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Über den Autor:

Ruben Laurin ist das Pseudonym eines preisgekrönten Autors, dervor allem phantastische und historische Romane verfasst. SeineFaszination für die Geschichte der Stadt Magdeburg und die mittel-alterliche Kirchenarchitektur brachten ihn auf die Idee, einen Romanüber den Bau des Magdeburger Doms zu schreiben: Die Kathedraledes Lichts. Ruben Laurin lebt in Wismar.

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RUBEN LAURIN

Historischer Roman

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BASTEI LÜBBE TASCHENBUCHBand 17 636

Dieser Titel ist auch als E-Book erschienen

Originalausgabe

Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlungder literarischen Agentur Peter Molden, Köln.

Copyright � 2018 by Bastei Lübbe AG, KölnLektorat: Judith Mandt

Titelillustration: � Johannes Wiebel | punchdesign, München,unter Verwendung von Motiven von shutterstock/pavila;

shutterstock/scottchan und dreamstime/ZwawolUmschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München

Satz: Urban SatzKonzept, DüsseldorfGesetzt aus der Garamond

Druck und Verarbeitung: C. H. Beck, NördlingenPrinted in Germany

ISBN 978-3-404-17636-6

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Nimm das Licht fort, und alle Dingewerden unerkannt in der Finsternis bleiben.

Johannes von Damaskus (um 700)

Und Gott sprach:Es werde Licht! Und es ward Licht.

Und Gott sah, dass das Licht gut war.

Aus Genesis 1

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Dramatis personae

Historische Figuren sind mit einem Stern (*) gekennzeichnet

Moritz – wendischer Waisenjunge, Burgsklave, Steinmetz undBildhauer

Meister Bohnsack* – BaumeisterHelena – seine TochterGotthart von Saint Leonard – BildhauerHubertus – sein Steinmetz und DienerWastl – sein Steinmetz und PferdeknechtConrad – sein SekretärAnsgar von Lund – RitterLothar von Magdeburg – sein KnappeMechthild von Magdeburg* – für manche eine von Gott Be-

geisterte, für andere eine Geisteskranke; Autorin des Buches»Das fließende Licht der Gottheit«

Monica – Schwiegertochter eines Burgschmieds, Moritz’Freundin

Benno – ihr Mann, Schmied und Moritz’ FreundJacques von Straßburg – »Jakob«, BildhauerSlawomir von Rügen – wendischer RitterRochus – Mönch und PriesterGabriel – Mönch und PriesterBotho von Schwerin – RitterDietrich von Dobin* – Domherr zu MagdeburgGraf Albrecht von Käfernburg*– Erzbischof vonMagdeburgGraf Wilbrand von Käfernburg* – Albrechts Halbbruder,

Dompropst von Magdeburg, später Erzbischof von Magde-burg

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Burchard* – Burggraf von MagdeburgMagdalena – die »Weise«; HebammeHugo von Meißen – Ritter und BurgherrBodo – sein KnappeMauritius* – römischer OffizierCandidus* – römischer OffizierInnocentius * – römischer StandartenträgerExuperius* – römischer AusbildungsoffizierMaximian* – römischer Kaiser

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Zeittafel

Karfreitag 1207 Magdeburg brennt; der Dom Kaiser Ottos I.wird stark beschädigt; Erzbischof AlbrechtII. lässt die Brandruine abreißen

um 1207 Mechthild von Magdeburg wird geboren1208 Grundsteinlegung für den neuen Dom28. Sept. 1220 Erzbischof Albrecht bringt die Schädel-

platte des Heiligen Mauritius nach Magde-burg

22. Nov. 1220 Friedrich II. wird in Rom von Papst Hono-rius III. zum Kaiser gekrönt

1230 o. früher Erzbischof Albrecht beschließt, antike Säu-lenaus demaltenDomindenChordesDom-neubaus einzubauen

1222 bisDez. 1224

Franziskaner u. Dominikaner fassen in Mag-deburg Fuß

1225 bis 1235 Wilbrand, Graf von Käfernburg und Halb-bruder Albrechts, ist Dompropst in Magde-burg

22. Juli 1227 In der Schlacht von Bornhöved besiegt eineKoalition norddeutscher Fürsten unter Her-zog Albrecht von Sachsen, einiger Wenden-fürsten und dem Grafen Heinrich vonSchwerin den Dänenkönig Waldemar II.und beendet so die Vorherrschaft der Dänenim Ostseeraum

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1228 u. 1231/32 Erzbischof Albrecht in Italien auf HoftagenKaiser Friedrichs II.

1228/29 Kreuzzug Friedrich II.um 1228 Dietrich, Edler von Dobin (Theodericus)

tritt als Domherr ins Domkapitel einum 1230 Der Maulbronner Baumeister Bohnsack

wird in Urkunden als magister operis Bonsacbezeichnet; eine wahrscheinlich ihn darstel-lende Konsolfigur an einem Vierungspfeilerdes Doms gilt als Hinweis auf die Anerken-nung seiner großen Leistung

1230 Franziskaner siedeln in die Altstadt umund erklären Magdeburg zu einem ihrerbeiden Hauptsitze in Deutschland; dieStadt ist zu dieser Zeit ein blühendes kultu-relles Zentrum und ein angesehener Bil-dungsort

1231 Aus Paris wird der Franziskaner Bartholo-maeus Anglicus nach Magdeburg geschickt,um dort eine Enzyklopädie zu schreiben

15.10.1232 Erzbischof Albrecht stirbt auf der Rück-reise von Italien

1232 bis 1235 Burkhard v. Waldenburg ist Erzbischof vonMagdeburg

1234 In der Dombaustelle wird die erste Messegelesen

ab ca. 1235 Mechthild verfasst in Magdeburg ihre Schrift»Das fließende Licht«; deutet darin Kon-flikte mit dem Klerus und die Nähe zumDomdekan Dietrich von Dobin an

8. Febr. Erzbischof Burchard stirbt während einesKreuzzuges in Konstantinopel

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31. Mai Sein Nachfolger Wilbrand von Käfernburgreist nach Italien, um die Bischofsweihedurch Papst Gregor IV. zu empfangen

1235 Wilbrand und Begleiter sehen in Mailandein Reiterdenkmal, das dem MagdeburgerReiter ähnelt

Sommer 1235 Kaiser Friedrich hält Hoftag in Mainz; inseinem Gefolge: Afrikaner und Sarazenen

um 1237 An der Handelsstraße zwischen Magdeburgund Lebus entsteht die Siedlung Berlin

um 1240 Heute unbekannte Bildhauer, aus dersel-ben Werkstatt, erschaffen die Statue desHl. Mauritius (den »Schwarzen Ritter«)und der Hl. Katharina, die Figurengruppeder »Zehn Jungfrauen« und das Reiterdenk-mal Kaiser Ottos

1245 Am 12. Mai wird Mechthilds VertrauterDietrich Domkantor, im Jahr 1262 Domde-kan

1248 Ein gewisser Meister Gerhard beginnt denKölner Dom zu bauen

1250 Der große Stauferkaiser Friedrich II. stirbt1253 Im Herbst stirbt Erzbischof Wilbrandum 1282 Mechthild stirbt im Kloster Helfta bei Eis-

leben1520 Nach über dreihundert Jahren Bauzeit wird

der Dombau von Magdeburg vollendet

Ein Glossar findet sich im Anhang

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Prolog

Gallische Alpen, Sommer 285 n. Chr.Der Kamm blieb hinter ihnen zurück. Und mit ihm die

letzte Steigung. Endlich. Ab jetzt ging es nur noch bergab.Die Pferde fielen in einen leichten Trab. Erste Bäume standenam Wegesrand. Tief atmete der Centurio die deutlich wärmereLuft ein. Er glaubte, schon die Nähe des Flusstales und desSees zu riechen. Noch war er guter Dinge, noch erfüllte ihnZuversicht, noch brannte er darauf, seinem Kaiser und Feld-herrn gegenüberzutreten.

Der Weg führte in ein Wäldchen. Die Schneefelder inden Hängen rechts und links waren höher gerückt, ihre wei-ßen Zungen im Geröll schmaler geworden. Das Gras wuchsdichter hier. Der Centurio entdeckte Schafskot am Wegesrand.Daneben hatte sich eine Silberdistel der Morgensonne ge-öffnet.

Der Standartenträger hielt sein Pferd an. »Schaut euch dasan, Brüder!« Mit der Standarte zeigte er auf zwei Silberdis-teln.

Alle brachten ihre Pferde zum Stehen, alle betrachteten diesilbrig-weißen Distelblüten. »Wie schön«, sagte der Centurio,der unter dem Namen Mauritius bekannt war. »Wie wunder-schön!« Er drehte sich im Sattel um und blickte zurück. »War-ten wir auf die Männer.«

Gut die Hälfte der Marschkolonne hatte den Kamm bereitsüberquert. Im Laufschritt kamen die Legionäre näher, derrhythmische Lärm ihrer Schritte schwoll an. Immer neue

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Reihen von Lanzenspitzen und behelmten Köpfen schobensich über die Bergkuppe.

Der Anblick seiner Kohorte erwärmte das Herz des Cen-turios. Mauritius liebte seine Soldaten. Schon schlossen dieersten Marschreihen zu ihm und den Reitern auf. Der Cen-turio sah in schweißnasse, aber strahlende Gesichter. Die Nähedes Ziels beflügelte die Männer.

Noch glaubten sie, das kaiserliche Feldlager bei Octodurussei ihr Ziel; noch rechneten sie damit, Rom bald im Kampfgegen gallische Rebellen dienen zu können. Auch Mauritiusglaubte das zu dieser Stunde noch.

Nicht mehr lange, und alles würde sich ändern. Zwei Bot-schaften nämlich warteten auf Mauritius von Theben. Die erstegleich am Pass, von dem aus die alte Straße aus dem Hoch-gebirge ins Flusstal hinunterführte, die zweite kaum eine Weg-stunde später jenseits des Passes. Die eine Botschaft sollten erstnachfolgende Generationen verstehen; die andere würde denCenturio wie aus heiterem Himmel treffen.

Tatsächlich wölbte sich zu jener Stunde ein strahlend heite-rer Himmel über der Marschkolonne zwischen den Silberdis-teln und dem Gebirgskamm. Die Schneegipfel leuchteten imLicht der aufgehenden Sonne. Sah es nicht aus, als würden siein Flammen stehen? Mauritius konnte sich kaum sattsehen andiesem Lichtspektakel.

Im Norden erhoben sich keine Gipfel mehr, im Westenund Osten jedoch ragten die letzten Bergriesen der gallischenAlpen in den blauen Spätsommerhimmel.

»Schau dir diese Bergriesen an, Centurio!« Mauritius’ Stan-dartenträger Innocentius geriet schier außer sich vor Ent-zücken. »Sehen sie nicht aus wie glühende Hörner himm-lischer Drachen?« Innocentius schwenkte den Legionsadlerin alle Himmelsrichtungen. »Schaut euch das an, Brüder!«

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So viel erhabene Schönheit machte ihn fassungslos. Inno-centius gehörte auch sonst zu den leicht entflammbaren Na-turen.

»Es gibt keine Drachen im Himmel!«, raunzte Candidus,der Zweite Centurio, in der ihm eigenen Barschheit. »Dortunten aber, hinter dem Wäldchen, gibt es einen Pass. UnserenPass, schätze ich. Eine halbe Wegstunde noch. Höchstens.«

Mauritius legte die Hand über die Augen und spähte überdie Baumwipfel hinweg nach Norden, wo nach einer sanftenBodensenke ein Gebäude zu erkennen war. Candidus hatterecht: Das war ihr Pass.

Exuperius, der Ausbildungsoffizier, lenkte sein Pferd herumund ritt die ersten Marschreihen der Kohorte ab. »Bald er-reichen wir den Pass!«, rief er. »Danach geht’s hinunter zumStrom und in mildere Gefilde!« Wie ein Lauffeuer verbreitetesich die Nachricht unter den knapp siebenhundert Legionärenund Pferdesklaven.

»Rhone« nennt man den Strom heute; damals hieß er »Rho-danus«. An seinem Lauf, ungefähr auf halbem Weg zum See, lagdie Siedlung Octodurus, heute Martigny. Dort hatte der Kaiserund Feldherr Maximian mit seiner Legion Quartier bezogen.

Mauritius trieb sein Pferd an. Die Marschkolonne hinter ihmsetzte sich wieder in Bewegung. Sie durchquerten das Wäld-chen. Der Pass rückte näher, vor dem steinernen Gebäude amWeg konnte Mauritius schon Lasttiere, Kleinvieh und Men-schen erkennen. Die Aussicht, das nächste Nachtlager im wär-meren Flusstal aufschlagen zu können, hob seine Stimmungbeträchtlich.

»Ein Adler!« Der Waffenwart deutete in den Himmel überdem Pass, wo ein gewaltiger Greifvogel seine Kreise zog.»Und was für ein Biest! Hat einer von euch jemals so einengroßen Adler gesehen?«

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»Ein gutes Omen, Exuperius!«, rief der Dritte Centurio ausder vorderen Marschreihe, einer der wenigen unter Mauritius’Legionären, die nicht getauft waren. »Der römische Adlerkreist schon über dem ruchlosen Rebellen und seinem ver-fluchten Pack! Bald wird er auf sie herabstoßen!« Er stieß dieFaust in den Himmel.

Der Dritte Centurio sprach von jenem Verräter, der sichselbst zum Kaiser der Provinz Gallien hatte ausrufen lassen.Sogar Münzen wagte er zu prägen. Um ihn zu vernichten, hatteKaiser Maximian Mauritius und seine Thebäische Kohorte überdie Alpen und an den Rhodanus rufen lassen.

Später, als geschehen war, was zu dieser Stunde noch kei-ner erwarten konnte, als das Ungeheuerliche schon den Wegin die Erzählungen erschütterter Zeugen und in die Schrif-ten staunender Chronisten gefunden hatte, später pflegten dieLeute von der »Thebäischen Legion« zu sprechen und zuschreiben. Doch nicht sechstausend Soldaten führte Mauritiusan den Rhodanus, keine Legion also, sondern eine Kohorte:sechshundert Legionäre, dazu etwa zweihundertfünfzig Frauenund Pferdesklaven. Die meisten stammten wie Mauritius selbstaus der Wüstenregion rund um das ägyptische Theben. Und diemeisten waren wie ihr Centurio getauft. Das war durchaus un-gewöhnlich, denn damals verehrte man im römischen Reichnoch die alten Götter.

Am Pass angekommen, winkte Mauritius dem Hornbläser.Der setzte seinen Lituus an die Lippen und stieß hinein. DasBlechhorn erklang, sein Echo brach sich an den Berghängen,die Marschkolonne stand still. Mauritius befahl dem Waffen-wart und dem Dritten Centurio, die Legionäre im taunassenGras am Wegrand zur Rast lagern zu lassen. Befehle wurdenlaut, und bald darauf erfüllten Gelächter und Stimmengewirrdie Luft.

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Vom Sattel aus blickte Mauritius sich um. Das langgezogeneGebäude am Weg war aus kaum behauenen Schieferplattengebaut. Man musste fürchten, dass es jeden Moment zusam-menbrach, so krumm stand es zwischen ein paar vom Windgebeugten Kiefern.

Auf dem Hang dahinter weideten etwa dreißig Schafe. Eineweißhaarige Frau stützte sich auf einen Hirtenstab und sah zuMauritius herunter. Ein großer schwarzer Hund hockte zuihren Füßen.

Aus den Eselskarren vor dem Langhaus waren Männer undFrauen in zerschlissenen, sackartigen Kleidern geklettert. Sieluden Körbe, Krüge und prall gefüllte Schläuche ab, trugen siezu den Legionären. Seltsam zögernd bewegten sie sich, und inihren Mienen las der Centurio Misstrauen und Scheu. DerAnblick schwarzer Menschen schien sie zu verstören.

»Sieht aus, als wollten sie unseren Männern Quellwasser,Brot, Ziegenkäse und Wein verkaufen.« Candidus war den Leu-ten ein Stück entgegengeritten und hatte einen Blick auf ihreWaren geworfen.

»Lass uns den Legionären das Essen und den Wein be-zahlen!« Mauritius trabte zu seinem Zweiten Centurio. »Siehaben es verdient, Candidus, der Marsch durch die Berge warhart.«

Candidus nickte, nahm den Münzbeutel entgegen, denMauritius ihm reichte, und lenkte sein Pferd dann zu denBergbauern. »Wartet!«, rief er auf Lateinisch und winkte. »Ichund der Centurio übernehmen die Rechnung!« Die Legionärejubelten, und die Frau des Dritten Centurios übersetzte seineWorte den Eingeborenen.

Menschen liefen am Wegesrand zusammen, tuschelten, deu-teten zu den Legionären und beäugten Mauritius und seinGefolge. Römer mit dunkler Haut und krausem Schwarzhaar

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kannten sie nicht. Ihre Haut war sehr weiß, und etliche hattenblondes Haar.

Elende Gestalten wie sie hatte Mauritius immer wieder ge-sehen auf dem Weg vom Aostatal durch die Alpen. Und ofthatte er sich gefragt, wie man in solch eisigen Höhen seinLeben fristen konnte. Er lenkte sein Pferd zu den Eingebore-nen, wollte sich nach ihrem Ergehen und nach Neuigkeitenerkundigen. Innocentius, Exuperius und zwei Pferdesklavenzu Fuß schlossen sich ihm an.

Oben bei den Schafen bellte der Hund. Die Hirtin konnteMauritius nirgendwo mehr entdecken. Die Eingeborenen amWegesrand, zwei Dutzend mochten es inzwischen sein, bilde-ten eine Gasse. Eine Frau schritt hindurch – die weißhaarigeHirtin.

Kurz blieb sie stehen und lauerte zu Mauritius herüber.»Was ist los mit der Alten?«, murmelte Innocentius.

»Wahrscheinlich ist es das erste Mal, dass sie Afrikaner zusehen bekommt«, sagte Mauritius.

Die Hirtin packte ihren Stab und lief los. Nicht gebeugt undhinkend wie eine Greisin, sondern leichtfüßig und federnd wieeine junge Frau. Vor seinem Pferd warf sie sich auf die Knie,ließ den Hirtenstab fallen, streckte beide Arme über den Kopfund begann laut zu rufen. Mauritius verstand kein Wort; nurseinen Namen hörte er aus ihrem Wortschwall heraus.

Candidus hatte seinen Handel mit den Bergbauern in-zwischen abgeschlossen und ritt zurück zu den Gefährten.Misstrauisch betrachtete er die greise Hirtin. »Jag sie weg,Mauritius. Sie ist irre.«

»Aber woher kennt sie den Namen des Centurios?« Inno-centius, der Standartenträger, staunte auf die Alte hinunter.

»Vielleicht haben Maximians Legionäre ihr ein paar Schafeabgekauft und bei der Gelegenheit unsere Kohorte angekün-

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digt.« Candidus zuckte mit den Schultern. »Wir sind ja nichtganz unbekannt.« Und an Mauritius gewandt: »Schau sie diran, Bruder! Sehen nicht Hexen so aus? Jag sie weg.«

Die Hirtin erhob sich aus Gras und Geröll, kam dicht anMauritius’ Pferd heran und streckte die Rechte zu ihm hoch.Dabei redete sie immer weiter ihr unverständliches Zeug. Mitder Linken zerrte sie eine silberne Kette aus ihrem zerschlisse-nen Gewand, an der ein kleines, aus Holz geschnitztes Kreuzbefestigt war. Sie ergriff die Hand des Centurios und streckteihm das Kreuz entgegen. Eine Mischung aus Freude undSchmerz spielte nun um ihre welken Lippen, und in ihren grü-nen Augen lag ein Leuchten, das Mauritius’ Herz rührte.

»Seltsam, wie aufgeregt sie ist.« Der Centurio drückte ihreHand. »Jemand muss dolmetschen. Ich will wissen, was siemir zu sagen hat.«

Innocentius rief nach Regula, der Frau des Dritten Centu-rios. Regula stammte aus dem Rhodanustal. Als sie noch einMädchen war, hatte ein Legionär sie als Sklavin nach Rom ver-schleppt. Der Dritte Centurio hatte sie freigekauft und zurFrau genommen. Anders als er war Regula getauft.

Die Eingeborenen hatten sich inzwischen um Mauritiusund die Hirtin geschart, auch etliche Händler und Legionärewaren neugierig geworden und herbeigekommen. Mauritiusstieg vom Pferd und bat Regula, die Alte zu fragen, was sie vonihm wolle.

Regula sprach eine Zeitlang mit der Greisin und übersetztedann. »Sie sagt, sie sei eine Prophetin und habe eine Botschaftfür den römischen Centurio Mauritius aus der ThebäischenWüste.«

»Was?!« Mauritius’ ungläubiger Blick flog zwischen Regulaund der Hirtin hin und her. »Woher weiß sie von mir? Was füreine Botschaft?«

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»Eine Botschaft Gottes«, erklärte Regula. »Sie sagt, Gotthabe sie dein künftiges Leben schauen lassen, Centurio.«

Einige Legionäre feixten. Der Zweite Centurio jedochschnaubte verächtlich. »Verdammte Wahrsagerin!« Wie einenFluch stieß Candidus diese Worte aus. »Weg mit ihr!« SeineMiene wurde noch härter als sonst. »Wir sind Christen undhaben nichts zu schaffen mit Zauberern und Wahrsagern!«

»Ist sie nicht auch eine Christin?« Innocentius deutete aufdas kleine Holzkreuz in der Linken der Greisin. »Sieh dochhin, Candidus.« Der Zweite Centurio zuckte mit den Schul-tern und wusste nichts zu entgegnen.

»Es soll tatsächlich eine Christengemeinde geben im Rho-danustal«, sagte Exuperius, der Ausbildungsoffizier. »Brüderin Rom haben mir das erzählt.«

»Und mit eigenen Augen seht ihr, dass es auch hier oben inden Bergen Christen gibt.« Wieder deutete Innocentius auf dasHolzkreuz der alten Hirtin.

»Frag sie, wer sie getauft hat«, verlangte Mauritius.Regula sprach wieder mit der Alten und übersetzte dann

deren Antwort: »Ein Priester namens Faustin, sagt sie. DerBischof von Lugdulum habe ihn vor vielen Jahren den Rhoda-num heraufgeschickt, damit er den Heiden in den Bergtälerndas Evangelium predigt und eine Kirche baut.« Lugdulum amRhodanus nannten spätere Generationen »Lyon«. Die greiseHirtin redete immer weiter, und Regula dolmetschte. »Hun-derte habe dieser Faustin getauft, sagt sie.«

»In Lugdulum soll es schon einen Bischof gegeben haben,als der weise Mark Aurel noch Kaiser war«, sagte Innocentius,und Candidus rieb sich nachdenklich den breiten Nacken.

Mauritius sah der alten Hirtin prüfend ins freundliche Ge-sicht. Lächelnd nickte sie ihm zu. Mauritius’ Mund war plötz-lich trocken. Er schluckte den schwellenden Kloß im Hals

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herunter, räusperte sich und fragte heiser: »Wie lautet die Bot-schaft Gottes, die du glaubst, mir ausrichten zu müssen?«

Regula übersetzte die Frage des Ersten Centurios in dieSprache der Eingeborenen. Ein beinahe feierlicher Ernst tratauf die greisen Züge der Hirtin, ihre Stimme klang nun zurück-haltender.

»So spricht Gott, der Herr«, übersetzte Regula. »DeinGlaube ist groß, Mauritius von Theben. So groß, dass du alleVersuchungen überwinden wirst, die deiner harren. Niemalsjedoch wirst du deinen Fuß setzen in das wilde Land der Hei-den jenseits dieses Gebirges, und dennoch wird man dir dortein Haus bauen. An einem großen Strom hoch im NordenGermaniens wird man dir einen prachtvollen Palast errichten.In ihm wird man dich als Zeugen des lebendigen Gottes vereh-ren, und in ihm sollst du wohnen für alle Zeit.«

Regula verstummte. Auch die Alte schwieg jetzt. Eine Zeit-lang sprach keiner mehr ein Wort. Mauritius versuchte zufassen, was er da gerade gehört hatte. Im Stillen wiederholte erSatz für Satz. Jeder brachte tief in ihm eine verborgene Saitezum Schwingen, und keinen einzigen konnte er begreifen.

»Wie soll das gehen?« Exuperius brach schließlich dasSchweigen. »In einem Haus wohnen, das man nie betritt? Wiesoll man denn darin wohnen, wenn man nicht einmal das Landbetritt, auf dem es steht?« Der Waffenwart schüttelte denKopf. »Schwachsinn!«

»Doch was, wenn sie wirklich eine Prophetin ist?«, gabInnocentius zu bedenken.

»Eine verdammte Wahrsagerin ist sie!«, zischte Candidus.»Hab ich’s nicht gleich gesagt? Jagt sie weg, die Hündin!«

Einige Legionäre machten Anstalten, die Alte zu packen.Doch Mauritius stellte sich schützend vor sie. »Gott alleinsieht ihr ins Herz. Soll der Herr sein Urteil über sie sprechen,

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wenn er will.« Mit einer Kopfbewegung deutete er auf die Hir-tin. »Lass ihr Wein und Brot geben, Exuperius. Und Tuch füreinen Mantel. Der Winter kommt bald.«

Der Waffenwart schickte Legionäre zu den Lasttieren undden Bergbauern, damit sie den Befehl des Centurios ausführ-ten. Mauritius wandte sich ab und mischte sich unter die Män-ner im Gras. Man gab ihm zu trinken und zu essen, doch erbrachte keinen Bissen herunter. Die alte Hirtin kehrte zu ihrenTieren zurück. Mauritius beobachtete sie; ihre Worte glühtenihm in der Brust wie Klingen in der Esse.

Am späteren Vormittag trabte er tief in Gedanken versun-ken zwischen Candidus und Innocentius an der Spitze derKohorte ins Rhodanustal hinunter. Da tauchte ein Reiter zwi-schen den Bäumen auf und trabte den Waldweg herauf, einLegionär. Innocentius und Candidus galoppierten ihm ent-gegen.

»Ein Bote aus Octodurus!«, rief Innocentius, als sie denReiter zu Mauritius eskortierten.

»Schon wieder eine Botschaft?« Mauritius runzelte dieBrauen.

»Keine Sorge, Bruder.« Innocentius grinste müde. »Diesmalnur eine Botschaft des Kaisers Maximian.«

Mauritius sah dem Boten ins Gesicht. »Und wie lautetsie?«

Der Mann trieb sein Pferd an Mauritius’ Tier heran undreichte ihm eine versiegelte Briefkapsel. »Lies selbst, Cen-turio.«

Mauritius brach das Siegel, zog den Papyrusbogen herausund entrollte ihn. Seine Lippen bewegten sich stumm, wäh-rend er die kaiserliche Botschaft las. Als er den Blick wiederhob, sahen seine Augen aus wie Schlitze, und seine Miene warwie aus Basalt gemeißelt. »Ein neuer Befehl des Kaisers.«

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Mauritius’ Stimme klang heiser. »Wir sollen nicht nach Octo-durus marschieren, sollen auch keine Rebellen bekämpfen . . .«Er stockte.

»Sondern?« Innocentius schaute ihn an, Miene und Stimmeseines Centurios schienen ihn zu erschrecken. Candidusbeugte sich aus dem Sattel zu Mauritius herüber und zog ihmden kaiserlichen Befehl aus der wie leblos herabhängendenHand.

»Ab sofort sollen wir Christen jagen.« Mauritius sprachnur noch leise und schleppend. »Wo immer wir Männer oderFrauen finden, die sich zu Jesus von Nazareth bekennen, sol-len wir sie töten.«

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Erstes Buch

Wege nach Magdeburg

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Vollmond

Küstenwald an der Ostsee, Spätsommer 1215Hähne krähten, Hunde schlugen an, aus allen Hütten tön-

ten Kampflärm und Geschrei. Die Sachsen tobten durchsnächtliche Dorf. Keiner hatte vor ihnen gewarnt – kein Wäch-ter, kein Zeichen, kein Traum. Nicht einmal der Dorfnarr.

Moritz kauerte stocksteif in der Fensteröffnung. Der Voll-mond warf seinen Schatten auf das Nachtlager im Inneren derHütte – auf Decken, Felle und Strohsäcke, auf die bleichenGesichter der anderen. Seine Lippen bebten, er betete. DieSachsen brachen trotzdem in die elterliche Hütte ein.

Vorweg ein hagerer Ritter in Kettenhemd und mit Fackelund Schwert. Hinter ihm ein stämmiger Graubart mit breitemGesicht. Der hielt sein Schlachtbeil dicht hinter der Klinge. Ander glänzte Blut – Moritz sah es genau –, und Blut glänzte auchauf der Faust des Mannes, und an seiner blutigen Faust fehlteder kleine Finger. Noch vier oder fünf andere drängten nachihm in die Hütte.

Die Mutter warf sich über die kleinsten Geschwister, derVater riss das steinerne Kreuz von der Wand und streckte esden Kriegsmännern entgegen. »Wir sind getauft!«, schrie er.»Alle! Auch wir sind Christen! Alle, alle!« Der mit der Axtschlug zu.

Die anderen packten die Mutter, trieben Kuh, Ziege undSchwein durch die Hütte und in die Mondnacht hinaus, fingendie Hühner ein, jagten den Brüdern und Schwestern hinterher.Den kleinen Jungen in der Fensteröffnung entdeckten sie nicht.

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Moritz kniff die Augen zu. Bloß nicht mehr hinschauenmüssen! Er hielt sich die Ohren zu. Bloß nichts mehr hörenmüssen von alldem Gejammer! Er biss sich die Unterlippeblutig, wollte lieber Schmerzen spüren, statt die Angst, die ihmdurch Brust und Glieder tobte. Entsetzen verschloss ihmKehle und Lippen.

Sechs Jahre alt war Moritz, als in jener Nacht seine Kindheitendete. Und dies ist seine Geschichte.

Sechs Jahre alt war in jenen Tagen auch Helena, deren Ge-schichte ohne Moritz eine andere geworden wäre. Weit südlichder Küstenwälder saß Helena jeden Abend bei ihrer Mutterauf der Steinbank im Klosterhof von Maulbronn. Von derMutter lernte sie Lesen und Schreiben, und sie lernte Schönesvon Hässlichem zu unterscheiden. Ihre Kindheit sollte nochsechs Jahre dauern.

Ohne Helenas Geschichte wäre auch die Geschichte desGrafensohns Ansgar eine andere geworden. Ihm spross bereitsder Bartflaum zu jener Zeit. Hatte er je eine Kindheit gehabt?Schon als sehr kleiner Junge musste er Mutter und Heimat ver-lassen.

Oder die Geschichte des künftigen Bildhauers Gotthart.Kaum einer kannte seinen Vater, und wer ihn kannte, flüsterteden Namen des mächtigen Mannes nur hinter vorgehaltenerHand. Zu jener Stunde, als Moritz im Fenster kauerte undAnsgar vor Heimweh in sein Kissen weinte, lernte Gotthartbei Kerzenlicht das Vaterunser auf Lateinisch auswendig.Morgen, in der Klosterschule, würde er es dem Abt vorbetenmüssen. Der Abt hatte kalte Augen, und immer lag eine frischgeschnittene Rute auf seinem Pult.

Und schließlich das fromme Mädchen Mechthild: Es lebte

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zu jener Stunde in einer Burg an der Elbe. Mehr weiß mannicht von Mechthilds Kindheit. Nur noch dies: Nicht langenach jenem Tag sah sie zum ersten Mal das Licht, das sie für eingöttliches hielt, und hörte zum ersten Mal die Stimmen.

Zwölf Jahre noch, und die Wege aller würden sich in Mag-deburg kreuzen.

Aus dem Inneren der Hütte stieß jemand Moritz gegen dieSchulter. Er verlor das Gleichgewicht und nahm die Fäustevon den Ohren, um sich festzuhalten. Er kippte nach draußen,stürzte in den Haselnussstrauch zwischen Kräutergarten undHolzfassade und schlug auf Feldsteinen auf. Moritz spürtekeinen Schmerz, er spürte nur würgende Angst und rasendenSchrecken.

Schritte schlurften näher. Er riss die Augen auf, starrte durchden Mondlichtschleier im Geäst des Haselnussstrauches: Aufdem Wall, der das Dorf umgab, bewegten sich Fackeln. Zwi-schen den Hütten wankten, liefen oder stolperten Umrisse vonMenschen; manche hoch aufgerichtet wie Sieger, andere ge-beugt oder halb am Boden durch Gras und Pfützen geschleiftwie erlegtes Wild. Und überall Geschrei, Gejammer und Ge-brüll. Schritte stapften weg von ihm.

Irgendwo krähten Hähne, jaulten Hunde, quiekten Schwei-ne, plärrten Kinder, und ein Mann lachte wiehernd. Ein Sachse.Und dann ein Ruf: »Moritz!«

Die Mutter!»Lauf, Moritz!« Auf diese Weise rief nur die geliebte

Stimme der Mutter seinen Namen. War sie es gewesen, die ihnzum Fenster hinausgestoßen hatte? »Renn weg, Moritz!«Irgendwo am Walltor rief sie. »Lauf, mein Kleiner! Lauf, lauf!Gott sei mit dir!«

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