigen Bedingungen für die Therapie beschrieben

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wurden, so liegt sie wahrscheinlich in den Elementen, die ausgelassen wurden. In der heutigen klinischen Praxis arbeiten die Therapeuten so,

als ob es über die beschriebenen hinaus noch viele andere Bedingungen gäbe, die für die Psychotherapie wesentlich sind. Um das deutlicher zu

machen, ist es vielleicht gut, ein paar der Bedingungen zu erwähnen, die nach gründlicher Betrachtung unserer Forschung und unserer Erfahrung nicht miteingeschlossen wurden.

Zum Beispiel wird nicht behauptet, daß diese Bedingungen für einen

ganz bestimmten Kliententyp angewendet werden, und daß andere

Bedingungen notwendig sind, therapeutische Veränderung bei anderen Kliententypen hervorzubringen. Wahrscheinlich ist keine Idee in der klinischen Arbeit heute so vorherrschend wie die, daß man mit Neuro­tikern auf diese, mit Psychotikern auf jene Weise arbeitet; daß be­

stimmte therapeutische Bedingungen für Zwangsneurotiker, andere

wiederum für Homosexuelle geschaffen werden müssen usw. Wegen dieses schweren Gewichts der gegenteiligen klinischen Meinung ge­

schieht es mit etwas »Furcht und Zittern«, wenn ich das Konzept

vortrage, daß die wesentlichen Bedingungen der Psychotherapie in eüier

einzigen Konfiguration bestehen, selbst wenn der Klient oder Patient

sie sehr verschiedenartig anwenden mag.7

Es wird nicht behauptet, daß diese sechs Bedingungen die wesent­

lichen Bedingungen für klientenzentrierte Therapie seien und daß

andere Bedingungen für andere Arten von Psychotherapie wesentlich seien. Ich bin gewiß stark von meiner eigenen Erfahrung beeinflußt,

und diese Erfahrung hat mich zu einem Standpunkt geführt, der in den Begriff »klientenzentriert« gefaßt ist. Dennoch ist es mein Ziel bei der

Aufstellung dieser Theorie, die Bedingungen zu nennen, die zu jeder

Situation gehören, in der konstruktive Persönlichkeitsveränderung ge-

7 Ich halte an meiner aufgestellten Hypothese fest, auch wenn sie von einer gerade abgeschlossenen Studie von Kirtner (1955) in Frage gestellt wird. Kirtner hat bei einer Gruppe von 26 Fällen am Counseling Center der Universität Chicago herausgefunden, daß es deutliche Unterschiede in der Art und Weise gibt, wie Klienten an die Lösung von Lebensproblemen herangehen, und daß diese Unterschiede einen Bezug zum Erfolg in de1· Therapie haben. Kurz gesagt: Der Klient, der sieht, daß sein Problem mit seinen Beziehungen zu tun hat. und der fühlt, daß er zu diesem Problem selbst beiträgt, und der es ändern will, wird wahrscheinlich erfolgreich sein. Der Klient dagegen, der sein Problem nach außen verlegt, wobei er nur wenig Selbstverantwortung verspürt, wird viel wahrschein­licher nicht zum Ziel kommen. Das impliziert, daß es notwendig ist, einige andere Bedingungen für die Psychotherapie mit dieser Gruppe zu schaffen. Zum jetzigen Zeitpunkt werde ich allerdings zu meiner Hypothese, wie ich sie aufgestellt habe, stehen, bis Kirtners Studie bestätigt ist und bis wir eine alternative Hypothese kennen, die ihren Platz einnimmt.

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schieht, ob wir dabei an klassische Psychoanalyse oder einen ihrer modernen Ableger denken oder an Adlerianische Psychotherapie oder an irgendeine andere. Es wird daher offensichtlich, daß nach meiner Beurteilung vieles von dem, was als wesentlich verstanden wird,

empirisch als nicht wesentlich gefunden würde. Der Test einiger der aufgestellten Hypothesen würde Licht auf diesen verblüffenden Sach­

verhalt werfen. Wir könnten natürlich herausfinden, daß verschiedene Therapien auch verschiedene Typen von Persönlichkeitsveränderung

hervorbringen, und daß für jede Psychotherapie ein eigener Satz von Bedingungen notwendig ist. Solange bis dies bewiesen wird, stelle ich

die Hypothese auf, daß effiziente Psychotherapie welcher Art auch immer die gleichen Veränderungen in Persönlichkeit und Verhalten hervorbringt, und daß ein einziger Satz von Vorbedingungen dazu

notwendig ist. Es wird nicht behauptet, daß Psychotherapie eine spezielle Bezie­

hung ist, artverschieden von allen anderen, die im täglichen Leben

vorkommen. Es ist im Gegenteil evident, daß zumindest für kurze Augenblicke viele gute Freundschaften die sechs Bedingungen erfüllen.

Gewöhnlich gilt dies jedoch nur vorübergehend, und dann schwankt die

Empathie, die positive Zuwendung knüpft sich an Bedingungen, oder

die Kongruenz des »therapeutischen« Freundes wird in einem gewissen Ausmaß von einer Fassade oder Abwehrhaltung überlagert. Von daher

wird die therapeutische Beziehung als eine Steigerung der konstrukti­ven Eigenschaften gesehen, die oft zum Teil auch in anderen Bezie­

hungen existieren, und als eine zeitliche Ausdehnung von Eigen­schaften, die in anderen Beziehungen dazu neigen, bestenfalls vorüber­

gehend zu sein. Es wird nicht behauptet, daß der Therapeut besondere intellektuelle

professionelle Kenntnisse - psychologische, psychiatrische, ärztliche oder religiöse - benötigt. Die Bedingungen 3, 4 und 5, die sich speziell

auf den Therapeuten beziehen, sind Qualitäten aus der Erfahrung, nicht aus intellektuellem Wissen. Wenn sie erworben werden sollen,

müssen sie meiner Meinung nach durch eine erfahrungsorientierte Ausbildung erworben werden - die Teil einer professionellen Ausbil­

dung sein kann, aber für gewöhnlich nicht ist. Es macht mir Unbeha­gen, einen derart radikalen Standpunkt zu vertreten, aber ich kann

keinen anderen Schluß aus meiner Erfahrung ziehen. Intellektuelle Ausbildung und der Erwerb von Wissen bringen, wie ich glaube, viele

wertvolle Ergebnisse - aber ein Therapeut zu werden, ist keines von diesen Ergebnissen.

Es wird nicht behauptet, daß es für die Psychotherapie notwendig ist,

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daß der Therapeut eine genaue psychologische Diagnose des Klienten besitzt. Auch hier macht es mir Unbehagen, einen Standpunkt zu

vertreten, der so sehr von meinen klinischen Kollegen abweicht. Wenn man an den gewaltigen Zeitaufwand denkt, der in jedem psychologi­schen oder psychiatrischen Zentrum oder jeder Nervenheilanstalt dar­auf verwendet wird, eine erschöpfende psychologische Evaluation des

Klienten oder Patienten vorzunehmen, so scheint es, als ob dies, soweit es die Psychotherapie betrifft., einem nützlichen Zweck dienen müsse.

Doch je mehr ich Therapeuten beobachtet habe und je genauer ich Forschungsergebnisse wie die von Fiedler und anderen (1953) studiert

habe, desto mehr bin ich zu dem Schluß gezwungen, daß solche diagnostischen Kenntnisse für die Psychotherapie nicht wesentlich

sind. 8 Es kann sogar sein, daß ihre Verteidigung als notwendiges Vorspiel zur Psychotherapie lediglich eine Schutzbehauptung gegen das

Eingeständnis ist, daß sie zum größten Teil eine kolossale Zeit­

verschwendung darstellen. Es gibt nur einen nützlichen Zweck, den ich

im Hinblick auf Psychotherapie zu beobachten imstande war. Einige Therapeuten können sich nicht sicher fühlen in der Beziehung zum

Klienten, wenn sie nicht solche diagnostischen Kenntnisse besitzen.

Ohne sie fühlen sie Furcht vor ihm, fühlen sich unfähig, empathisch zu

sein, unfähig, bedingungslose Zuwendung zu empfinden, und finden es notwendig, in der Beziehung einen Vorwand zu haben. Wenn sie im

voraus von Selbstmordimpulsen Kenntnis haben, können sie diese irgendwie besser akzeptieren. So kann die Sicherheit, die manche Therapeuten durch diagnostische Information spüren, vielleicht eine Basis dafür sein, daß sie sich selbst erlauben, in der Beziehung integriert zu sein und Empathie und volles Akzeptieren zu empfinden. In diesen Fällen wäre eine psychologische Diagnose sicherlich gerecht­fertigt als Beitrag zum Komfort und von daher zur Effizienz des

Therapeuten. Aber sogar hier scheint sie nicht eine grundlegende

Vorbedingung für Psychotherapie zu sein.9

8 Es ist hier nicht die Absicht zu behaupten, diagnostische Evaluation sei nutzlos. Wir haben selbst ausgiebigen Gebrauch von solchen Methoden in unseren Forschungsarbeiten zur Persönlichkeitsveränderung gemacht. Es ist ihr Nutzen als Vorbedingung für Psychotherapie, der hier in Frage gestellt wird.

9 Im Spaß habe ich einmal vorgeschlagen, man könnte es solchen Therapeuten auch dadurch behaglich machen, daß man ihnen die Diagnose irgendeiner anderen Person gibt, nicht die des betreffenden Patienten oder Klienten. Der Umstand, daß sich die Diagnose dann als falsch erweist im Verlauf dei· Psychotherapie, würde sich nicht sonderlich störend auswirken, weil man immer damit rechnet, Ungenauigkeiten in der Diagnose zu entdecken, wenn man mit dem Einzelnen arbeitet.

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Ist diese theoretische Formulierung nützlich?

Abgesehen von der persönlichen Befriedigung, die sie als ein gewagtesUnternehmen der Abstraktion und Verallgemeinerung bietet, welchenWert hat darüber hinaus eine theoretische Darstellung, wie sie in die­sem Artikel gegeben wurde? Vielleicht sollte ich den Nutzen, den siemeiner Meinung nach haben kann, etwas ausführlicher zum Ausdruckbringen.

Auf dem Gebiet der Forschung kann diese Darstellung die Richtungangeben und ein Anstoß für Untersuchungen sein. Da sie die Bedin­gungen konstruktiver Persönlichkeitsveränderung als allgemeingültigansieht, erweitert sie die Möglichkeiten zu ihrem Studium außerordent­lich. Psychotherapie ist nicht die einzige Situation, in der es um kon­struktive Persönlichkeitsveränderung geht. Oft zielen auch Ausbil­dungsprogramme für Führungskräfte in der Industrie und solche fürmilitärisches Führungspersonal auf eine solche Veränderung. Bildungs­institutionen oder -programme zielen häufig auf Charakter- und Per­sönlichkeitsentwicklung ebenso wie auf die Entwicklung intellektuellerFertigkeiten ab. Kommunale Stellen zielen auf Persönlichkeits- undVerhaltensänderung bei Kriminellen und Straffälligen. Solche Program­me böten eine Gelegenheit, die vorgetragenen Hypothesen auf breiterEbene zu testen. Sollte sich herausstellen, daß konstruktive Persönlich­keitsveränderung sich in solchen Programmen auch dann einstellt,wenn die als Hypothese aufgestellten Bedingungen nicht erfüllt sind,dann müßte die Theorie revidiert werden. Wenn die Hypothesen jedochunterstützt werden, dann wären die Ergebnisse sowohl für die Planungsolcher Programme wie auch für unsere Kenntnis der menschlichenAntriebskräfte bedeutungsvoll. Auf dem Gebiet der Psychotherapieselbst könnte sich die Anwendung konsistenter Hypothesen für dieArbeit von verschiedenen Schulen von Therapeuten als in hohem Gradnützlich erweisen. Die Falsifizierung der vorgetragenen Hypothesenwürde auch hier ebenso wichtig sein wie ihre Verifizierung, insofernbeide Resultate einen bedeutenden Beitrag zu unserem Wissensstandleisten würden.

Für die psychotherapeutische Praxis bietet die Theorie außerdembedeutende Probleme, die zu bedenken sind. Eine ihrer Implikationenist, daß die Techniken der verschiedenen Therapien relativ unwichtigsind, außer in dem Ausmaß, in dem sie als Kanäle für die Erfüllungeiner der genannten Bedingungen dienen. Für die klientenzentrierteTherapie zum Beispiel wurde die Technik des »Reflektierens vonGefühlen« beschrieben und kommentiert (Rogers 1951, 26-36 [dt.: S.

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40-481). Hinsichtlich der Theorie, die hier vorgestellt wird, ist dieseTechnik in keiner Weise eine wesentliche Bedingung für Therapie. Indem Ausmaß jedoch, in dem sie einen Kanal zur Verfügung stellt, durchden der Therapeut eine feinfühlige Empathie und eine bedingungsloseZuwendung zum Ausdruck bringt, kann sie als technischer Kanaldienen, durch den die wesentlichen Bedingungen von Therapie erfülltwerden. In der gleichen Weise würde die von mir vorgestellte Theoriekeinen wesentlichen therapeutischen Wert in solchen Techniken sehenwie Interpretation der Persönlichkeitsdynamik, freier Assoziation,Traumanalyse, Übertragungsanalyse, Hypnose, Interpretation des Le­bensstils, Suggestion und ähnlichen. Jedoch kann jede dieser Technikenein Kanal werden, um die wesentlichen Bedingungen, die formuliertwurden, zu kommunizieren. Eine Interpretation kann vielleicht auf eineWeise gegeben werden, die die bedingungslose positive Zuwendung desTherapeuten mitteilt. Einern Strom freier Assoziation kann vielleicht inder Weise zugehört werden, die eine vom Therapeuten empfundeneEmpathie zum Ausdruck bringt. Im Umgang mit der Übertragungkommuniziert ein effizienter Therapeut oft seine eigene Ganzheit undKongruenz in der Beziehung. Ähnlich bei den anderen Techniken. Aberebenso wie diese Techniken die für die Therapie wesentlichen Elementezum Ausdruck bringen können, so kann jede von ihnen ebenso auch Einstellungen und Erfahrungen zum Ausdruck bringen, die in scharfem Gegensatz zu den hier als Hypothese aufgestellten Bedingungen der Therapie stehen. Gefühl kann auf eine Weise »reflektiert« werden, die den Mangel an Empathie des Therapeuten zum Ausdruck bringt. Interpretationen können auf eine Weise gegeben werden, die die sehr bedingte Zuwendung des Therapeuten anzeigt. Jede der Techniken kann die Tatsache kommunizieren, daß der Therapeut eine Einstellung ausdrückt, die seinem eigenen Bewußtsein gegenüber verleugnet wird. So liegt ein Wert einer solchen theoretischen Formulierung, wie wir sie vorgelegt haben, darin, daß sie den Therapeuten vielleicht hilft, kriti­scher nachzudenken über jene Elemente ihrer Erfahrungen, Einstel­lungen und Verhaltensweisen, die für die Psychotherapie wesentlich sind, und über jene, die für sie nicht wesentlich oder schädlich sind.

Schließlich kann diese Formulierung in jenen Programmen - auf dem Gebiet der Bildung, des Strafvollzugs, des Militärwesens oder der Industrie - mit dem Ziel einer konstruktiven Veränderung der Persön­lichkeitsstruktur und des Verhaltens des einzelnen als ein sehr ver­suchsweise angesetztes Kriterium dienen, an dem das jeweilige Pro­gramm gemessen wird. Bis es durch Forschung weiter getestet ist, kann es nicht als ein valides Kriterium gelten, es kann aber wie auf dem

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Gebiet der Psychotherapie helfen, eine kritische Analyse und die For­

mulierung alternativer Bedingungen und Hypothesen anzuregen.

Zusrunmenfassung

Aus einem größeren theoretischen Kontext wurden sechs Bedingungen

abgeleitet, die als notwendige und hinreichende Bedingungen für die

Einleitung eines Prozesses konstruktiver Persönlichkeitsveränderung

postuliert wurden. Für jede dieser Bedingungen wurde eine kurze Er­

klärung gegeben und es wurden Vorschläge gemacht, wie jede opera­

tional zu Forschungszwecken definiert werden kann. Es wurden die

Implikationen dieser Theorie für Forschung, Psychotherapie sowie Bil­

dungs- und Ausbildungsprogramme mit dem Ziel konstruktiver Persön­

lichkeitsveränderung aufgezeigt. Es wurde herausgestellt, daß viele der

Bedingungen, die gemeinhin als wesentlich für die Psychotherapie

betrachtet werden, vom Standpunkt dieser Theorie unwesentlich sind.10

Literatur

BOWN, O.H., An investigation of the therapeutic relationship in client-centered therapy. Unveröffentlichte Dissertation, University of Chicago 1954

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FIEDLER, F.E., A comparison of therapeutic relationships in psychoanalytic, non-directive and Adlerian therapy, in: Journal ofConsulting Psychology 14 (1950)

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FIEDLER, F.E., Quantitative studies on the role of therapist's feelings toward their patients, in: Mowrer, O.H. (Hg.), Psychotherapy. Theory and research, New York (Ronald Press) 1953

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STANDAL, S., The need for positive regard. A contribution to client-centered theory. Unveröffentlichte Dissertation, University of Chicago 1954

10 Zum heutigen Fo1·schungsstand vgl. Watson, N., The empirical status of Roger's hypotheses of the necessary and sufficient conditions for effective psychotherapy, in: Levant/Shlien (Hg.), Client-Centered therapy and the person-centered approach, New York (Praeger) 1984, 17-40; Braaten, L.J., Thirty years with Roger's necessary and sufficient conditions of therapeutic personality change, in: Person-Centered Review 1,1 (1986) 262-271; Patterson, C.H., Empathy, warmth and genuineness in psychotherapy. A review of reviews, in: Psychotherapy 21

(1984) 431-438.

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