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Rudolf Majonica Das Geheimnis der Hieroglyphen Dieses Buch gehört:* * Wer das Buch sorgfältig durchgelesen hat, darf sich dann selbst die pharaonische Würde verleihen, seinen Namen in zwei königliche Kartuschen (Vor- und Familienname ge- trennt!) zu schreiben – natürlich nur in Hieroglyphen! Tipp: Damit die Hieroglyphen besonders schön gelingen, lohnt es sich, die hieroglyphische Fassung des Namens vorher zu üben!

Transcript of Rudolf Majonica Das Geheimnis der Hieroglyphen Dieses Buch ... · Rudolf Majonica Das Geheimnis der...

Rudolf MajonicaDas Geheimnis der Hieroglyphen

Dieses Buch gehört:*

* Wer das Buch sorgfältig durchgelesen hat, darf sich dann selbst die pharaonische Würde verleihen, seinen Namen in zwei königliche Kartuschen (Vor- und Familienname ge-trennt!) zu schreiben – natürlich nur in Hieroglyphen!

Tipp: Damit die Hieroglyphen besonders schön gelingen, lohnt es sich, die hieroglyphische Fassung des Namens vorher zu üben!

Hinweis: Die im Text kursiv gesetzten Namen und Begriffe werden im Anhang in alpha betischer Reihenfolge erläutert. Die Schreibweisen der gezeichneten Hiero-glyphen in diesem Buch orientieren sich an den Schreibweisen, wie sie auch von Jean François Champollion benutzt wurden.

Rudolf Majonica, 1939 geboren, war Lektor, Redakteur und Verlags-leiter in verschiedenen Schul- und Sachbuchverlagen. Er war Ge-schäftsführer des Arbeitskreises für Jugendliteratur und Mitglied des Kuratoriums des IBBY (International Board on Books for Young People). Rudolf Majonica ist ein anerkannter Sachbuchautor und arbeitete für Film und Fernsehen. Seine besondere Leidenschaft galt dabei immer dem alten Ägypten. Rudolf Majonica lebt in Mün-chen. ›Das Geheimnis der Hieroglyphen‹ stand auf der Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis und wurde von der Akademie für Kinder- und Jugendliteratur, Volkach, zum Buch des Monats ge-wählt.

Rudolf Majonica

Das Geheimnis derHieroglyphen

Die abenteuerliche Entschlüsselungder ägyptischen Schrift

durch Jean François Champollion

Mit zahlreichen dokumentarischen Abbildungenund zeitgenössischen GrafikenIllustrationen von Heinz Seeber

Fotos von Rudolf Majonica

Deutscher Taschenbuch Verlag

Umschlagbild: Horus, bekrönt mit der Doppelkrone Ägyptens, führt den Pharao vor Osiris, Vater des Horus. Osiris ist Gott

und Herr des Totenreichs. Hinter Osiris steht die Göttin Hathor, die hier als Herrin des Westens dargestellt ist.

Auf der Umschlagrückseite ist ein Teil einer Mumienbedeckung mit kursiven Hieroglyphen abgebildet, entnommen der ›Déscription de

L’Egypte ou Recueil des observations et des recherches‹, qui ont été faites en Egypte pendant l’expédition de L’Armée Française.

Publiée par les ordres de Sa Majesté Napoléon le Grand, Paris 1809

Überarbeitete und erweiterte NeuausgabeIn neuer Rechtschreibung

Dezember 2007Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

www.dtvjunior.deDer Band ist bei dtv junior erstmals 1988

unter der Nummer 79507 erschienen.© 1991, 2007 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

München© für die Fotos: Rudolf Majonica

Umschlagkonzept: Balk & BrumshagenUmschlagbild: Kopie von James Burton (um 1820)

aus dem Grab des Pharao Sethos I.Gesetzt aus der Charlotte Sans Book Plain 11/13·

Gesamtherstellung: Kösel, KrugzellGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany · ISBN 978-3-423-71275-0

Inhalt

Die Schrift im alten Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7Die Geburt eines Wunderkindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11Der Stein von Rosetta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16Napoleons Soldaten erobern Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19Ägyptisch wird Mode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22Mit 16 Jahren Mitglied der Akademie der Wissenschaften . . . . 24Die Hieroglyphen – eine Bilderschrift? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26Wie sieht eine Bilderschrift aus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30Zwischen Bilderschrift und Hieroglyphen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33Wer erforscht die Hieroglyphen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35Champollions grundsätzliche Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . 44Die Entzifferung erster Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46Kleopatra – der Name einer Königin hilft weiter . . . . . . . . . . . . 48Eigennamen aus römischer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50Ramses – der von Gott Re Gegebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52Der ›Brief an Herrn Dacier‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57Die Stele des Meki Montu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60Xerxes – in Keilschrift und Hieroglyphen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63Hieroglyphen außerhalb von Eigennamen . . . . . . . . . . . . . . . . . 68Schreibweisen von Götternamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72Hieroglyphen aus vorrömischer Zeit – Champollion in Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74Und wie schrieben die Ägypter nun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Landkarte Ägyptens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88Worterklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90Ägyptische Kunst und Kultur in Museen und Sammlungen in Österreich, der Schweiz und Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . 95

Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

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Auf dem Relief auf einer Wand des Tempels von Luxor steht der Pharao zwischen den Göt-tern Amun und Horus: Amun (ganz links) trägt die Doppelkrone Ägyptens, der Pharao trägt das »königliche Kopftuch« mit der sich aufrichtenden Uräusschlange (Cobra) über der Stirn; auch die »Federkrone« über der Sonnenscheibe, die Horus trägt, wird von der Uräusschlan-ge bewacht. Abb. unten: Links: Ein Pharao mit der Atefkrone (hier zusätzlich mit dem Wid-dergehörn des Gottes Chnum), einer hohen Haube mit seitlichen (Pflanzen?-)Stängeln und farbigen Federn. Häufig wird der Gott (des Totenreichs) Osiris mit dieser Krone abgebildet; Rechts: Diese auch von der Cobra bewachte Haube heißt auch Chepreschkrone oder auch »Blauer« oder »Kriegshelm«. Nicht nur, aber vornehmlich auf Abbildungen von Pharaonen in Streitwägen/im Kampf tragen diese meist ebendie Chepreschkrone.

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Die Schrift im alten Ägypten

Die Geschichte Ägyptens lässt sich bis in die Zeit um 5000 vor Christus genau zurückverfolgen. Die Funde in alten Gräbern, Tem-pelruinen, in verlassenen Palästen oder Stadtanlagen oder einfach im Wüstensand sind Zeugnisse dieser Geschichte.

Als einheitlicher Staat existiert Ägypten aber erst seit etwa 3000 vor Christus. Damals vereinte der sagenhafte König Menes die Reiche von Unter- und Oberägypten. Seit dieser Reichsgründung trugen die altägyptischen Pharaonen eine Doppelkrone: Sie be-stand aus der Krone Oberägyptens und der Krone Unterägyptens.

Bei der Verwaltung eines so großen Reiches und wegen der Steu-ern, Verträge, Gesetze und Verordnungen brauchte man ein be-stimmtes Mittel: die Schrift! Das scheint uns heute selbstverständ-lich, aber so war es nicht immer. Wie Staaten ohne das Hilfsmittel schriftlicher Aufzeichnungen überhaupt entstehen und bestehen konnten, können wir uns heute nicht vorstellen. Die Ägypter ent-

Von Beginn der Reichseinigung an (etwa 3000 v. Chr.) trugen die ägyptischen Pharaonen (Pharao = großes Haus) die rote Krone Unterägyptens (links) und die weiße Krone Ober-ägyptens (rechts) nicht nur einzeln, sondern auch in der Form der Doppelkrone (Mitte). Ganz rechts: Darstellung einer Doppelkrone in vollplastischer Form, hier getragen von Pha-rao Sesostris III. (1878 – 1843 v. Chr.)/Luxor Museum.

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wickelten eine gänzlich eigene Schrift, die es sonst nirgends auf der Welt gab und gibt: die Schrift der Hieroglyphen.

Sie selbst nannten diese ihre Schrift natürlich nicht so. Die Be-zeichnung Hieroglyphen kam erst viel später auf. Das Wort kommt aus dem Griechischen und heißt so viel wie »heilige Eingrabung«.

Die Hieroglyphenschrift hat sich im Laufe der Jahrtausende bei den Ägyptern nur wenig verändert. Sie blieb immer die repräsen-tative Schrift: Sie wird dort verwendet, wo Schrift aus feierlichem Anlass in Stein und Fels geschlagen wird oder wo heilige Texte die Bilder in Gräbern begleiten.

Die Hieroglyphenschrift ist eine Art Druckschrift. Es gibt aber auch eine Schreibschrift. Sie lässt sich einfacher und viel schneller mit einem Pinsel oder mit Binsen auf Papyrus schreiben. Diese Schrift nennen wir die hieratische Schrift.

Diese hieratische Schrift entwickelte sich weiter und weiter. Am Ende hatte sie mit der Urform der Druckschrift nur noch wenig Ähn-lichkeit. Ihre Schriftzeichen wurden zielbewusst immer mehr ver-kürzt. So entwickelte sich aus ihr – etwa um die Mitte des 8. Jahr-hunderts vor Christus – eine ganz neue und flüssig schreibbare Schrift. Wir nennen sie die demotische Schrift.

Urkunden, Bücher und die Texte der staatlichen Verwaltung wur-den nur noch demotisch geschrieben – die Hieroglyphenschrift hin-gegen fand nach wie vor Verwendung für öffentliche Inschriften: wenn es darum ging, die göttlichen Pharaonen zu preisen, von ihren Heldentaten zu berichten, auf Denkmälern Ereignisse der Geschich-te darzustellen oder auf Wänden der Tempel und Gräber heilige Texte zu schreiben.

In der Zeit von 100 vor bis 100 nach Christus veränderte sich die politische Situation Ägyptens entscheidend. Nach langem Zögern und nach blutigen Kämpfen übernahm das große Römische Reich die Macht in Ägypten. Das Christentum breitete sich aus. Seine Lehre fiel in Ägypten auf fruchtbaren Boden.

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Links: (Leider kopflose) Sitzstatue des Schreibers und gleichzeitig Wesirs Mentuhotep (18. Dynastie – ca. 1500/1400 v. Chr.); über der linken Schulter trägt er sein Berufsabzei-chen, auf dem linken Knie steht die Palette zum Anreiben der Farben Schwarz und Rot. Rechts: Relief an einer Tempelwand in Karnak (große Tempelstadt im Norden des heutigen Luxor): Thot – in Menschengestalt mit dem Kopf des (Vogels) Ibis, Gott der Schreibkunst, der Weisheit, aber auch des Mondes – schreibt die fünf Namen des Pharao Ramses II. Schreiber in der höheren Gauverwaltung oder gar am königlichen Hof waren wichtige Be-amte, denen man auch solche Statuen widmete. Ab der 12. Dynastie, etwa 1900 v. Chr., gab es in den Tempelbereichen eigene Schreiber-schulen mit strengen Lehrplänen, nach denen unter anderem auch Mathematik, Astro nomie, Landvermessung (Geometrie) und Verwaltung unterrichtet wurde. Vor allem die Schreiber-posten im Umfeld der königlichen Verwaltung waren sehr begehrt, denn »ein Schreiber auf irgend einem Posten des Palastes – er leidet in ihm keine Not!« – schreibt Vater Cheti im Buch Kemit an seinen Sohn Pepi schon zu Beginn der 12. Dynastie. (Vgl. S. 203 in A. Schlott: Schrift und Schreiber im Alten Ägypten, siehe Literaturhinweis S. 96.)

Mit dem Christentum kam endgültig die griechische Schrift ins Land; die ägyptische Sprache wurde nunmehr weitgehend mit grie-chischen Buchstaben geschrieben.

Später verband sich die griechische Schrift mit der demotischen zu einer neuen, der koptischen Schrift. Das Römische Reich und das Christentum verdrängten gemeinsam die alten Götter, ihre Priester und auch die Pharaonen.

Und damit wurde auch deren Schrift – die Hieroglyphen – ganz einfach überflüssig; sie wurde nicht mehr gebraucht! Schon nach 300 Jahren Christentum in Ägypten war kaum jemand in der Lage, die Hieroglyphen zu lesen, bald danach niemand mehr!

Die geschichtliche Entwicklung hatte eine Schrift zum Schweigen gebracht. Kunst, Kultur und Schrift des alten Ägypten werden für über 1500 Jahre vom Wüstensand zugedeckt.

Aber plötzlich, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, steht Ägypten auf einmal wieder im Mittelpunkt des Interesses. Man sucht nach Zeugnissen der Geschichte dieses berühmten Landes, bewundert die überlieferten Beispiele seiner Kunst und steht wie vor einer ver-schlossenen Tür – ja, war das überhaupt eine Schrift, diese seltsame Aneinanderreihung von Zeichen und Bildern?

Wer würde sie lesen können? Wer würde sie als Erster entzif-fern?

Das ist das große Rätsel, bis … und hier beginnt die Geschichte eines wissbegierigen Jungen aus Südfrankreich, dessen Leben für alle Zeit mit den Hieroglyphen verbunden sein sollte.

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Die Geburt eines Wunderkindes23. Dezember 1790. 2 Uhr morgens.

In Figeac, einem kleinen Städtchen in Südfrankreich, freut sich das Ehepaar Champollion über die Geburt eines zweiten Sohnes. Er wird auf den Namen Jean François getauft. Doch in die große Freude mischen sich bald auch Sorgen wegen der Zukunft des Jungen.

Denn da war etwas Seltsames geschehen!Noch zu Beginn des Jahres 1790 stand es schlimm um die Mutter

des kleinen Jean François: Sie war gelähmt und – wie es schien – unheil bar krank. Da kein Arzt ihr helfen konnte, wandte sich der Ehemann in seiner Verzweiflung an einen Zauberer mit Namen Jacquou .

Und tatsächlich: mit heißen Kräutern, mit Kräuterwein zum Trin-ken und Einreiben wurde die junge Frau innerhalb von drei Tagen geheilt.

Mehr noch – der Zauberer Jacquou prophezeite dem erstaunten Ehepaar Champollion noch vor Jahresende die Geburt eines gesun-den Jungen. Und außerdem sagte er voraus, dass dieser Junge ein Wunderknabe sein werde; ihm werde größte Begabung geschenkt sein, er werde »ein Licht kommender Jahrhunderte« sein!

Dass Jean François wirklich äußerst begabt war, zeigte sich schon bald. Wenn die Mutter ihm am Abend aus der Bibel vorlas, hörte der Junge aufmerksam zu. Er konnte jeden Text, den er nur einmal hörte, auswendig wiederholen. Da erinnerte sich der Vater der Weissa-gung des Zauberers und bekam es mit der Angst. Denn sein Sohn sollte alles andere werden als ein Wunderkind. Er, der Vater, besaß in Figeac eine Buchhandlung. Und sein Sohn sollte ebenfalls ein guter Buchhändler werden und ein ruhiger, anständiger Bürger sei-ner Stadt. Nicht weniger, aber bitte auch nicht mehr. Daher unter-sagte der Vater kurzerhand die abendlichen Vorlesestunden. Wor-

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Karte Frankreichs aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts. Gekennzeichnet sind die wichtigsten Stationen des Jean François Champollion in Frankreich: Figeac , Grenoble, heute Hauptstadt des franzö sischen Départements Isère, und Paris. An der Mittelmeerküste weist ein Pfeil auf Toulon.Von hier aus stach der General Napo-leon Bonaparte am 19. Mai 1798 unter anderem mit 280 Handelsschiffen, 4 Fregatten, 28 200 Infanteris ten, 2800 Kavalleristen, 40 Belagerungsgeschüt-zen und vor allem mit 143 Wissen schaft-lern (Archäologen, Sprachwissenschaft-lern, Landvermessern, Historikern) und Künstlern (Zeichnern) zur Eroberung Ägyptens in See.

Medaille mit dem Porträt Napoleons als Kaiser der Franzosen

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auf der kleine Jean François eine Bibel aus dem Laden des Vaters holte und sich damit auf dem Dachboden des elterlichen Hauses versteckte.

Jean François weiß genau, wo er die Texte, die er schon auswen-dig kennt, in der Bibel finden kann. Er fängt an, die Schrift in der Bibel zu untersuchen. Er vergleicht die gesprochene Sprache mit dem Schriftbild. Er vergleicht die Länge einzelner Wörter. Er stellt Unterschiede und Übereinstimmungen fest. Vor allem merkt er, dass in seiner Muttersprache offensichtlich Schrift und Aussprache nicht übereinstimmen. Er findet die Bedeutung der Silben, der Buch-staben und der Wortstellungen selbst heraus, bevor er überhaupt Unterricht im Lesen und Schreiben erhält.

Da Jean François sehr schwächlich ist, wird er nicht in die allge-meine Schule geschickt; er erhält Privatunterricht. Doch schon nach

Die Champollion-(Sack-)Gasse. Die Inschrift auf der unteren Tafel lautet übersetzt: »In die-ser Gasse befindet sich das Haus, in dem Champollion (1790 – 1832) geboren wurde.«

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kurzer Zeit holt ihn sein älterer Bruder nach Grenoble. Dort, so meint der Bruder, könne der kleine begabte Jean François eine bes-sere Ausbildung bekommen.

Jean François Champollion (1790 – 1832) – ein neuzeitliches Bild nach einem alten Stich; das Bild zeigt ihn im Alter von etwa 30 Jahren.

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Der Stein von Rosetta

Dieser ältere Bruder war von Beruf Kaufmann, aber nicht aus freien Stücken. Eigentlich hatte er Soldat in der Armee Napoleons werden wollen, denn sein Ziel war Ägypten, und alle Welt wusste, dass Napoleon einen Feldzug nach Ägypten plante. Aber er war in die Armee nicht aufgenommen worden.

So befriedigte er seine Neugierde an allem Ägyptischen dadurch, dass er eine Zeitschrift abonniert hatte; sie hieß ›Courier de l’Egypte‹* – Kurier aus Ägypten. In dieser Zeitschrift stand alles, was die Wissenschaftler an neuen Erkenntnissen über Ägypten zu berichten wussten.

Eine Nummer dieser Zeitschrift fiel eines Tages auch Jean Fran-çois in die Hände. Und gerade in dieser Nummer fand er die Abbil-dung eines beschrifteten Steines; diesen Stein hatten französische Soldaten aus Napoleons Heer in der Nähe von Rosetta gefunden. Rosetta heißt auf Arabisch Raschid und liegt westlich des Nildeltas am Ufer des Mittelmeeres.

Dieser Stein sollte in der Sprachwissenschaft noch eine große Rolle spielen!

Was war an diesem Stein von Rosetta – die Wissenschaftler nen-nen ihn liebevoll die »Rosettana« – das Besondere?

Die schwarze Granittafel ist 1,14 m hoch und 0,82 m breit. Der etwas verwitterte, an den Ecken abgestoßene Stein trägt eine In-schrift in drei verschiedenen Schriften. Dass es sich dabei jedes Mal

* »Courrier« wird im Französischen eigentlich mit zwei »r« geschrieben! Die ersten vier Num-mern der Zeitschrift aber wurden von dem Bürger Armeedrucker M. Aurel fälschlicher weise mit nur einem »r« als »Courier« gedruckt; er wurde deswegen fristlos entlassen! Insgesamt erschienen 116 Ausgaben dieser Zeitschrift.

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Der Stein von Rosetta, von den Wissenschaftlern auch liebevoll »Rosettana« genannt, befin-det sich heute im Britischen Museum in London. Typisch für die Zeit des historischen Um-bruchs ist, dass er in drei Schriften beschrieben wurde: in ägyptisch-hieroglyphischer Schrift (oben), in demotischer Schrift (Mitte) und mit griechischen Buchstaben, die um 200 v. Chr. bereits im ganzen Mittelmeerraum verbreitet waren (unten).

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um den gleichen Text handelt, jeweils nur in anderer Schrift, ahnten die Wissenschaftler damals noch nicht.

Im oberen Teil steht auf dem Stein das letzte Drittel einer hiero-glyphischen Schrift von 14 Zeilen.

Darunter steht ein Text in Demotisch – also der ägyptischen Schreibschrift; allerdings ist der Text an manchen Stellen sehr ver-wischt.

Der dritte Text ist griechisch geschrieben; er zählt 54 Zeilen. Diesen letzten, den griechischen Text, kann man leicht lesen. Die Übersetzung ergibt, dass es sich dabei um ein »Dankeschön« der Priester von Memphis (vgl. Karte Seite 88) handelt.

Die Priester hatten im Jahre 196 vor Christus diese Tafel schrei-ben lassen als Dank an den Pharao Ptolemäus V. Epiphanes. Denn dieser hatte sich ihnen immer als ein großzügiger Gönner und Wohl-täter erwiesen.

Das Besondere an dem sonst so unscheinbaren Stein ist also die Tatsache, dass darauf drei ganz unterschiedliche Schriften verwen-det wurden.

Hatten alle drei Texte vielleicht sogar den gleichen Inhalt? Konnte man dann nicht den einen, den griechischen, also lesbaren Text be-nutzen, um daraus die anderen zu entziffern? Das klingt einfach!

Jean François Champollion ist ganze elf Jahre alt, als er den Stein von Rosetta zum ersten Mal sieht; und das noch auf einer ziemlich schlechten Abbildung. Als er erfährt, dass noch niemand die Hiero-

glyphen entziffern kann, nimmt er sich vor: Ich werde sie entziffern und will sie lesen können!

Münze des Pharao Ptolemäus V. Epiphanes, dem wegen seiner Tempelstiftungen jene später »Stein von Rosetta« genannte Tafel gewidmet wurde. Kennzeichnend für diese Zeit der Ver-schmelzung der Kulturen ist der Typ des Kopfes als Zeus* – Amun**!

*= griechisch, **= ägyptisch

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Napoleons Soldaten erobern Ägypten

Wie kam es, dass in Europa – besonders in Frankreich – zu jener Zeit ein so starkes Interesse an Ägypten bestand, und zwar nicht nur an dem Land selbst, sondern auch an seiner Kunst, Kultur und eben auch an seiner Geschichte und damit Schrift? Das hängt mit Napoleons Feldzug nach Ägypten zusammen.

Das eigentliche Ziel des Feldzugs war gar nicht Ägypten; Napo-leon wollte etwas ganz anderes. Die Eroberung Ägyptens war für ihn der erste Schritt, die englische Vorherrschaft in Indien zu brechen.

Im Frühjahr 1798 verließ Napoleon mit einer großen Flotte und 35 000 Soldaten den französischen Hafen Toulon. Zunächst er-oberten seine Soldaten die Insel Malta, um damit einen militärischen Stützpunkt zwischen Frankreich und Ägypten zu sichern. Am 1. Juli landeten die Truppen Napoleons in Ägypten und eroberten Ale-xandria. Am 21. Juli desselben Jahres besiegten die Franzosen in der Schlacht bei den Pyramiden die Mamelucken. Kurz darauf eroberte Napoleon auch die ägyptische Hauptstadt Kairo. Drei Monate nach der Schlacht bei den Pyramiden kam es in Kairo auf Geheiß des türkischen Sultans – denn Ägypten hatte ja vorher zum großen osma nischen Reich gehört – zum Aufstand. Bei der sogenannten »Empörung zu Cairo« wurden über dreihundert französische Offi-ziere und Soldaten ermordet. Napoleon schlug den Aufstand in einem blutigen Gegenangriff nieder.

Staunend – wie in einer anderen Welt – standen die französi-schen Soldaten vor den Baudenkmälern dieses Landes, das sie er-obert hatten: vor den Pyramiden und dem Kopf des riesigen Sphinx, den Ruinen der ehemaligen Tempelanlagen, vor den mit Schrift-zeichen bedeckten Obelisken. Sie konnten nicht einmal ahnen, was dieses Land noch an Kunstschätzen barg.

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Und Napoleon selbst irrte sich, als er sagte: »Soldaten, viertau-send Jahre blicken auf euch herab!«, denn Geschichte und Kultur dieses Landes sind viel, viel älter! Schon die Pyramiden, bei denen die französischen Soldaten die Mamelucken besiegten, sind weit über 4000 Jahre alt.

Napoleon war in erster Linie Feldherr und Eroberer, aber er hat-te wohl schon vor dem Feldzug eine Ahnung davon, in welch ein Land voll unentdeckter Kulturschätze und Geheimnisse er eindrin-gen würde. Aus diesem Grunde nahm er auch Wissenschaftler und Künstler mit auf seinen Feldzug. Ihre Aufgabe sollte sein, Kunst-schätze des Landes zu sammeln, Tempelanlagen und Ruinen des unter gegangenen Ägyptens der Pharaonen aufzuzeichnen, um in Europa möglichst viel über diese alte Kultur zu berichten.

Eine zeitgenössische Darstellung der Eroberung von La Valetta, der Hauptstadt Maltas, durch Napoleon und seine Soldaten. Der starke Pulverdampf aus den Kanonen soll aber nur einen Kampf vortäuschen, den es gar nicht gab. Widerstandslos ergaben sich die Kreuzritter, die die Insel beherrschten, und Napoleon schickte die nun heimatlosen Kreuzritter in ihre jewei ligen Heimatländer zurück.