Rückenmarksgeschwulst und Trauma

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(Aus der Abteilung und Poliklinik fiir ~ervenkranke im st/~dtischen Krankenhaus Sandhof, Frankfurt a.M. [Direktor: Professor Dr. G. L. Drey/us].) Riickenmarksgeschwulst und Trauma ~. Von Dr. Karl Mayer, Assistenzarzt. Mit 1 Textabbildung. (Eingegangen am 18. Februar 1930.) So h/~ufig der Zusammenhang zwischen Hirngeschwulst und Trauma in der Literatur diskutiert wird, so gering ist die Kasuistik fiber einen solchen Zusammenhang bei den Rfickenmarksgeschwiilsten. Das ist erkli~rlich dutch ihre relative Seltenheit und die besonders gesehfitzte Lage des Rfickenmarks innerhalb der Wirbels/~ule, die ihm ja ganz andere AusweiehmSglichkeiten bei Erschfitterungen und Verletzungen gestattet als der knScherne Sch/~del dem Gehirn. An sieh bedeutet das Fehlen einer einschl/~gigen Literatur keine Lfieke, denn die Gesehwulst- arten sind im wesentlichen die gleichen und die gleiehen Prinzipien der Beurteilung dfirften hier wie doff, wie ffir Geschwfilste fiberhaupt gelten. Thiem 1 verlangt ffir die Anerkennung der Tumorentstehung dutch Unfall neben der Beobaehtung aller Kautelen fiber evtl. sehon vordem bestehende Tumorsymptome : 1. DaB alas Trauma die Stelle der spi~teren Geschwulstentwieklung getroffen habe. (Ffir Gehirngeschwfilste ist dieser Satz yon Schuster auf die Stelle des Contrecoup, von Monakow sogar auf jede Stelle des Stogkanals erweitert worden.) 2. Da6 es erheblich gewesen sei. 3. DaB der zeitliche Zusammenhang, nich~ zu grol3er und nieht zu kleiner Zwisehenraum, je naeh der Geschwulstart, gegeben sei. 4. Da6 nach MSglichkeit Brfickensymptome vorhanden seien. Diese Prinzipien verdanken ihre Entstehung mehr der praktischen Notwendig- keit der gutaehtliehen Beurteilung als gesieherten wissensehaftliehen 1 Nach einem in der Vereinigung Frankfurter Neurologen und Psychiater gehaltenen Vortrage.

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(Aus der Abteilung und Poliklinik fiir ~ervenkranke im st/~dtischen Krankenhaus Sandhof, Frankfurt a.M. [Direktor: Professor Dr. G. L. Drey/us].)

R i i c k e n m a r k s g e s c h w u l s t und Trauma ~.

Von

Dr. Karl Mayer, Assistenzarzt.

Mit 1 Textabbildung.

(Eingegangen am 18. Februar 1930.)

So h/~ufig der Zusammenhang zwischen Hirngeschwulst und Trauma in der Li tera tur diskutiert wird, so gering ist die Kasuist ik fiber einen solchen Zusammenhang bei den Rfickenmarksgeschwiilsten. Das ist erkli~rlich dutch ihre relative Seltenheit und die besonders gesehfitzte Lage des Rfickenmarks innerhalb der Wirbels/~ule, die ihm ja ganz andere AusweiehmSglichkeiten bei Erschfitterungen und Verletzungen gestat te t als der knScherne Sch/~del dem Gehirn. An sieh bedeutet das Fehlen einer einschl/~gigen Li tera tur keine Lfieke, denn die Gesehwulst- ar ten sind im wesentlichen die gleichen und die gleiehen Prinzipien der Beurteilung dfirften hier wie doff , wie ffir Geschwfilste f iberhaupt gelten.

Thiem 1 verlangt ffir die Anerkennung der Tumorents tehung dutch Unfall neben der Beobaehtung aller Kautelen fiber evtl. sehon vordem bestehende Tumo rs ym pt om e :

1. DaB alas T r a u m a die Stelle der spi~teren Geschwulstentwieklung getroffen habe. (Ffir Gehirngeschwfilste ist dieser Satz yon Schuster auf die Stelle des Contrecoup, von Monakow sogar auf jede Stelle des Stogkanals erweitert worden.)

2. Da6 es erheblich gewesen sei. 3. DaB der zeitliche Zusammenhang, nich~ zu grol3er und nieht zu

kleiner Zwisehenraum, je naeh der Geschwulstart, gegeben sei. 4. Da6 nach MSglichkeit Brf ickensymptome vorhanden seien. Diese

Prinzipien verdanken ihre Ents tehung mehr der praktischen Notwendig- keit der gutaehtl iehen Beurtei lung als gesieherten wissensehaftliehen

1 Nach einem in der Vereinigung Frankfurter Neurologen und Psychiater gehaltenen Vortrage.

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96 Karl Mayer:

Grundlagcn fiber die Tumorgenese. Wir wissen eben fiber die Atiologie der Geschwfilstc zu wenig Tats/s

Die frfiher bclicbten Statistiken sollten Beweise f fir solche Zusammen- h/~nge schaffcn. Borst 2 sagt davon, dab je nach der Skrupellosigkeit des Statistikers der Prozentsatz der posit iv auf Traumen zurfickgeffihrten F/~lle zwischen 2,50/0 und 44,70/0 schwanke. Nach M e n d e l ~ schwankt er sogar zwischen 70 und 8,8~ . Bei der Verschiedenheit der Voraus- setzungen und Einstcllungen kSnnen die Resul ta te der einzelnen Sta- t is t ikea wcder untereinander vcrglichen werden noch kann mit ihnen etwas bewiesen werden. Auch experimentell ist cs nicht gelungen, durch die beim einmaligen Trauma gesetztcn Sch/~den Geschwfilste zu er- zeugen.

Theoretisch ist Tumorents tchung bzw. -auslSsuag durch ein cin- maliges Trauma zwar nicht leicht vorstellbar, doch widerspricht sie andererseits nicht den herrschenden Theorien. Da die Cohnhe imsche

und Ribbertsche Theoric mehr die formale Genese berficksichtigen, bleibt dem Trauma ein Platz in der kausalen. Ebenso ist bei der V i r c h o w s c h e n

Reiztheorie Tumorentstehung denkbar, indem z. B. durch das T rauma eine Sch/~digung gesetzt wird, die dann wieder als dauernder Reiz wirkt. 'Bei der Vorstellung von der parasit/~ren Tumorgenese mfil~te man an die Ents tehung eines Locus minoris resistentiae glauben. Bei allen Theorien wird man abcr um den Begriff tier Disposition nicht herum kommen kSnnen. Diirck 4 will in diescm Sinne das Geschwulstwachstum fiberhaupt nur als das S ym pt om einer bestehenden Allgemeinerkran- kung aufgefaBt schen, und aueh Sauerbruch 5 betont, ,,dab allgemeine StSrungen des Organismus und seines Zellenlebens fiir die Geschwulst- genese einc weir grSBere Rolle spielen als 5rtliehe".

o

Die Pathologen sind f iberhaupt wenig geneigt, dem einmaligen T r a u m a eine wesentliche Bedeutung zuzumessen, w~hrend die Kliniker der t raumatischen Tumorents tehung prinzipiell nicht so ablehnend gegenfiberstehen.

Eine gewisse Sonderstellung unter den Geschwfilsten n immt das Gliom ein. Hicr sind einige einwaadfreie pathologisch-anatomisch gesicherte F/~lle von Gliomentstehung nach Trauma yon Neubi irger o

(2 Gliome nach Sch/~dclschul3), VoUand 7 und Re inhard t s (Gesehwulst- bildung um ein Drahtstfiek) in den letzten Jahren beschrieben worden, die jcder Kri t ik standhalten.

Auch ffir die t raumatisehe Ents tehung yon Riickenmarksgcschwfilsten gibt es einige pathologisch-anatomisch untersuchte F/~lle, die einen Zusammenhang, wean auch nicht mit mathemat ischer Sicherheit, be- weisen. 1910 verSffenthchte F r i e d m a n n 9 (Mannheim) einen Fall yon intramedull/~rcr Mischgeschwulst, die sich auf dem Boden eines Glia- stiftes entwickelte und durch ein T r a u m a ins Dasein gerufen wurde.

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Rfickenmarksge~chwulst und Trauma. 97

In einem Fall, den Diirck lo 1914 auf der 17. Tagung der deutschen pathologischen Gesellschaft vortrug, handelt es sich um einen 28j~hrigen Mann, den ein 7 Zentner schwerer umstiirzender Dreiboek ins Geniek getroffen hatte. Nach 6 Monaten Schmerzen, bald spastische L~hmung der Beine, Sensibilit~tsstSrung, 2 Jahre 10 Monate naeh dem Unfall Exitus. Die Sektion ergab ein stiftf6rmiges zentrales Gliom im Hals- und oberen Brustmark. I n dem Falle, den Friinkel 11 im Jahre 1921 verSffentlichte, handelte es sich um einen Unfall mit Wirbelfraktur durch einen Sturz aus 10 m HShe. An der Stelle des gequetsehten Wirbels entwickelte sich ein Spindelzellensarkom der weiehen Riieken- markshgute, welches latent blieb und erst nach einem erneuSen in- direkSen Trauma 20 Jahre nach dem Unfail progredient wurde und Kom- pressionserscheinungen machte.

In einem Falle unserer Beobachtung, der anderweitig begutachtet war, handelte es sich um einen Lokomotivfiihrer, der am 17.4. 17 dutch Sturz yon der Maschine in einen Kohlenschacht eine schwere Gehirnerschiitterung mit BewuBtlosigkeit, wahrscheinlich aueh Schadelbasisfraktur, Quetschung hn Rtieken, ,,Prellung der Wirbels~ule" erlitten hatte. W~hrend des folgenden Jahres Schw~che in den Beinen. Im AnschluB an eine leichte Grippe im Juli 1918 zunehmende GehstSrung, Sensi- bilit~ts-, Blasen- und MastdarmstSrung. Sommer 1919 geringe Besserung, die weiterhin zunahm, so dab Patient auf dem Biiro arbeiten konnte. Die Diagnose u~trde 1918 auf multiple Sklerose, sp~ter auf Myeloencephalitis, gestellt und das Leiden als Unfallfolge anerkannt. Von 1922 an wieder zunehmende Verschlechte- rung des Ganges, der ohne s Hilfe tiberhaupt nicht Inehr mSglich war. 1927 wurde bier die Diagnose Tumor spinalis gestellt, mad die Operation ergab einen Tumor in HShe des zweiten his dritten Brustwirbels, der sieh zwischen Pia und Dura gut aussch~tlen lieB und sich als Myxofibrom erwies.

Hier sind also die Thiemschen Forderungen beispielhaft erffillt: Sehr erhebliches Trauma, identische Stelle, zeitlicher Zusammenhang und Brfickensymptome, die bereits ein Jahr nach dem Unfall die Dia- gnose auf ein organisches Riickenmarksleiden ermSglichten.

I n einer englischen Arbeit yon Learmonth fiber die Leptomeningiome des Rfickenmarks (nach dem Referat yon Peiper im ehirurgischen Zen- tralblatt) wird betont, dab sich schon unter physiologischen Verh~lt- nissen an verschiedenen Steilen der Arachnoidea lokale Ityperplasien finden. Diese faBt Learmonth als Bindeglied zwischen Unfall und der Ents tehung der Leptomeningiome auf, die histologisch groBe 2~ihnlich- keit mit den Zellverh~itnissen dieser lokalen Hyperplasien h~tten. I)iese Anschauung wfirde eine pathologisch-anatomisehe Vorstellung yon der traumatischen Genese gewisser Rfickenmarkstumoren geben kSnnen.

Is t die traumatische Tumorentstehung noch umstritten, so gilt das nicht ffir die Annahme der Verschlimmerung und Wachstums- beschleunigung eines Tumors durch Unfall. Hier sind sich Pathologen und Kliniker einig, dem Trauma eine bedeutende Mitwirkung zuzu- schreiben. Ein Beweis in diesem Sinne wird z. B. in dem schnelleren

Z. f. d . g . N e u t . u . P s y c h . 125. 7

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98 Karl Mayer:

W a c h s t u m unvol ls t~ndig oper ie r te r Geschw/i ls te gesehen. Lubarsch 1~ m e i n t jedoch e inschr~nkend, d a b Ve r sch l imme rung u n d W a c h s t u m s - besehleunigung im e inzelnen F a l l schwer zu beweisen w~ren, weil d ie T u m o r e n n ich t kon t inu ie r l i ch wiiehsen. Ve r se h l imme rung di irfe m i t Wahrsehe in l i chke i t a n g e n o m m e n werden , we lm

1. die Gewal te inwi rkung y o n de ra r t i ge r N a t u r u n d L o k a l i s a t i o n war , dal~ sie eingreifende und besonders den Zel ls toffwechsel bee inf lussende S tS rungen in dem GewKchse he rvo rzu ru fen gee ignet wa r ;

2. das W a e h s t u m ein im Vergleieh zur erfahrungsgem~l~en N o r m ungew6hnl ich besehleunig tes war ;

3. d ie his tologisehe U n t e r s u e h u n g deu t l i ehe S p u r e n f r iseher Gewal t - e inwirkung, wie B l u t u n g u n d N e k r o s e n u n d Anze iehen e iner ungew6hn- l ichen Waehs tumsgesehwind igke i t , wie Mi tosen u n d Vie lges ta l t igke i t de r K e r n e ergab.

Besonders die le tz te F o r d e r u n g des P a t h o l o g e n d i i r f te s ich p r a k t i s c h n u t se l ten verwi rk l ichen lassen.

W i e m a n sieh im e inzelnen die v e r s e h l i m m e r n d e E i n w i r k u n g des T r a m n e s vorzust~l len ha t , _~aderung der Gewebsspa lmung , Wegfa l l y o n w a c h s t u m s h e m m e n d e n Fak*oren , L o e k e r u n g des Zellgefiiges~ B l u t u n g e n in den Tumor , lokale Hype r / im ie als W a c h s t u m s r e i z , da r au f k a n n ich b ie r n ich t wei te r eingehen.

In einem Falle, den wit zu begutachten hatten, handelt es sich um folgende Vorgeschichte: 32jghrige Landwirtsehefrau. Zwillingskind aus gesunder Familie.

Normale Kindheitsentwicklung. Mit 20 Jahren Heirat. Ehemann gesund. 7 gesunde Kinder. 1926 bei Geburt des zweitletzten Kinde8 vori~bergehende l_2ihmungserscheinungen an den Hdinden. Am 6. 7.27, im dritten Monat einer erneuten Schwangerschaft, gingen auf dem Heimwege von der Feldarbeit die Pferde dutch und Patientin fiel einen Meter hoch yore Emtewagen sehr heftig auf Gesi~B und Riicken und dann mit einem Ruck nach vorne auf das Gesicht. Unmittelbar nach dem Unfall halfen die Kinder der Patientin beim Aufstehen und fiihrten sie bis arts Hans, wo sie zusammenbrach, so dab der Mann sie ins Bert tragen mui3te (Zeugenanssage). Sie hatte starke Schmerzen im 2qacken und Hals, den sie nicht bewegen konnte. Der erste ~rztliche Befund stellte eine Quetschung der GesaBmuskulatur nnd eine Untersehiebung der Spitze der 12. Rippe unter die 11. lest. 2qach 3 Wochen lang- same Besserung der Schmerzen, jedoch t ra t jetzt eine rasch zunehlnende Schw~che, resp. IA4hmnng der Arme und Beine auf, so dab Patientin seit Oktober 1927, 3 Mo- nate nach dem Unfall, ganz ans Bett gefesselt war, nieht mehr gehen, Arme mad vor allem Hi~nde kaum bewegen konnte. Die Geburt im Januar 1928 verlief ohne Sehwierigkeiten. Bis zum Unfallstage hatte Patientin ihren Haushalt aUein ver- sehen und mit auf dem Felde gearbeitet. Am 19. 7. 28 steUte der Obergutachter ,,hysterische L/ikmungserscheinnngen" lest, die mit dem Unfall nicht in Zusammen- hang st/4nden. Am 22.10. 28 wird die Patientin zur Begutachtnng im Berufungs- verfahren in unsere ]4~linik eingewiesen.

Be]und: 62 kg schwere Frau in maBigem Allgemeinzustand. Schleimh~ute schleeht durehblutet, an den inneren Organen kein krankhafter Befund. Blutbfld: Hb. 75o/o, Er. 3 820 000, Leukocyten: 6000, F . I . 0,9, N. 79,0%, Lymph. 15,0~ E o s . 3,00/0, Mono . 3,00/0 .

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Blutsenkung 4 zu 13 zu 85 naeh Westergren. Blutdruek 130/90 mm Hg. Puls regelm~13ig 80 Sehlage in der Minute. Die Wassermannsehe und Meinevke-Reaktion im Blute sind negativ.

Nervensystem: (Angefiihrt wird lediglieh der pathologisehe Befund) Bauehdeeken- reflexe fehlen. Babinski reehts angedeutet, links negativ, Mendel Beehterew beiderseits vorhanden, Rossolimo rechts fehlend, llnka vorhanden, Oppenheim und Gordon negativ, Ful3- mad Patellarldonus reehts unerseh6pflich, links erseh6pflieh. Die Gegend des 3. Halswirbels ist ausgesproehen druekschmerzhaft, zeigt keine

Abb. 1.

Abweichung der Form, keine Prominenz. M~l~ige diffuse Atrophie der Schulter- Ober- und Unterarmmuskulatur, geringe degenerative Atrophie des Supraspinatus und Deltoideus links, starke degenerative Atrophie der Interossei, der Daumen- und Kleinfingerballenmuskulatur rechts mehr als links. Masse: Oberarm Mitre: rechts 26, links 27, Unterarmobenrechts 23, links 23cm, Handgelenk rechts 17cm. links 17 cm, Mittelhand rechts 181/2 cm, links 181/2 era. Beine 10 cm oberhalb des oberen Patellarrandes rechts 41 cm, links 42 cm, 10 cm unterhalb des unteren Patellar- randes rechts 311/~ era, links 311/2 cm. Kn6ehel: rechts 22 cm, links 22 era.

Motilit~t: Die Bewegung des Kopfes naeh vorn und hlnten is~ eingeschr~nkt, die Sehulter-Oberarm- und Unterarmmuskulatur ist im ganzen geschwacht. Affenhandstellung an beiden Hs angedeutet. Der rechte Arm wird nut bis

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zur Horizontalen gehoben, der linke infolge der Deltoideusschw~che kann nicht gehoben werden. Die Beugung und Streckung der Finger wird ohne Kraf t ausgeftihrt. VSllig fehlen die Interossei und Lumbricales rechts und die Opponensbewegung des linken Daumens. Rticken- und Bauehmuskulatur o. B. Der Gang erfolgt mit kleinen steifen Schritten, schleifend mit spastisch ataktischer Komponente rechts. Die Tiefensensibilit~t ist an den Zehen rechts gest0rt. Beim Kniehackenversuch rechts deutliche Ataxie. Bei der elektrisehen Untersuchung fallen die oben erwi~hnten geli~hmten kleinen Handmuskeln bei der direkten und indirekten Reizung aus, der Deltoideus ist nur schwaeh faradisch und galvaniseh erregbar.

Sensibilititt: Hypgsthesie in den schraffierten Gebieten. (Abbildung.) Lumbalpunktion: Farbe klar, Liquor kommt tropfenweise, versiegt dann,

Anfangsdruek im Liegen 140 mm, GesamteiweiB 22/~ ~ o, Phase I : + + , Pandy 1 -- 2, Sublimat: + + , Zellen: 0, Wa.R. bis 1,0 negativ. Goldsol-Reaktion: Tabeskurve (etwas atyp!sch).

Myelographie : (Oberarzt Priv.-Doz. Dr. Peiper, Chir. Univ. Klin. Frankfurt a. M.) Zisternenpunktion im Sitzen ergab erh0hten Druck. Injektion von 2 ccm 400/oigen Jodipins; darauf Lagerung auf schiefe Ebene. Es wurde ein Profilbild der obersten Wurzeltasehen in Kombination mit einem Reliefbild der Rtickfl~ehe des obersten Cerviealmarkes gewolmen. Bei der Oberfl~chendarstellung des ober- sten Cervicalmarkes zeigte sich die Vena longitudinalis post. als enorm erweitertes und geschl~ngeltes Gef~B, das in der Jodipinmasse ausgespart war und nach oben bis in die Zisterne verfolgt werden konnte. Die Hauptmasse des Jodipins war bis zum Rande des 2. Halswirbels -- bei mehrfacher RSntgenkontrolle -- herabgetreten. Der Jodipinschleier tiber der Rtickfl~che des Cervicalmarks verlor sich langsam nach unten, ohne wesentlich tiber den 3. Cervicalwirbel herabzutreten. Seitlich yon dem grol~en gestauten Gef~I~ werden dutch die Oberfl~tchendarstellung noch eine Reihe kleinerer Gef~tl~e und Wurzein sichtbar. Hiernach wurde ein endomeduU~rer Tumor in H f h e von C2 angenommen, dessen sichere Abgrenzung nach oben und unten aus dem Myelogramm allein nicht erschlossen werden konnte.

7 .11 .28 . Operation 1 (in Lokalan~sthesie und Bauchschwebelage [Professor Schmieden]) :

Fortnahme der Proe. spinosi und BSgen des 1.--5. Halswirbels. Die Dttra ist enorm gespannt und pulsiert nur bis C~ herab. Nach der ErSffnung der Dura liegt das nichtpulsierende, enorm geschwollene und diffus gerStete Cervicalmark vor, das auf der Rtickfl~iche yon einer ungeheuer dicken, geschl~ngelten Vene tiberzogen wird. AuBerhalb des Markes ist kein Tumor festzusteHen. Im unteren Tell des Operationsgebietes findet sich in der Mitte des Rtickenmarks eine etwas dunklere, durchseheinende Verf~rbung, auf die vorsichtig eingeschnitten wird. In geringer Tiefe gelangt man hier auf einen kompakten und offenbar abgegrenzten Tumor, der sich nach Festklemmen mit einem Lexerschieber liiften l~Bt. Nach vorsorglicher Unterbindung des Venengeflechtes gelingt es imch und nach unter weiterer Spaltung des Rtickeumarks nach oben einen abgegrenzten festweichen Tumor zu entwickeln, in dessen unteren Pol ein Gef~Bbiindel eintrit t . Nach Durchtrennung desselben gelingt schlieBlich unter diffuser Markblutung die totale Exstirpation eines voll- kommen abgegrenzten Tumors, dessen oberer Pol der Grenze zwischen 1. und 2. Halswirbel entspricht.

Die mikroskopische Untersuchung des Tumors (Prof. A. W. Fischer) ergab ein Lipoblastom.

1 Vgl. tiber ein erfolgreich operiertes endomedull~res IApom des Halsmarkes, nebst einigen Bemerkungen zur Chirurgie der intramedull~ren Tumoren yon Prof. V. Schmieden und Priv.-Doz. H. Peiper: Dtsch. reed. Wschr. 1929, Nr 13.

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Riickenmarksgeschwulst und Trauma. 10:[

Wenige Tage nach der Operation zeigte sich bereits eine deutliche Besserung in der Kraft der nicht gel/~hmten Arm- und Handmuskulatur, welche im weiteren Verlauf zunahm, so daB Patientin jetzt, ein Jahr nach der Operation, nach schrift- licher Mitteilung, ohne Hilfe gehen kann und ihre H/rode wieder gebrauchen kann.

~fir die Begutachtung handelte es sieh darum festzustellen, in welehem Zusammenhang die fortsehreitende Gesehwulsterkrankung mi t dem erlit tenen landwirtschaftlichen Betriebsunfall stand. Der Unfall ha t die Geschwulstbildung nicht hervorgerufen. Schon ein J ah r vor dem Unfall waren w/~hrend einer Sehwangeruehaft vorfibergehend L/ihmungs- erseheinungen an den Armen aufgetreten, die aber v611ig zurfiekgingen. Die l~rau konnte ihrer Arbeit naehgehen und versah noeh im Verlauf ihrer 8. Schwangerschaft ihre Feldarbeit, wobei ihr der Unfall zustieB. Unmit te lbar nach dem Unfall t r a ten die L/~hmungserscheinungen, Spasmen und Ataxien, aber wieder auf und entwickelten sieh so schnell, daB Pat ient in 3 Monate naeh dem Unfall gel/~hmt zu Bet t liegen mugte . Wenn auch die zur Zeit des Unfalls bestehende Sehwangerschaft un- giinstig gewirkt ha t u n d e s bekannt ist, dab Geschwiilste wi~hrend der Schwangersehaft eine sti~rkere Wachstumstendenz zeigen, so mul3 andererseits doch die verh/~ltrrism/~Bige Schwere und die Art des Unfalls berfieksiehtigt werden, denn er kann, da er in eiaem heftigen Sturz auf das Ges/~l~ und den Rticken bestand, in seiner Art als ein fiir Rficken- marksgeschwiilste spezifisch ungiinstiger bezeichnet werden. Sieher ha t der Unfall zur schnelleren und st/~rkeren Entwicklung der L/~hmung beigetragen, wenn er nieht vielleicht fiberhaupt den Anstol3 zum Wachs- turn des vorher la tent vorhandenen, abet keine deuthchen Ausfalls- erseheinungen maehenden Tumors gegeben hat. Die ffir die Anerken- nung einer Verschlimmerung einer Geschwulst mal3gebhchen Voraus- setzungen scheinen uns hier auf Grund des ganzen Verlaufs der Erkran- kung erffillt.

H i i b s c h m a n n 13 bemerkt in seinem Vortrage, dab die ganze Frage naeh dem Zusammenhang zwischen Trauma ~nd Geschwulstentstehung in den letzten J ah ren von dem Wege rein objektiver wissenschaftlieher Forschung s tark abgedr/~ngt worden sei. Sie sei s tark beeinfluBt worden dutch die UnfaUgesetzgebung und dadurch zur Wahrscheinliehkeits- oder vielmehr zur Mfghchkeitsrechnung geworden. Er verlangr dem- gegeniiber eine mehr pathologiseh-anatomische Betraehtungsweise. Wfirde man der Beurteilung nur unsere absolut gesicherten Kenntnisse fiber Tumorents tehung zugrunde legen, dann wfirde man einzig die in Naxben und auf dem Boden chronisch-entziindlicher Reizzusti~nde entstehenden Geschwiilste als Unfallfolge anerkennen kSnnen.

Zu einer solchen rigorosen Stellungnahme erscheint aber die Frage der Tumorentwicklung noeh zu wenig gekli~rt, zumal klinische Beob- aehtungen, wie aueh N o n n e neuerdings auf der sfidwestdeutsehen Neuro- logentagung in Baden-Baden 1929 hervorgehoben h a t , oft ffir eine

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102 Karl Mayer: Riickenmarksgeschwulst und Trauma.

t r a u m a t i s c h e G e n e s e zu s p r e c h e n s c h e i n e n . D a w i r i m g a n z e n n i c h t f iber

e ine S a m m l u n g v o n K a s u i s t i k h i n a u s s ind , w i r d es s i ch d a r u m h a n d e l n ,

j e d e n e i n z e l n e n F a l l m 6 g l i c h s t g e n a u zu p r f i f en . D i e v o n T h i e m auf -

g e s t e l l t e n G r u n d s ~ t z e b i e t e n d a z u e ine z w a r w i s s e n s c h a f t l i c h n i c h t vo l l

b e f r i e d i g e n d e , a b e r p r a k t i s c h g e n f i g e n d e Le i t l i n i e .

Literaturverzeichnis. 1 Thiem: Handbuch der Unfallerkrankungen. S tu t tgar t 1910. - - 2 Borst:

Die Lehre yon den Geschwiilsten. Wiesbaden 1902. - - a Mendel: Der Unfall in der ~tiologie der Nervenkranbheiten. Berlin 1908. - - 4 Di~rck: Klin. Wschr. 1924, 657. - - 5 Sauerbruch: Dtsch. Z. Chir. 199, 1 (1926). - - s Neubi~rger: Miinch. reed. Wschr. 1925, 509. - - 7 Volland: Miinch. reed. Wschr. 1925, 1544. - - s Reinhardt: Miinch. reed. Wschr. 1928, 399. - - 9 Friedmann: Dtsch. Z. Nervenheilk. 39, 287 (1910). - - lo Di~rck: Verh. path. Ges. 1914, 369. - - 11 Frdnkel: Miineh. med. Wschr. 1921, 1278. - - 12 Lubarsch: Mschr. UnfaUheilk. 1912, 259. - - la Hi~bschmann: Dtsch. Z. Nervenheilk. 66, 1 (1920).