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N i c h t s g e t a n , n i c h t s g e s e h e n , n i c h t d a r ü b e r r e d e n

Zehn Jahreseit dem Genozid.Reportagenund Analysen

RUANDA

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Claudine lebt noch.Eine Gruppe von Hutu war über

sie und ihre Familie hergefallen, hattedie Eltern und fünf Geschwister ermordet

und sie als tot zurückgelassen. Der Machetenhieb,der ihr den Kopf abtrennen sollte, traf ihr Gesicht.

Das vierjährige Tutsi-Kind, das zum Opfer einesgegen ihr Volk gerichteten Ausrottungskrieges

werden sollte, wurde gerettet. Claudine gelangte inein SOS-Nothilfe-Kinderdorf, und schließlich fand

sich ein siebenundsiebzigjähriger Pensionär ausKarlsruhe, der die Operation finanzierte. Ihr

Gesicht bleibt gezeichnet für`s Leben.

Claudine Uwimana,

nach der Operation 1996 im

SOS-Nothilfe-Kinderdorf in Ngarama.

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Heute tanzt und spielt Claudine wie andere junge Mädchen.

Doch sie wirkt oft abwesend, undihr Gefühlsleben zeigt starke

Unausgeglichenheiten. Sie ist traumatisiert, auch die psychischen

Wunden verheilen nicht.

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Z e h n J a h r e s e i t d e m G e n o z i d .R e p o r t a g e n u n d A n a l y s e n

Herausgeber

G e o r g B r u n o l d

A n d r e a K ö n i g

G u e n a y U l u t u n ç o k

Autoren

P e t e r B a u m g a r t n e r

G e o r g B r u n o l d

J e a n - P i e r r e C h r é t i e n

A l i s o n D e s F o r g e s

B e t t i n a G a u s

P h i l i p G o u r e v i t c h

J e a n H a t z f e l d

A n d r e a K ö n i g

S a m a n t h a P o w e r

G u e n a y U l u t u n ç o k

Schmidt von Schwind Verlag - Köln

RUANDA

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Herausgeber: Georg Brunold, Andrea König, Guenay UlutunçokÜbersetzungen: Michael Bischoff, BischheimLayout: Hölzel, Müllers, luxsiebenzwo KölnDokumentation und Recherche: Nadja GawrisewiczRedaktion: Hans Hübner, Andrea KönigCopyright © alle Photos: Guenay Ulutunçok/laif Konzeption und Produktion: Media Production-KölnDigitalproof: www.derspringendepunkt.info, KölnDruck: EuroGrafica S.p.A., Marano-Vicenza (Italien)

Copyright © 2004 by Schmidt von Schwind Verlag, KölnAlle Rechte ausdrücklich vorbehalten.Kein Teil dieses Buches darf in irgend einer Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert werden,insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften, Zeitungenoder in digitalen Medien, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder im Internet. Dies gilt auch für einzelne Bilder und Textteile.

1. AuflageISBN 3-932050-24-X

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Vorwort 6 Georg Brunol und Andrea König

Zehn Jahre über den Massengräbern 8 Fotografien von Guenay Ulutunçok

Alle wußten, was vorging29 Alison Des Forges

Hutu, Tutsi und der Rassenmythos33 Philip Gourevitch

Eine »soziale Revolution« besonderer Art41 Jean-Pierre Chrétien

Die Intervention, die unterblieb49 Samantha Power

Eine überlebende Tutsi-Frau aus Nyamata berichtet57 Aufgezeichnet von Jean Hatzfeld

Die Massenmörder auf der Flucht61 Georg Brunold

Die Massenmörder wissen sich zu helfen67 Bettina Gaus

Die Rückkehr aus dem Exil73 Philip Gourevitch

Täter reden79 Aufgezeichnet von Jean Hatzfeld

Zwei Gesichter der Gerechtigkeit83 Samantha Power

Gibt es doch ein Land für alle Ruander?97 Peter Baumgartner

102 Autoren

Inhalt

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Zehn Jahre über den Massengräbern

Am 6. April 2004 jährt sich der Beginn desGenozids in Ruanda zum zehnten Mal. Von einerPublikation wie der hier aus diesem Anlaß vorlie-genden mag Verschiedenes erwartet werden: einevorläufige Bilanz der Resultate und Fortschrittedessen, was auf deutsch »Vergangenheitsbewälti-gung« hieße, ein Zwischenbericht über die »Nor-malisierung« des politischen, wirtschaftlichenund sozialen Lebens in Ruanda und über die neueKoexistenz der überlebenden Opfer mit den Tä-tern, wie diese sich nach deren Rückkehr aus demzairischen und tansanischen Exil Ende 1996 ge-staltet und in den vergangenen siebeneinhalbJahren entwickelt hat. Zweifellos wäre es ein gro-ßer Gewinn, unter dem Titel »Zehn Jahre da-nach« eine Bestandsaufnahme ruandischer Ge-genwart in Händen zu halten – mit einem ent-sprechend fundierten Ausblick auf die Zukunftdes kleinen Landes in der Region der GroßenSeen Afrikas.

Doch dafür ist zu wenig Zeit vergangen unddie gewünschte Klarheit schon deshalb nicht zuhaben. Wie standen die Dinge diesbezüglich inDeutschland 1955? Von »Normalisierung« zusprechen verbietet der Krieg, in den das Land mitgroßem Kraftaufwand jenseits seiner Genzen, imKongo, von 1996 bis noch vor weniger als zweiJahren verwickelt war, und von dem – zumindestwas seine ersten Phasen angeht – niemand be-haupten kann, seine neuen Herren hätten ihn ge-sucht.

Allerdings spräche dies noch nicht gegen denVersuch, sich auf die Gegenwart und auf Zu-kunftsperspektiven zu konzentrieren. Aber hießedas nicht zu unterstellen, daß die Geschichte desruandischen Genozids – sein Verlauf und wie esdazu kam – verstanden ist und vorausgesetzt wer-den kann? Eben davon kann, von einem kleinenSpezialistenkreis abgesehen, nicht die Rede sein,und diese bescheidene Einsicht war es, was unse-rem Buchprojekt eine andere Richtung gegebenhat. Die Arbeit daran frischte zunächst die ele-mentare Erfahrung auswärtiger Journalisten auf,die 1994 aus Ruanda zu berichten hatten: Über

das Land war – auch ihnen selber – denkbar we-nig bekannt, und das beispiellose Geschehen, zudessen Zeugen sie wurden, war auch für sie sehrschwer zu fassen. Dies blieb die Rahmenbedin-gung ihres Einsatzes, und – viele waren sie nicht.

Anfang Juni 1994, zwei Monate nach Beginndes Massenmordens, dem bereits über eine halbeMillion Menschen zum Opfer gefallen waren,trug eine neu ausgestellte Pressekarte der Uno-Mission UNAMIR (United Nations AssistanceMission for Rwanda), der einzigen Organisation,die auswärtige Journalisten in die umkämpfte ru-andische Hauptstadt Kigali brachte, die Nummer086. Zum Vergleich: Eineinhalb Jahre zuvor beider Landung der US-Marines in Mogadishu dürf-te die Zahl internationaler Medienvertreter, diezur Stelle waren, bei wenigsten 2000 gelegen ha-ben.

So kann es wenig verwundern, wenn die wich-tigen Bücher über den dritten Völkermord des 20.Jahrhunderts frühestens ab Ende 1997 erschie-nen, mehrere davon erst in den vergangenen zweiJahren: Philip Gourevitchs Reportage 1998,Alison Des Forges' großer Bericht 1999, Jean-Pierre Chrétiens historisches Hintergrundwerk1998, Samantha Powers bahnbrechendes Geno-zid – Buch 2002. (Erwähnt werden muß an die-ser Stelle Gérard Pruniers Rwanda: le génocide,Nov. 1997, das hier leider keine Berücksichtigungfinden konnte.) Es verging Zeit, ehe einigerma-ßen klar geworden und nachzulesen war, wassich, etwas näher besehen, 1994 in Ruanda über-haupt abgespielt hat. Die erschütternden undganz neuartigen Augenzeugenberichte vonOpfern und Tätern, die Jean Hatzfeld in zweiBüchern gesammelt hat und aus denen wirAuszüge drucken, erschienen erstmals 2002 und2003. Die verzögerten Erkenntnisse über Vorge-schichte, Verlauf und unmittelbare Hinterlassen-schaft des Genozids, denen nachzugehen wir unsverpflichtet fühlten, haben auch unser Buch inseinem Fortgang aufgehalten, so daß der Leser inder Gegenwart, zu schweigen von RuandasZukunft, kaum erst anzukommen anfängt – wiees schließlich dem Land und seinen Menschenkaum anders ergeht.

Vorwort

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Nicht nur dem kleinen Land der tausendHügel haben der Bürgerkrieg und der Genozidvon 1994 Tod und Erstarrung gebracht. Die ruan-dische Katastrophe hat eine ganze Region in denKrieg gestürzt, der im Kongo mehrere MillionenMenschenleben gefordert hat. Dieser grenzüber-greifende Konfliktherd – man sprach von»Afrikas erstem Weltkrieg« – war es, der so vielenBeobachtern, Diplomaten und Journalisten denBlick dafür getrübt hat, was Ruandas neue Herrenfür das Land getan und erreicht haben – von ih-rer kompromißlosen Suche nach Recht undGerechtigkeit einmal abgesehen. Mit ehrgeizigenVisionen einer Zukunft jenseits von ethnischerund ständischer Zerrissenheit und bei äußerst be-grenzten Ressourcen lenken sie zwar unüberseh-bar autoritär, aber auch diszipliniert eine schwertraumatisierte Gesellschaft aus der Starre und haben einen komplexen Auf- und Umbau desLandes in Angriff genommen. Ruanda heute istein Projekt, das die Bereitschaft, Flexibilität undKreativität aller Mitwirkenden erfordert – einLernprozeß, der seinesgleichen sucht und dessenChancen nicht mit besserwisserischem Unver-ständnis vermindert werden sollten.

Danken möchten wir zunächst unserenAutoren, die uns alle, wie ihre Verleger ebenso,für ein symbolisches Honorar das Recht zumAbdruck der ausgewählten Texte überließen.Danken möchten wir dem Übersetzer MichaelBischoff für seine hervorragende und wie immervöllig unangemessen entgoltene Arbeit. Unsergrößter Dank gilt sodann der Direktion fürEntwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) desEidgenössischen Departements für auswärtigeAngelegenheiten in Bern, die mit ihrer groß-zügigen finanziellen Unterstützung dieVeröffentlichung dieses Buchs ermöglicht hat.Natürlich trägt die DEZA keine Verantwortungfür den Inhalt der Beiträge und die Arbeit derHerausgeber, die in allen ihren Entscheidungen

völlig freie Hand hatten. Bei der Suche nachIdeen haben uns unsere Bettina Gaus, Almutund Hans Hielscher, Hans Hübner undWolfgang Kunath zur Seite gestanden.

Georg Brunold und Andrea König

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Musterbeispiel von Ruhe und Ordnung: Das fruchtbare kleine Land wurde gernedie Schweiz Afrikas geheißen. Auf einerFläche von 26 338 qkm leben 2003 rund8,7 Mio. Menschen. Volkseinkommen: 220 Dollar pro Kopf (Jahr 2001). 60% der Bevölkerung leben unter derArmutsgrenze von ein Dollar pro Tag. 90% Kleinbauern. Alphabetisierungsrate der Bevölkerungüber 15 Jahren: 69%. Mittlere Lebenserwartung: 49 Jahre.

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In 100 Tagen werden 800 000 Menschen hingeschlachtet – Tausende von ihnen inSchulen oder Kirchen, wo sie sich in Sicherheitzu bringen suchen. Der Geruch des Todesdurchzieht das ganze Land.

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In manchen Gegenden sind neun von zehn Tutsi umgebracht worden. Ein Hutuvon fünf ist zu den Tätern zu zählen. Auchaus deren Gedächtnis lassen sich dieAbwesenden nicht wegschaffen.

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Als Mordwerkzeug dienten zum allergrößten Teil Macheten.

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Nach dem Zusammenbruch des Staats derMassenmörder flüchten dessen Regierung,Armee und Milizen aus dem Land und treibenHunderttausende von Hutu als Faustpfandnach Zaire und Tansania. Das ausgedehnteLagerleben, das von der internationalenGemeinschaft finanziert wird, entfaltet sich – alle entsprechenden Konventionen ver-letzend – in unmittelbarer Grenznähe, wo diefür den Genozid Verantwortlichen die baldigeRückeroberung ihrer Heimat ankündigen.

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Etwas mehr als zwei Jahre später:Ruandas neue Armee hat die Lager in Zairegewaltsam aufgelöst, ein schier endloserStrom von 1994 Geflohenen und Vertriebenenwälzt sich zurück nach Ruanda, unter ihnenzahllose am Massenmord direkt Beteiligte.

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In vier Tagen überschreiten 600 000Menschen die Grenze von Goma nachGisenyi, in Raten von 12 000 pro Stunde.Fünf Tage dauert für viele der Marsch. Was sich tragen läßt, wird mitgenommen.Mehrere Hunderttausend setzen sich tiefer ins Landesinnere Zaires ab, darunterdie Spitze des Massenmörderstaates undseiner bewaffneten Kräfte.

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Als Streitmacht des neuen Regimes solldie RPA (Ruandische Patriotische Armee)das Überleben der Tutsi und des neuenStaates sichern. Auch Hutu werden unterdem Kommando von Tutsi-Offizieren indie Pflicht gezwungen. Die RPA wird ihreFeinde mehr als 1 500 km weit, bis in diezairische Hauptstadt Kinshasa, verfolgen.

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Kinder hinter Gittern, auch sie verdächtigt.– Jugendliche, Erwachsene und Greise –Hunderttausende haben gemordet. In Gefängnissen, die für zehntausendInsassen konzipiert sind, drängen sich 120 000 Gefangene, die auf ihr Verfahrenwarten. Bei 15 Urteilen pro Tag würde diestrafrechtliche Bewältigung des Völkermordsetwas über 200 Jahre dauern.

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Emanuel bewacht, was von den Opfern desMassakers geblieben ist. Immer wiedererzählt er Besuchern seine Geschichte, wieer davon gekommen ist, wie 45 Mitgliederseiner Familie ermordet wurden und hierliegengeblieben sind. Emanuel hat wiedergeheiratet und ist wieder Vater von zweiKindern. Aus den Tagen des Grauens von1994 hat er bis heute eine Gewehrkugel imKopf. Das Leben auf den Knochenbergender Vergangenheit bleibt Ruandas Alltag.

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Die Geschwindigkeit und Zerstörungswut, mitder die Mörder zuschlugen, ließen auf eineVerirrung der Natur schließen. »Ein Volk istwahnsinnig geworden«, sagten einige Beobach-ter, während andere »einen neuen Ausbruch eth-nischer Gewalt« zu erkennen glaubten. Die rundsieben Millionen Menschen zählende Bevölke-rung Ruandas setzt sich aus drei ethnischenGruppen zusammen. Die Twa sind zu wenige,um politisch eine Rolle zu spielen, so daß Hutuund Tutsi unmittelbar miteinander konfrontiertsind. Die zahlenmäßig weitaus größere Bevölke-rung der Hutu hatte die vergangenen Zeiten, indenen sie unter der Fuchtel des Tutsi-Regimes ge-lebt und Gefühle von Groll und Furcht gegenüberder Minderheit angestaut hatte, nicht vergessen.Die von Hutu geführte Regierung befand sich imKrieg mit der von Tutsi dominierten Rebellen-gruppe Ruandische Patriotische Front (RPF).Hinzu kam, daß Ruanda – ohnehin eines derärmsten Länder der Welt – durch Überbevölkrungund fallende Weltmarktpreise für seine Produkteimmer tiefer in die Armut geriet. Dürre und Krieghatten die Nahrungsmittelproduktion beeinträch-tigt, so daß 1994 schätzungsweise 800 000Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesenwaren.

Doch der Völkermord war beileibe kein un-kontrollierbarer Ausbruch der Wut eines von »alt-hergebrachtem Stammeshaß« erfüllten Volkes.Genausowenig war er die vorhersehbare Folgedurch Armut und Überbevölkerung entfesselterKräfte.

Der Völkermord war das Ergebnis einer be-wußten Entscheidung, getroffen von einer mo-dernen Elite, die sich durch Verbreitung von Haßund Angst den Machterhalt zu sichern suchte.Diese kleine, privilegierte Gruppe brachte zu-nächst die Mehrheit gegen die Minderheit auf,um der zunehmenden Opposition innerhalbRuandas Herr zu werden. Dann jedoch, ange-sichts der sowohl auf dem Schlachtfeld als aucham Verhandlungstisch erzielten Erfolge der RPF,änderten die Machthaber ihre Strategie der ethni-schen Diskriminierung und setzten statt dessenauf den Völkermord. Sie glaubten, ein Vernich-tungsfeldzug könne die Solidarität der Hutu un-ter ihrer Führung wiederherstellen und ihnen da-bei helfen, entweder den Krieg zu gewinnen oder

zumindest ihre Chancen auf ein für sie günstigesErgebnis der Friedensverhandlungen zu verbes-sern. Sie rissen die Kontrolle über den Staat ansich und bedienten sich seiner Maschinerie undseiner Autorität, um ihr Blutbad anzurichten.

Ebenso wie die Organisatoren des Völkermor-des waren auch die Täter keineswegs Dämonenoder Marionetten, die Kräften unterworfen wa-ren, denen sie sich nicht entziehen konnten. Siewaren Menschen, die sich entschieden hatten,Böses zu tun. Zehntausende von Furcht, Haßoder der Hoffnung auf Profit getriebene Men-schen trafen eine schnelle und leichte Wahl. Siebegannen zu töten, zu vergewaltigen, zu raubenund zu zerstören. Bis zum Schluß fielen sie im-mer wieder über Tutsi her – ohne Zweifel oderReue. Viele von ihnen ließen ihre Opfer entsetz-lich leiden und erfreuten sich daran.

Hunderttausende andere entschlossen sichnur zögerlich zur Beteiligung am Völkermord, ei-nige unter Zwang oder aus Angst um ihr Leben.Anders als die Eiferer, die ihre erste Wahl niemalsin Frage stellten, mußten diese Menschen immerwieder neu entscheiden, ob sie sich beteiligenwollten oder nicht, standen ständig aufs neue vorder Wahl der Vorgehensweise und des Opfers undhatten abzuwägen, ob ihnen eine BeteiligungGewinn einbringen würde oder eine Weigerungmit Kosten verbunden wäre. Daß vermeintlich le-gitime Behörden zu Angriffen aufhetzten oderdiese anordneten, machte es den Zweifelndenleichter, Verbrechen zu begehen und dennoch zuglauben oder vorzugeben, sie hätten nichts Un-rechtes getan.

Die politischen Entscheidungsträger in Frank-reich, Belgien und den Vereinigten Staaten wuß-ten ebenso wie die Vereinten Nationen von denVorbereitungen für ein gewaltiges Blutbad, unter-ließen jedoch die zu seiner Verhütung notwendi-gen Maßnahmen. Von Anfang an war ihnen be-wußt, daß die Vernichtung der Tutsi geplant war,doch die führenden ausländischen Politiker woll-ten nicht einräumen, daß es sich um einenVölkermord handelte.

›Kein Zeuge darf überleben.

Der Genozid in Ruanda.‹

Hamburger Edition,

Hamburg 2002

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Alle wußten, was vorgingA l i s o n D e s F o r g e s

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»Wir selbst können uns nicht auseinanderhal-ten«, erklärte mir Laurent Nkongoli, der korpu-lente Vizepräsident der Nationalversammlung.»Ich bin einmal in einem Bus im Norden gefah-ren, wo sie alle Hutu waren, und weil ich denMais aß, den sie essen, sagten sie: ›Er ist einer vonuns‹, aber ich bin ein Tutsi aus Butare im Süden.«Dennoch, als die Europäer Ende des 19. Jahrhun-derts in Ruanda auftauchten, gewannen sie dasBild einer stattlichen Rasse von Kriegerkönigen,umgeben von Herden langhörnigen Viehs, undeiner untergeordneten Rasse kleiner, dunklerBauern, die Hackfrüchte anbauten und Bananenpflückten. Die weißen Männer nahmen an, diessei die Tradition des Landes, und sie hielten es füreine natürliche Regelung.

In jenen Tagen war in Europa die »Rassen- theorie« groß in Mode, und wer sich mit Zentral-afrika beschäftigte, kannte als entscheidendeLehre die sogenannte hamitische Hypothese, die1863 von John Hanning Speke aufgestellt wordenwar, einem Engländer, der vor allem dafür be-rühmt wurde, daß er den großen afrikanischenSee »entdeckte«, den er Victoria-See nannte undals Quelle des Nil identifizierte. Laut Spekesgrundlegender anthropologischer Theorie, die ervollständig aus der Luft griff, war sämtlicheKultur und Zivilisation in Zentralafrika von dengrößeren Menschen mit schärferen Gesichtszü-gen eingeführt worden, die er für einen kaukasi-schen Stamm äthiopischen Ursprungs hielt.Dieser leite sich ab vom biblischen König Davidund sei folglich eine den eingeborenen Negroidenüberlegene Rasse.

Ganze Teile seines Journal of the Discovery ofthe Source of the Nile widmete Speke Beschrei-bungen der physischen und moralischen Häß-lichkeit von Afrikas »primitiven Rassen«, in derenBeschaffenheit er »einen verblüffend aktuellenBeweis für die Heilige Schrift« fand. Für seinenText griff Speke auf die Geschichte von Noah(1 Moses, 9) zurück: Als Noah gerade sechshun-dert Jahre alt war und seine Arche sicher an trok-kenes Land gebracht hatte, pflanzte er einenWeinberg, betrank sich und schlief nackt in sei-nem Zelt ein. Als er aus seinem Rausch erwach-te, erfuhr er, daß sein jüngster Sohn Ham ihnnackt gesehen und seinen Brüdern Sem undJaphet davon berichtet hatte; diese aber, züchtig

abgewendet, hatten ihres Vaters Blöße mit einemGewand bedeckt. Noah verfluchte daraufhin dieNachfahren von Hams Sohn Kanaan: »Er sei sei-nen Brüdern ein Knecht aller Knechte!« Unterden Verworrenheiten der Genesis ist dies eine derrätselhaftesten Geschichten, die viele verwirrendeInterpretationen erfahren hat – vor allem jene,daß Ham der erste schwarze Mensch gewesen sei.Für die Grundbesitzer des amerikanischenSüdens rechtfertigte die seltsame Geschichte vonNoahs Fluch die Sklaverei, und für Speke und sei-ne kolonialistischen Zeitgenossen brachte sie dieGeschichte der afrikanischen Völker auf denPunkt. Bei »der Betrachtung dieser Söhne Noahs«staunte er darüber, daß sie »so, wie sie damals waren, noch heute zu sein scheinen.«

Speke beginnt einen Absatz seines Journalsunter dem Titel »Fauna« mit den Worten: »Bei derBehandlung dieses Zweiges der Naturgeschichtewenden wir uns zunächst dem Menschen zu –dem echten krausköpfigen, plattnasigen, dicklip-pigen Neger.« In dieser Subspezies sah sich Spekemit einem Geheimnis konfrontiert, das sogarnoch größer war als das des Nils: »Wie der Negerso lange ohne Fortschritt gelebt hat, scheint einWunder, da alle Afrika umgebenden Länder imVergleich so weit fortgeschritten sind; und wennman vom fortgeschrittenen Zustand der Welt aus-geht, wird man zu der Annahme geleitet, daß derAfrikaner entweder bald selbst aus seiner Fin-sternis heraustreten oder von einem ihm überle-genen Wesen verdrängt werden muß.« Spekeglaubte, eine Kolonialregierung – »wie die unsrein Indien« – könnte »den Neger« vor dem Unter-gang retten, aber im übrigen gestand er dieserRasse »nur sehr geringe Chancen« zu: »Wie essein Vater machte, so macht es auch er. Er läßt sei-ne Frau arbeiten, verkauft seine Kinder, versklavtalle, deren er habhaft werden kann, und solangeer nicht um das Eigentum anderer kämpft, gibt ersich mit Trinken, Singen und Tanzen wie ein Affezufrieden, um die dumpfe Sorge zu vertreiben.«

Das alles war reinster viktorianischer Jargon,auffallend nur durch die Tatsache, daß ein Mann,der sich solche Mühe gemacht hatte, die Welt neuzu sehen, mit solch abgehangenen Beobachtun-gen zurückgekehrt war. (Und wirklich hat sichseitdem sehr wenig geändert; man braucht dievorstehenden Passagen nur leicht zu redigieren

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Hutu, Tutsi und der RassenmythosP h i l i p G o u r e v i t c h

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– die kruden Karikaturen zu streichen, die Frageder menschlichen Unterlegenheit und den Hin-weis auf den Affen – und erhält jene Art Profil desmißverstandenen Afrika, das bis heute in deramerikanischen und europäischen Presse genau-so die Norm geblieben ist wie in den Spenden-aufrufen humanitärer Hilfsorganisationen.)Zwischen den jämmerlichen »Negern« fandSpeke jedoch eine »überlegene Rasse« von»Männern, die der üblichen Ordnung der Einge-borenen so unähnlich waren wie nur möglich«.Sie besaßen »klare ovale Gesichter, große Augenund hohe Nasen, die das beste Blut Abbessiniensverraten« – das heißt Äthiopiens. Diese »Rasse«umfaßte viele Stämme, darunter auch die Watussi– Tutsi –, die allesamt Vieh hielten und in derRegel über die negroiden Massen herrschten. Ammeisten fühlte sich Speke von ihrer »körperlichenErscheinung« angezogen, die trotz der haarkräu-selnden und hautverdunkelnden Auswirkungender Mischehen »tiefe Spuren asiatischer Züge be-wahrt hatte; ein charakteristisches Merkmal istdas ausgeprägte Nasenbein.« Indem er seine Ver-mutungen in vage wissenschaftliche Begriffe klei-dete und sich auf die historische Autorität derHeiligen Schrift berief, verkündete Speke, diese»semi-Semhamitische« Herrenrasse bestehe ausverlorengegangenen Christen, und er gab zu be-denken, mit ein wenig britischer Erziehung kön-ne sie fast so »überlegen in allen Dingen« werdenwie er als Engländer.

Nur wenige der heute lebenden Ruander ha-ben von John Hanning Speke gehört, aber diemeisten kennen die Essenz seiner wilden Phan-tasien, wonach die Afrikaner, die den StämmenEuropas am ähnlichsten sähen, deshalb auch zurHerrschaft bestimmt seien. Und ob sie das nunakzeptieren oder ablehnen – nur wenige Ruanderwürden leugnen, daß der hamitische Mythos eineder grundlegenden Ideen ist, mittels derer sie ih-ren Ort in der Welt begreifen. Im November 1992hielt der Ideologe von Hutu-Power, LeonMugesera, eine berühmte Rede, in der er die Hutuaufrief, die Tutsi zurück nach Äthiopien zu schik-ken, und zwar über den Nyabarongo, einenNebenfluß des Nils, der durch Ruanda fließt. Ermußte das nicht genauer erläutern: Im April 1994quoll der Fluß von toten Tutsi über, und Zehntau-sende Leichen wurden an den Ufern des Victoria-Sees angeschwemmt.

1885 waren die Vertreter der europäischenGroßmächte zu einer Konferenz in Berlin zu-sammengekommen, um die Grenzen ihrer neuen

afrikanischen Besitztümer abzustecken. Ruandaund seinen südlichen Nachbarn Burundi bezeich-neten die beiden Länder als Provinzen Deutsch-Ostafrikas. Zum Zeitpunkt der Berliner Konfe-renz war kein Weißer jemals in Ruanda gewesen.Speke, dessen Rassentheorien von den Kolonisa-toren Ruandas als Evangelium betrachtet wurden,hatte nur von einem Hügel im heutigen Tansaniaüber die Ostgrenze des Landes geblickt. 1894 be-trat der Deutsche Graf von Götzen als ersterWeißer Ruanda und besuchte den königlichenHof. Im darauffolgenden Jahr stürzte der Tod desMwami Rwabugiri das Land in politischen Auf-ruhr, und 1897 richtete Deutschland dort seineVerwaltungsstellen ein, hißte die Flagge desReichs und begründete eine Politik der indirektenHerrschaft. Offiziell bedeutete dies, ein paar deut-sche Vertreter über das bestehende System vonHof und Verwaltung zu setzen, aber die Wirk-lichkeit blieb weiterhin etwas komplizierter.

Rwabugiris Tod hatte einen gewaltsamenNachfolgestreit zwischen den königlichen Clansder Tutsi ausgelöst; die Dynastie befand sich in ei-nem heillosen Zustand, und die geschwächtenFührer der stärksten Fraktionen arbeiteten bereit-willig mit den kolonialen Oberherren zusammen,um sich so deren Schutz zu verschaffen. Die sichdaraus ergebende politische Struktur wird häufigals »dualer Kolonialismus« beschrieben: DieTutsi-Eliten nutzten die ihnen von den Deutschengewährte Protektion und den Freiraum dazu, umihre internen Fehden auszufechten und ihreHegemonie über die Hutu zu festigen. Als derVölkerbund Ruanda als Siegesbeute des ErstenWeltkrieges an Belgien übergab, waren dieBegriffe Hutu und Tutsi klar als einander be-kämpfende »ethnische« Identitäten definiert, unddie Belgier machten diese Polarisierung zumEckstein ihrer Kolonialpolitik.

In seiner klassischen Geschichte Ruandas ausden fünfziger Jahren bemerkte der MissionarMonsignor Louis de Lacger: »Eines der überra-schendsten Phänomene der menschlichenGeographie Ruandas ist sicherlich der Kontrastzwischen der Pluralität der Rassen und derEmpfindung nationaler Einheit. Die Eingebore-nen dieses Landes haben wirklich das Gefühl, ei-nem einzigen Volk anzugehören.« Noch heute istKinyarwanda die Sprache aller Ruander. WieLacger schrieb: »Es gibt nur wenige Völker inEuropa, unter denen man diese drei Faktoren na-tionalen Zusammenhalts findet: eine Sprache, ei-nen Glauben, ein Recht.« Vielleicht war es gerade

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diese auffallende Eigenart Ruandas, die seineKolonisatoren veranlaßte, den absurden hamiti-schen Vorwand zu benutzen, um so die Nation zuspalten. Die Belgier konnten kaum vorgeben, siewürden gebraucht, um Ordnung in das Land zubringen. Statt dessen suchten sie sich jene Merk-male der bestehenden Zivilisation heraus, die ih-ren eigenen Vorstellungen von Herrschaft undUnterwerfung entsprachen, und bogen sie für ih-re Zwecke zurecht. Kolonisierung ist Gewalt, undes gibt viele Möglichkeiten, diese Gewalt auszu-üben. Neben militärischen Führern und Verwal-tungschefs und einer wahren Armee von Kirchen-vertretern schickten die Belgier Wissenschaftlernach Ruanda. Diese brachten Waagen, Meßlattenund Schieblehren, und damit wogen sie dieRuander, maßen ihre Schädelgröße und stelltenvergleichende Analysen über die Form ruandi-scher Nasen an. Und natürlich fanden dieWissenschaftler heraus, was sie schon immer ge-glaubt hatten. Die Tutsi wiesen »edlere«, »natür-lichere« aristokratische Abmessungen auf als die»groben« und »bestialischen« Hutu. Auf dem»Nasenindex« etwa erwies sich, daß die durch-schnittliche Tutsi-Nase etwa zweieinhalb Milli-meter länger und fast vier Millimeter schmalerwar als die durchschnittliche Hutu-Nase.

Monsignor Léon Classe, der erste Bischof vonRuanda, befürwortete überzeugt die Entrechtungder Hutu und die Förderung der »traditionellenHegemonie der hochgeborenen Tutsi«. 1930warnte er, jeder Versuch, die Tutsi-Häuptlingedurch »ungehobelte« Hutu zu ersetzen, »würdeden ganzen Staat direkt in die Anarchie und in ei-nen erbitterten anti-europäischen Kommunis-mus treiben«, und er fügte hinzu: »Wir besitzenkeine Häuptlinge, die besser qualifiziert, intelli-genter und aktiver wären, die den Fortschritt bes-ser verstünden und vom Volke besser akzeptiertwürden als Tutsi.« Classes Botschaft wurde ge-hört: Die traditionellen Verwaltungsstrukturender einzelnen Hügel, die für die Hutu die letzteHoffnung auf wenigstens lokale Autonomie be-deutet hatten, wurden systematisch aufgelöst,und die Tutsi-Eliten erhielten fast unbegrenzteBefugnisse, die Arbeit der Hutu auszubeuten undihnen Steuern aufzuerlegen. 1933/34 führten dieBelgier eine Volkszählung durch, um »ethnische«Ausweise auszugeben, die jeden Ruander entwe-der als Hutu (85 Prozent), Tutsi (14 Prozent) oderTwa (ein Prozent) kennzeichneten. Die Ausweisemachten es Hutu praktisch unmöglich, Tutsi zuwerden, und erlaubten den Belgiern, die Verwal-

tung eines Apartheidsystems zu perfektionieren,das im Mythos von der Überlegenheit der Tutsiverwurzelt war.

Im Genuß der Macht und voller Angst, siekönnte selbst den Mißbräuchen unterworfen wer-den, zu denen man sie gegen die Hutu ermunter-te, akzeptierte die Oberschicht der Tutsi ihrenVorrang als selbstverständliches Recht. Die ka-tholischen Schulen, die das koloniale Ausbil-dungssystem dominierten, praktizierten eine of-fene Diskriminierung zugunsten der Tutsi, unddiese genossen ein Monopol auf politische undVerwaltungsstellen, während die Hutu ihre ohne-hin eingeschränkten Aufstiegschancen schrump-fen sahen. Nichts vermochte die Trennung so an-schaulich zu beschreiben wie das belgischeSystem der Zwangsarbeit, das ganze Heerscharenvon Hutu dazu verpflichtete, als Plantagenarbei-ter, beim Straßenbau und der Waldarbeit zuschuften, und ihnen die Tutsi als Aufseher auf-zwang. Jahrzehnte später erinnerte sich ein älte-rer Tutsi im Gespräch mit einem Reporter an diebelgische koloniale Ordnung: »Schlagt die Hutu,oder wir werden euch schlagen.« Die Brutalitätendete nicht bei Schlägen; erschöpft von ihrenkommunalen Arbeitsverpflichtungen, vernach-lässigten die Bauern ihre Felder, und die frucht-baren Hügel Ruandas wurden wiederholt vonHungersnöten heimgesucht. Seit den zwanzigerJahren flohen Hunderttausende von Hutu wieauch verarmte ländliche Tutsi nach Westen in denKongo und nach Uganda im Norden, um ihrGlück als landwirtschaftliche Wanderarbeiter zuversuchen.

Wofür die Identität als Hutu oder Tutsi in vor-kolonialen Zeiten auch gestanden haben mochte– jetzt war es irrelevant; die Belgier hatten»Ethnizität« zum bestimmenden Merkmal der ru-andischen Existenz gemacht. Die meisten Hutuund Tutsi unterhielten weiterhin einigermaßenfreundliche Beziehungen; es gab nach wie vorMischehen, und das Schicksal der petits Tutsi inden Bergen blieb dem ihrer Hutu-Nachbarn mehroder weniger ähnlich. Da aber jedes Schulkind inder Lehre rassischer Überlegenheit und Minder-wertigkeit aufwuchs, wurde der Gedanke einerkollektiven nationalen Identität immer stärkerausgehöhlt, und auf beiden Seiten, bei Hutu undTutsi, bildeten sich einander ausschließende Dis-kurse heraus, die auf konkurrierenden Behaupt-ungen des Vorrechts und der Kränkung basierten.

Stammesdenken zeugt Stammesdenken.Belgien selbst war eine nach »ethnischen«

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Grundsätzen geteilte Nation, in der die franko-phone wallonische Minderheit jahrhundertelangdie flämische Mehrheit beherrscht hatte. Abernach einer langen »sozialen« Revolution warBelgien in ein Zeitalter größerer Gleichberechti-gung der Bevölkerungsgruppen eingetreten. Dieflämischen Priester, die nach dem Zweiten Welt-krieg in Ruanda auftauchten, identifizierten sichmit den Hutu und ermutigten sie in ihremStreben nach politischem Wandel. Gleichzeitigwar Belgiens Kolonialverwaltung unter die Treu-händerschaft der Vereinten Nationen gestellt wor-den, was bedeutete, daß sie dem Druck ausge-setzt war, die ruandische Unabhängigkeit vorzu-bereiten. Politische Hutu-Aktivisten fingen an, ei-ne Mehrheitsherrschaft und eine eigene »sozialeRevolution« zu fordern. Aber der politischeKampf in Ruanda ging niemals wirklich um einStreben nach Gleichberechtigung; die Frage lau-tete lediglich, wer den ethnisch bipolaren Staat re-gieren würde.

Im März 1957 veröffentlichte eine Gruppe vonneun Hutu-Intellektuellen das später sogenannteHutu-Manifest, in dem sie »Demokratie« forder-ten – allerdings nicht durch die Ablehnung deshamitischen Mythos, sondern indem sie sich aufihn beriefen. Wenn die Tutsi ausländische Inva-soren waren, dann, so lautete ihre Argumenta-tion, war Ruanda rechtens eine Nation der Hutu-Mehrheit. Dies war der Inbegriff demokratischenDenkens in Ruanda: Für die Hutu sprach ihreZahl. Das Manifest lehnte den Verzicht aufAusweise mit dem Eintrag der »ethnischen«Zugehörigkeit entschieden ab – aus Angst, »dasstatistische Gesetz könne gehindert werden, dieRealität der Fakten zu begründen«, als würde dieGeburt eines Menschen als Hutu oder Tutsi auto-matisch auch seine Politik festlegen.

›Wir möchten Ihnen mitteilen,

daß wir morgen mit unseren Familien

umgebracht werden.‹

Berichte aus Ruanda.

Berlin Verlag, Berlin 1999

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Schon bei den ersten modernen Eliten Ruandas inden fünfziger Jahren spielen Vorurteile undStreitigkeiten im Zusammenhang mit derSpaltung zwischen Hutu und Tutsi eine wichtigeRolle. Doch insgesamt bietet die ruandischeGesellschaft durchaus ein nuancenreicheres Bild.Eine damals durchgeführte Erhebung zu denFamilieneinkommen in ländlichen Gebieten er-gab, daß die Durchschnittseinkommen bei denBahutu und den Batutsi dieselben waren. Tatsäch-lich ist vor allem die kleine, aus der Universität inAstrida oder dem Priesterseminar hervorgegan-gene Bildungsschicht von der ethnischen Obses-sion befallen. Als Gegengewicht zur Tutsi-Elitemit ihrem klerikalen Flügel, die sich auf die über-kommene Führungsschicht stützt, bildet sich ei-ne Hutu-Elite heraus, die aus Lehrern, Priestern,Katecheten, medizinischem Hilfspersonal undAgronomen besteht und deren Einfluß sich aufHandwerker, Händler und Lastwagenfahrer stüt-zen kann. Der Zugang der einen zu Vervielfälti-gungsapparaten und der anderen zu Verkehrs-mitteln wird sich als nützlich erweisen. Insge-samt besteht diese Welt, die sich von der Masseder ländlichen Bevölkerung abhebt, aus einigentausend Menschen, die jedoch eine entscheiden-de Rolle als »kulturelle Mittler« spielen.

Bis Mitte der fünziger Jahre scheint die politi-sche Situation von einem traditionsbestimmtenKonservatismus geprägt zu sein. Den entschei-denden Anstoß gibt die katholische Kirche. Eineneue Generation von Missionaren, die sich vonden Idealen einer christlichen Demokratie leitenläßt, fühlte sich dem Hutu-Populismus eng ver-bunden. Die Flamen erkennen darin ihren Kampfgegen die frankophonen Belgier wieder. DerSchweizer André Perraudin, seit 1955 Bischof vonKabgayi, fühlt sich in Ruanda an die Forderungender Landbevölkerung in seinem heimatlichenValais gegenüber der Bourgeoisie von Sion er-innert. Neun Jahre nach dem Jubiläum von 1950,das die Erfolge der Evangelisierung ganz derTutsi-Aristokratie zugewiesen hatte, die das Landzu Christus geführt haben sollte, bringt derFastenhirtenbrief von 1959 die Kehrtwende derKirche deutlich zum Ausdruck. Darin heißt es, inRuanda gebe es »zwei deutlich voneinanderunterschiedene Rassen«, und die soziale Un-gleichheit beruhe »zu einem großen Teil auf den

Rassenunterschieden«. Die aus den Priesterse-minaren hervorgegangenen Hutu definieren sichals Angehörige einer »ländlichen Bildungs-schicht«; darum erfreuen sie sich der Unterstüt-zung durch die christliche ArbeiterbewegungBelgiens und können auf die Strukturen derPfarrgemeinden zurückgreifen (Légion de Marie,Lehrerverein, Druckerei und Dienste der Kirchen-verwaltung in Kabgayi).

Die Karriere ihres Anführers GrégoireKayibanda ist in dieser Hinsicht aufschlußreich.Der Lehrer, der Bischof Perraudin nahestand undan Veranstaltungen der Jeunesse OuvrièreChrétienne in Belgien teilnahm, wird 1954Chefredakteur der Zeitschrift »Kinyamateka«, diedas »soziale« Wort Gottes unter Zehntausendenvon Lesern verbreiten soll, und später Direktions-mitglied des 1956 gegründeten katholischenNetzwerks Trafipro.

Im August 1959 wird die Union nationalerwandaise (Unar) gegründet, welche die sofortigeUnabhängigkeit fordert. Doch nicht alle Tutsi-Führer schließen sich ihr an. Im folgenden Monatgründen reformistische Elemente den Rassem-blement démocratique rwandais (Rader) und ver-bünden sich mit der Hutu-Partei. Der ethnischeGegensatz hat also das Denken der Menschennoch nicht vollends durchdrungen. Im Herbst1959 verschärft sich die Tonlage. Eine Reihegegenseitiger Provokationen führt schließlich zueinem Bauernaufstand im Norden und im Zen-trum des Landes. Tausende von Hütten werdenniedergebrannt, mehrere hundert Tutsi ermordet.Der Norden ist damit praktisch »gesäubert«. ImGegenzug werden Hutu-Führer ermordet. Dar-aufhin verlegt die belgische Regierung Fall-schirmjäger aus dem Kongo in die Region und er-nennt Oberst Guy Logiest, einen Bewunderer derApartheid, zum Sonderresidenten. Im Schattendes Militärregimes wir das Land »enteint« (dés-unarisé) – eine Operation, bei der man die Hälfteder Oberhäupter und 300 von 500 stellvertreten-den Oberhäuptern absetzt und durch Hutu-Oberhäupter oder Bürgermeister ersetzt. ImKontext dieser zwangsweisen »Bewußtma-chung« ethnischer Unterschiede geht bei denKommunalwahlen im Juni 1960 eine erdrücken-de Mehrheit an den Parmehutu, den 1959 ausKayibandas zwei Jahre davor gegründetem

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Eine »soziale Revolution« besonderer ArtJ e a n - P i e r r e C h r é t i e n

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Mouvement social muhutu hervorgegangenenParti du mouvement de l’émancipation desBahutu. Eine autonome belgisch-ruandischeRegierung wird gebildet, deren FührungKayibanda übernimmt. Die Vereinten Nationenlassen es geschehen. Der von den belgischenChristlichsozialen beratene und von Logiestunterstützte Kayibanda organisiert einen Staats-streich. Am 28. Januar 1961 rufen die Vertreterder Gemeinden in Gitarama die Republik aus.Der Mwami flieht nach Léopoldville, die Parla-mentswahlen im September 1961 bestätigen denRegimewechsel zugunsten des Parmehutu undKayibandas, der noch vor der Unabhängigkeits-erklärung im Juli 1962 zum Staatspräsidenten er-nannt wird. In der Wortwahl von GouverneurHarroy handelt es sich um den Sieg einer»Revolution« unter »Aufsicht« oder mit dem»Beistand« der Kolonialbehörden.

Doch die rassistische Ausrichtung des Parme-hutu war offenkundig. Diese Partei gab vor, »dasLand seinen eigentlichen Besitzern zurückzuge-ben«, und riet den Tutsi, »nach Abessinien zurück-zukehren«, wenn es ihnen in Ruanda nicht gefal-le. Wie es in einer Erklärung des Zentral-komitees vom Mai 1960 heißt: »Ruanda ist dasLand der Bahutu (Bantu) und all derer, ob weißoder schwarz, Europäer, Tutsi oder sonstigerHerkunft, die sich von den feudal-kolonialisti-schen Zielen freimachen wollen.« Die in Ruandahergestellte, in Europa von der Linken wie von derRechten so hochgelobte Demokratie war alsorecht eigentümlicher Art. Sie wurde verstandenals Herrschaft der »kleinen Leute« oder der»Mehrheit«, aber zugleich auch als legitimeRache der »einheimischen« Bevölkerung, derHutu, an den 17 Prozent Tutsi, die in ihrerGesamtheit als ausländische Minderheit behan-delt wurde. Diese Vorgänge sind – auch von denAkteuren – oft mit der Französischen Revolutionverglichen worden. Doch die ruandische Revolu-tion schaffte die »Stände« (hier die Amoko) kei-neswegs ab, sondern verstärkte sie noch und be-handelte die »Hamiten«, wie die Tutsi auf ihrenAusweisen bezeichnet wurden, geradeso, als hät-te der Dritte Stand in Frankreich sich für alleZeiten zum Träger einer gallischen Volksidentitäterklärt und beschlossen, die Abkömmlinge desAdels in ein Getto »fränkischer Eroberer« zu sper-ren. Die Rassentrennung der dreißiger Jahre wirdalso beibehalten, man kehrt lediglich dieVorzeichen um zugunsten der Mehrheit.

Die einst von den Kolonialherren gehätschel-ten Tutsi sind in Ruanda von heute auf morgen zuMenschen geworden, die in ihrem Land nur ge-duldet werden. Nahezu 150 000, fast ein Drittelvon ihnen, muß in die angrenzenden Länder flie-hen. Weitere Wellen werden ihnen 1964 und 1973folgen. Ende 1980 werden sich etwa 700 000Flüchtlinge in Burundi, Uganda, Zaire undTansania aufhalten. Diese Diaspora ist die erstegroße Flüchtlingsgruppe in Schwarzafrika, aber30 Jahre lang nimmt man kaum Notiz von ihremSchicksal, als handelte es sich tatsächlich nur umdie von der Propaganda in Kigali sogenannte»Feudalclique«.

Die »soziale Revolution« von 1959 bis 1961 istdas Ereignis, das die folgenden drei Jahrzehnteprägt. Weihnachten 1963 nimmt das Regime ei-nen Angriff mehrerer hundert aus Burundi einge-drungener Flüchtlinge, der von belgischen Trup-pen südlich von Kigali gestoppt werden, zumAnlaß, um die durch interne Rivalitäten ge-schwächte Parmehutu wieder zusammenzu-schweißen, indem man 1964 Jagd auf die kollek-tiv verteufelten Tutsi macht. Im Namen der»Selbstverteidigung« und des »Volkszorns« orga-nisieren verängstigte Hutu, Bürgermeister undPräfekten, unterstützt von eigens in die Provinzgeschickten Ministern, eine Reihe von Massa-kern, denen mehr als 10 000 Menschen zumOpfer fallen. Die Tutsi werden als »fünfteKolonne« der »Kakerlaken« (Inyenzi) beschimpft,die überall eindringen. Die in Ruanda gebliebe-nen Tutsi-Persönlichkeiten der Unar und Raderwerden exekutiert, der Parmehutu kann nun1966 zur einzigen Partei werden. Mit Zustim-mung der katholischen Hierarchie spielen dieMachthaber das Gemetzel herunter, das BertrandRussell damals als das »schrecklichste und syste-matischste Massaker seit der Vernichtung derJuden durch die Nazis« bezeichnet. In diesenEreignissen muß man einen Vorboten des Völker-mords von 1994 erblicken, zumal GrégoireKayibanda den Flüchtlingen damals androhte,wenn sie Kigali angriffen, werde er ein Chaosschaffen, das unweigerlich »das vollkommene, ra-sche Ende der gesamten Tutsi-Rasse« bedeutenwerde.

In der Zweiten Republik, die aus einemStaatsstreich unter Führung des Generals JuvénalHabyarimana von 1973 hervorgeht, verlagert sichder Schwerpunkt der Macht nach Norden, »vonNduga nach Rukiga« oder genauer von Gitarama

Mwami

König

Inyenzi

»Kakerlake«, seit den sechziger

Jahren Bezeichnung für Tutsi

Amoko

Stand, Clan, aber auch Ethnie

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nach Gisenyi, der Präfektur des neuen Staatsprä-sidenten. Nach einer fünfjährigen Übergangspe-riode unter militärischer Herrschaft nimmt dieMacht wieder zivile Züge an, wie der belgischeJurist Filip Reyntjens schreibt. Die Verfassungvon 1978 schafft ein Präsidialsystem, in dem dieBevölkerung von einer neuen Einheitspartei, demMouvement révolutionnaire national pour le dé-veloppement (MRND), vereinnahmt wird. Fünf-zehn Jahre lang scheint Ruanda ein Land ohneVergangenheit zu sein, in dem nur von »Entwick-lung« gesprochen wird, wie es das Symbol derPartei und die Bezeichnung der Nationalver-sammlung anzeigen. Diese »bäuerliche Ord-nung« basiert auf drei Pfeilern: der alltäglichenethnischen Diskriminierung, der katholischenKirche und der ausländischen Hilfe. Staatlicheund private Hilfsgelder strömen in dieses »Landder tausend Entwicklungshelfer«, in dem prak-tisch jede Gemeinde ihr »Projekt« hat und das alsModell für die »integrierte ländliche Entwick-lung« gilt. Ein kleines, fleißiges, ehrsames, gesit-tetes, wohlmeinendes, stabiles Land – das ist dasBild, das man unermüdlich verbreitet. Ein lang-jähriger Berater seines ersten PräsidentenKayibanda:

»Das neue Ruanda ist zutiefst geprägt von dergroßen Mäßigung seiner wichtigsten Führer, vonder Entscheidung für die Demokratie und von derchristlichen Ausrichtung der Politik.«

Die Kirche arbeitet wie schon zu Kolonialzei-ten Hand in Hand mit dem Staat. Gemeinsam mitden »ausländischen Freunden«, vor allem denChristlichdemokraten in Flandern oder im Rhein-land, bildet sie einen wichtigen Stützpfeiler. DasNetz der Pfarreien und die Sonntagsmesse ergän-zen die Parteizellen und die wöchentlicheVersammlung zur »Gemeinschaftsarbeit« (Umu-ganda genannt) sowie zur »Anregung« (das heißtPropaganda). Neben den offiziellen Organen gibtes nur noch die katholische Presse; die Tageszei-tung »Kinyamateka« und die 1968 zur morali-schen und kulturellen Erziehung der Eliten gegründete Zeitschrift »Dialogue«. VincentNsengiyumva, 1976 bis 1994 Erzbischof vonKigali, gehörte lange Zeit dem Zentralkomitee desMRND an. Das Präsidentenpaar demonstrierte ei-ne Frömmigkeit, die etwa am Hof des belgischenKönigs Baudouin Erstaunen erregte. Von 1981 bis1983 hielten Schülerinnen des Gymnasiums vonKibeho öffentlich und in Gegenwart der Medien»Zwiesprache« mit der Jungfrau Maria. Dieses

sittenstrenge Regime erinnert deutlich anPortugal unter Salazar.

Die »christlichen und demokratischen« Werteverbanden sich mit einer Ausblendung oder garUnterdrückung aller kulturellen Bezüge zum al-ten Ruanda, das in Bausch und Bogen als »feu-dal« abgetan wurde. Die außerordentliche reichemündliche Literatur, Tanzkultur und Musik wur-de auf akademischer Ebene, in Musikwissen-schaft und Volkskunde, zwar am Rande behan-delt, doch in der Öffentlichkeit reinigte und zen-zierte man sie, denn die traditionelle religiöseund politische Kultur war, ob man das wollte odernicht, eng mit dem Königtum verbunden. DasLand wurde von einer Musik nach dem VorbildZaires überschwemmt. Man reduzierte die Ge-schichte auf das Rassenschema und warf alles,was vor 1959 lag, auf den Müllhaufen des »ancienrégime«, ähnlich den als »gotisch« bezeichnetenBauwerken, die im nachrevolutionären Frank-reich dem Vandalismus anheimfielen. Das neueRuanda wies seine ganze nationale Vergangenheitden Tutsi zu und machte sie so zu etwas Hassens-wertem. Erst in den siebziger Jahren wandte sicheine neue Generation von Historikern wiederdem Erbe der heiligen Wälder und der münd-lichen Tradition zu.

Die Ablehnung der Vergangenheit verbandsich mehr und mehr auch mit einer Blindheit fürdie politische Zukunft. In den achtziger Jahren er-lebte Ruanda eine verstärkte Modernisierung.Geld, Geschäfte und Individualismus erlangten,zum Guten oder zum Schlechten, immer größe-re Bedeutung innerhalb der Gesellschaft. DerWiderspruch zwischen der offiziellen Ländlich-keitsrhetorik und diesen sozialen Realitäten tratimmer deutlicher zutage. Um dem entgegenzu-wirken, griff das Regime nach derselben Kon-struktion wie einst die Kolonialherren. Man ver-suchte, die als traditionsbedingt dargestelltenSpaltungen aufrechtzuerhalten, indem man ein»Gleichgewicht« herstellte. Die »Demokratie«war nicht zu verbessern, da die Macht ja bereits inden Händen der »Mehrheit« lag, aber derenInteressen galt es durch ein Quotensystem zu si-chern, das soziale »Disparitäten« verhindern soll-te. Man begrenzte den Anteil der jungen Batutsiin Schule und Beruf auf 9 % und erreichte damitzugleich auch den Fortbestand des ethnischenDenkens in den neuen Generationen. So erzwangman, daß die Prinzipien, die bei der Gründungder Hutu-Republik Pate gestanden hatten, aucheine Generation später noch Bestand hatten.

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Als die wirtschaftliche und politische Lage inRuanda sich 1989 verschlechtert, sehen viele bel-gische Beobachter sich veranlaßt, von einer»Endzeitstimmung« und einem Scheitern desKooperationsmodells zu sprechen. Am 1. Oktober1990 greifen einige tausend ruandische Soldatender ugandischen National Resistance Army(NRA) im Nordosten des Landes an. DieseGuerilleros bezeichnen sich selbst als Inkotanyi(Kämpfer) und bilden den bewaffneten Arm desFront patriotique rwandais (FPR). Diese 1987 inKampala aus dem Untergrund hervorgetreteneBewegung vollzieht einen Bruch mit der monar-chistischen Tradition der alten Unar und verfolgtdas Ziel, den ruandischen Staat auf nationalerGrundlage wieder aufzubauen und unter allenUmständen den geflohenen Tutsi die Rückkehr inihre Heimat zu ermöglichen. Hinter diesem Zielsteht die gesamte ruandische Diaspora seit ihremWashingtoner Kongreß im Jahr 1988. Außerdemprofitiert der FPR von den Aktivitäten einer Grup-pe von Hutu-Funktionären, die sich von der Kor-ruption und dem Nepotismus des Habyarimana-Regimes abgestoßen fühlen, darunter OberstAlexis Kanyarengwe und Pasteur Bizimungu, derehemalige Direktor der staatlichen Elektrizitäts-gesellschaft. Der Zusammenbruch des Regimesscheint nahe.

Doch die Oktoberoffensive wird von derArmee, den Forces armées rwandaises (FAR), mitUnterstützung durch Truppen aus Frankreich,Belgien und Zaire rasch zerschlagen. Der Führerder Inkotanyi, Fred Rwigyema, kommt schon inden ersten Tagen ums Leben. Der WiderstandKigalis kann nur überraschen, wenn man die aus-ländische Hilfe, den neuerlichen Rückgriff aufdas immer noch virulente ethnische Denken unddie listigen Machenschaften des Präsidenten au-ßer acht läßt. Juvénal Habyarimana versteht es,sehr schnell ausländische Hilfe zu mobilisieren;er zögert nicht, die alte Propaganda gegen die»feudalistischen Tutsi« wiederzubeleben; und erscheut auch nicht vor einer Provokation zurück:Nach einem Scheinangriff auf Kigali in der Nachtzum 4. Oktober läßt er etwa 8 000 Verdächtige inden Gefängnissen und Stadien von Kigali zu-sammentreiben. Der FPR unter seinem neuenFührer Paul Kagame verlegt die Front in den vul-kanischen Teil des Landes und baut dort imNorden mit stillschweigender UnterstützungUgandas eine Guerillabewegung auf.

Von 1991 bis 1993 erleben wir einen Wettlaufgegen die Zeit zwischen zwei Logiken: zwischen

der des Verhandelns und der Demokratisierungdes Regimes auf der einen Seite, der des Kriegesund der Mobilisierung ethnischer Feindseligkeitauf der anderen. Drei Jahre lang hielt das RegimeHabyarimana an diesem Doppelspiel fest undkonnte sich dabei ganz auf die militärische Hilfeder französischen Regierung unter PräsidentFrançois Mitterand verlassen. Die Verteidigungder bestehenden Ordnung im französischenEinflußbereich, der durch einen anglophonenEinbruch (ein neues Fachoda) bedroht war, schienmit der auf der Konferenz von La Baule im Juni1990 empfohlenen demokratischen Öffnung ein-hergehen zu können. Außerdem hatte JuvénalHabyarimana von Anfang deutlich gemacht, daßdie politische Unordnung unweigerlich zu Ge-walttätigkeiten zwischen den verschiedenen Eth-nien führen müsse. Er präsentierte sich selbst alsBollwerk gegen solche Exzesse und als legitimerVertreter der »Volksmehrheit«. Diese Argumenteüberzeugten nicht nur die in Brüssel beheimate-te Christlichdemokratische Internationale, son-dern auch zahlreiche französische Sozialisten, diedamals ein afrikanisches »1789« zu erkennenglaubten, das geschützt werden müßte.

Doch die Situation im Lande war vollkommenanders. Tatsächlich gab es keinerlei spontaneRepressalien gegen die Tutsi. Die Gewalttätigkei-ten, zu denen es von 1990 bis 1993 gelegentlichkam, wurden jeweils aus Gründen politischerOpportunität von staatlicher Seite organisiert.Andererseits gewann die innere Opposition ge-gen die an der Macht befindliche Fraktion ständigan Stärke. Die Habgier des von der Präsidenten-familie, des sogenannten Akazu, geführten Nord-clans wird von den Eliten des Südens und desZentrums kritisiert, die zum Teil nostalgisch derZeit Kayibandas verhaftet, zum Teil aber auch of-fen für ein moderneres soziales Leben sind, indem das Tutsi-Problem überwunden wäre.

Angesichts einer schwierigen Wirtschaftslage,eines Bürgerkriegs im Norden, einer neuen Hutu-Opposition, die bereit ist, sich mit den Rebellenzu verbünden, und angesichts internationalenDrucks, weicht das Regime Schritt für Schritt zu-rück: Presse- und Versammlungsfreiheit werdenwiederhergestellt, und im Juni 1991 erlaubt eineVerfassungsreform die Schaffung eines Mehrpar-teiensystems. Mehrere Parteien werden neu oderwieder gegründet: der MDR (Mouvement démo-cratique républicain), Nachfolger des Parmehutuund hauptsächlich in der Präfektur Gitarama ver-wurzelt; der PSD (Parti social-démocrate), dessen

Akazu

»Das kleine Haus«;

innerer Machtzirkel

um Habyarimana

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Hochburg die Universitätstadt Butare ist; der PL(Parti libéral), in dem viele Tutsi ihre politischeHeimat finden, usw. Die einstige Einheitsparteiwird in MRNDD umbenannt (Movement révolu-tionnaire national pour le développement et la dé-mocratie). Gewalttätige Demonstrationen in Ki-gali führen im April 1992 zur Bildung einerKoalitionsregierung unter Leitung des Führersdes MDR Dismas Nsengiyaremye. Von nun an –und das wollen Habyarimanas ausländischeFreunde nicht wahrhaben – besitzt das politischeLeben des Landes drei Pole: die Bewegung umHabyarimana, die innere Hutu-Opposition undden FPR. Hutu-Opposition und FPR treffen sichin Uganda und Europa, dann beginnen im tansa-nischen Arusha Verhandlungen zwischen Regie-rung und FPR. Sie führen im Juli 1992 zu einemWaffenstillstand, im Januar 1993 zu politischenVereinbarungen und schließlich im Juli dessel-ben Jahres zu einem militärischen Kompromiß.

Doch zugleich wächst auch der ethnischeExtremismus. Im Mai 1990, noch vor dem An-griff der FPR, gründet ein obskurer Busfahrer ausGisenyi namens Hassan Ngeze mit heimlicherUnterstützung durch staatsnahe Kreise eine vier-zehntäglich erscheinende Zeitschrift mit demTitel »Kangura« (Weckruf ), die unter demDeckmantel der wiedergewonnenen Pressefrei-heit Haßkampagnen gegen die Tutsi-Inyenzi(»Kakerlaken«) und deren »Komplizen« (Ibyitso)unter den Hutu startet. Zur Krönung bringt sie imDezember 1990 einen »Appell an das Gewissender Hutu« mit den »Zehn Geboten des Hutu«, einEvangelium des Hasses, das jede geschäftlicheoder sexuelle Beziehung zwischen den beiden»Ethnien« verbietet:

»Die Batutsi dürsten nach Blut […]. Sie benut-zen zwei Waffen gegen die Hutu: Geld undFrauen […]. Die Bahutu dürfen nicht längerMitleid mit den Batutsi haben […]. Die Hutu-Ideologie muß in jedem Muhutu und auf allenEbenen gelehrt werden.«

Diese Ideologie ist den Ruandern keineswegsneu. Sie kennen sie seit Ende der fünfziger Jahre.Damals wurde sie in den wöchentlichen »Anre-gungsversammlungen« verbreitet. Im Dezember1993 veröffentlicht »Kangura« auf dem Titelblattein Porträt Grégoire Kayibandas neben einer rie-sigen Machete, um so an die schreckliche Machtdes »Volkes« zu erinnern. Die ethnistische Propa-ganda wird nun systematisch auf den Gipfel ge-trieben. Die ethnischen Unterschiede werden alsunausweichlicher, vorrangiger und eindeutig ras-

sischer Gegensatz dargestellt. Die praktischeFolge ist die vollständige Ablehnung des anderenbis hin zu dessen Vernichtung und die Legitima-tion von Gewalt in ihren grausamsten Formen, daes nur natürlich sei, sich mit allen Mitteln vor ei-nem unmenschlichen »Feind« zu schützen. Soheißt es in der Zeitschrift »Kangura«:

»Entdeckt eure Ethnie wieder […]. Ihr seid ei-ne wichtige Ethnie der Bantu-Gruppe. Die Nationist etwas Künstliches, die Ethnie dagegen etwasNatürliches.« (1992)

»Ein Kakerlak kann keinen Schmetterling her-vorbringen. So ist das nun einmal. Ein Kakerlakkann nur einen Kakerlaken hervorbringen. Daskann niemand bestreiten. Die Geschichte Ruan-das zeigt uns deutlich, daß ein Tutsi immer einTutsi bleibt und sich niemals ändert. Ihre Bosheitkennen wir zur Genüge aus der Geschichte unse-res Landes.« (März 1993)

»Der Krieg, den wir führen, ist der Krieg zwi-schen Batutsi und Bahutu. Um ihn in der öffent-lichen Meinung und im Feld zu gewinnen, sollendie einen hierher, die anderen dorthin gehen […].Aber weiterhin Dinge zu vermischen, die sichnicht miteinander vermischen lassen, wird zu garnichts führen.« (März 1991)

»Die Tutsi haben uns in Ruanda vorgefunden,sie haben uns unterdrückt, und wir haben es er-tragen. Aber nun, da wir der Knechtschaft entron-nen sind und sie die Unterdrückung wiederher-stellen wollen, wird wohl kein Hutu das mehr er-tragen wollen. Der Krieg der Bahutu ist gerecht.Es ist ein Kampf um die Republik [...]« (Mai 1991)

Die ganze Geschichte wird in einer gobin-schen, wenn nicht dem Geiste nach sogar nazisti-schen Weise auf diese Auseinandersetzung redu-ziert. Tatsächlich sprechen zahlreiche Anzeichendafür, daß hier das Leitmotiv des Antisemitismusin einen Antihumanismus verwandelt und aufdiese afrikanische Ideologie projiziert worden ist,hatten die Missionare die Tutsi doch ein Jahr-hundert lang als »Semito-Hamiten« bezeichnet.Wir haben es hier mit einem äußerst modernenPhänomen zu tun und nicht mit der bloßen Wiederkehr von »Stammeskämpfen«. DieIdeologie der »Kangura«-Zeitschrift wird auchaußerhalb Ruandas verbreitet, vor allem inBurundi, und zwar durch eine als internationaleAusgabe deklarierte Version der Zeitschrift.Andere, noch offiziellere Presseorgane unterstüt-zen diese Kampagne, angefangen bei derParteizeitung des MRND »Murwanashyaka« (DerKämpfer), die jede Vermischung und jeden

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Ibytso

Spion, Agent.«Maulwurf«

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Kompromiß zwischen Hutu und Tutsi ablehnt:»Es gibt Realitäten, denen man nicht ent-

kommt, sofern man sich nicht verstellt, indemman zum Beispiel die Ethnie wechselt. Aber so-bald man dich entdeckt, wird man dich den ande-ren zuordnen und deine eigenen Brüder werdennicht zögern, dich wie einen Hund zu behandeln[…]. Du kannst einer Ethnie nur auf dem Papierangehören, aber in welche Adern füllst du dasBlut der Ethnie, der du anzugeben vorgibst?«(April 1991)

»Der Feind ist unter uns, verräterische Partei-en halten die Inkotanyi für unsere Brüder.« (1992)

Der so in der Öffentlichkeit geschürte Rassen-haß materialisierte sich schließlich in Pogromen.Sie wurden hauptsächlich von Bürgermeistern or-ganisiert, die der Präsidentenpartei nahestanden.Zu solchen Pogromen kam es immer dann, wenneine politische Öffnung unvermeidlich schien:die Ausrottung des Tutsi-Clans der BagogweAnfang 1991, kurz nach einem Angriff der FPRauf Ruhengeri; das Massaker in Bugesera (imSüdosten des Landes) im März 1992, kurz bevordie Opposition Verhandlungen mit der Regierungaufnahm; das Gemetzel in Kibuye (im Westen desLandes) im August 1992, das sich nach Nordenausbreitete und bis Januar 1993 hinzog, parallelzu den in Arusha erzielten Fortschritten. DieseBlutbäder gingen hauptsächlich auf das Konto derInterahamwe (»die gemeinsam handeln«), derseit 1992 aufgebauten Miliz der StaatsparteiMRND. Sie provozierten im Februar eine kurz-zeitige Wiederaufnahme der Kämpfe seitens desFPR, die dazu führte, daß eine Million Flücht-linge aus dem Norden Richtung Kigali strömten.

Die zunehmenden Spannungen zeigten sichauch im politischen Bereich. Im November 1992bezeichnete Habyarimana selbst die ersten Über-einkünfte in Arusha als Fetzen Papier, und einigeTage später sagte ein hoher Vertreter seinerPartei, Professor Léon Mugesera, voraus, manwerde die Leichen der Tutsi (einschließlich derKinder) bald »per Expreß« auf den Flüssen in ih-re ursprüngliche Heimat Abessinien zurück-schicken. Der Generalstab hatte schon im Sep-tember eine gleichfalls sehr deutliche Erklärungüber den »inneren Feind« abgegeben. Dennochgelang es dem Präsidenten, sich in einer schein-baren Schiedsrichterrolle zu präsentieren, undzwar durch zwei Schachzüge: erstens durch dieim März 1992 erfolgte Gründung einer extremi-stischen Partei namens Coalition pour la défensede la République (CDR), die in Wirklichkeit von

hohen Funktionären des Akazu geleitet wurde;und zweitens durch die Spaltung der Hutu-Opposition, indem er von Sommer 1992 bis Som-mer 1993 darin eine ethnistische Strömung na-mens Hutu power unterstützte, in der DonatMurego, Froduald Karamira und Jean Kambandaden Ton angaben, drei Führer des MDR, derenunterschiedliche Herkunft (aus Ruhengeri,Gitarama und Butare) für eine »heilige Union«aller Hutu zu stehen schien.

Die Wiederaufnahme der Kämpfe im Februar1993 beschleunigte natürlich diese Spaltung, dieeine deutliche Schwächung für Faustin Twagira-mungu bedeutete, den zukünftigen Ministerprä-sidenten der in den Verträgen von Arusha vorge-sehenen Übergangsinstitutionen, und ebenso fürAgathe Uwilingiyimana, eine couragierte Frau,die Nsengiyaremye im Juni 1993 an der Spitze derKoaltionsregierung folgte. Dennoch schien dieHoffnung wieder zu wachsen, als im August dieVerträge von Arusha unterzeichnet werden.

Doch schon bald stellen sich Schwierigkeitenbei der Durchführung der Veränderungen undbei der Versöhnung ein. Die Vertreter der extre-men Positionen in Ruanda denken nicht daran,die Waffen niederzulegen, auch wenn ab Novem-ber 1993 die Blauhelme der UNAMIR in Kigalieintreffen. Präsident Habyarimana ist der einzi-ge, der seinen Amtseid auf die neuen Institutio-nen ablegt, doch dann hintertreibt er mit allerMacht die Bildung des Parlaments und der Über-gangsregierung. Seine Anhänger reden so, alsstünde die Wiederaufnahme der Kämpfe un-mittelbar bevor. Die Zeitschrift »Kangura« sagtim Januar einen Endkampf voraus, in dem »dieMassen« Blut fließen lassen würden. Ein neuerprivater Radiosender, Radiotélévision libre desmilles collines (RTLM), gegründet und finanziertvon einer dem Akazu nahestehenden Nomenkla-tura und technisch von Radio-Rwanda unter-stützt, verbindet eine mitreißende, meist ausZaire stammende Musik mit »heißen Nachrich-ten«, die scharf kommentiert werden: ein »inter-aktiver«, herzhafter und sogar humorvoller Stil,der die öffentliche Meinung bei den Hutu auf dieLinie des bösartigsten Extremismus bringen soll.»Kangura« hat eine Auflage von 10 000 Exempla-ren, doch RTLM erreicht mehrere Hunderttau-send Hörer.

Am Abend des 6. April wird das Flugzeug, dasPräsident Habyarimana in Begleitung seines bu-rundischen Amtskollegen Ntaryamira aus Dar-es-Salaam zurückbringt, beim Landeanflug auf den

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Flughafen Kigali abgeschossen. Die für diesenAnschlag Verantwortlichen wurden niemals er-mittelt, da es keine echte Untersuchung gegen dieanwesenden ruandischen, belgischen und franzö-sischen Protagonisten gab. Man begnügte sich da-mals mit Vermutungen, die auf der Frage beruh-ten, wem Habyarimanas Tod am meisten nützte,und später mit oft recht suspekten Enthüllungen.Aber sowohl die Logistik des Anschlags (die bei-den Raketen wurden von einem Hügel abgefeu-ert, der unter Kontrolle der Präsidentengardestand) als auch die vom belgischen Geheimdienstund von Beauftragten der Vereinten Nationen ge-sammelten Informationen verweisen deutlich aufdie extremistische Faktion, die in den folgendenTagen die Macht ergriff. Am 7. April übernimmtein Militärausschuß die Macht, die schon bald indie Hände eines pensionierten Offiziers undAngehörigen des Akazu, Oberst ThéonesteBagosora, fällt. Am 8. April wird eine neue Regie-rung gebildet, die ausschließlich aus Hardlinerndes MRND, der CDR und des Hutu-power-Flügelsder ehemaligen Opposition besteht. Zum Inte-rimspräsidenten ernennt man Théodore Sindi-kubwabo, zum Ministerpräsidenten Jean Kam-banda. Vom 9. bis 12. April intervenieren dieFranzosen in Kigali, um die Europäer zu evakuie-ren. Die Führungsschicht des Akazu bringt mangleichfalls in Sicherheit, doch die Tutsi-Mitarbei-ter der Botschaft überläßt man ihrem traurigenSchicksal. Und schon am Abend des 6. April be-ginnt der Völkermord. Schon am Nachmittag des7. April wird das Lager des kleinen, auf Grund derVerträge von Arusha in Kigali stationierten Kon-tingents des FPR überrannt, und im Norden desLandes mobilisiert Major Kagame seine Truppen.Am 11. April erreichen sie Kigali, und die »Regie-rung« weicht nach Gitarama aus. Der Krieg wirderst am 18. Juli enden, als der FPR in Gisenyi dieGrenze zu Zaire erreicht.

Den Kern des Völkermords bildet hier wie an-derswo der Rassismus, in diesem Fall der Rassen-haß der »eigentlichen Bürger des Landes« (derHutu) auf die »Kakerlaken« (die Tutsi). Aber wa-rum erreichte dieser Rassismus in Ruanda undBurundi solch ein Ausmaß, obwohl doch in allenNachbarstaaten ein ähnliches sozialanthropologi-sches Erbe zu finden ist? Auch wenn manche be-haupten, das sei ein Klischee, müssen wir dochüber die besondere koloniale Erfahrung inRuanda-Burundi nachdenken, vor allem über dieAbgeschlossenheit, in der die erste Generationder modernen Elite aufwuchs. In Uganda, in

Tanjanika und selbst im Kongo wurde die hetero-gene Bevölkerung zu einem friedlichenZusammenleben gebracht, Katholizismus undProtestantismus konkurrierten wirklich mitein-ander, das Wirtschaftsleben begünstigte dieEntstehung eines echten, vom Staat und denMissionen unabhängigen Kleinbürgertums, undes gab vielfältige Formen gemeinsamer Erfah-rung. Wir haben erlebt, daß alle Formen derMobilität, der Verstädterung, der modernen Ver-gesellschaftung, der Kritik und der Fantasie durchdie Sittenstrenge des konfessionell gebunden bel-gischen Paternalismus behindert wurden unddaß die neuen Staaten nach der Unabhängigkeitdiese Verkrampfung in gewisser Weise reprodu-zierten. Die koloniale Ordnung bewirkte überalleine Entwurzelung hinsichtlich des Alten und ei-ne Filterung hinsichtlich des Zugangs zu den mo-dernen Aspekten, die als Attribute der europäi-schen Kultur gelten. Diese zwiespältige Lage warin Ruanda besonders schlimm, und zwar trotzder zumindest zahlenmäßig großen Bedeutungdes Christentums, während die Eliten zum Bei-spiel in Uganda oder Tansania sich über eine ausbeiden Kulturen gespeiste Synthese neu definier-ten. In Ruanda war das am stärksten betonteBindeglied zwischen Vergangenheit und Gegen-wart dagegen die Beziehung zwischen den Eth-nien, die so sehr als Alpha und Omega der Iden-titätssuche galt, daß sie schließlich zur Obsessionwurde. Diese mentale Einschließung ist meinesErachtens ein wichtiger Schlüssel für die sozialePathologie, die den Völkermord hervorgebrachthat. Im Unterschied zum Völkermord an denJuden in Deutschland wurde dieser Völkermordam hellichten Tag und gleichsam mit gutemGewissen verübt. Ein bloßer »Krieg«, der in ei-nem »achtbaren Rassismus« gründete und zudessen Rechtfertigung sogar die Jungfrau Mariabei einer im Mai 1994 im Radio übertragenen»Erscheinung« herhalten mußte. Müssen wir an-nehmen, daß die Tragödie nach dem Bild der ge-scheckten Festtagsuniformen der Interahamwevon zynischen Propagandisten in eine Farce ver-wandelt worden ist oder aber, daß sie in Wirklich-keit in sehr tiefen Gewässern spielt, die mehr mitPsychoanalyse zu tun haben als mit dem»Mysterium des Bösen«?

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David Rawson saß zusammen mit seiner Frau inseiner Wohnung und sah sich ein Videoband derMac-Neil/Lehrer News Hour an, als er die Explo-sionen hörte, die vom Abschuß des FlugzeugsPräsident Habyarimanas zeugten. Als amerikani-scher Botschafter sorgte er sich vor allem umamerikanische Staatsbürger, die getötet oder ver-letzt werden konnten, falls es zu Gefechten kom-men sollte. Die Vereinigten Staaten beschlossen,ihr Personal und sonstige Amerikaner am 7. April abzuziehen. Da Rawson in seinem Hausgefangen war, glaubte er nicht, daß seine Anwe-senheit noch irgendeinen Nutzen haben konnte.Im Rückblick sagt er: »Waren wir moralisch ver-pflichtet, dort zu bleiben? Hätte das irgend etwasgeändert? Ich weiß es nicht, aber das Morden warschon im Gang, als wir noch da waren. Ich hattenicht den Eindruck, das wir viel ausrichten konn-ten.« Etwa 300 Ruander aus der Nachbarschafthatten in der amerikanischen Botschaft Schutzgesucht, und als die Amerikaner abzogen, über-ließ man sie ihrem Schicksal. Rawson erinnertsich: »Ich sagte den Leuten, daß wir die Flaggeeinholten und abzögen, und sie müßten nunselbst sehen, wie sie weiter kämen […].«

Da der Staatssekretär für afrikanische Angele-genheiten George Moose nicht in Washingtonwar, übernahm die diensthabende Staatssekretä-rin Prudence Bushnell die Leitung der für die Eva-kuierung aus Ruanda zuständigen Arbeitsgruppe.Ihr ging es wie Rawson vor allem um das Schick-sal amerikanischer Staatsbürger. »Ich fühlte michin erster Linie für die Amerikaner verantwort-lich«, erinnert sie sich. »Natürlich taten mir dieRuander leid, aber mein Job war es, unsere Leuteherauszuholen […]. Damals wußten wir noch garnicht, daß es ein Völkermord war. Man sagte mir,das machen sie da von Zeit zu Zeit. Wir glaubten,daß wir bald wieder zurück wären.«

Am 8. April sprach Bushnell auf der Presse-konferenz des State Department besorgt über diewachsende Gewalt und die Lage der Amerikanerin Ruanda. Anschließend trat der Pressesprecherdes Außenministeriums Michael McCurry ansMikrofon und kritisierte ausländische Regierun-gen, die eine Vorführung des Films SchindlersListe von Steven Spielberg in ihrem Land nichtzuließen. »Dieser Film zeigt auf bewegendeWeise […] die größte Katastrophe des 20. Jahrhun-

derts«, erklärte McCurry. »Und er zeigt, daßselbst bei einem Völkermord der Einzelne nochetwas zu tun vermag.« McCurry verlangte, daßder Film überall auf der Welt gezeigt werde. »Amehesten können wir erreichen, daß solch eineTragödie sich nicht wiederholt, wenn wir dafürsorgen, daß die Völkermorde der Vergangenheitnicht in Vergessenheit geraten«, meinte er. Nie-mand stellte eine Verbindung zwischen BushnellsErklärung und McCurrys Bemerkungen her.Weder die Journalisten noch die politisch Verant-wortlichen in den Vereinigten Staaten interessier-ten sich sonderlich für Ruandas Tutsi.

Am 9. und 10. April wurden BotschafterRawson und 250 Amerikaner in fünf Konvois ausKigali und anderen Orten evakuiert. »Auf demWeg wurden wir angehalten und durchsucht«, be-richtet Rawson. »Es wäre unmöglich gewesen,Tutsi durchzubringen.« Insgesamt fanden 35 ru-andische Bedienstete der amerikanischen Bot-schaft bei dem Völkermord den Tod.

Außenminister Warren Christopher wusstewenig über Afrika. Bei einem Meeting mit seinenBeratern mehrere Wochen nach dem Abschußdes Flugzeugs nahm er einen Atlas vom Regal,um nachzusehen, wo Ruanda liegt. Der belgischeAußenminister Willie Claes erinnert sich an ei-nen Versuch, mit seinem amerikanischen Kolle-gen über Ruanda zu sprechen, doch er erhielt dieAntwort: »Ich habe anderes zu tun.« Am Morgennach dem Abschluß der amerikanischen Evaku-ierung erschien Christopher in der NBC-Nach-richtensendung Meet the Press. »Nach alterTradition fuhr der Botschafter im letzten Wagen«,erklärte Christopher voller Stolz. »Die Evakuie-rung ist erfolgreich abgeschlossen worden.«Christopher betonte, obwohl man amerikanischeMarines nach Burundi geschickt habe, bestündenkeine Pläne, sie in Ruanda einzusetzen, um dieOrdnung wiederherzustellen. Sie seien nur fürden Notfall dort, falls man sie zur Sicherung derEvakuierung gebraucht hätte. »Es ist immer trau-rig, wenn Amerikaner ein Land verlassen müs-sen«, meinte Christopher, »aber es war dasKlügste, was wir tun konnten.« Bob Dole, derFührer der republikanischen Minderheit imSenat, pflichtete ihm bei. »Ich glaube nicht, daßwir dort irgend welche nationalen Interessen ha-ben«, erklärte er am 10. April. »Die Amerikaner

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Die Intervention, die unterbliebS a m a n t h a P o w e r

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sind draußn, und ich denke, damit sollte dieSache in Ruanda für uns erledigt sein.«

Auch Roméo Dallaire, der Kommandant derUno-Friedenstruppen in Kigali, hatte die Anord-nung erhalten, der Evakuierung von Ausländerndie oberste Priorität einzuräumen. Kofi AnnansDepartment of Peacekeeping Operations in NewYork, das den Vorschlag Dallaires, nach versteck-ten Waffen zu suchen, im Januar abgelehnt hatte,schickte ein Telegramm, in dem es unmißver-ständlich hieß: »Sie sollten alles tun, um Ihrenunparteiischen Status nicht zu gefährden oderüber Ihr Mandat hinauszugehen, es sei denn, daswäre zur Evakuierung ausländischer Staatsbürgerunerläßlich. Dazu gehört nicht – Wiederholung:nicht– die Beteiligung an möglichen Kampfhand-lungen, es sei denn zur Selbstverteidigung.« Neu-tralität war das oberste Gebot. Dallaire sollte sichunter allen Umständen aus den Kämpfen heraus-halten. Nur in einem Fall durfte er eine Ausnah-me machen: wenn es um Nicht-Ruander ging.

Während die Amerikaner ihre Leute auf demLandweg und ohne militärischen Schutz heraus-holten, schickten die Europäer Truppen nachRuanda, um ihr Personal auf dem Luftweg zu eva-kuieren. Am 9. April konnte Dallaire beobachten,wie über 1000 französische, belgische und italie-nische Soldaten auf dem Flughafen Kigali lande-ten und ihre Landsleute evakuierten. Diese Sol-daten waren frisch rasiert, gut genährt undschwer bewaffnet, in deutlichem Gegensatz zuDallaires erschöpften, hungrigen, bunt zusam-mengewürfelten Friedenstruppen.

Wären die für die Evakuierung eingeflogenenSoldaten mit den UNAMIR-Truppen vereint wor-den, hätte Dallaire über eine ansehnliche Ab-schreckungsmacht verfügt. Er befehligte 440Belgier, 942 Bangladeshis, 843 Ghanesen, 60Tunesier und 255 Soldaten aus weiteren zwanzigLändern. Außerdem konnte er auf eine Reservevon 800 Belgiern in Nairobi zurückgreifen. Hät-ten die größeren Mächte die 1 000 Mann der eu-ropäischen Evakuierungstruppe und die 300 inBurundi wartenden Marines Dallaires Komman-do unterstellt, hätte er endlich über genügendSoldaten verfügt, um Rettungsoperationen durch-zuführen und den Mördern entgegenzutreten.»Der Massenmord war im Gang, und plötzlichhatten wir die Kräfte in Kigali, die nötig waren,um dem Morden Einhalt zu gebieten oder es zu-mindest einzudämmen«, erinnert er sich. »Abersie holten nur ihre Leute heraus, drehten sich umund verschwanden.«

Die Folgen der ausschließlich auf die Auslän-der gerichteten Aufmerksamkeit machten sich so-gleich bemerkbar. In den Tagen nach dem Flug-zeugabsturz hatten sich etwa 2 000 Ruander, dar-unter 400 Kinder, in die École Technique Offi-cielle geflüchtet, die von gut 90 belgischenSoldaten geschützt wurde. Viele dieser Ruanderhatten bereits Wunden von Machetenhieben. Siedrängten sich in den Klassenzimmern und aufdem Schulhof. Ruandische Regierungstruppenund Milizen lagen in der Nähe, tranken Bier undgrölten ihr »Pawa, Pawa« auf die »Hutu-Macht«.Am 11. April erhielten die belgischen Soldatenden Befehl, zum Flughafen zu fahren, um dort beider Evakuierung europäischer Zivilisten zu hel-fen. Einige Ruander, denen klar war, daß sie in derFalle saßen, folgten den Jeeps und riefen »Laßtuns nicht im Stich!« Die UN-Soldaten scheuchtensie weg und feuerten Warnschüsse über ihreKöpfe. Kaum hatten die Friedenstruppen dasGelände auf der einen Seite verlassen, drangenauf der anderen schon Hutu-Milizen ein, eröffne-ten das Feuer mit Maschinenpistolen und warfenHandgranaten. Die meisten der 2 000 Flüchtlin-ge wurden getötet.

In den drei Tagen, in denen 4 000 Ausländerevakuiert wurden, kamen nahezu 20 000 Ruan-der ums Leben. Nach dem erfolgreichen Ab-schluß der amerikanischen Evakuierungsaktionund der Schließung der amerikanischen Bot-schaft besuchten Bill und Hillary Clinton die fürdie Rettungsaktion zuständigen Beamten undgratulierten ihnen zu ihrer »guten Arbeit«.

Als die Amerikaner aus Ruanda evakuiert wa-ren, verschwanden die Massaker weitgehend ausdem Blickfeld der höheren Chargen in derClinton-Administration. Im Lageraum im siebtenStock des State Department hatte man rasch eineKarte Ruandas an die Wand geheftet, als Habya-rimanas Flugzeug abgeschossen wurde, und achtReihen Telefone standen niemals still. Jetzt, da dieamerikanischen Staatsbürger in Sicherheit wa-ren, leitete das State Department eine tägliche, oftals Telefonkonferenz durchgeführte Besprechungzwischen den zuständigen Stellen, bei der mandiplomatische Aktivitäten der mittleren Ebeneund humanitäre Aktionen koordinierte. AufKabinettsebene befaßte man sich mit anderenProblemen. Sicherheitsberater Anthony Lake, derAfrika durchaus kannte, erinnert sich: »Ich wardamals ganz mit Haiti und Bosnien beschäftigt.Ruanda war darum ein ›Nebenschauplatz‹, wieder Journalist William Shawcross es ausdrückte,

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ja nicht einmal ein Nebenschauplatz, sondern garkein Schauplatz.« Im Nationalen Sicherheitsratwar jedoch nicht Lake für Ruanda zuständig, son-dern Richard Clarke, der sich um die UN-Frie-densmissionen kümmerte und durch die Nach-richten aus Ruanda nur in seiner tiefen Skepsisgegenüber solchen Einsätzen bestärkt wurde.

Die Amerikaner, die sich am meisten um ame-rikanische Hilfe für die bedrohten Ruander be-mühten, waren jene, die Ruanda am besten kann-ten. Joyce Leader, Rawsons Stellvertreterin inRuanda, hatte bis zuletzt in der Botschaft in Kigaliausgeharrt. Als sie nach Washington zurückkehr-te, wies man ihr ein kleines Büro zu und gab ihrden Auftrag, für das State Department aus Presse-und Geheimdienstberichten einen täglichenÜberblick über die Entwicklung in Ruanda zu-sammenzustellen. So unglaublich es klingt, dochtrotz ihrer Kenntnisse und ihrer Kontakte inRuanda fragte man sie nur selten um Rat undwies sie an, keinen direkten Kontakt zu ihrenQuellen in Kigali aufzunehmen. Einmal rief einMitarbeiter des Nationalen Sicherheitsrats sie anund fragte: »Was sollen wir tun, abgesehen von ei-nem Truppeneinsatz?« Sie antwortete ihm:»Schickt Truppen rein!«

Die mangelnde Kenntnis eines Landes odereiner Region in den höheren Kreisen des Parla-ments und der Regierung beeinträchtigt nicht nurdie Fähigkeit, »Nachrichten« zu beurteilen, son-dern erhöht auch die Wahrscheinlichkeit, daßMorden und Töten zu Abstraktionen werden – ei-ne Dynamik, die Lake 1971 in der Zeitschrift»Foreign Policy« beschrieben hat. Das »ethnischbedingte Blutvergießen« in Afrika galt zwar alsbedauerlich, aber nicht als besonders außerge-wöhnlich. Amerikanische Offizielle sprachenanalytisch von »nationalen Interessen« oder sogarvon »humanitären Folgen«, ohne daß man einemenschliche Betroffenheit bei ihnen hätte bemer-ken können.

Es ist schockierend, daß Clinton während derganzen drei Monate des Völkermordes niemalsseine obersten politischen Berater zusammenrief,um über das Morden zu sprechen. Auch AnthonyLake holte seine »Hauptleute« – die auf Kabi-nettsebene aktiven Mitglieder des außenpoliti-schen Teams – niemals zusammen. Ruanda galtnicht als wichtig genug für solch eine Beratungauf oberster Ebene. Wenn man darüber sprach, sonur im beiläufigen oder untergeordneten Zu-sammenhang mit Somalia, Haiti und Bosnien.Während diese Krisen amerikanisches Personal

betrafen und ein gewisses Aufsehen in der Öf-fentlichkeit erregten, galt Ruanda nicht als drin-gendes Problem und konnte von Clinton ohne po-litischen Schaden ignoriert werden.

Als das Morden begann, erwartete und forder-te Roméo Dallaire Verstärkung. Sogleich telegra-fierte er an das Uno-Hauptquartier in New York:»Geben Sie mir die Mittel, dann kann ich mehrtun.« Er schickte seine Soldaten zu Rettungsak-tionen in die ganze Stadt und hielt es für unerläß-lich, Umfang und Qualität der Uno-Präsenz zu er-höhen. Doch die Vereinigten Staaten widersetz-ten sich der Forderung nach einer Verstärkungseiner Truppen, ganz gleich aus welchem Staat siekommen sollten. Vor allem das Pentagon äußertedie Befürchtung, aus einem kleinen Engagementfremder Truppen könne schon bald ein großes,von Amerikanern getragenes Engagement wer-den. Das war die Lektion, die man in Somalia ge-lernt hatte. Dort waren amerikanische Truppen inSchwierigkeiten geraten, als sie versuchten, bela-gerte Pakistanis freizukämpfen. Die logischeFolge dieser Befürchtung war der Versuch, sichganz aus Ruanda herauszuhalten und andere zubewegen, dasselbe zu tun. Nur durch den Rückzugder gesamten Friedenstruppen konnten die Ver-einigten Staaten verhindern, am Ende doch nochhineingezogen zu werden. Ein hohes Mitglied derRegierung erinnert sich: »Als die Berichte überden Tod der zehn Belgier hereinkamen, war klar,daß sich Somalia hier wiederholte, und man dach-te, überall werde man nun erwarten, daß dieVereinigten Staaten eingriffen. Wir glaubten,wenn die Friedenstruppen in Ruanda blieben undgegen die Gewalt vorgingen, wären wir schon balddort, wo wir schon einmal gewesen waren. Es warbeschlossene Sache, daß die Vereinigten Staatennicht eingreifen würden und das Konzept derUN-Friedensmissionen nicht noch einmal ge-opfert werden durfte.«

Bemerkenswert an der amerikanischen Reak-tion auf den Völkermord in Ruanda ist nicht sosehr das Ausbleiben einer amerikanischen Mili-täraktion als vielmehr die Tatsache, daß währenddes ganzen Völkermords nicht einmal über dieMöglichkeit einer militärischen Intervention sei-tens der Vereinigten Staaten diskutiert wurde. Ja,die Vereinigten Staaten widersetzten sich sogareiner diplomatischen Intervention.

Die Leichen der getöteten belgischen Soldatentrafen am 14. April in Brüssel ein. Etwa um dieseZeit kam es zu einem der wichtigsten Gesprächeim Verlaufe des Völkermords. Der belgische Aus-

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senminister Willie Claes rief im State Departmentan und bat um Deckung. »Wir ziehen uns zurück,aber wir möchten den Eindruck vermeiden, daßwir allein es täten«, sagte Claes und bat dieAmerikaner um Unterstützung für einen voll-ständigen Abzug der Uno-Truppen. WarrenChristopher versprach, die belgische Forderungzu unterstützen. Die Politik der folgende Monateläßt sich sehr einfach beschreiben: keine militä-rische Intervention seitens der Vereinigten Staa-ten, nachdrückliche Forderungen nach einemvollständigen Abzug der Uno-Truppen und keineUnterstützung für eine neue Uno-Mission gegendie Mörderbanden in Ruanda. Belgien hatte denDeckmantel, den es brauchte.

Am 15. April schickte Außenminister Chri-stopher der ständigen Vertreterin der VereinigtenStaaten bei den Vereinten Nationen MadeleineAlbright ein Telegramm, das zu den wichtigstenDokumenten aus den drei Monaten des Völker-mords gehört. Darin wies er Albright an, einenvollständigen Rückzug der Uno-Truppen zu for-dern. Die Anweisungen, die unter massivemEinfluß von Richard Clarke vom NationalenSicherheitsrat entstanden waren, sagten eindeu-tig, welche Schritte als nächstes zu unternehmenwaren. Auch unter »voller« Berücksichtigung der»humanitären Gründe, die für den Verbleib vonUNAMIR-Elementen in Ruanda angeführt wer-den«, schrieb Christopher, gebe es »keine hinrei-chende Begründung« für eine Fortsetzung derUN-Präsenz: »Die internationale Gemeinschaftmuß dem schnellstmöglichen, vollständigen, ge-ordneten Rückzug aller UNAMIR-Mitarbeiterhöchste Priorität einräumen […]. Wir werden unszum gegenwärtigen Zeitpunkt jedem Versuchwidersetzen, die Präsenz der UNAMIR in Ruandafortzusetzen […]. Unser Widerstand gegen eineFortsetzung der UNAMIR-Präsenz ist entschlos-sen und gründet in der Überzeugung, daß derSicherheitsrat die Pflicht hat, sicherzustellen, daßFriedensmissionen auch durchführbar sind, daßsie ihren Auftrag erfüllen können und daß Mitar-beiter der UN nicht wissentlich in eine unhaltba-re Lage gebracht oder darin belassen werden.«

»Als klar war, daß die Belgier abzogen, bliebnur eine Rumpftruppe zurück, die nichts tunkonnte, um den Menschen zu helfen«, erinnertsich Clarke. »Sie taten nichts, um dem MordenEinhalt zu gebieten.« Doch Clarke unterschätztedie abschreckende Wirkung der wenigen Blau-helmsoldaten, die Dallaire geblieben waren. Ob-wohl viele Soldaten aus Angst in Deckung blie-

ben, streiften andere durch Kigali, retteten Tutsi,richteten Stellungen in der Stadt ein und öffnetenden glücklichen Tutsi ihre Tore, die trotz derStraßensperren zu ihnen durchkamen. Ein sene-galesischer Captain namens Mbaye Daigne rette-te ganz allein gut 100 Menschen das Leben.Insgesamt flüchteten etwa 25 000 Ruander inStellungen, die von UNAMIR-Personal gehaltenwurden. Die Hutu zögerten meist, größereGruppen Tutsi zu massakrieren, wenn (bewaffne-te oder unbewaffnete) Ausländer in der Nähe wa-ren. Es bedurfte keiner großen Zahl von UN-Militärbeobachtern, um die Hutu davon abzuhal-ten, das Hotel des Milles Collines anzugreifen, wozehn UN-Soldaten und vier Militärbeobachtermehrere hundert Zivilisten schützten, die dortwährend der Krise Unterschlupf fanden. Etwa 10 000 Ruander flüchteten in das Amohoro-Sta-dion, das nur unter leichtem UN-Schutz stand.Dallaires Stellvertreter Beardsley erinnert sich:»Wenn es an geschützter Stelle irgendeinenWiderstand gab, schreckten die Regierungssolda-ten zurück.«

Der im State Department für Ruanda zustän-dige Beamte Kevin Aistoa beobachtete die Situ-ation der unter UN-Schutz lebenden Ruander. AlsStaatssekretärin Bushnell ihm von dem Beschlußder Regierung berichtete, den Rückzug der UNAMIR zu fordern, erbleichte er. »Das könnenwir nicht«, sagte er. »Der Zug ist schon abgefah-ren«, erwiderte ihm Bushnell.

Am 19. April verabschiedete sich der belgischeOberst Luc Marchal von Dallaire und zog mit denletzten seiner Soldaten ab. Durch den Rückzugder Belgier verringerte sich die Truppenstärke derUNAMIR auf 2100 Mann. Viel wichtiger war je-doch, daß Dallaire damit seine besten Truppenverlor. Es wurde immer schwieriger, die Kommu-nikations- und Befehlsketten aufrechtzuerhalten.Bald verlor Dallaire die Verbindung zu den aufdem Land stationierten Truppenteilen. Ein einzi-ges Satellitentelefon war seine einzige Verbin-dung zur Außenwelt.

Nun traf der Weltsicherheitsrat eine Entschei-dung, die das Schicksal der Tutsi besiegelte undden Hutu signalisierte, daß sie freie Bahn hatten.Da die amerikanische Forderung nach einem voll-ständigen Rückzug der Uno bei einigen afrikani-schen Staaten und bei Madeleine Albright aufWiderstand traf, warben die Vereinigten Staatennun für eine drastische Verringerung der Trup-penstärke. Am 21. April, die Presse berichtete be-reits von mehreren hunderttausend Toten in

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Ruanda, beschloß der Weltsicherheitsrat, die Zahlder UNAMIR-Soldaten auf 270 zu reduzieren.Albright fügte sich und erklärte öffentlich, einekleine Rumpftruppe werde in Kigali bleiben, um»dem Willen der internationalen GemeinschaftAusdruck zu verleihen«. Nach dem UN-Beschlußschickte Clarke eine Aktennotiz an Lake, in der esheißt, USA und Uno hätten den Satz über »dieSicherheit der unter UN-Schutz stehendenRuander am Ende eingefügt, um zu verhindern,daß der ansonsten uneinige Weltsicherheitsratdie bedrohten und unter UN-Schutz stehendenRuander im Stich läßt, wenn die Zahl der Blau-helmsoldaten auf 270 sinkt«. Mit anderen Wor-ten, in der Aktennotiz wird behauptet, die Ver-einigten Staaten hätten sich an vorderster Frontdarum bemüht, daß die unter UN-Schutz stehen-den Ruander nicht im Stich gelassen würden.Aber das Gegenteil war der Fall.

Der größte Teil der Blauhelmsoldaten wurdeam 25. April evakuiert. Obwohl Dallaire nur 270Soldaten behalten sollte, blieben insgesamt 503.Zu diesem Zeitpunkt sah er sich mit einem Blut-rausch konfrontiert. »Mein Leute standen knietiefzwischen verstümmelten Leibern, umgeben vomRöcheln sterbender Menschen, und sahen in dieAugen todgeweihter Kinder, deren blutende, vonFliegen übersäte Wunden in der Sonne brann-ten«, schrieb er später. »Ich wanderte durchDörfer, in denen das einzige Lebenszeichen voneiner Ziege, einem Huhn oder einem Singvogelkam, weil alle Menschen tot waren und ihreLeichen von gefräßigen Wildhunden verschlun-gen wurden.« Dallaire mußte in engen Grenzenoperieren. Er versuchte lediglich, die Stellung zuhalten und die 25 000 Ruander zu schützen, diesich in der Obhut der UN befanden.

Zufällig hielt Ruanda zur Zeit des Völker-mords einen der nichtständigen Sitze im Uno-Sicherheitsrat. Weder die Vereinigten Staatennoch andere Mitgliedsstaaten der Vereinten Nat-ionen machten jemals den Vorschlag, die Vertre-ter der für den Völkermord verantwortlichen Re-gierung aus dem Sicherheitsrat zu verbannen.Und kein Mitgliedsstaat des Sicherheitsrats er-klärte sich bereit, ruandische Flüchtlinge aufzu-nehmen, die dem Gemetzel entkommen waren.

Während dieser ganzen Zeit schwieg dieClinton-Administration weitgehend. Im StateDepartment verlegte Prudence Bushnell sich aufprivate Diplomatie. Jeden Tag stand sie um zweiUhr morgens auf und rief Mitglieder der ruandi-schen Regierung an. Mehrmals sprach sie mit

dem Stabschef der ruandischen Armee AugustinBizimungu. »Das waren die bizarrsten Anrufe«,sagt sie. »Er sprach ein absolut charmantesFranzösisch. ›Oh, wie schön, von Ihnen zu hö-ren‹, sagte er. Ich erwiderte ihm: ›Ich rufe Sie an,um Ihnen zu sagen, daß Präsident Clinton Siepersönlich für das Morden verantwortlich ma-chen wird.‹ Und er antwortete mir: ›Wie nett, daßIhr Präsident an mich denkt.‹« Wenn sie PaulKagame, den Kommandeur der Tutsi-Rebellen,anrief, sagte der: »Madame, sie ermorden meinVolk.«

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An dem Tag, als das Flugzeug abstürzte, durftendie Tutsi, die im Stadtzentrum wohnten, nichtmehr hinaus. Viele hatten hinter den festenMauern unseres Hauses Schutz gesucht.Léonard, mein Mann, hatte in seiner Jugendschon mehrere Massaker erlebt. Ihm war klar,daß die Lage sehr ernst war, und er riet denJüngeren zu flüchten. Er selbst wollte nicht mehrfliehen. Er sagte, seine Beine hätten das schon zuoft getan.

Am Morgen des 11. April, dem ersten Tag derMassaker, erschienen die Interahamwe mit gros-sem Lärm vor unserem Tor. Léonard nahm denSchlüssel, um ihnen rasch aufzumachen, weil erglaubte, wenigstens die Kinder und die Frauenretten zu können. Ein Soldat schoß ihn nieder, be-vor er auch nur ein Wort sagen konnte. DieInterahamwe strömten massenhaft in den Hof,packten alle Kinder, deren sie habhaft werdenkonnten, stellten sie in Reihen auf, warfen sie aufden Boden und begannen, sie in Stücke zu hak-ken. Sie töteten sogar einen Hutu-Jungen, denSohn eines Oberst, der sich dort mit seinenFreunden herumtrieb. Ich konnte mit meinerSchwiegermutter hinter das Haus laufen, und wirversteckten uns hinter einem Stapel Autoreifen.Die Killer hörten vorzeitig mit dem Morden auf,weil sie es eilig hatten, sich ans Plündern zu ma-chen. Wir hörten, wie sie in die Autos und Klein-laster stiegen, Kästen Bier einluden, sich um Mö-bel oder anderes stritten und unter den Matratzennach Geld suchten.

Am Abend verließ meine Schwiegermutter ihrVersteck und setzte sich vor den Reifenstapel.Junge Leute kamen und fragten sie: »Was tust duhier, Mutter?« Sie sagte: »Ich tue gar nichts mehr,weil ich jetzt allein bin.« Da schnitten sie ihr dieKehle durch. Dann nahmen sie alles mit, wasnoch in den Zimmern war. Schließlich legten sieFeuer, darum haben sie mich vergessen.

Im Hof war noch ein Kind, das nicht getötetworden war. Ich stellte eine Leiter an die Mauer,stieg mit dem Kind hinauf und sprang in den Hofmeines Nachbarn Florient hinunter. Der Hof warleer. Ich versteckte das Kind im Brennholzstapelund verkroch mich in der Hundehütte. Am drit-ten Morgen hörte ich Schritte. Es war meinNachbar, und ich kroch hervor. Mein Nachbar rief:»Marie-Louise, sie haben alle in der Stadt umge-

bracht, dein Haus ist niedergebrannt, und du bisthier? Was kann ich für dich tun?« Ich sagte ihm:»Florient, tu mir den Gefallen und töte mich.Aber liefere mich nicht den Interahamwe aus, diewerden mich ausziehen und mich in Stücke hak-ken.«

Dieser Herr Florient war ein Hutu. Er warChef des militärischen Geheimdienstes in derRegion Bugesera, aber er hatte sein Haus auf un-serem Land gebaut, und vor dem Krieg hatte mansich freundlich miteinander unterhalten, die gu-ten Augenblicke miteinander geteilt, und unsereKinder hatten miteinander gespielt, ohne einenUnterschied zu machen. Er schloß nun das Kindund mich in seinem Haus ein, gab uns etwas zuEssen und ging weg. Am nächsten Tag sagte er zumir: »Marie-Louise, in der Stadt identifizieren siedie Leichen, dein Gesicht haben sie nicht gefun-den, sie suchen nach dir. Du mußt hier weg, dennwenn sie dich hier finden, werden sie mich hin-richten.«

In der Nacht brachte er uns zu einer Hutu-Bekannten, die mehrere Tutsi aus ihrem Bekann-tenkreis bei sich versteckte. Eines Tages klopftendie Interahamwe an die Tür, um das Haus zudurchsuchen. Die Dame redete mit ihnen, kamzurück und sagte: »Hat jemand etwas Geld beisich?« Ich gab ihr ein Bündel Scheine, das ich beimir trug. Sie nahm eine kleine Summe, ging zuden Interahamwe zurück, und sie machten sichdavon. Jeden Tag begannen die Verhandlungenvon neuem, und die Frau wurde sehr nervös.Eines Tages sagte Herr Florient zu mir: »Marie-Louise, die jungen Leute suchen in der ganzenStadt nach dir, du mußt hier weg.« Ich sagte ihm:»Florient, du hast die Mittel dazu, töte mich, ichwill in einem Haus sterben. Liefere mich nichtden Interahamwe aus.« Er sagte: »Ich werde dochnicht die Freundin meiner Frau umbringen.Wenn ich ein Fahrzeug finde, hättest du Geld, umes zu bezahlen?« Ich gab ihm die Rolle Geld-scheine, er zählte nach und sagte: »Das sollte ge-nügen.« Er kam zurück und sagte mir: »Sie wer-den dich in einem Sack verstecken und in denWald fahren, dann kannst du fliehen.« Und dannfragte er mich: »Die Interahamwe haben deinHaus geplündert, die Soldaten bekommen Geld,aber ich rette dich und gehe leer aus. Ist das nor-mal?« Darauf sagte ich ihm: »Florient, ich habe

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Eine überlebende Tutsi-Frau aus Nyamata berichtetJ e a n H a t z f e l d

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zwei Häuser in Kigali. Nimm sie! Auch den Ladenüberlasse ich dir. Ich gebe dir schriftlich, daß ichdir alles überschreibe. Aber ich möchte, daß dumich nach Burundi begleitest.«

Wir fuhren los. Ich lag in dem Militärlast-wagen zwischen dem Fahrer und Florient. Zu-nächst blieb ich eine Weile in seinem Haus in derKaserne von Gako. Ich war in einem Zimmer ein-geschlossen. Wenn alle schliefen, kam jemandund brachte mir etwa zu Essen. Ich besaß nurnoch ein Hüfttuch. Das ging mehrere Wochen so,ich weiß nicht mehr wie lange. Eines Nachts kamein Freund von Florient. Er sagte: »Die Inkotanyi(die Rebellen der Patriotischen Front) sind aufdem Vormarsch, wir müßen die Kaserne evakuie-ren. Es ist zu gefährlich, dich hier zu laßen, ichmuß dich mitnehmen.« Er ließ mich in einenLastwagen steigen, der Säcke an die Front brach-te. Wir fuhren los, alle Schlagbäume hoben sich,wenn wir näherkamen, und wir fuhren in einendunklen Wald hinein. Unter den Bäumen hieltder Fahrer an. Ich zitterte und sagte zu ihm: »Gut,ich habe nichts mehr. Jetzt bin ich an der Reihe zusterben. Wenn es nicht zu lange dauert, geht es.«Er erwiderte: »Marie-Louise, ich werde dich nichtumbringen, denn ich arbeite für Florient. Geh im-mer geradeaus und halte nicht an! Wenn der Waldzu Ende ist, bist du an der Grenze zu Burundi undin Freiheit.« Ich lief, ich fiel hin, ich kroch auf al-len Vieren. Als ich an die Grenze kam, hörte ichim Dunkeln Stimmen, und ich schlief ein. Späterholte ein burundischer Geschäftspartner meinesMannes mich mit einem Wagen in einem Flücht-lingslager ab. Als er mich sah, erkannte er michnicht wieder. Er wollte gar nicht glauben, daß ichLéonards Frau war. Ich hatte zwanzig Kilo verlo-ren, trug nur ein Hüfttuch aus Sackleinen, meineFüße waren geschwollen, der Kopf war vollerLäuse.

Heute wartet Herr Florient im Gefängnis vonRilima auf seinen Prozeß. Er war Offizier. Er gingmorgens weg und kam abends zurück mit all denGeschichten vom Morden in der Stadt. Im Flurseines Hauses hatte ich Berge neuer Hacken undMacheten gesehen. Er hat mein Geld ausgegebenund meine Lager geplündert. Trotzdem werde ichvor Gericht nicht gegen ihn aussagen, denn als al-le nur ans Morden dachten, hat er ein Leben ge-rettet.

Nach dem Völkermord kehrte ich im Juli nachNyamata zurück. Keiner von meiner Familie inMugesera hat überlebt, keiner von meiner Familiein Nyamata hat überlebt, die Nachbarn sind tot,

die Lager geplündert, die Autos gestohlen. Ichhatte alles verloren, das Leben war mir gleichgül-tig. In Nyamata sah es traurig aus, alle Dächer,Fenster und Türen waren weggeschafft worden.Aber vor allem schien die Zeit in der Stadt zerbro-chen zu sein. Es war, als wäre sie für immer ste-hengeblieben oder als wäre sie im Gegenteil wäh-rend unserer Abwesenheit zu schnell verflossen.Damit meine ich, man wußte nicht mehr, wanndas alles begonnen hatte, wie viele Nächte undTage es gedauert hatte, in welcher Jahreszeit wirwaren. Und am Ende war es einem wirklich voll-kommen egal. Die Kinder fingen im Busch einpaar Hühner ein; wir hatten wieder etwas Fleischzu Essen, machten uns ans Reparieren und ver-suchten, wenigstens ein paar Gewohnheiten wie-dezufinden. Wir waren nun ganz mit dem Heutebeschäftigt und verbrachten den Tag mit derSuche nach einem Freund, mit dem man dieNacht verbringen konnte, damit man nichtGefahr lief, sich in einem Alptraum zu verlierenund darin zu sterben.

Eines Tages brachten Freunde Geld und sag-ten: »Marie-Louise, nimm das! Du kennst dichmit Geschäften aus, wir nicht. Du mußt deinGeschäft wiederaufbauen.« Ich ließ im Laden ei-ne Tür einsetzen, das Geschäft begann wieder zulaufen, aber die Hoffnung war nicht mehr da.Früher hatte der Wohlstand mich beflügelt.Léonard und ich machten einen Plan nach demanderen, es ging uns gut, wir waren beliebt undgeachtet. Heute erscheint mir das Leben wie eineinziges Unheil, ich sehe überall kleine und gros-se Gefahren. Der Mann, der mich geliebt hat, isttot, und ich finde niemanden, an den ich mich an-lehnen kann.

Im Laden erzählen mir die Kunden, wie sieüberlebt haben. Abends höre ich Bekannten zu,wenn sie über die Massaker diskutieren. Aber ichverstehe immer noch nichts. Wir haben das Lebenmit den Hutu geteilt, man hat sich gegenseitig ge-holfen, es gab Ehen zwischen Tutsi und Hutu,und plötzlich jagen sie uns wie wilde Tiere. Ichglaube nicht an die Erklärung, daß es Neid war,denn aus Neid schlägt niemand Kinder reihen-weise in einem Hof mit Macheten tot. Ich glaubenicht an diese Geschichte von Schönheit undMinderwertigkeitsgefühlen. Auf dem Land warenHutu- und Tutsi-Frauen gleichermaßen ver-schmutzt und verunstaltet von der Feldarbeit; inder Stadt waren die Hutu-Kinder ebenso schönwie die der Tutsi, und auch ihr Lächeln war das-selbe.

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Die Hutu hatten die Möglichkeit, alle staat-lichen Vergünstigungen und alle guten Stellen imStaatsdienst für sich zu monopolisieren, sie fuh-ren reiche Ernten ein, weil sie sehr gute Bauernwaren, sie eröffneten rentable Geschäfte, zumin-dest im Einzelhandel. Man schloß in gutem Ein-vernehmen Geschäfte mit ihnen ab, man liehihnen Geld. Und sie beschlossen, uns zu töten.

Sie wollten uns so vollständig auslöschen, daßsie in ihrem Wahn bei ihren Plünderungen selbstnoch unsere Fotoalben verbrannten, damit es sowar, als hätten die Toten nie gelebt. Zur Sicherheitwollten sie die Menschen und ihre Erinnerungs-stücke töten oder wenigstens die Erinnerungs-stücke, falls sie die Menschen nicht fangen konn-ten. Sie arbeiteten an unserem Verschwinden undam Verschwinden der Spuren ihrer Arbeit, wennich so sagen darf. Heute besitzen viele Überleben-de nicht einmal mehr ein Foto ihrer Mutter oderihrer Kinder, von ihrer Taufe oder ihrer Hochzeit,mit dem sie den Schmerz ihrer Trauer ein weniglindern könnten.

Für mich ist klar, daß der Haß des Völker-mords allein in der ethnischen Zugehörigkeit be-gründet liegt und in nichts anderem, weder inAngst noch in Frustration oder dergleichen. Dochder Ursprung dieses Hasses ist mir immer nochein Rätsel. Aber man sollte nicht die Überleben-den nach den Gründen für den Haß und denVölkermord fragen. Für sie ist es zu schwer, dar-auf zu antworten. Und die Frage wäre auch rücksichtslos. Es genügt, wenn sie untereinanderdarüber sprechen. Man sollte vielmehr die Hutufragen.

Manchmal kommen Hutu-Frauen zu mir undsuchen Arbeit auf dem Feld. Ich spreche mit ih-nen und versuche sie zu fragen, warum sie uns tö-ten wollten, obwohl sie sich vorher nie beklagthatten. Aber sie wollen nicht zuhören. Sie sagenimmer wieder, daß sie nichts getan und nichts ge-sehen haben, daß ihre Männer nicht bei denInterahamwe waren, daß der Staat schuld gewe-sen sei an dem, was geschehen ist. Sie sagen, dieNachbarn seien von den Interahamwe gezwun-gen worden, und wenn sie sich geweigert hätten,wären sie selbst getötet worden. Und damit be-gnügen sie sich. Ich sage mir: »Diese Hutu habenohne zu zögern gemordet, und jetzt wollen sienicht über die Wahrheit reden, das ist nicht rich-tig.« Und darum bin ich mir nicht sicher, daß esnicht eines Tages von neuem beginnt.

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Die Landebahn des Flughafens von Goma ziehtsich durch ein Meer von kleinen Lagerfeuern. Imfrühen Einbruch der Dämmerung, schon gegensechs Uhr, deckt der Rauch die einzige Piste zuund zwingt die Piloten, sich im Sichtflug auf einevage, bodenlose Schneise zu verlassen. Zweihun-dert Meter vom Flughafen, neben der Hauptstra-ße zum Stadtzentrum, schließen französischeSoldaten mit einem Bulldozer eine der Gruben, inwelchen Tote gesammelt werden. Ringsherum la-gern noch Lebende. Ein Vertreter der belgischenMédecins sans frontières mutmaßt, daß in denhorizontfüllenden Lagern außerhalb der Stadtseit Mitte der Woche im Minutentakt gestorbenwerde. Die Cholera wütet. Für die Zahl der Ruan-der, die seit Donnerstag vergangener Woche inGoma eingetroffen sind, gilt eine Million mittler-weile als zurückhaltende Schätzung. Die Mehr-heit hat inzwischen die zairische Grenzstadt land-einwärts verlassen. Das internationale Komiteevom Roten Kreuz begibt sich mit Nahrungsmit-teln für 100 000 ins Feld und findet um eineVerteilungsstelle 300 000 Bedürftige versam-melt. Während die einen zusammenbrechen, be-ginnen sich andere gegen Ende der Verteilung re-gelmäßig zu schlagen – von Hand und mitStöcken und Steinen.

Auch in der Stadt liegen die Toten zu Hunder-ten, beinahe an jedem Straßenrand, oft seit Ta-gen und grauenhaft aufgequollen, der Kopf viel-leicht unter einem Fetzen Verpackungskarton.Niemand schert sich darum, daneben wird Tee ge-kocht. Nur einige Bessergestellte unter den Ein-heimischen lassen sich die Toten aus dem Gartenoder von ihrer Haustür schaffen. Sie rufen einenruandischen Soldaten, drücken ihm 500 neueZaire – etwas mehr als eine Mark – in die Handund sagen: »Tu prends le cadavre et tu vas!«(Schaff den Kadaver weg!) In der Stadt wie außer-halb kommen Fahrzeuge über weite Strecken nurim Schrittempo voran. Viele Leute haben sichTücher um die untere Gesichtshälfte gebunden;einige Soldaten tragen ihre Gasmaske, und mansieht erstaunlich viele Pappmasken, wie sie fürOperationssäle hergestellt sind. »Wohl aus demgeplünderten Spital von Gisenyi«, der ruandi-schen Nachbarstadt, meint ein ansässiger Belgierauf die Frage, woher diese Masken wohl alle stam-men mögen.

Zwischen der Innenstadt und dem Kivusee er-hebt sich hundert oder zweihundert Meter hochder Mont Goma. In den Buchten beidseits der bei-den Häfen stauen sich unabsehbare Menschen-massen, die Zugang zum Wasser suchen. Gomaliegt zwar am See, aber im vulkanischen Bodenam Nordufer ist in der gegebenen SituationWasser das größte Problem, und die Versorgungdes städtischen Netzes ist zusammengebrochen.In fast allen Teilen der Stadt begleitet einen vonfrüh bis spät das helle Klopfen von tausend Äxten.Eine Armee holzt ab; Tag für Tag stürzen dieBäume in Massen, auch in den vierzigjährigenAlleen, auch an den Hängen des Mont Goma.Dort drohen über dem Kahlschlag bald dieHäuser in Bewegung zu geraten. »Mboka ebebi«,sagen die Einheimischen auf Lingala – »das Dorfist zerstört.«

Wenn von einer Million Zuzügler nur 50 000bei ihrer Ankunft noch über etwas Geld verfügen,dann führt das binnen Tagen zu Preissteigerun-gen, mit denen die Mehrheit der 100 000 bis 200 000 Einheimischen nicht mithalten kann.Nur Fleisch ist billig. Die ärmeren Ruander ver-kaufen das mitgebrachte Vieh: die Kuh zu zehnDollar. Die einheimische Bevölkerung scheintvon einer tödlichen Lethargie getroffen. Niemandweiß etwas von der leisesten Regung einer loka-len Behörde. Wer kann, versucht seiner ange-stammten Tätigkeit nachzukommen, aber wo im-mer auf das Außergewöhnliche der Situation rea-giert wird, geschieht es auf Initiative Auswärtiger.Die Angehörigen von Gomas kleiner KolonieExpatriierter wissen vor Arbeit nicht, wo ihnender Kopf steht. »Man versucht die Flüchtlinge zuretten«, sagen sie wie die Zairer, »aber wenn sieüberhaupt wieder einmal gehen, wird niemandsich um unsere Stadt kümmern.« Und selbst fürden besten Fall, daß tatsächlich eine Mehrheit inabsehbarer Zeit nach Ruanda zurückkehren sollte,macht sich niemand Hoffnung, daß auch das in-fernalische Personal des Massenmords je wiedergehen wird.

Die vielen Dutzend Leichen jener, die in denMüllfeldern um den zairischen Grenzposten zuTode getrampelt wurden, sind von den Franzosenweggebracht worden. Vor dem Zollhaus sortierensechs, sieben zairische Soldaten zwischen hohenHaufen Tausende von automatischen Gewehren.

Juli 1994: Der Staat der

Massenmörder, dessen Führung

vor den Kämpfen in Kigali nach

Gitarama und schließlich in die

westliche Grenzstadt Gisenyi

ausgewichen ist, bricht zusam-

men. Seine bewaffneten Kräfte

treiben eine Million Hutu über

die Grenze ins zairische Exil, wo

sie für nahezu zweieinhalb Jahre

bleiben werden – die Geiseln der

génocidaires, die von den inter-

nationalen Gebern fortan als

sogenannte Flüchtlinge versorgt

werden.

Von Georg Brunold,

Goma, Juli 1994

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Die Massenmörder auf der FluchtG e o r g B r u n o l d

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Auf einem alten Teppich werden die Handgrana-ten gesammelt, die noch nach einer Woche aufder Seepromenade herumliegen, dazwischenauch einige Tretminen. Schätzungen der Zahl ge-flohener ruandischer Soldaten pendeln um 20 000; zur großen Mehrheit sollen sie sich vonihren Waffen getrennt, die Verbände aber nichtaufgelöst haben. Zu Fuß balanciert man sichdurch das explosive Gerümpel zum ruandischenPosten, wo Leutnant John Murangwa mit einerMannschaft von drei Kämpfern der PatriotischenFront Wache steht. Seine Aufgabe sei der best-mögliche Empfang der Rückkehrer, und solchehat er bisher rund 300 gezählt. Alle, die keinKommando geführt hätten, seien willkommen.Wer auf Befehl getötet habe, gelte als unschuldig,auch wenn es ein Angehöriger der Interahanwe-Miliz sei.

Unter Vertretern humanitärer Organisationenwie auch der Presse ist unaufhörlich die Rede voneinem Vertrauen, das bei der Hutu-Mehrheit voreiner Rückkehr wiederhergestellt werden müsse.Zum allergrößten Teil handelt es sich um Zwang-sevakuierte, und in den Lagern Zaires und Tansa-nias ebenso wie in der »Zone turquoise« – derfranzösischen Sicherheitszone – im SüdwestenRuandas herrschen weiterhin die für den Genozidverantwortlichen Kräfte der ehemaligen Staats-partei. Für sie ist jeder Rückkehrwillige einKomplize der Patriotischen Front. Mit seinen mo-bilen Stationen sendet »Radio Télévision libre desMille Collines« weiter, allen Anzeichen nach ausder »Zone turquoise«. Nachdem der Sender mo-natelang zum Massenmord und anschließend dieHutu-Mehrheit zur Räumung des Landes aufge-rufen hat, treibt er jüngst auch die Hutu in der»Zone turquoise« zur Flucht nach Zaire.

Im Zentrum von Goma, der Hauptbasis derfranzösischen Intervention, beherbergt das Hôteldes Masques Reste der Massenmörderregierung,die erst diese Woche Ruandas Sitz im Sicher-heitsrat der Uno geräumt hat. Vor dem Hotel tagtununterbrochen eine Meute von ruandischenMilitärs und Milizionären. »Wir bereiten unsvor«, erklären sie, »für die Wiedereroberung un-seres Landes«. Zwei Männer, die in dieser Ver-sammlung den Gedanken an eine zivile Rückkehraufbrachten, wurden am Mittwoch mit Steinen er-schlagen.

Monsieur Bizimungu, ein Bekannter ausGitarama, findet sich auf dem Flughafen vonGoma wieder und bedient einen Gabelstapler. Erselber könnte über Gisenyi nach Hause zu-

rückkehren, täte es gerne und ist bereit, denSchweizer Journalisten nach Kigali zu begleiten.Doch Frau und Kinder befinden sich beiCyangugu in der »Zone turquoise«, und er siehtkeine Möglichkeit, seine Familie an den verbliebe-nen Truppen der ruandischen Armee vorbei überdie Linien zu bringen. Er bittet, der Uno in Kigalimitzuteilen, wo das Problem liege. Was das Desa-ster in Ostzaire betrifft, so sticht auf dem MontGoma die Lösung ins Auge. Die Lager und dieHilfsgüterverteilung wären nur um wenige Kilo-meter hinüber in die ruandische GrenzstadtGisenyi zu verlegen, wo es Grundwasser gibt, wodie Felder in voller Frucht stehen, wo Hirse,Bohnen und Kartoffeln auf die Einbringung derErnte warten.

»Neue Zürcher Zeitung«,

23. Juli 1994

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Der Tagestarif im Stundenhotel beträgt dreiDollar. Nachts kostet eines der winzigen Schlaf-zimmer, ausgestattet mit einer Petroleumlampeund Wassereimer, fünf Dollar. Die hölzerne, run-de Eckbank und der Tisch im Warteraum sindsäuberlich mit einer strahlend weißen Plastikpla-ne bespannt, die vom Uno-FlüchtlingswerkUNHCR ursprünglich als Regenschutz ausgege-ben worden war. In der Bar werden Limonade,Bier und Whisky ausgeschenkt. An der Wandhängt, wie in öffentlichen Gebäuden in Afrika üb-lich, ein Porträt des Staatsoberhauptes.

Dieses Staatsoberhaupt aber ist seit fast zweiJahren tot. Das Bild zeigt den ehemaligen ruandi-schen Präsidenten Juvénal Habyarimana, dessenErmordung am 6. April 1994 den Völkermord ander Tutsi-Minderheit in seinem Land ausgelösthatte. Das Stundenhotel liegt im ruandischenFlüchtlingslager Kashusha unweit der zairischenGrenzstadt Bukavu.

Hier und im unmittelbar danebenliegendenCamp Nera gibt es fast alles, was auch in einernormalen Stadt zu finden ist: Zwischen den sau-ber gepflasterten Wegen, die zu den Zelten derKrankenstation führen, sind Blumenrabatten an-gelegt. Auf dem Markt gibt es neben Fleisch undGemüse auch Computer, Radios und Nähma-schinen zu kaufen – am Zoll vorbei, zu günstigenPreisen. Abends werden mit Hilfe eines Genera-tors gegen einen Eintrittspreis von rund einemhalben Dollar Videofilme gezeigt: »Karate« und»Commando«. Die Latrinen der einzelnen Fami-lien sind mit Vorhängeschlössern abgesperrt, umunbefugte Benutzung zu verhindern.

In einem großen Zelt stehen eine ruandischeFlagge, einige Bänke und ein mit Papieren über-säter Schreibtisch. »Hier trifft sich das Kabinett,wenn die Minister hierherkommen«, meintFrancois Nsengiyumva, früher Journalist beiRadio-Ruanda. »Wir haben immer noch eineRegierung, auch wenn sie sich jetzt im Exil befin-det.« Die neuen Machthaber in Ruanda seien kei-ne legitime Volksvertretung. »Sie haben nicht denKrieg gewonnen. Sie haben uns aus dem Land ge-jagt. Der Krieg geht weiter«, erklärt JeanBezimana, ehemaliger Direktor einer Volksschu-le. »Solange diese Regierung im Amt bleibt, ohnedie Macht mit uns zu teilen, solange bleiben dieFlüchtlinge hier.«

Die beiden Männer gehören zu den insgesamtfast zwei Millionen Ruandern, die im Sommer1994 nach dem Sieg der tutsidominierten Rebel-lenbewegung »Ruandische Patriotische Front«(RPF) im ruandischen Bürgerkrieg ins Auslandflüchteten. Etwa die Hälfte von ihnen lebt Schät-zungen internationaler Organisationen zufolge inZaire, 800 000 in Tansania, die meisten übrigenin Burundi. Seit Monaten versucht das UNHCRdie Flüchtlinge zur freiwilligen Heimkehr zu ver-anlassen – bislang mit kaum meßbarem Erfolg.

»Seit dem letzten Herbst sind die Zahlen derRückkehrer allmählich gestiegen«, erklärt derLeiter des UNHCR-Büros in Bukavu, Patrick deSousa. 500 Flüchtlinge seien im Dezember 1995heimgekehrt, und das wertet er als ermutigendesZeichen. Insgesamt leben in den Lagern umBukavu 300 000 Ruander. Bleiben die Zahlenkonstant, dann dauert es fünfzig Jahre, bis allewieder zu Hause sind. Das Uno-Welternährungs-programm WFP hat in seiner Bedarfsrechnungfür 1996 die benötigte Menge Lebensmittelgegenüber dem Vorjahr um nicht einmal einGramm reduziert.

Aber die zairischen Gastgeber werden unge-duldig. In Bukavu haben sich die Preise seit demMassenansturm verdreifacht, vor allem für Mie-ten. Wohlhabende Ruander haben in Bukavu Barsund Hotels übernommen. Sie treiben Handel undkonkurrieren mit den einheimischen Geschäfts-leuten, sind aber viel schwerer als diese von staat-lichen Stellen zu kontrollieren. Steuern entrichtetso gut wie keiner.

Die Anwesenheit vieler internationaler Orga-nisationen hat den Dollar zur Hauptwährungwerden lassen. Selbst Stromrechnungen werdeninzwischen damit bezahlt. Die großflächige Ab-holzung von Wäldern zur Feuerholzgewinnunghat Umweltschäden verursacht, deren Beseiti-gung Jahre dauern wird. Das soziale Gefüge istvöllig durcheinander: Ein Lehrer verdient umge-rechnet drei Dollar im Monat – soviel erhält derlokale Angestellte einer internationalen Organi-sation am Tag.

»Die einheimische Bevölkerung ist wütend,weil es vielen Flüchtlingen besser geht als ihr«,sagt Marco Onorato vom Roten Kreuz. »Sie be-kommen Medizin umsonst, Essen umsonst, undsie nehmen den Leuten hier auch noch Jobs weg.

Bei den ruandischen

Flüchtlingen in Zaire gibt es

alles: Computer auf dem Markt,

Whisky in der Bar und abschließ-

bare Klos. An eine Rückkehr nach

Ruanda glaubt selbst die UNO

nicht.

Bettina Gaus, Bukavu,

»taz« 05.02.1996

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Die Massenmörder wissen sich zu helfenB e t t i n a G a u s

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Tatsache ist, daß viele Ruander besser qualifiziertsind als Zairer, deshalb entscheiden sich die inter-nationalen Organisationen oft für sie, wenn sieArbeitskräfte suchen.« Die große Zahl nagelneu-er Geländewagen internationaler Organisationenin Bukavu, wo sonst fast nur klapprige Autos undalte Laster zu sehen sind, trägt nicht zur Verbes-serung der Stimmung bei.

Zaires Diktator Mobutu Sésé-Séko profitiertvon der Flüchtlingskrise. Ein Teil seiner notorischundisziplinierten, unregelmäßig bezahlten Ar-mee wird derzeit von den Vereinten Nationen ent-lohnt. Insgesamt 1 500 Soldaten, stationiert in derNähe von drei Grenzstädten, erhalten von derUno Uniformen, Nahrung und pro Mann etwa30 Dollar im Monat. Dafür haben sie das Mandat,in den Lagern für Ordnung zu sorgen, internatio-nale Organisationen zu schützen und bei freiwil-ligen Repatriierungen behilflich zu sein.

Langfristig bietet eine Flüchtlingskrise fürMobutu noch weit lukrativere Möglichkeiten. Auspolitischen Gründen gibt es in Zaire nur nochwenige Entwicklungsprojekte. Jetzt sitzen aufInitiative verschiedener Uno-Organisationen Ge-berländer in Europa am Runden Tisch und erör-tern Möglichkeiten. »Es geht wahrscheinlich umHunderte von Millionen Dollar«, erläutert Patrickde Sousa vom UNHCR. »Eine Reihe von Entwick-lungsprojekten sind vorgeschlagen worden, imBereich Gesundheit, Sanitärwesen, Forstwirt-schaft, Wasserversorgung, soziale Dienste. Ziel-gruppe ist die lokale Bevölkerung, die von derAnwesenheit der Flüchtlinge betroffen ist.«

Dennoch schwebt das Damoklesschwert derZwangsrepatriierung weiter über den ruandi-schen Flüchtlingen. Im Spätsommer 1995 wur-den etwa 6 000 Lagerbewohner aus der Regionum Bukavu von zairischen Militärs gewaltsamüber die Grenze gebracht. Die von der Uno be-zahlten zairischen Soldaten sahen tatenlos zu.Obwohl die Regierung in Kinshasa ein ursprüng-lich gesetztes Ultimatum bis Ende letzten Jahresaufhob, befürchten viele Beobachter eine Wieder-holung der Aktion. Modeste Mussamba, in derzairischen Stadtverwaltung von Bukavu zuständigfür Flüchtlingsfragen, mag sich da nicht festle-gen: »Wir wollen keine Zwangsrepatriierung.Aber wir wollen auch nicht, daß die Flüchtlingehierbleiben. Sie müssen zurück.« Es droht einBlutbad – die Flüchtlinge sollen über Waffen ingroßer Zahl verfügen.

»Schauen Sie sich doch im Camp um. Mankann doch nicht im Ernst glauben, daß die Leute

hier demnächst alles freiwillig abbrechen und ineine ungewisse Zukunft in Ruanda zurückkeh-ren«, meint ein Mitarbeiter des UNHCR. Er undseine Kollegen haben es in den Lagern nichtleicht. Herausfordernd fragt ihn ein junger Mann,unterstützt vom beifälligen Nicken einer RundeGleichaltriger, wann denn endlich die Uno für si-chere Rückkehrbedingungen in Ruanda zu sor-gen gedenke. »Seien Sie nicht naiv«, antwortetder UNHCR-Delegierte. »Sie können nicht erwar-ten, daß nach dem, was in Ruanda passiert ist, al-les ganz ruhig und ohne Folgen weitergeht.«

Die Männer schweigen. Derartige Sätze sindin den Lagern nicht populär. Die Flüchtlinge, fastausschließlich Hutus, fühlen sich ungerecht be-handelt. Es ist immer wieder dasselbe, was ihreSprecher und ruandische Intellektuelle im Exilfordern: die Wiederbelebung des Arusha-Frie-densvertrages von 1993, der eine Teilung derMacht zwischen der Rebellenbewegung RPF undder damaligen Regierung in Kigali vorsah. DerEinwand, daß der Genozid von 1994 die Lage ver-ändert habe und daß die militärischen Sieger desBürgerkrieges kaum bereit sein dürften, ausge-rechnet diejenigen in die Regierung aufzuneh-men, denen die Planung des Massenmordes zurLast gelegt wird, stößt auf Verständnislosigkeit.

Das politische Klima beeinflußt auch diejeni-gen, die sich im Konflikt eigentlich neutral zu ver-halten hätten: die Mitarbeiter internationaler Or-ganisationen. Das UNHCR, das sich in der Ver-gangenheit ganz einfach nur um die Versorgungvon Flüchtlingen zu kümmern hatte, wird bei derFrage, ob Lagerbewohner guten Gewissens zurRückkehr nach Ruanda aufgefordert werden kön-nen, in eine politische Rolle gedrängt. RuandasGefängnisse sind überfüllt. »Die Flüchtlinge be-richten von willkürlichen Verhaftungen. Ich den-ke, daß die Furcht davor, vor allem unter der Elite,gerechtfertigt ist«, sagt Patrick de Sousa vomUNHCR in Bukavu. Auch er spricht sich für eineWiederbelebung des Arusha-Vertrages aus: »DasAbkommen liefert einen Rahmen für eineLösung.«

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Anfang November 1996. Die zairischen Rebellenunter Laurent Kabila, unterstützt von der neuenruandischen Regierung, haben Goma eingenom-men. Mindestens dreiviertel Millionen Ruander,die seit 1994 in den Lagern bei Goma und Bukavugelebt haben, drängen sich auf der ausgedehntenLava-Ebene in und um das Lager von Mugunga,etwa sechzehn Kilometer westlich der ruandi-schen Grenze. Soldaten der ehemaligen ruandi-schen Armee und Interahamwe-Milizionäre ha-ben sie dort zusammengetrieben. Kabila verkün-det einen Waffenstillstand und fordert die inter-nationale humanitäre Gemeinschaft auf, dieFlüchtlinge zu holen. Mugunga liegt hinter einerschwerbewaffneten Front aus ZehntausendenHutu-Power-Kämpfern und Soldaten Mobutus.Erforderlich ist nicht mehr eine Hilfs-, sonderneine Rettungsmission, denn die Ruander inMugunga sind weniger Flüchtlinge als vielmehrGeiseln, werden als menschliche Schutzschildebenutzt.

Am 15. November 1996 saß ich um neun Uhrmorgens in einem Haus auf einem Hügel inGisenyi, von wo aus ich nach Goma hinüberblik-ken konnte; dort schrieb ich aus den Radionach-richten der BBC mit:

»Der kanadische Uno-Kommandeur betont,seine Truppe werde die Militanten in Mugunganicht entwaffnen oder trennen. Die Uno-Resolu-tion von gestern abend läßt offen, wie es gehensoll, einerseits die Flüchtlinge zu ernähren undsie gleichzeitig zur Rückkehr nach Ruanda zu er-mutigen. Man hört von Soldaten, die von Stütz-punkten in Goma ausschwärmen sollen, umFlüchtlinge zu finden und zu versorgen. Die Unosagen jedoch, sie würden keine neuen Lager ein-richten. Der kanadische Komandeur sagt: ›Umdie Milizen zu trennen, müßte zuviel Gewalt ein-gesetzt werden, und nicht nur Soldaten, sondernauch Unschuldige würden getötet.‹«

Angesichts dieser Nachrichten schrieb ichauch meine Eindrücke nieder: Wieder einmal ei-ne lahme Uno-Truppe. Wie immer das hier aus-geht: Unschuldige werden getötet, wurden getötetund werden getötet werden. Und wie kann manHunderttausende ernähren, Latrinen für sie gra-ben, ihnen Plastikplanen geben, unter denen sieschlafen können, und dann behaupten, man hät-te kein Lager eingerichtet? Und warum ist über-

haupt eine Armee an einem Ort, der einem sogleichgültig ist, daß man für ihn weder töten nochsterben will? Totale Lähmung.

Dann schaltete ich um auf Radio Star, »die Re-bellen-Stimme des Befreiten Kongo« aus Goma,und schrieb weiter mit:

»Die Straße nach Mugunga und nach Westenist frei. Die Interahamwe sind geflohen. Der Spre-cher sagt: ›Das ganze Problem ist gelöst. Flücht-linge marschieren heim nach Ruanda. Die Rebel-lion rückt weiter Richtung Kinshasa vor.‹«Dieses Mal lautete mein Kommentar nur kurz:»Häh? Kann das sein?«

Ich rannte zur Tür hinaus, fuhr zur Grenzeund hinüber nach Goma, wo ich die Straße nachMugunga nahm, westwärts zum Lager, und baldbefand ich mich inmitten eines unablässigenStroms von Hunderttausenden Ruandern, dienach Osten, nach Hause strebten. An den voran-gegangenen Tagen, so stellte sich heraus, warenKabilas zairische Rebellen und Ruandas Patrioti-sche Front erneut zur Offensive übergegangen,hatten Mugunga eingeschlossen und es von hin-ten angegriffen, so daß die bewaffneten Elemen-te von der Grenze abgedrängt wurden, die Flücht-lingsmassen jedoch in Richtung Heimat. Hand-feste Beweise für die Schlacht fanden sich fastvierzig Kilometer westlich des Lagers – eine Reiheausgebrannter Lastwagen, Busse und Personen-wagen auf der Straße in das Innere von Zaire. Umsie herum flatterte haufenweise Papier über dieStraße, darunter große Teile des Archivs desOberkommandos der Ex-FAR (Forces arméesrwandaises, Ruandas ehemalige Armee): Quit-tungen für Waffenlieferungen von Händlern ausganz Europa, Gründungsurkunden politischerFrontorganisationen unter den Flüchtlingen,Steuerlisten aus den Lagern, Belege für finanziel-le Transaktionen mit humanitären Organisatio-nen, Korrespondenz mit Mobutu und seinenGeneralen – sogar fein säuberlich handgeschrie-bene Listen von Tutsi in Nord-Kivu.

Als die Rückkehr nach Ruanda in Gang kam,wurde allgemein berichtet, die Ex-FAR und dieInterahamwe hätten sich gemeinsam mit denÜberresten von Mobutus Armee tiefer nach Zairehinein zurückgezogen, so daß die sogenanntengewöhnlichen Flüchtlinge heimkehren konnten.Die Realität war nicht ganz so makellos: Unter de-

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Die Rückkehr aus dem ExilP h i l i p G o u r e v i t c h

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nen, die nach Westen in den Dschungel Zaires,flohen – vielleicht hundertfünfzigtausend Men-schen, vielleicht auch doppelt so viele, niemandweiß es –, befanden sich viele, die nicht amKampf beteiligt waren; und in Ruanda selbst wur-de schnell deutlich, daß sich in die Flut derFlüchtlinge auch viele eingeschlichen haben, diesich für Verbrechen zu verantworten hatten. Dieunmittelbare Gefahr eines neuen Krieges war be-seitigt; außerdem stellte sich heraus, daß dieFlüchtlinge – glücklicherweise – nicht verhungertwaren.

Auf der ganzen Strecke nach Mugunga und inden rattenverseuchten Überresten des Lagersselbst begegnete ich internationalen Helfern, dieerstaunt den Kopf schüttelten angesichts derTatsache, daß die meisten Flüchtlinge noch im-mer über mindestens einige Tagesrationen anNahrungsmitteln verfügten und die Kraft auf-brachten, in flottem Tempo zwanzig bis dreißigKilometer täglich zu marschieren, beladen miteindrucksvollen Lasten unter einer sengendenSonne. In lediglich vier Tagen gingen etwa sechs-hunderttausend Ruander zurück über die Grenzevon Goma. Bis Ende November betrug die Ge-samtzahl der Heimkehrer angeblich etwa sieben-hunderttausend, und weitere Tausende kamenimmer noch nach. Obwohl die ruandische Regie-rung auch weiterhin hartnäckig leugnete, sich mi-litärisch in Zaire zu engagieren, war GeneralKagame selbst weniger zurückhaltend. »Wir sindnicht gerade unglücklich über die Ereignisse, undaußerdem entsprechen sie genau unseren Wün-schen – deshalb bin ich sicher, daß die Leute gu-ten Grund haben, unsere Beteiligung zu vermu-ten«, sagte er zu mir. Mehr noch, er fügte hinzu:»Wir haben die Genugtuung, daß wir immer ver-sucht haben, das Rechte zu tun. Für mich kann eskeine größere Befriedigung geben. Ich halte dasfür eine gute Lehre für einige von uns. Wir kön-nen viel aus eigener Kraft erreichen, und wir müs-sen weiter kämpfen, um das zu schaffen. Wennandere uns dabei helfen können, dann ist dasschön und gut. Wenn nicht, dürften wir deshalbauch nicht gleich von der Bildfläche verschwin-den.«

Während der Tage auf den Straßen inmittender heimkehrenden Sechshunderttausend hatteich des öfteren – wohl in Erinnerung an verschie-dene Gemälde und Filme – ein Bild von den na-poleonischen Armeen vor Augen, wie sie ausRußland heimkehren: humpelnde Husaren underfrorene Pferde, Blut auf dem Schnee, der

Himmel schwarz, wahnsinnige, nur noch stieren-de Augen. In Afrika war das Wetter besser, unddie Menschen auf den Straßen waren in derMehrheit bei guter Gesundheit, aber jenes immerwiederkehrende Bild aus einer anderen Zeit, auseinem anderen Land, ließ mich fragen, warumwir im Westen heutzutage so wenig Respekt fürdie Kriege anderer haben. Die große Heimkehrdieser Ruander bezeichnete zumindest für denAugenblick die Zerschlagung einer riesigenArmee, die sich dem Völkermord verschriebenhatte; dennoch hatte die Welt diese Armee jahre-lang im Namen des Humanitarismus unterstützt.»Für euch sind wir bloß kleine Punkte in derMenge«, bemerkte ein Heimkehrer, nachdem ichdie ersten Tage der Wanderung damit verbrachthatte, durch den brodelnden Schwarm auf derStraße von Mugunga zu fahren. In den Lagernhatten sie sich immer geschworen, sie würden soheimkehren, wie sie gegangen waren – en masse,zusammen. Punkte in der Masse zu sein, genaudarin bestand das Problem: es war unmöglich zuwissen, wer wer war. Sie kamen in Mengen vonzwölftausend Mann pro Stunde (zweihundert proMinute), ein menschlicher Sturmbock gegen dieGrenze. Allerdings war das nicht ganz der trium-phale Einmarsch, den die extremistischen Hutu-Führer lange versprochen hatten; eher war es einRückmarsch aus dem Exil, der in fast völligerStille ablief. Mitten durch Menschen auf achtzigKilometern Teerstraße, durch Männer, Frauenund Kinder, die Fahrräder, Schubkarren, Motor-räder, selbst Autos schoben, die hölzerne Kistenwie Schlitten zogen, enorme Bündel auf denKöpfen balancierten, Babys in Tüchern trugenund in den Armen wiegten, die Überseekofferschleppten und leere Bierflaschen und manch-mal nichts außer der Last ihrer Vergangenheit.

Durch all diese Menschen kamen an einerStelle vier Männer, die eine in Decken gehüllteGestalt auf einer Bahre trugen. Als sie sich durchdie Menge drängten, sagte einer von ihnen immerwieder: »Ein Toter, ein Toter«. Dieser Mann stachaus der Menge hervor, weil er das Bedürfnis hat-te, sich zu erklären. Abgesehen vom Klappern derKochtöpfe, dem Rascheln bloßer Füße und vonGummisandalen und dem Meckern einer einzel-nen Ziege oder dem Weinen eines verirrtenKindes, war die heimkehrende Menge geradezuunheimlich stumm.

In Ruanda standen Tausende stundenlang amStraßenrand und beobachteten den Heimkehrer-strom mit der gleichen wortlosen Intensität. Nie

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zuvor in der modernen Geschichte hatte ein Volk,das ein anderes Volk hingemetzelt hatte oder indessen Namen das Gemetzel stattgefunden hatte,mit den übriggebliebenen Mitgliedern des Volkesleben sollen, das hingemetzelt worden war – voll-ständig vermischt, in den gleichen winzigenGemeinschaften, als eine zusammenhängendenationale Gesellschaft.

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Fulgence: Am 11. April ließ der Stadtrat vonKibungo durch Boten alle Hutu zusammenrufen.Zahlreiche Interahamwe waren mit Lastwagen und Bussen eingetroffen, die sich hupend auf denStraßen drängten. Die Stadt war ein einzigesTohuwabohu. Der Stadtrat sagte den Versammel-ten, von nun an werde man nichts anderes mehrtun als Tutsi töten. Allen war klar, daß es umsGanze ging. Die Stimmung war umgeschlagen. Andiesem Tag waren viele, die noch nicht Bescheidwußten, ohne Macheten oder andere Waffen aufder Versammlung erschienen. Die Interahamweermahnten sie und sagten, diesmal wolle man esnoch durchgehen lassen, aber so etwas dürfe sichnicht wiederholen. Sie forderten sie auf, sich mitStöcken und Steinen zu bewaffnen und Sperrket-ten zu bilden, damit niemand flüchten konnte.Danach gab es zwar Anführer und Mitläufer, aberniemand vergaß mehr seine Machete.

Pancrace: Am ersten Tag ging ein Bote desStadtrats durch die Stadt und forderte uns auf, un-verzüglich zu einer Versammlung zu kommen.Dort sagte uns der Stadtrat, bei dieser Versamm-lung gehe es einzig und allein darum, die Tutsi zutöten, und zwar ausnahmslos. Das war einfach ge-sagt und einfach zu verstehen. Wir brauchten darum nur noch nach den organisatorischen Ein-zelheiten zu fragen. Zum Beispiel, wie und wannwir anfangen sollten, denn wir waren so etwas janicht gewöhnt, und auch wo, denn die Tutsi warenin alle Himmelsrichtungen geflohen. Einige frag-ten sogar, ob es Präferenzen gab. Der Stadtrat er-widerte streng: »Ihr braucht nicht zu fragen, wo ihranfangen sollt. Wichtig ist allein, daß wir gleichhier im Busch anfangen, und zwar sofort, ohneuns noch weiter mit Fragen aufzuhalten.«

Ignace: Wir kamen zu gut tausend auf demFußballplatz zusammen und machten uns inGruppen von hundert oder zweihundert Jägern aufden Weg in den Busch. Die Führung übernahmenzwei oder drei Männer mit Gewehren, Soldatenoder Einpeitscher. Am schlammigen Rand der er-sten Papyrusreihen teilten wir uns in Gruppen vonLeuten auf, die sich kannten. Wer schwatzen woll-te, der schwatzte. Wer nichts tun wollt, der tatnichts, solange es nicht auffiel. Wer singen wollte,der sang. Wir suchten uns keine besonderen Liederheraus, die uns Mut hätten machen sollen. Wir

sangen keine patriotischen Lieder, wie sie im Radiogespielt wurden, und keine Haß- oder Spottliederauf die Tutsi. Wir brauchten keine aufmunterndenLieder, wir sangen einfach die traditionellen Lieder,die uns gefielen. Also hauptsächlich Marschlieder.Im Sumpf brauchten wir nur so lange zu suchenund zu töten, bis der Schlußpfiff kam. Manchmaltrat auch ein Gewehrschuß an die Stelle des Pfiffs,das war die einzige Neuerung an diesem Tag.

Élie: Die Einpeitscher gaben die Ziele vor undermunterten die Leute; die Händler zahlten undtransportierten; die Bauern machten die Rundeund plünderten. Aber wenn es ums Töten ging,mußten alle sich mit einem Messer einfinden undsich zu einem erheblichen Teil an der Arbeit betei-ligen. Wütend wurden die Leute nur, wenn dieAnführer zwangsweise Geld für die Leute eintrie-ben, die zur Unterstützung in benachbarte Gebie-te geschickt wurden. Besonderen Unwillen erreg-ten die Sammlungen für die Interahamwe aus an-deren benachbarten Regionen. Bei uns runzeltensie die Stirn über solche Großaktionen. Wir hieltenes für profitabler, wenn jeder bei sich zu Hauseblieb. Wir wußten genau, daß die aus entferntenGebieten immer in großer Zahl kamen. Im Grundemochten wir sie nicht und wollten lieber unter unsbleiben.Was das Töten und die Belohnungen an-ging, war man sich unter den Leuten aus den ver-schiedenen Gebieten keineswegs einig.

Élie: Wer eine Tutsi zur Ehefrau hatte, konnteversuchen, sie zu retten. Er bot dem Anführer oderden Kaderleuten eine Kuh oder dergleichen an undverteilte kleine Geldsummen an die Leute, die umsHaus marodierten. Aber wer nicht kooperierenwollte, brauchte das gar nicht erst zu versuchen.Beieinem Tutsi als Ehemann gab es kein Verhandeln,er stand ganz oben auf der Liste. Wenn seine Frauzu diskutieren begann, wurde sie gleich geschlagenund man tötete ihren Mann vor ihren Augen, umsie zu entmutigen. Wenn sie nicht klein beigab,konnte es sogar geschehen, daß sie selbst mit ihrenKindern getötet wurde.

Pancrace: Die Folter war eine zusätzlicheAktivität, die auf die Entscheidung des Einzelnenoder einer kleinen Gruppe zurückging. Dabei ginges nur um Zerstreuung, wie bei einer Erholungs-pause an einem langen Arbeitstag. Aber die Anwei-

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Täter redenJ e a n H a t z f e l d

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sungen lauteten nur, zu töten. Manche tötetenlangsam, weil sie verängstigt waren; andere, weilsie Schwächlinge waren oder weil es ihnen eigent-lich egal war, und wieder andere aus Grausamkeit.Ich habe immer ganz schnell zugeschlagen, ohnemich um solche Dinge zu kümmern. Ich habenicht an so satanische Dinge gedacht. Ich habemich nur beeilt, mein Tagessoll zu erfüllen.

Jean: Es gab keine Schule mehr, keine Freizeit-aktivitäten, keine Ballspiele und dergleichen. Wenndie Leute öffentlich in Stücke gehackt wurden wiein der Kirche oder im Einkaufszentrum, liefen alleKinder zusammen. Sie wurden nicht dazu gezwun-gen. Wer nicht schon davon wußte, wurde durchdie Schreie angezogen. Man sah sich das Blutbadin allen Einzelheiten an. Man konnte sich nach vor-ne drängen oder hinten bleiben, je nachdem, wieneugierig man war. Das waren unsere einzigenGemeinschaftsaktivitäten.

Pancrace: Die Menschen sind von Gott nichtgleich geschaffen worden. Es gibt Mörder mit ei-nem guten Herzen, die ihre Sünden bekennen. Esgibt Mörder mit hartem Herz, die ihren Haß imStillen nähren. Die sind sehr gefährlich, weil derGlaube ihren Charakter nicht mildert. Sie lassenkeinen Gottesdienst aus. Sie beten und singen ausfreudigem Herzen. Und sie vernachlässigen keinreligiöses Zeichen wie das Bekreuzigen oder dasKnien. Sie geben sich sehr religiös, aber in ihremtiefsten Inneren wissen sie, daß sie wieder mordenwerden. Sie warten nur auf die nächste Gelegen-heit.

Ignace: Die weißen Priester waren bei den er-sten Scharmützeln geflohen. Die schwarzenPriester mordeten selbst oder wurden ermordet.Gott schwieg und die Kirchen stanken von denLeichen, die man darin hatte liegen lassen. DieReligion hatte keinen Platz in unserem Tun. Fürkurze Zeit waren wir keine gewöhnlichen Christenmehr, wir mußten vergessen, was wir im Kate-chismus gelernt hatten. Es galt vor allem, unserenAnführern zu gehorchen. Und Gott nur danach,sehr lange danach, wenn es um Beichte und Bußeging; wenn die Arbeit getan war.

Pancrace: In den Sümpfen verwandelten sichChristen in blindwütige Killer. Im Gefängnis ver-wandelten sich dann blindwütige Killer wieder insehr fromme Christen. Aber es gibt auch Christen,die sich in ängstliche Mörder verwandelten, undängstliche Mörder, die sich in sehr frommeChristen verwandelten.

All das geschah ohne erkennbaren Grund. Jederbegnügte sich ohne fremde Weisung mit seiner ei-genen Art von Glauben, denn die Priester warengeflohen oder selbst an den Morden beteiligt.Jedenfalls arrangierte sich die Religion mit diesenVeränderungen im Glauben.

Jean-Baptiste: Die Hutu haben den Tutsi im-mer vorgeworfen, daß sie größer seien und dasausnutzten, um zu herrschen. Auch die Zeit hatdiesen Groll niemals gelindert. Im Dorf konnteman, wie gesagt, hören, die Tutsi-Frauen seien zuzierlich, um auf unseren Feldern zu arbeiten; siehätten eine glatte Haut, weil sie heimlich Milchtränken, und ihre Hände seien zu schmal, um dieHacke zu halten, und solche Dummheiten. InWirklichkeit konnten die Hutu nichts von alledeman ihren Tutsi-Nachbarinnen beobachten, weil sieihren Rücken geradeso neben ihren Frauenkrümmten und die Frauen ebenso unter der Lastder Wasserbehälter litten. Aber es gefiel ihnen, diesen Unsinn zu wiederholen. Sie erzählten sichauch, daß ein Hutu wie ich, der eine Tutsi geheira-tet hat, das nur tat, um stolz sein zu können. Es ge-fiel ihnen, solche Unwahrheiten zu erzählen, da-mit sich der Graben der Zwietracht zwischen denbeiden Volksgruppen nie ganz schließen konnte.Es ging darum, unter allen Umständen eineDistanz aufrechtzuerhalten, während man auf eineVerschlimmerung der Verhältnisse wartete. ZumBeispiel mußte der Lehrer am ersten Schultag dieeinzelnen Schüler nach Stammeszugehörigkeitauflisten, so daß die Tutsi nur ängstlich in denHutu-Klassen Platz nahmen.

Fulgence: Im Grunde verachteten die Hutu dieTutsi gar nicht so sehr. Jedenfalls nicht so sehr, daßsie sie alle hätten töten wollen. Ein Unheil, dasnoch schlimmer war als der tiefste Haß, drängtesich in diese ethnische Rivalität und führte uns indiesen Sumpf. Zum Beispiel war bei uns ständigdie Rede vom Landmangel. Wir sahen kommen,daß es bald nicht mehr genug fruchtbaren Bodengeben würde. Wir sagten uns, daß unsere Kinderdann weggehen und Richtung Gitarama oder nochweiter Richtung Tansania nach Land suchen müß-ten, wenn sie nicht auf ihrem eigenen Land in dieAbhängigkeit der Tutsi geraten wollten. Wir sahenschon, daß Ernten beschlagnahmt wurden, dieman selbst gesät hatte. Von den Alten wußten wir,daß man vielleicht sogar zu Rodungsarbeiten, zurVersorgung des Viehs oder zu Bauarbeiten ge-zwungen werden konnte wie zu Zeiten der Mwami.Solche Fronarbeiten wurden den Bauern zur Qual.

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istisch, als es erscheint. Vielleicht zweifeln sie stär-ker, als ihre Darstellung erahnen läßt. Vielleicht ha-ben sie das Bedürfnis, sich selbst in der Geschichte,die sie erzählen, so wahrzunehmen, wie sie waren,wenn auch nur von fern. Vielleicht erzählen sie ih-re Geschichte, um uns davon zu überzeugen, daßsie ganz gewöhnliche Menschen sind, solche, wiePrimo Levi und Hannah Arendt sie beschrieben ha-ben. Auf konfuse Weise wollen sie uns allen amRande dieses vernichtenden Wirbels eine beängsti-gende Wahrheit vor Augen führen.

Alphonse: Manche sagen, wir hätten uns inwilde Tiere verwandelt. Wir wären geblendet gewe-sen von der Grausamkeit. Wir hätten unsereZivilisation unter dem Gestrüpp begraben.Deshalb sei es uns unmöglich, die passendenWorte zu finden, um darüber angemessen zu spre-chen. Aber damit verdreht man nur die Wahrheit.Ich kann sagen, außerhalb der Sümpfe haben wirein ganz normales Leben geführt. Wir sangen aufdem Weg, wir tranken Bier oder ›urwagwa‹, jenachdem, was gerade da war. Wir sprachen darü-ber, welches Glück wir hatten; wir wuschen uns dasBlut von den Händen und erfreuten uns an demDuft, der aus den Kochtöpfen stieg. Wir redetenvoller Freude über das neue Leben, das bald begin-nen würde, und ließen uns die Rinderkeuleschmecken. Des Nachts wärmten wir uns an unse-ren Frauen, und wir ermahnten unsere Kinder,wenn sie zu wild waren. Auch wenn wir uns keineRührseligkeit erlaubten wie früher, hatten wir dochLust auf gute Gefühle.Die Tage waren genauso, wieich es beschrieben habe. Wir zogen unsereArbeitskleider an. Wir tauschten unsereWirtshausgeschichten aus, schlossen Wetten aufdie Getöteten ab, machten Witze über die zerstük-kelten Mädchen, stritten uns wegen irgendwelcherKleinigkeiten. Wir schärften das Werkzeug mitdem Schleifstein. Wir machten Scherze, lachtenüber die Gejagten, die um Gnade flehten; wir zähl-ten und verbargen unsere Güter.

Wir konnten uns ganz problemlos allen erdenk-lichen menschlichen Tätigkeiten hingeben, solan-ge, versteht sich, als wir den Tag über unseremMordhandwerk nachgingen.

Am Ende dieser Zeit in den Sümpfen waren wiralle so sehr enttäuscht, daß wir gescheitert waren.Wir waren entmutigt, weil wir alles verlieren wür-den. Wir hatten große Angst vor dem schlimmenSchicksal und der Rache, die uns erwarteten. Aberim Grunde waren wir der ganzen Sache nichtmüde.

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Pio: Vielleicht verachtete man gar nicht alleTutsi, vor allem nicht die Nachbarn. Vielleicht sahman in ihnen gar keine bösen Feinde. Aber unteruns sagten wir, daß wir nicht länger mit ihnen zu-sammenleben wollten. Man sagte sogar, daß wir siegar nicht mehr in unserer Nähe haben wollten unddaß man sie vertreiben sollte. Das zu sagen istschon etwas, da ist die Machete nicht mehr fern.Ich weiß gar nicht, warum ich begonnen habe, dieTutsi zu verachten. Ich war jung, ich spielte sehrgern Fußball. Zusammen mit den Tutsi meinesAlters spielte ich in der Fußballmannschaft vonKibungo. Wir spielten uns die Bälle zu, ohne daßes jemals Probleme gegeben hätte. Ich fühlte michdurch ihre Anwesenheit niemals gestört. Die Ver-achtung kam ganz einfach während der Massaker,nur durch Nachahmung und Konvention.

Jean Hatzfeld: Anfangs empfinde ich ihnengegenüber nur Verachtung und eine natürlichAbneigung oder bestenfalls gelegentlich eine ge-wisse Herablassung. Es bedarf weder der sehr auf-rüttelnden Anwesenheit Innocents noch der täg-lichen Begegnung mit dem Kreis um Marie-Louise,mit Sylvie und deren Klienten, mit Edith und ihrenKindern, mit Claudine und all den Freunden drau-ßen auf dem Land, um mich vor Anflügen vonNachsicht zu schützen. Doch im Laufe der Zeitmischt sich eine gewisse Verwunderung herein,die mir die Bande aus Kibungo zwar nicht sympa-thischer macht, wohl aber den Umgang mit ihr er-leichtert, zumindest unter der Akazie. Ein solchesEingeständnis fällt mir schwer, aber die Neugiersiegt über die Feindseligkeit. Ihre freundschaftli-che Solidarität, ihre Loslösung von der Welt, die siemit Blut überzogen haben, ihr Unverständnis fürihre neue Lage, ihre Unfähigkeit, dem Blick stand-zuhalten, den wir auf sie werfen – das alles machtsie zugänglicher. Ihre Offenheit, ihre Geduld undihre gelegentliche Naivität färben schließlich aufunser Verhältnis ab, und ganz besonders gilt dasfür ihre Bereitschaft zu sprechen, die mir ein Rätselbleibt. Es liegt ihnen nichts daran, Zeugnis vor derGeschichte abzulegen; es geht ihnen nicht darum, ihr Gewissen zu erleichtern; sie erhoffensich von ihren Aussagen keine Milde. Wahrschein-lich reden sie, weil sie es zum ersten Mal tun kön-nen, ohne bedroht zu werden, aber das reicht nicht,um sie zu verstehen. Manche zeigen zuweilen, daßsie sich nicht wiedererkennen in diesen Leuten, diesingend in die Sümpfe zogen; andere scheinenAngst vor dem zu haben, was sie in den Sümpfenwaren. Vielleicht ist ihre Egozentrik weniger ego-

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1. Vor acht Jahren, unmittelbar nach der Ver-nichtung von 800 000 ruandischen Tutsi und ge-mäßigten Hutu, gelobten ruandische Überleben-de und westliche Diplomaten öffentlich, daß denOpfern Gerechtigkeit widerfahren werde. Dochnoch nie hatte ein Land 800 000 Mordprozessegeführt, und das Versprechen war leichter zu ge-ben als einzulösen.

Heute werden in Zentralafrika zwei juristischeExperimente durchgeführt, die der ruandischenForderung nach Vergeltung und Wahrheit wieauch dem Bedürfnis nach Abschreckung undVersöhnung nachkommen sollen. Das erste istder von den Vereinten Nationen im tansanischenArusha eingerichtete Internationale Strafge-richtshof für Ruanda, der die führenden Köpfe,die hinter dem Völkermord standen, aburteilensoll. Das zweite ist der traditionellere und weitausbelastendere Prozeß der gemeinschaftlichenKatharsis in Ruanda selbst, in dem Täter der un-teren Ebene zur Verantwortung gezogen werdenund die Angehörigen der Opfer mehr über dieUmstände erfahren können, unter denen ihreAnverwandten ermordet wurden.

Die Geschichte des Internationalen Strafge-richtshofs ist von Skandalen überschattet, die ihnseit seiner Einrichtung im Jahr 1995 begleiten.Erst im vergangenen Jahr entdeckte man, daßzwei Ermittler, die für den Gerichtshof arbeiteten,wegen Beteiligung am Völkermord gesucht wur-den. Sie hatten sich falsche Pässe besorgt und vonahnungslosen Anwälten der Verteidigung anstel-len lassen. Die beiden bis dahin indirekt von derUno bezahlten Männer wurden inzwischen in-haftiert. Die Schlagzeile einer afrikanischen Zei-tung sagt alles: »Schockierend: Angestellte desInternationalen Strafgerichtshofs selbst desVölkermords verdächtig«.

Eine fundamentalere Kritik am Strafgerichts-hof lautet, man habe bislang zwar 500 Mio. Dollarfür das Gericht ausgegeben, aber die Verantwort-lichen seien faul oder inkompetent, und dasVerfahren komme zu langsam voran. »DerGerichtshof ist 1995 eingerichtet worden, aber bisheute sind erst neun Urteile ergangen«, erklärtMartin Ngoga, der Vertreter der ruandischenRegierung beim Strafgerichtshof. »Das bedeuteteinen Durchschnitt von einskommasoundsovielUrteilen pro Jahr, und die jährlichen Kosten lie-

gen heute bei 90 Mio. Dollar.« Noch warten 52 Beschuldigte und eine ungenannte Zahl vonVerdächtigen auf ihren Prozeß oder ihr Urteil.

In der Anfangszeit ließ sich die Verzögerungnoch auf logistische Mängel zurückführen. DerGerichtshof wurde in einem tristen, weitgehendfensterlosen Betonklotz im tansanischen Arushauntergebracht, einer Stadt von 200 000 Einwoh-nern mit staubigen, ungepflasterten Straßen. Das1978 als Konferenzzentrum erbaute Gebäude, andessen Fassade die Inschrift »The Geneva ofAfrica« prangt, ähnelt eher einem stalinistischenGebäudeblock als einem Wahrzeichen für dasweltweite Streben nach Gerechtigkeit. Als die er-sten Juristen der Vereinten Nationen eintrafen,gab es keine Gerichtssäle, keine brauchbarenTelefone, keinen Strom und keinen Internetan-schluß in dem Gebäude. Bei meinem erstenBesuch 1998 bestand die Bibliothek des Gerichts-hofs aus zwei kleinen Rollwagen mit einer zufäl-ligen Ansammlung gespendeter Handbücherzum Völkerrecht.

Es war nicht leicht, fähige Juristen zu gewin-nen. Die wenigen hartgesottenen, die sich freiwil-lig meldeten, mußten den notorisch qualvollen,mit einem endlosen Papierkrieg verbundenenEinstellungsprozeß der Vereinten Nationen übersich ergehen lassen, der die multinationale Zu-sammensetzung des Personals über Erfahrungoder Fähigkeiten stellt und Entscheidungen übereine mehr als sechsmonatige Anstellung gerneauf die lange Bank schiebt. Auf einer 1997 vonden Vereinten Nationen durchgeführten Anhö-rung wurden dem Gerichtshof Korruption undgrobes Mißmanagement vorgeworfen. Den Ge-richtsreportern standen keine Schreibmaschinenzur Verfügung. Und in der Finanzverwaltungwurden Gelder veruntreut. Im Februar 1997 ent-ließ Generalsekretär Kofi Annan den erstenVerwaltungsdirektor und den stellvertretenderAnkläger.

Angesichts der großen Aufmerksamkeit fürdie Mängel des Gerichtshofs sind seine beidenwichtigsten Verdienste kaum beachtet worden. Eshat die »Großen Fische«, die meistgesuchtenHutu-Führer, die sich nach der Niederlage gegendie Tutsi-Rebellen im Juli 1994 in die ganze Weltzerstreuten, verhaften lassen und vor Gericht ge-stellt. Unter den 61 gegenwärtig inhaftierten ru-

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Zwei Gesichter der GerechtigkeitS a m a n t h a P o w e r

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andischen Hutu befinden sich 11 ehemaligeMinister. In 20 Ländern hat man Verhaftungendurchgeführt. Wenn es den Strafgerichtshof nichtgäbe, würden diese Leute wahrscheinlich aus demExil heraus immer noch den Völkermord planen.Zweitens, auch wenn der Gerichtshof bestenfallsschwerfällig arbeitet, hat er doch einige bahnbre-chende Entscheidungen gefällt. So erließ derGerichtshof im September 1998 erstmals in derWeltgeschichte ein Urteil wegen Völkermord. InNürnberg hatte man dieses Verbrechen nicht ver-folgt. In seinem Urteil gegen Jean-Paul Akayesu,den Hutu-Bürgermeister einer ruandischenKleinstadt, gelangte das Gericht außerdem erst-mals zu der Auffassung, daß systematische Ver-gewaltigung ein Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit und sexuelle Gewalt eine Form vonVölkermord ist. Im Dezember 1998 verurteilteder Gerichtshof in Arusha erstmals einen Regie-rungschef. Jean Kambanda, Premierminister derfür den Völkermord verantwortlichen Interims-regierung, wurde im September 1998 vomGerichtshof für schuldig befunden und verurteilt,also zweieinhalb Jahre bevor der berüchtigte ser-bische Staatspräsident Slobodan Milosevic nachDen Haag überstellt wurde – wie fast alle Vertre-ter des Gerichts in Interviews zu dessen Ehren-rettung betonen.

Wie schon für den Völkermord selbst, so hatdie Welt auch für die Verbrecher, die ihn verübthaben, nur wenig Interesse gezeigt. Mehr als 500Journalisten nahmen im Februar 2002 in DenHaag an der Eröffnung des Verfahren gegenMilosevic teil, aber nur 40 kamen nach Arusha,um über das Verfahren gegen Oberst ThéonesteBagosora zu berichten, einen Mann, den außer-halb Ruandas kaum jemand als Hauptverant-wortlichen für den dortigen Völkermord nennenkönnte. Als ich einen Tag lang den denkwürdigenSchlagabtausch zwischen dem Anklagevertreterund Ferdinand Nahimana verfolgte, dem ange-blichen Kopf hinten den Haßtiraden des berüch-tigten Senders Radio Mille Collines (RTLM), wa-ren außer mir die einzigen Zuhörer im Saal einkenianischer Lehrer, zwei australische Rucksack-touristen, drei britische Safaribesucher und dreiRuander, die, wie ich später erfuhr, beim Ge-richtshof beschäftigt waren. Welche Erfolge derGerichtshof in Arusha auch bei der Verurteilungder Schuldigen oder bei der Schaffung vonPräzedenzfällen haben mag, die potentielle Völ-kermörder abschrecken und dem ständigen Inter-nationalen Strafgerichtshof nützen könnten, der

größte Mangel des Gerichts liegt in der Tatsache,dass er kaum Verbindung zu Ruandern hat. »DasGericht wurde nicht für das ruandische Volk ein-gerichtet«, sagt Gérard Gahima, der ruandischeJustizminister. »Er wurde eingerichtet, um dasSchuldgefühl der Welt zu besänftigen. Das zeigtsich in allem, was das Gericht tut.«

2. Das Uno-Gericht ist Welten entfernt von demVolk, dem es internationale Gerechtigkeit zu brin-gen verspricht. Die wenigen Ruander, die dasGericht besuchen, müssen mit dem Bus durchvier Länder fahren: von Kigali in Ruanda nachKampala in Uganda, dann nach Nairobi in Keniaund von dort nach Arusha in Tansania. Die Fahrtdauert zwei Tage und kostet etwa 40 Dollar; hizu-kommen 20 Dollar für das kenianische Transitvi-sum. Das ist mehr, als die meisten Ruander imMonat verdienen.

An solche logistischen Fragen dachten Uno-Vertreter und westliche Diplomaten nicht, als derWeltsicherheitsrat 1994 die Einrichtung einesKriegsverbrechertribunals nach dem Vorbild desgerade eingesetzten Internationalen Strafge-richtshofs für das ehemalige Jugoslawien be-schloß. Die Tutsi-Rebellen, die dem Völkermordein Ende setzten – und seither Ruanda regieren(dessen Bevölkerung immer noch zu 85 Prozentaus Hutu besteht) – machten den Vorschlag, ei-nen internationalen Strafgerichtshof in Kigali ein-zurichten. Wenn im Namen der Ruander Rechtgesprochen werde, so erklärte damals der ruandi-sche Vertreter bei der Uno, dann sollten dieRuander daran auch beteiligt werden.

Doch man wandte ein, in Ruanda sei dieSicherheitslage noch nicht stabil genug, so daßZeugen der Verteidigung und Verteidiger, in derMehrzahl Hutu, Angst haben könnten, nachRuanda zu reisen, das in ihren Augen die gefürch-tete Hochburg des Tutsi-Feindes sein mochte.Außerdem müsse ein Gerichtshof der VereintenNationen eine gewisse Distanz zu den Überleben-den des Völkermords wahren, damit man ihmnicht wie einst dem Nürnberger Kriegsverbre-chertribunal vorwerfen könne, er betreibe ledig-lich Siegerjustiz. Arusha, meinten westlicheDiplomaten, liege in der Nähe, aber nicht zu nah,und außerdem habe der Ort eine »symbolischeBedeutung«. Denn dort hatten Hutu und Tutsi1993 vereinbart, die Macht miteinander zu teilen,bevor der Völkermord alle Verträge zunichtemachte.

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Die Entfernung macht es den Ruandernschwer, die Prozesse zu verfolgen. Bedeutsamerist jedoch das Problem, daß der Gerichtshof zwarfür Gerechtigkeit sorgen mag, dabei aber nicht andie Ruander denkt. Die Juristen der VereintenNationen sind die ersten, die einen Mangel an»Reichweite« eingestehen, wie sie selbst es nen-nen. Im Jahr 2000 richtete der Gerichtshof einInformationsbüro in Kigali ein, um die dortigeWahrnehmung des Gerichts zu verbessern. Imvergangenen Jahr wurden 21 000 Besucher ge-zählt, aber bei den meisten handelte es sich umAnwälte, Forscher oder Studenten, die von derMöglichkeit eines kostenlosen E-Mail-ZugangsGebrauch machten. Das in einem luftigen Diplo-matenviertel gelegene Büro kann nur erreichen,wer in der Nähe wohnt oder ein eigenes Auto be-sitzt. Öffentliche Verkehrsmittel gibt es in die-sem Viertel nicht. Erstaunlicherweise hat derGerichtshof erst drei seiner neun Urteile aus demFranzösischen und Englischen in das in Ruandagesprochene Kinyarwanda übersetzen lassen.

Da es in Ruanda kaum Fernsehgeräte gibt,planten die Vereinten Nationen die Einrichtungeines Radiosenders, erklärt mir letztes Jahr derVerwaltungsdirektor Adama Dieng. »Aber dannwurde die Ausrüstung nach Afghanistan umgelei-tet.« Einige Teile der großen Prozesse könntennach Kigali verlegt werden, damit die Menschendort erstmals die Chance haben, die führendenKöpfe des Völkermords auf der mit schußsiche-rem Glas gesicherten Anklagebank zu sehen.Aber Dieng fragt durchaus zu Recht: »Wenn wireinen Zeugen der Verteidigung nach Kigali brin-gen, der dort mit Haftbefehl gesucht wird, glau-ben Sie wirklich, die Ruander würden ihn wiedergehen lassen? Seien wir ehrlich!« Dieng hat kürz-lich den Vorschlag gemacht, in Ruanda Fußball-stadien anzumieten, damit die Menschen dort aufgroßen Leinwänden die Prozesse verfolgen könn-ten. Doch in diesem Fall zeigt die ruandischeRegierung sich skeptisch. Justizminister Gahimameint: »Ich bin mir nicht sicher, ob Fußball-stadien eine gute Idee wären. Denn wie vieleRuander sind während des Völkermords in sol-chen Stadien zusammengetrieben und ermordetworden?« Bis einer der gut gemeinten Pläne derUno wirklich in die Tat umgesetzt ist, werdeninteressierte Ruander sich mit den beiden dreimi-nütigen Schwarzweiß-Filmberichten begnügenmüssen, die das ruandische Fernsehen jedeWoche bringt.

3. Die beiden Tutsi-Frauen Marie Josée Kayitesund Immaculate Uwayesu sind Überlebende desVölkermords und, wie sie heute sagen, »Überle-bende des Strafgerichtshofs«. 1994 wurde Im-maculate Uwayesu von so vielen Männer verge-waltigt, daß sie das Bewußtsein verlor. »An die er-sten fünf oder sechs kann ich mich erinnern, aberdann wurde ich bewußtlos«, sagt sie. JuvenalKajelijeli, Bürgermeister ihrer Heimatstadt undmitverantwortlich für die Planung des Völker-mords, wartete draußen, während sie vergewaltigtwurde. Kajelijeli sitzt heute in Arusha in Un-tersuchungshaft. Im November 2001 bestiegUwayesu erstmals in ihrem Leben ein Flugzeug,ein Shuttle der Uno, und flog nach Arusha, umdort unter »Zeugenschutz« auszusagen. Kajelijelihilflos auf der Anklagebank sitzen zu sehen wareine Genugtuung für sie, doch als sie in denZeugenstand trat, um – anonym hinter einemVorhang – auszusagen, brach sie zusammen. Inihrer Aussage benutzte sie zur Darstellung desGeschehens den ruandischen Ausdruck für»Vergewaltigung – gufarwa ku nguju«, der wört-lich übersetzte etwa »mit Gewalt festgehalten«bedeutet. Der Verteidiger unterbrach sie und woll-te wissen, was genau sie mit »Vergewaltigung«meine. Sie erinnert sich: »Ich sagte ihnen:›Männer nahmen ihre privaten Teile und führtensie in meine privaten Teile ein.‹ Aber sie sagten,das sei nicht genug. Sie wollten, daß ich die wirk-lichen Worte benutzte. Aber das konnte ich nicht.Alle wußten, was Vergewaltigung ist, aber siedrängten mich, es genauer zu sagen. Das konnteich nicht […].«

Eine Woche nach ihrer Rückkehr wurde sieauf die örtliche Polizeistation zitiert und mußteeinem Hutu-Polizisten erklären, warum sie nachArusha gegangen sei und »Lügen verbreitet« ha-be. Sie war schockiert. »Das sollte doch ein großesGeheimnis zwischen mir und dem Gerichtshofbleiben«, sagt sie. »Ich habe niemandem davonerzählt, nicht einmal meinen Eltern, aber irgendwoher wußten sie alles, was ich gesagt hatte.« Sieging zum Büro des Gerichtshofs in Ruanda undfragte, wie ihr Besuch beim Gerichtshof und ihreZeugenaussage hatten durchsickern können. DieSicherheitsleute sagten ihr, der Ankläger sei nichtda und werde sich bei ihr melden, wenn er zurücksei. Zwei Monate später, im Januar dieses Jahres,fand Uwayesu einen Zettel vor ihrer Tür, auf demstand: »Eines Tages in der Zukunft, den weder dunoch wir voraussagen können, werden wir dir denMund zunähen und dafür sorgen, daß du keine

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Lügen mehr erzählen kannst.« Da sie unter lau-ter Hutu lebte, die nun wußten, daß sie gegen ei-nen ihrer ehemaligen Führer ausgesagt hatte, flohUwayesu aus ihrem Heimatort und suchte Zu-flucht bei einem Witwenverein in Kigali. EineNachbarin und entfernte Kusine Uwayesus, MarieJosée Kayites, deren Mann bei dem Völkermordabgeschlachtet wurde und die selbst nicht nur vonmehreren Männern vergewaltigt, sondern auchmit der Machete verstümmelt wurde, machte ähn-liche Erfahrungen mit dem Gerichtshof in Arushaund erhielt nach ihrer Rückkehr nach Ruandaebenfalls Morddrohungen. Da sie beim Gerichts-hof niemanden fand, der ihr half, eine andereWohnung zu finden, suchte auch sie Zufluchtbeim örtlichen Witwenverein und wurde dort auf-genommen. Als sie einige Monate später zu einerNachsorgeuntersuchung zum Arzt ging, sagteman ihr, daß einer ihrer zahlreichen Vergewalti-ger sie mit Aids infiziert hatte. Kayites wußte ausdem ruandischen Rundfunk, daß alle im Unter-suchungsgefängnis der Vereinten Nationen inArusha inhaftierten Verdächtigen, die HIV-infi-ziert waren, die lebensrettende HIV-Behandlungerhielten. Doch als sie sich an den Gerichtshofwandte und um Hilfe bat, erklärte man ihr, dieVereinten Nationen kämen zwar für die Routine-behandlung von Zeugen auf, könnten aber eineteure HIV-Behandlung nicht übernehmen.Roland K. G. Amoussouga, der dienstälteste An-gestellte des Gerichtshofs, der das Zeugen-schutzprogramm aufgebaut hat, erklärt dieGründe für diese offenkundige Ungerechtigkeit:»Wo sollten wir die Grenze ziehen? Wenn sie ei-nen Zeugen behandeln, müsse sie alle Zeugen be-handeln. Wir müssen davon ausgehen, dass loka-le Institutionen sich der Sache annehmen.«

Außerdem, so fügt er hinzu, stelle derWeltsicherheitsrat die Regeln auf und nicht derGerichtshof. »Die Leute sagen, der Gerichtshoffüttere die Gefangenen und sorge sogar für eineHIV-Behandlung. Ja, das tun wir. Dazu haben wirden Auftrag. Aber wir haben nicht den Auftrag,uns um die Opfer zu kümmern.« Die ruandischeRegierung ist der Auffassung, auch die HIV-Behandlung müsse Teil des Zeugenschutzpro-gramms sein. »2008 wird es keine Zeugen für dieVergewaltigungsprozesse mehr geben«, erklärtNgoga, der Vertreter der ruandischen Regierung.Kayites unterscheidet nicht zwischen dem Uno-Gerichtshof und dem Uno-Sicherheitsrat. Sie bit-tet nur höflich um Hilfe. »Wie kann es sein, daßman einem Opfer sagt, man könne nichts tun,

während die Organisatoren des Völkermords dienötige Hilfe erhalten, damit sie in Gesundheit le-ben können?«

4. In der ruandischen Provinz Butare sindDorfbewohner mehrere Kilometer gewandert, umein staubiges Plateau auf einem der zahllosenHügel des Landes zu erreichen. Während dieRuander keinen Kontakt zu dem aseptischen, inverfahrensrechtlichen Aspekten versinkendenGerichtshof in Arusha haben, bietet der im Jahr2002 begonnene, als Gacaca (ausgesprochen: ga-tscha-tscha) bezeichnete emotionale und juristi-sche Prozeß den Überlebenden die Möglichkeit,ihren Peinigern von Angesicht zu Angesicht ent-gegenzutreten.

Die Gacaca-Gerichte sind nach dem Gras be-nannt, auf dem die Dorfältesten früher Streitig-keiten innerhalb der Gemeinde schlichteten. Sieentschieden bei Auseinandersetzungen um Ei-gentumsfragen, in Ehestreitigkeiten und bei gele-gentlichen Diebstählen. In den wiederbelebtenGacaca-Gerichten sollen nun Dorfbewohner ohnejede Ausbildung über Menschen richten, denenMord, Vergewaltigung und Plünderung währenddes Völkermords vorgeworfen werden.

Die Gacaca-Gerichte waren notwendig gewor-den, weil zwar die führenden Köpfe des Völker-mords in dem recht komfortablen Untersuchung-sgefängnis in Arusha auf ihren Prozeß warteten,die zahlreichen Fußsoldaten jedoch ohne Prozeßund ohne Hoffnung in ruandischen Gefängnis-sen dahinvegetierten. Nach dem Völkermord wur-den 120 000 Ruander, in der Mehrzahl Hutu, inGefängnisse gesperrt, die nur für 10 000 Häftlin-ge gebaut waren. Manche dieser Häftlinge wur-den auf frischer Tat beim Morden ertappt. Anderewurden nur deshalb verhaftet, weil ein Nachbareinen entsprechenden Verdacht äußerte (dermöglicherweise mehr an Land oder Vieh desBeschuldigten interessiert war als an Gerechtig-keit). In den acht Jahren seit dem Ende des Völ-kermords haben die überforderten ruandischenGerichte 6000 Verfahren abgeschlossen, das sindweniger als 5 Prozent der anhängigen Fälle. Wennman so weitermacht, werden die ordentlichenGerichte 200 Jahre brauchen, bis alle Fälle abge-arbeitet sind.

1999 gelangte der ruandische Präsident PaulKagame zu dem Schluß, daß drastische Maßnah-men erforderlich seien. Um die Gefängnisse desLandes zu leeren, schuf seine Regierung dieVoraussetzungen für einen öffentlichen Bekennt-

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nisprozeß, der an die Hexenprozesse in Salemoder an christliche Erweckungsveranstaltungenin Mississippi erinnert. Im Oktober 2001 ließman in allen 11000 Wahlbezirken des Landes jeweils 19 »integre Persönlichkeiten« wählen –Bauern, Lehrer, Arbeiter –, die als ehrenamtlicheRichter fungieren sollten. Viele der 254 000Laienrichter konnten weder lesen noch schreiben.Und bei einigen stellte sich rasch heraus, daß siesich selbst am Völkermord beteiligt hatten. DieRichter absolvierten einen 36-stündigen Crash-Kurs, in dem man ihnen die (immer noch inEntwicklung begriffenen) Regeln des Gacaca-Verfahrens beibrachte. Dann erhielten sie dieVollmacht, Ermittlungen einzuleiten, Ruandervor »Gericht« zu stellen, Hausdurchsuchungenoder Verhaftungen anzuordnen, Urteile zu fällen,Schadensersatzzahlungen festzulegen und Güterbeschlagnahmen zu lassen. Diese Richter habennun die Macht, über das Schicksal Zehntausendervon Mordverdächtigen zu entscheiden, die inFreiheit gesetzt werden können, falls sie ihreVerbrechen gestehen. Die Gemeinderichter stüt-zen sich auf die Aussagen von Menschen, diewährend des Völkermords in Ruanda gelebt ha-ben und nun gesetzlich verpflichtet sind, bei denein Mal in der Woche angesetzten Verhandlungenzu erscheinen. Zu den Hauptaufgaben derGacaca-Gerichte gehört es, eine Bekehrung her-beizuführen und herauszufinden, was währenddes Blutrauschs 1994 tatsächlich geschah.

Ähnlich wie bei der Wahrheits- und Versöh-nungskommission in Südafrika hängt auch derErfolg der Gacaca-Gerichte von der Zahl undGlaubwürdigkeit der Geständnisse ab. Gefange-ne, die als Mörder der »Kategorie eins« eingestuftsind – etwa 2 500 Planer des Völkermords, be-kannte Mörder und solche, die mit besonderemEifer oder besonderer Grausamkeit gemordethaben –, werden am Ende von ordentlichenGerichten abgeurteilt werden. Im Fall einesSchuldspruchs wird selbst tief empfundene Reuesie nicht vor der Höchststrafe bewahren, also vorlebenslänglicher Haft oder der Todesstrafe. Dochin der überwiegende Mehrzahl werden dieGefangenen in den nächsten fünf Jahren vor ei-nem Gacaca-Gericht erscheinen und von ihres-gleichen abgeurteilt. Wer einen Mord – oder auchmehrere Morde – gesteht und wahrheitsgemäßwie auch reuevoll über die grausamen Einzelhei-ten seiner Tat berichtet, darf damit rechnen, daßdie dafür vorgesehene Strafe von 14 Jahren aufsieben Jahre Haft und sieben Jahre gemeinnützi-

ge Arbeit verringert wird. Für die vielen, die seitdem Völkermord in Haft sind, bedeutete das diesofortige Freilassung. Wenn ein Gefangener nichtgesteht und das Gacaca-Gericht zu der Auffas-sung gelangt, daß er schuldig ist, kann es ihn zueiner Haftstrafe von 25 Jahren bis lebenslänglichverurteilen, die er in den zweifellos auch weiter-hin überfüllten Gefängnissen des Landes wird ab-sitzen müssen. Je später ein Beschuldigter inner-halb des Gacaca-Verfahrens gesteht, desto gerin-ger die Strafmilderung, mit der er rechnen kann.

Die ruandische Regierung bemüht sich inganz Ruanda, die Anschuldigungen gegen Häft-linge mit unvollständigen und fehlenden Aktenzu klären. Jede Woche werden solche Häftlinge inder betreffende Gemeinde »vorgeführt«. Wennbei dieser Voruntersuchung Zeugen oder Be-weise beigebracht werden, die den Verdächtigtenmit einem Verbrechen in Zusammenhang brin-gen, nimmt man diese Aussagen oder Beweise zuden Akten. Doch wenn niemand etwas gegen denVerdächtigten vorbringt, setzt man ihn auf freienFuß.

Bei einem dieser Vorverfahren in Niyikazu,Butare, an dem ich teilnahm, erschien eine ersteGruppe von Häftlingen zu Fuß und in ähnlicherKleidung wie die Leute aus den Dörfern: in verwa-schenen Bluejeans, schmutzigen Nike-T-Shirts,afrikanischen Sarongs und Sandalen, Sandalettenoder Pantoletten jeglicher Art. Der Zug derHäftlinge über die nahegelegenen Hänge erinner-te an einen großen Flüchtlingsstrom. Ihre Mit-bürger saßen auf knarrenden Stühlen undBänken, während sie den ermüdenden Zeuge-naussagen folgten, die einen ganzen Tag dauer-ten. Obwohl es kaum Bewachung gab, versuchtekein Gefangener zu flüchten. Der Direktor desörtlichen Gefängnisses sagte mir: »Es liegt nichtin unserer Kultur, einen Fluchtversuch zu ma-chen.« Eine zweite Gruppe von Häftlingen traf inpinkfarbener Gefängniskleidung auf einem offe-nen Lastwagen ein. Einige von ihnen hatten ihreHemden für den großen Tag gebügelt. Alle wirk-ten übermütig. Sie freuten sich über den Wechselder Umgebung und die erste Hoffnung aufEntlassung nach sieben Jahren Haft.

Bevor die offizielle Zeugenbefragung begann,begab sich eine Handvoll Häftlinge, die zurGefängnisband gehörten, in die Mitte desGerichtsplatzes, der nun von gut tausend Zu-schauern umringt war. Ein Häftling spielteBongo-Trommeln, und vier von ihnen spielten aufGitarren, die teilweise pinkfarben angestrichen

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waren, damit sie farblich zur Gefängniskleidungpassten. Zur Musik der Band, die den NamenStars de la Vérité trug, sang und tanzte derGefängnischor ein sehr rhythmisches Lied überMord, Geständnis, Wahrheit, Befreiung undVersöhnung. Der mitreißende Rhythmus verein-te Reggae-, Polka- und Gospelelemente. Der Textlautete:

Was sollen wir tun?Wir, die wir unser geliebtes Land zerstört haben?Ihr, die ihr Verbrechen erlebt, und ihr, die ihr sie begangen habt?Was geschehen ist, kam nicht aus uns. Es wurde inuns hineingelegt …Ihr solltet gestehen, was ihr getan habt, und umVergebung bitten …Ihr, die ihr den Völkermord überlebt und eureAngehörigen verloren habt …Wir fühlen mit euch und teilen euren Schmerz.Wir bitten euch aus tiefstem Herzen um Vergebung.

Bei der letzten Zeile des Liedes – »Wir versi-chern euch, daß es nicht noch einmal geschehenwird« –, wirbelten die drei Tänzer herum, wiegtendie Hüften im Rhythmus des Liedes, machten mitder Hand eine Bewegung, als schnitten sie dieKehle durch, und hoben die Finger wie zumSchwur: »Wir werden es niemals wieder tun.«

Der Völkermord in Ruanda war ein konformi-stisches Verbrechen. Auf unheimliche Weise fin-det sich derselbe Konformismus nun in den Ges-tändnissen der Häftlinge. Ein Beobachter sprachhier von einer neuen Form »verordneter Schuld-eingeständnisse«. Wenn die Regierung es be-fiehlt, übernehmen die Häftlinge die Verantwort-ung. Welche Motive sie auch haben mochten, dieSänger und Tänzer, die zum Geständnis auffor-derten, strahlten, während das Publikum, das sichmit Sonnenschirmen und Bananenblättern vorder Sonne schützte, in lautes Lachen ausbrach. Eswar schwer zu sagen, ob es sich in einer Gemein-schaft, die in der überwältigenden Mehrheit ausHutu bestand, um ein nervöses, ungläubigesLachen über nie zuvor öffentlich angesprocheneThemen handelte oder um Erleichterung darü-ber, daß die moralisierende Botschaft in einerspielerischen Verpackung daherkam. In diesemganz aufs Wohlfühlen ausgerichteten Eröff-nungsakt hatte man Mühe, die verschlossenenGesichter der Tutsi auszumachen, die den Völker-mord überlebt hatten und nun eingeklemmt zwi-schen ihren Hutu-Nachbarn saßen.

Jeder Häftling, den man der nun beginnendenVoruntersuchung unterzog, wurde mit denWorten eingeführt: »Wer kennt diesen Mann?«Oft meldete sich zunächst niemand. Doch in derRegel konnte man sich darauf verlassen, daß ei-ner seiner Mithäftlinge sich mit Anschuldigun-gen oder mit einer entlastenden Aussage zu Wortmeldete. Für die Tutsi-Überlebenden war esschwerer. Manche, die vortraten, um ihre An-schuldigungen vorzubringen, sahen ihren Pein-igern ins Gesicht und schienen diesen lange her-beigesehnten Augenblick der Konfrontation zugenießen. Doch die meisten, die mitten auf denGerichtsplatz traten und das Mikrofon ergriffen,taten es widerwillig, kehrten den von ihnenBeschuldigten den Rücken zu und zitterten, wennsie ihre Dämonen erstmals öffentlich wiederauf-erstehen ließen. Die Häftlinge standen meist aus-druckslos da und warteten passiv auf ihr Urteil.Sie wußten, wenn es keine Akte gab und niemandgegen sie aussagte, würden sie bald freikommen.

Als »TM«, ein mutmaßlicher Mörder mit un-vollständiger Akte, vorgeführt wurde, sagte er, erhabe nichts mit dem Tod eines Tutsi-Jungen zutun, den er ermordet aufgefunden habe. Zeugensprangen auf und widersprachen ihm. Einer er-klärte, er habe gesehen, dass TM das Verbrechenbegangen habe. Man fragte TM, ob er seineAussage überdenken oder weiter auf seiner Un-schuld bestehen wolle. TM erwiderte: »Ich bleibedabei, ich habe den Jungen gefunden, als er schontot war, aber um sicher zu sein, habe ich ihm aufden Kopf geschlagen. Das gebe ich zu.« In derMenge war Flüstern und Spott über dieses schwa-che, verspätete Geständnis zu hören. Nun würdeman die Zeugenaussage und seine Einlassung zuden Akten nehmen. Doch falls er die Kunst desGeständnisses erlernt, bevor die Gacaca-Prozessein seinem Bezirk beginnen, hat er immer nochChancen, freizukommen.

Stilaton Siborurema, 45 Jahre alt, stand mitverschränkten Armen in der Mitte des Gerichts-platzes. Er wurde beschuldigt, an der Ermordungvon drei Tutsi-Kindern beteiligt gewesen zu sein.Während die Zeugen in den Kreis traten, um ih-re Aussagen zu machen, hatte man den Eindruck,als schliefe er im Stehen. Aber er hatte Glück. Eingutes Dutzend Dorfbewohner behaupteten, daßes sich um eine Verleumdung handele. AlsSiborurema sich wieder hinsetzen durfte, warenzwei andere Männer der Tat bezichtigt worden,und die Zuschauer waren sich einig, daßSiborurema seit sieben Jahren unschuldig im

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Gefängnis saß. Darum wurde er vorläufig auffreien Fuß gesetzt. Von den 8 000 Häftlingen, diein den vergangenen zwei Jahren in ihren Heimat-gemeinden an einer Gacaca-Voruntersuchungteilnahmen, wurden etwa 2 000 freigelassen.

5. Während die Gacaca-Voruntersuchungen dafürgesorgt haben, daß wenigstens offenkundigUnschuldige wieder in die Gesellschaft zurück-kehren konnten, werden die eigentlichen Gacaca-Prozesse, die im Juni 2002 an einigen ausgewähl-ten Orten begonnen haben und ab 2003 überallim Land stattfinden, von sehr viel größererTragweite sein. In diesen Verhandlungen werdendie Gefangenen die Möglichkeit haben, ihrSchuldeingeständnis gegen eine vorzeitige Ent-lassung einzutauschen. Dort auch werden dieüberlebenden Tutsi die Möglichkeit haben, öffent-lich ihre Stimme zu erheben und ihre Nachbarnzu den schrecklichen Tagen und Nächten desJahres 1994 zu befragen.

Die Gacaca-Prozesse dürften den überleben-den Tutsi, die von der mangelnden Sensibilitätdes Internationalen Strafgerichtshofs für Ruandaenttäuscht sind, etwas mehr vom dem geben, wo-nach sie suchen, aber keineswegs alles, was siebrauchen. Ihre Hutu-Nachbarn sprechen nichtviel über die Ereignisse von 1994. Regierung undÜberlebende hoffen, die Vernehmungen werdensie wenigstens dazu ermutigen, über die Vergan-genheit zu diskutieren. Während die Tutsi sichhinter Sorghum- oder Bananenstauden verstek-ken oder im Gebälk ihrer Dächer festklammernmußten, konnten die Hutu sich realtiv frei be-wegen und vermögen heute daher eher zu sagen,wie die Massaker abliefen. Wenn es um dieFeststellung geht, wer wen an welcher Straßen-sperre ermordet hat oder wer sich den mörderi-schen Befehlen der Hutu-Extremisten widersetzthat, ist die Mithilfe der Hutu-Mehrheit von zen-traler Bedeutung. Bei den ersten Gacaca-Prozessen hat sich herausgestellt, daß zweiGruppen von Ruandern am ehesten zu Aussagenbereit sind: die überlebenden Tutsi und Häftlinge,die sich eine Strafmilderung erhoffen. Doch vorallem die Hutu, die sich 1994 vielleicht nicht anden Morden beteiligten, aber aus sicherer Entfer-nung zuschauten, kennen die Geheimnisse undsind letztlich der Schlüssel für die Versöhnung.

Da die ruandische Regierung die Gacaca-Rechtsprechung auf den Völkermord beschränkt,so daß Hutu dort nicht gegen Tutsi-Soldaten aus-sagen können, die sich an Kriegsverbrechen betei-

ligt haben, meinen viele, diese Prozesse begün-stigten die Tutsi. Und da auch jederzeit neueVerhaftungen vorgenommen werden können, be-fürchten viele Hutu, schon wenn sie den Prozes-sen als Zuschauer beiwohnten oder dort gar alsZeugen aufträten, könnte das Nachbarn veranlas-sen, sie der Komplizenschaft im Völkermord zubeschuldigen. Trotz erheblichen staatlichenDrucks (es sollen bereits Geldstrafen wegenNichterscheinens verhängt worden sein) scheintdie Beteiligung an den Prozessen rückläufig zusein. »Das ist keineswegs überraschend«, meintKlaas de Jonge von Penal Reform International,der die Gacaca-Prozesse beobachtet. »Warum soll-te man dorthin gehen und darauf warten, be-schuldigt zu werden?«

Bei einem Völkermord dieser Größenordnungist »wahre Gerechtigkeit« für alle offensichtlichunmöglich. Die Gacaca-Gerichte verfügen insge-samt nur über ein Zehntel des Budgets, das demInternationalen Strafgerichtshof für Ruanda zurVerfügung steht, und ihre Aufgaben gehen weitüber die verfügbaren Mittel hinaus. Vielleichtbringen die Gacaca-Prozesse sogar neue Unge-rechtigkeit mit sich. Beschuldigte müssen sichvor unausgebildeten Richtern verteidigen, diemöglicherweise ein persönliches Interesse amAusgang des Verfahrens haben. Und weil dieVerfahren zeigen, dass manche Hutu mehr alsein halbes Jahrzehnt unschuldig im Gefängnisgesessen haben, führen sie vielleicht zu neuenRessentiments und zu einem neuen Bedürfnisnach Vergeltung. Andererseits haben die Ruanderdort wenigsten die Möglichkeit, über ihre Erleb-nisse zu sprechen, und den Gefangenen bietendie Prozesse die Chance, ihr Gewissen zu erleich-tern. Wenn eine Regierung aus Siegern undOpfern es den Tätern erlaubt, sich wieder in dieGesellschaft einzufügen, so könnte dies dasVerhältnis zwischen der Tutsi-Regierung und derHutu-Mehrheit entspannen. Vor allem aber, wennes den Überlebenden und den Gefangenen, denHeimgekehrten und den im Lande Gebliebenentatsächlich gelingt, einander zuzuhören, findensie vielleicht zu einer vielseitigen kollektivenDarstellung des Völkermords, die aus zahlreicheneinzelnen menschlichen Geschichten und nichtnur aus einer Statistik des Todes besteht.

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»Die ersten drei Jahre nach dem Genozid«, so er-zählt Jean-Bosco, »packten mich Haß und Rache-gefühle, wenn ich in meinen Weiler zurückkehr-te, wo ich aufgewachsen bin und wo ich gewohnthatte. Auf einem kleinen Vorsprung des Hügels,du siehst ihn immer bei der letzten Wegkehre,steht das Haus von Silas. Wir gingen zusammenzur Schule, und wir teilten das Salz, für uns einZeichen guter Nachbarschaft. In den letztenApriltagen 1994 ermordete Silas zusammen mitanderen Bauern des Hügels meine Frau undmein Kind, meine beiden Brüder und ihreFamilien und meine Eltern. In meiner Verzweif-lung warf ich mich in die Arbeit, ich handle mitAckerfrüchten. Der Kampf ums wirtschaftlicheÜberleben zwang zur Zusammenarbeit mit an-dern Bauern des Hügels, das war heilsam, fürmich und wahrscheinlich für viele. Eher zufälligrealisierte ich viel später, daß ich Silas’ Hauskaum mehr wahrnahm. Ich heiratete wieder, ha-be zwei kleine Kinder. Was werde ich ihnen ein-mal über die Geschichte unseres Landes erzählen,über den Tod der Großeltern? Vor einigen Mona-ten ist Silas aus dem Gefängnis zurückgekehrt,ich habe ihn vor seinem Haus gesehen. Er mußsich dieses Jahr vor dem Gacaca-Gericht verant-worten, unserem traditionellen Weg zur Ahn-dung von Verbrechen. Silas wird um Verzeihungbitten. Ich habe eine neue Familie, habe wiederLebensziele. Ich habe das schreckliche Gescheh-en überwunden. Ist das Verzeihen? Der Mund istschnell, wenn er sagt: ›Ich verzeihe‹. Doch dasHerz hinkt hinterher. Ich werde mit Silas reden,wenn er mir in die Augen blicken kann. Aber ver-gessen? Niemals.«

Das Leben ging weiter nach dem Völkermordvom Frühjahr und Frühsommer 1994, schlep-pend zunächst und gedämpft. Eine distanzierte,weil jede emotionale Befindlichkeit ausklam-mernde Aussage über die Entwicklung in Ruandaerlauben die Wirtschaftsdaten. Zwischen 1996und 1999 betrug das Wachstum jährlich rund 10Prozent: Ruanda erwachte aus der Erstarrung undhatte praktisch von vorn zu beginnen. Seither hatsich das Wachstum bei etwas über sechs Prozenteingependelt: In diesem Sinn fand Ruanda zu ei-ner gewissen Normalisierung zurück.

Seit Jahresbeginn 2004 sind in Ruanda diePrimarschulen gratis – und obligatorisch. Was die

hohe Analphabetenquote von nahezu 40 Prozentanzupeilen scheint, greift tiefer: Ruanda plant sei-ne Zukunft. Es sieht sie im Dienstleistungsbe-reich, mit der Landwirtschaft als tragendemStandbein. In den vergangenen zwei Jahren ge-lang es Ruanda, eine internationale Tagung nachder anderen ins Land zu holen, und so soll esweitergehen. Mit einem Kraftakt sondergleichenwurde in der Hauptstadt Kigali innerhalb wenigerMonate ein neues Konferenzzentrum samt Hotelhochgezogen, um die Jahresversammlung 2004der Afrikanischen Union beherbergen zu kön-nen. Inzwischen gehört die Computerausbildungzum Lehrplan der Sekundarschulen. Noch ist derMangel an Fachkräften nicht behoben; zur Zeitweilen Dutzende junger Ruanderinnen undRuander auf Staatskosten in Indien, um sich dortin Informationstechnologie ausbilden zu lassen

Die Suche nach Auswegen ist schiere Not-wendigkeit für Ruanda. Das am dichtesten besie-delte Land des Kontinents zählt heute, bei einerFläche von 26 000 km2, rund 8 Millionen Ein-wohner, in zehn Jahren werden es 12 Millionensein – zu viele für ein Land, dessen Bevölkerungzu fast 90 Prozent von der Landwirtschaft lebtund schon heute jedes Stück Erde von der Größeeines Bettüberwurfs bebaut. Es ist in Ruandanicht vergessen, daß sich Landknappheit undGenozid nicht trennen lassen: »Es ist euer Land«,hatte das Staatsradio mit seiner Hetzpropagandain den Jahren vor dem Frühjahr 1994 den Hutu-Kleinbauern unablässig eingebläut. Manch einer,der seinen Tutsi-Nachbarn erschlug, hatte auf des-sen kleinen Acker ein Auge geworfen.

Heute, so scheint es zumindest, ist die ethni-sche Zugehörigkeit kein Thema mehr – Anzei-chen einer Tabuisierung sind unverkennbar. DieFrage, ob jemand ein Hutu oder Tutsi sei, ist inRuanda verpönt und ohnehin obsolet, weil diemeist von einem Lächeln begleitete Antwort be-kannt ist: Ich bin Ruander, sagt jeder, oder: Ichbin Ruanderin. Geradezu demonstrativ wird diegemeinsame Nationalität hervorgehoben anstelleder Trennung in Volksgruppen. Daß in den altenIdentitätskarten die ethnische Zugehörigkeit ver-merkt war, hatte im Frühjahr 1994 für Tausendevon Tutsi das Todesurteil bedeutet. In einem bei-spiellosen administrativen Schnellauf wurde dasganze Land mit neuen Ausweisen versorgt, wobei

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Gibt es doch ein Land für alle Ruander?P e t e r B a u m g a r t n e r

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es sich als Vorteil erwies, daß in der Regel wederdie Namen noch die Geburtsorte auf die eine oderandere Ethnie schließen lassen. In Gesprächenüber das heutige Selbstverständnis des Landesgilt der Standardausdruck »cohabitation«, Zu-sammenleben, wobei ihm eine aktive Bedeutungzugemessen wird – der bewußte Wille zur Ge-meinschaft.

Eine über Jahrhunderte hinweg entstandenegesellschaftliche und soziale Auf- und Zuteilungläßt sich indessen nicht in zehn Jahren beseiti-gen, auch wenn man die Lehren von 1994 noch sosehr zu beherzigen versucht. Aus dieser Sicht er-scheint nahezu alles, was heute in Ruanda ge-schieht, auf ein einziges Ziel hin ausgerichtet zusein: es nie mehr zu einer Katastrophe wie jenervom Frühjahr 1994 kommen zu lassen. Das giltfür die innerethnischen Gesprächsgruppen zurKonfliktbewältigung genauso wie für die staats-bürgerliche Erziehung in den Schulen oder fürdie zentrale Forderung nach Gerechtigkeit. SelbstSchritte zur Bekämpfung der Armut, die als eineder Ursachen für 1994 nicht ausgeklammert wer-den darf und von der heute in Ruanda fast zweiDrittel der Bevölkerung betroffen sind, erhaltenunter solchen Umständen ein ganz anderes Ge-wicht. Ähnlich verhält es sich mit der nunmehrobligatorischen Schulpflicht; die armen, des Le-sens und Schreibens unkundigen Kleinbauernauf ihren Hügeln hatten 1994 ohne nachzufragenalles geglaubt, was ihnen die Behörden, das Haß-Radio »Milles Collines« und die mörderischenInterahamwe-Milizen über ihre Tutsi-Nachbarnweisgemacht hatten.

An Stolpersteinen auf dem Weg zu einer na-tionalen Gesellschaft fehlt es nicht. Seit demFrühjahr 1994 sind einige hunderttausend Tutsiaus Uganda, Tansania und Burundi zurückge-kehrt, wohin sie vor den Progromen der sechzigerJahre geflüchtet waren. Sie geben heute – oft inenglischer Sprache – den Ton an, in der Politikund vor allem im Wirtschafts- und Geschäftsle-ben. Sie wissen ihre Vorrangstellung heute etwasbesser zu kaschieren als in der Zeit unmittelbarnach 1994; es bedurfte vor einigen Jahren derernsthaften Mahnung von Staatspräsident PaulKagame an die Rückkehrer, nicht allzu arrogantaufzutreten. In einem Land mit einem durch-schnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von 250 US-Dollar pro Jahr droht die Konzentration der wirt-schaftlichen Gewinner beim Minderheitenvolkdie ethnische Komponente erneut ins Blickfeld zurücken, auch wenn durchaus anerkannt wird, daß

Ruanda aus der Geschäftstüchtigkeit der Tutsiund deren internationalen Kontakte erheblichenNutzen zieht.

Parallelen zeigen sich auf politischer Ebene.Bei den ersten Mehrparteienwahlen seit 1994 ge-wann die regierende, einst von Kagame gegründe-te Ruandische Patriotische Front im November2003 eine deutliche Mehrheit; die Hälfte desParlaments sind Frauen, ein einsamer Rekordnicht nur in Afrika. In der Regierung stellen dieHutu die Mehrheit, aber die Macht in Staat undRegierungspartei konzentriert sich bei einerGruppe Getreuer um Präsident Kagame, einemTutsi. Dessen Wahl (mit 95 Prozent der Stimmen)spiegelt zum einen die Anerkennung für seineVerdienste, Ruanda mit Umsicht aus dem Zu-sammenbruch von 1994 herausgeführt zu haben,und legitimiert ihn zur Weiterarbeit für die Zu-kunft des Landes.

Zum anderen zeugen die 95 Prozent von derstarken Stellung der Ruandischen PatriotischenFront, die ihre Fäden zieht bis in die hintersteCellule hinein, der kleinsten staatlichen Einheit.Hier gilt, was die Autoritäten empfehlen, auchbei Wahlen, obwohl Kagame eine Wahlhilfe dieserArt nicht nötig gehabt hätte. Ohne diese starkeund allgemein respektierte Hierarchie hätteRuanda seine heutige Stabilität bei weitem nichterreicht, wäre die »cohabitation«, die von obenverordnete Versöhnung, welche die ethnischeZuordnung ausklammert, nicht vorangekommenund die breite, für eine gemeinsame Verantwor-tung sensibilisierende Diskussion der neuenVerfassung im Frühjahr 2003 steckengeblieben.Die starke Stellung der Autoritäten erwies sich alshilfreich beim Aufrappeln aus dem Elend von1994 – genauso, wie sie damals mit den Aufru-fen, die Tutsi umzubringen und die Gräber zufüllen, zum fürchterlichsten Blutbad in der neue-ren afrikanischen Geschichte geführt hatte.

Die beispiellose Art, wie Ruanda nach 1994wirtschaftlich und politisch Tritt gefaßt hat, sagtwenig aus über die emotionale Bewältigung aufSeiten der Opfer wie der Täter. Viele Rescapés, wiedie Überlebenden der Massaker genannt werden,haben sich von ihrem Trauma nicht erholt. DerVerlust der Familie, an sich schon ein Unglücksondergleichen, kommt bei der tragenden Be-deutung des Familienverbandes in Ruanda und inAfrika ganz allgemein einer Durchtrennung derLebensader gleich. Gegenüber den Rückkehrernaus Uganda und Tansania nach 1994 fühlen sichdie Rescapés marginalisiert, als die das Leid

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Tragenden an den Rand gedrängt und trotz derHilfsanstrengungen des Staates wirtschaftlichvernachlässigt – nicht alle haben die zupackendeArt und den Lebensmut eines Mannes wie Jean-Bosco.

Von den eigentlichen Planern und Drahtzie-hern des Völkermords ist inzwischen ein gutesDutzend vom Internationalen Kriegsverbrecher-tribunal für Ruanda, das in der tansanischenProvinzstadt Arusha verhandelt, abgeurteilt wor-den; gegen weitere 50 läuft der Prozeß. Zehntau-sende haben sich in Ruanda selbst zu verantwor-ten, die Mitläufer beim Morden und die leichterenFälle vor den traditionellen Volksgerichten,Gacaca genannt. Nach verschiedenen Versuchenwerden diese Gacaca-Gerichte im Jahr 2004 rich-tig zu arbeiten beginnen. Die Ermordung von drei Rescapés kurz vor Weihnachten 2003 durcheine Gruppe entflohener Sträflinge, die damitZeugen der begangenen Untat beseitigen woll-ten, hat das Land aufgewühlt.

Aber ohne Gerechtigkeit gibt es keine Versöh-nung und damit keine Zukunft; niemand inRuanda bestreitet diesen Grundsatz. Doch es istein schmerzhafter Prozeß. Langsam vernarbendeWunden werden erneut aufgerissen, Vergangenesoder Verdrängtes wird in die Gegenwart zurück-geholt und bleibt bis heute – und heute erst recht– unfaßbar. Wie Silas begreifen, der mithalf, Jean-Boscos Familie zu erschlagen – seine Nachbarnvon Kindsbeinen an? Oder wie das hilflose Ge-stammel jenes Bauern verstehen, der den Rich-tern – allesamt Mitglieder der Cellule – zu erklä-ren versuchte, weshalb er, der Hutu, nicht nur sei-ne Frau, eine Tutsi, erschlug, sondern auch seineKinder als Halb-Tutsi niedermachte?

Die kleine Kirche von Ntarama, eine guteWegstunde von Ruandas Hauptstadt Kigali ent-fernt, hat sich seit dem ersten Besuch rein äußer-lich nicht verändert. Damals, Anfang Mai 1994,war die Kirche voller Leichen. Hutu-Milizen undMitglieder der damaligen Regierungsarmee hat-ten am 15. April Handgranaten in die Kirche ge-worfen, in die sich die Tutsi-Familien aus derUmgebung geflüchtet hatten. Wer nicht sofortumgekommen war, wurde mit Macheten undHacken ermordet. Die Erinnerungen von damalswerden wach beim zweiten Besuch, AnfangJanuar 2004. Die Kirche ist heute ein Mahnmalfür das Massenmorden von Mitte April 1994.Noch immer liegen Kleider zwischen den Kirch-enbänken, hinten sind gut 500 Schädel aufgesta-pelt, die Kinderköpfe in der ersten Reihe, daneben

Knochen von Beinen und Armen. Über 18 000Menschen, vorwiegend Ruanderinnen und Ru-ander, haben die kleine Kirche seither besucht.Die Kommentare im Gästebuch lassen das Aus-maß der Fassungslosigkeit erkennen, die einenüberwältigt beim Anblick der gespaltenen undzertrümmerten Schädel. »Wir müssen allesunternehmen«, schrieb die ruandische Besuche-rin, die tags zuvor Ntarama besucht hatte, »um soetwas nie, niemals wieder geschehen zu lassen.« Dem ist nichts beizufügen.

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Peter Baumgartner, geboren 1943, Politologeund Historiker. 1972-93 in der innenpolitischenRedaktion des Zürcher »Tages-Anzeiger«, seitAnfang 1994 dessen Afrikakorrespondent inNairobi. Besuchte Ruanda während zehn Jahrenregelmäßig.

Georg Brunold, geboren 1953, aus Arosa, war1991-95 Afrikakorrespondent der »NeuenZürcher Zeitung«. 1996-2003 Stv. Chefredakteurder Kulturzeitschrift »du«. Seit April 2004Korrespondent des »Tages-Anzeiger« in Nairobi.Autor und Herausgeber mehrere Bücher überAfrika und die Arabische Welt.

Jean-Piere Chrétien Publikation: »L’Afriquedes Grands Lacs – Deux milles ans d‘histoire«,Aubier, 2000

Alison Des Forges, Historikerin. Arbeitet seitzehn Jahren als Leiterin der Afrika-Abteilung derUN-Organisation Human Rights Watch in NewYork. Publikaton: »Kein Zeuge darf überleben.Der Genozid in Ruanda«,Hamburger Edition, 2002.

Bettina Gaus, geboren 1956. Magister inPolitologie. 1983-1989 als Redakteurin bei derDeutschen Welle in Köln. Sechs Jahre Auslands-korrespondentin der Tageszeitung »taz« inNairobi, Kenia. 1996-99 Leiterin des BonnerParlamentsbüro der taz. 1999 politische Korre-spondentin der taz in Berlin. Publikation: »Diescheinheilige Republik. Das Ende der demokrati-schen Streitkultur«, Deutsche Verlags-Anstalt,München 2000.

Philip Gourevitch, geboren 1961 inPhiladelphia/USA. Studium an der CornellUniversität, der Washington Universität in St.Luis, Magister der schönen Künste an derColumbia Universität 1992. 1992-1995 als Re-dakteur bei »The Forward«. 1997 Reportagen undEssays für »The New Yorker«. 2003 Mitglied desCouncil on Foreign Relation. Publikation: »Wirmöchten ihnen mitteilen, daß wir morgen mitunseren Familien umgebracht werden«, BerlinVerlag, Berlin 1999

Jean Hatzfeld, geboren 1949. Seit 1973 arbei-tete er für die Tageszeitung »Libération«. Berichteaus Bosnien und Croatien. 1992 in Sarajevoschwer verletzt. Der Genozid in Ruanda berührteden Kriegsreporter tief und ließ ihn seither nichtmehr los. Er lebt in Ruanda und Paris und widmetsich seit 2000 dem Schreiben von Büchern.Publikationen: »Dans le nu de la vie. Récits desmarais rwandais«, Seuil, Paris 2001, ausgezeich-net mit dem Prix France Culture; »Une saison demachettes. Les tueurs parlent«, Seuil, Paris 2003,ausgezeichnet mit dem Prix Femina-Essai.

Andrea König, geboren 1959, aus Zürich,Ethnologin und Journalistin, war von 1995-97Afrikakorrespondentin des Schweizer Fern-sehens DRS, für das sie 1998-99 aus Jerusalemberichtete. Von 2000-2003 war sie verantwortlichfür die Schweizerische Entwicklungszusammen-arbeit mit Ruanda.

Samantha Power, graduierte an denUniversitäten von Yale und Harvard. 1993-96Kriegsrporterin in Ex-Jugoslawien für »US News& World Report« und »The Economist«. 1998-2002 leitende Direktorin des Carr Center forHuman Rights Policy. Dozentin für Public Policyan der Harvard Universität in Boston. Publikation:»A Problem from Hell: Amerika and the Age ofGenocide«, Basic Books 2002, Pulitzer-Preis.

Guenay Ulutunçok, 1954 in Istanbul geboren.Nach Abschluß des Architekturstudiums (1981)als freier Photojournalist tätig. Ende 1981Mitbegründer der Photographenagentur »laifPhotos & Reportagen« in Köln. Schwerpunkt sei-ner Arbeit: Reportagen über politische, sozialeKonflikte, Kulturelle ethnische Vielfalt Afrikas.Publikation: »Angola – ich spreche von einemLand, das wir suchen«. Marino Verlag, »AfrikasKinder« Peter Hammer Verlag. 1993 Auszeich-nung der UNESCO/ACCU World Photo Contest.1997/1998 Fujifilm Euro Press Photo Awards inDeutschland.

Autoren

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Edward-See

RUANDA

Tanganyikasee

Bukavu

TANSANIA

UGANDA

DEM. REP.KONGO

BURUNDI

Kibuye

Gisenyi

RuhengeriByumba

Kibungo

Cyangugu

KIGALI

Gitarama

Nyanza

Butare

Goma

Nyamata

Mugesera

Kivusee

Gikongoro

Victoria See

0 50 100 150 200 km

N

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Im Jahr 2004 jährt sich der Genozid in Ruanda zum zehnten Mal.

Was hat sich wirklich abgespielt, als 1994 in Ruanda binnen 100

Tagen 800.000 Menschen ermordert wurden? Es verging Zeit, ehe

diese beispiellosen Ereignisse für die Außenwelt mit leidlicher

Klarheit faßbar wurden. Den verzögerten Erkenntnissen über Vor-

geschichte, Verlauf und unmittelbare Hinterlassenschaft des Ge-

nozids ist dieses Buch nachgegangen: in Bild und Text, mit

Reportagen von Journalisten, die damals und seither aus Ruanda

berichteten, mit Analysen von Historikern, mit den erschütternden

und ganz neuartigen Augenzeugenberichten von Opfern und Tä-

tern, die Jean Hatzfeld in mehrjähriger Arbeit gesammelt hat.

Peter Baumgartner

Georg Brunold

Jean-Pierre Chrétien

Alison Des Forges

Bettina Gaus

Philip Gourevitch

Jean Hatzfeld

Andrea König

Samantha Power

Guenay Ulutunçok

Herausgeber:

Georg Brunold

Andrea König

Guenay Ulutunçok

Schmidt von Schwind Verlag - Köln

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