Rumänische Geschichte in den Schulbüchern seit 1989

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Rumänische Geschichte in den Schulbüchern seit 1989 Von Radu Märza Dieser Beitrag konzentriert sich auf folgende Aspekte der Nationalgeschichte in Rumä- nien: auf das Verhältnis Nationalgeschichte - Weltgeschichte, das Verhältnis Geschichte Rumä- niens - Geschichte der Rumänen (Geschichte des Staates - Geschichte des Volkes) aufgrund der während der letzten Jahre im Fach Geschichte in den rumänischen Gymnasien benützten Schulbücher 1 . Nationalgeschichte - Weltgeschichte Nach 1990 unterrichtete man in Rumänien auch weiterhin Geschichte nach dem Schema: Geschichte Rumäniens (der Rumänen) - Weltgeschichte. In den letzten Jahren wurde in den Lehrplänen und Lehrbüchern versucht, diese Trennung konzeptionell zu überwinden und die rumänische Geschichte in einen größeren regionalen, besonders europäischen, Rahmen einzu- gegliedern, beziehungsweise in den Schulbüchern für Weltgeschichte der rumänischen Ge- schichte mehr Platz einzuräumen, sowohl in eigenständigen Lektionen als auch durch gezielte Fallstudien. Während der letzten Jahre hat sich das Konzept „integrierte Geschichte" durchge- setzt: In den Schulbüchern für Weltgeschichte werden Aspekte der rumänischen Geschichte be- handelt, wie ζ. B. „Die rumänischen Fürstentümer und die orientalische Frage". Auch im Universitätsunterricht folgen die Hauptvorlesungen im Fach Geschichte dem Schema „Geschichte Rumäniens - Weltgeschichte", sind jedoch weiter und ausführlicher strukturiert. Im Allgemeinen wird aber an den Geschichtsfakultäten die Tendenz spürbar, die 1 Für dieses Referat habe ich folgende Schulbücher benützt: 1) Vor 1990 erschienene Schulbücher: Hadrian DAicoviciu-Pompiliu TEODC>R-Ioan CJMPEANU, lstoria anticä §i medie a Romäniei / Geschichte Rumäniens: Altertum und Mittelalter. Lehrbuch fur die 8. Klasse (Bucure$ti 1989); Elisabera HuREZEANü-Gheorghe SMARANDACHE-Maria Τοτυ, lstoria mo- derns a Romäniei / Neuzeitgeschichte Rumäniens. Lehrbuch fiir die 9. Klasse (Bucurejti 1989); Aron PETRIC- Gheorghe I. IONITA, lstoria contemporanä a Romäniei / Zeitgeschichte Rumäniens. Lehrbuch fiir die 10. Klasse (Bucurejti 1989). Für das Niveau des Schulbuchs „Rumänische Geschichte" in den Siebziger Jahren siehe auch Florea DRAGNE-Matei IONESCU-Aurel IORDÄNESCU, lstoria Romäniei / Ge- schichte Rumäniens. Lehrbuch für die 8. Klasse ( Bucurejti 1972). 2) Mihai MANEA-Bogdan TEODORESCU, lstoria romänilor. Epoca modernä $i contemporanä / Ge- schichte der Rumänen. Neuzeit und Gegenwart. Lehrbuch fur die 10. Klasse (Bucure;ti 1993). 3) Sorin Mitu-Lucia COPOERU-LIV'IU ftRÄu-Virgiliu ftRÄu-Ovidiu PECICAN, lstoria romänilor / Geschichte der Rumänen. Lehrbuch fiir die 12. Klasse (Bucurejti 1999); Florin CONSTANTINIU-ΝΟΓΟ- cica-Maria CojESCU-Alexandru MAMINA, Istorie / Geschichte. Lehrbuch fiir die 7. Klasse (Bucurejti 1999); Lucia POPA-Radu G. PÄUN-Drago§ T IG *U> Istorie / Geschichte. Lehrbuch fiir die 10. Klasse (Bu- cure$ti 2000); Alexandru BAKNEA, Istorie / Geschichte. Lehrbuch fiir die 10. Klasse (Bucure$ti 2005). MIÖG 115 (2007) Brought to you by | University of Kentucky Libraries Authenticated Download Date | 10/1/14 2:09 AM

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Rumänische Geschichte in den Schulbüchern seit 1989

Von R a d u M ä r z a

Dieser Beitrag konzentriert sich auf folgende Aspekte der Nationalgeschichte in Rumä-nien: auf das Verhältnis Nationalgeschichte - Weltgeschichte, das Verhältnis Geschichte Rumä-niens - Geschichte der Rumänen (Geschichte des Staates - Geschichte des Volkes) aufgrund der während der letzten Jahre im Fach Geschichte in den rumänischen Gymnasien benützten Schulbücher 1 .

Nationalgeschichte - Weltgeschichte

Nach 1990 unterrichtete man in Rumänien auch weiterhin Geschichte nach dem Schema: Geschichte Rumäniens (der Rumänen) - Weltgeschichte. In den letzten Jahren wurde in den Lehrplänen und Lehrbüchern versucht, diese Trennung konzeptionell zu überwinden und die rumänische Geschichte in einen größeren regionalen, besonders europäischen, Rahmen einzu-gegliedern, beziehungsweise in den Schulbüchern für Weltgeschichte der rumänischen Ge-schichte mehr Platz einzuräumen, sowohl in eigenständigen Lektionen als auch durch gezielte Fallstudien. Während der letzten Jahre hat sich das Konzept „integrierte Geschichte" durchge-setzt: In den Schulbüchern für Weltgeschichte werden Aspekte der rumänischen Geschichte be-handelt, wie ζ. B. „Die rumänischen Fürstentümer und die orientalische Frage".

Auch im Universitätsunterricht folgen die Hauptvorlesungen im Fach Geschichte dem Schema „Geschichte Rumäniens - Weltgeschichte", sind jedoch weiter und ausführlicher strukturiert. Im Allgemeinen wird aber an den Geschichtsfakultäten die Tendenz spürbar, die

1 Für dieses Referat habe ich folgende Schulbücher benützt: 1) Vor 1990 erschienene Schulbücher: Hadrian DAicoviciu-Pompiliu TEODC>R-Ioan CJMPEANU,

lstoria anticä §i medie a Romäniei / Geschichte Rumäniens: Altertum und Mittelalter. Lehrbuch fur die 8. Klasse (Bucure$ti 1989); Elisabera HuREZEANü-Gheorghe SMARANDACHE-Maria Τοτυ, lstoria mo-derns a Romäniei / Neuzeitgeschichte Rumäniens. Lehrbuch fiir die 9. Klasse (Bucurejti 1989); Aron PETRIC- Gheorghe I. IONITA, lstoria contemporanä a Romäniei / Zeitgeschichte Rumäniens. Lehrbuch fiir die 10. Klasse (Bucurejti 1989). Für das Niveau des Schulbuchs „Rumänische Geschichte" in den Siebziger Jahren siehe auch Florea DRAGNE-Matei IONESCU-Aurel IORDÄNESCU, lstoria Romäniei / Ge-schichte Rumäniens. Lehrbuch für die 8. Klasse ( Bucurejti 1972).

2) Mihai MANEA-Bogdan TEODORESCU, lstoria romänilor. Epoca modernä $i contemporanä / Ge-schichte der Rumänen. Neuzeit und Gegenwart. Lehrbuch fur die 10. Klasse (Bucure;ti 1993).

3) Sorin Mitu-Lucia COPOERU-LIV'IU ftRÄu-Virgiliu ftRÄu-Ovidiu PECICAN, lstoria romänilor / Geschichte der Rumänen. Lehrbuch fiir die 12. Klasse (Bucurejti 1999); Florin CONSTANTINIU-ΝΟΓΟ-cica-Maria CojESCU-Alexandru MAMINA, Istorie / Geschichte. Lehrbuch fiir die 7. Klasse (Bucurejti 1999); Lucia POPA-Radu G. PÄUN-Drago§ T I G*U> Istorie / Geschichte. Lehrbuch fiir die 10. Klasse (Bu-cure$ti 2000); Alexandru BAKNEA, Istorie / Geschichte. Lehrbuch fiir die 10. Klasse (Bucure$ti 2005).

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Nationalgeschichte in engem Zusammenhang mit der Welt- oder europäischen Geschichte zu unterrichten, unter Einbeziehung der jeweiligen Herrschaftszusammenhänge, wie etwa Römi-sches Reich, Byzantinisches Reich, Osmanisches Reich, Habsburgerreich, Mittel- und Osteu-ropa, der ehemalige kommunistische Block.

Geschichte Rumäniens - Geschichte der Rumänen

Vor 1989 wurde G e s c h i c h t e R u m ä n i e n s unterrichtet. Später hat sich der Begriff G e s c h i c h t e d e r R u m ä n e n durchgesetzt, obwohl dies nicht bedeutet, dass nur Ge-schichte der Rumänen im ethnischen Sinne unterrichtet wird und die nationalen Minderheiten ausgeschlossen werden. In Wirklichkeit wird die Geschichte des gesamten Raumes des heutigen Rumänien (Walachei, Moldau, Siebenbürgen und Banat, Dobrudscha) unterrichtet, mit Hin-weisen auf die Gebiete jenseits der Grenzen des rumänischen Staates, in denen auch Rumänen leben: beispielsweise den Norden der Bukowina, Bessarabien. Gleichzeitig wird der Ausdruck R u m ä n i e n , der neueren Zeiten entstammt, fur bestimmte historische Epochen gewisserma-ßen in Frage gestellt. In den Schulbüchern der letzten Jahren werden auch die nationalen (Un-garn, Deutsche, Juden) und konfessionellen Minderheiten behandelt (besonders die griechisch-katholische Kirche, die reformierten Konfessionen in Siebenbürgen, die Israeliten).

Darstellung der eigene Geschichte

Zwischen 1945 und 1989 war das Studium und die Erforschung sowohl der National- als auch der Weltgeschichte stark ideologisiert, was allgemein bekannt ist. Die nationale Ge-schichte sollte dargestellt werden, ohne etwas in Frage zu stellen oder zu interpretieren. Man hatte sich auf die nationale Geschichte als auf d i e G e s c h i c h t e , auf etwas Heiliges, auf ein Tabu, etwas Unantastbares zu beziehen, etwa im Hinblick auf den Widerspruch zwischen der Dakertheorie und der Latinität der rumänischen Sprache, auf die Auffassung vom Rumänen-tum als antemurale Christianitatis oder dem roten Faden der Geschichtsdarstellung als einer Geschichte der Vereinigung aller Rumänen, die 1918 erreicht worden ist. Alle anderen Darstel-lungen wurden als Häresien, als Deviationen widerlegt. Erst 1993 ist das erste neue Lehrbuch für Geschichte erschienen, das von Mihai Manea und Bogdan Teodorescu verfasst wurde. Ob-wohl die Autoren moderne Konzepte und Fragestellungen vorgeschlagen haben, war das Lehr-buch extrem auf eine Fülle von Ereignissen konzentriert, die sogar das übertraf, was Studieren-den der Geschichte an den Universitäten abverlangt wurde. Den Schülern blieb nichts anderes übrig als den Stoff auswendig zu lernen. In den Jahren 1999-2000 hat sich das Konzept der a 1 -t e r n a t i v e n G e s c h i c h t e ( S c h u l b ü c h e r ) durchgesetzt. Darin wird ζ. B., anders als bisher, die Römerzeit und die Integration der Dacia in das Imperium Romanum, die dako-ro-manische Ethnogenese und die Glottogenese in der Völkerwanderungszeit dargestellt. Derzeit funktioniert dieses System mehr oder weniger gut. Für jedes Studienjahr (Klasse) existieren mehrere Lehrbücher. Die Schulbehörden (Schulinspektorate), die Lyzeen und die Professoren wählen das Lehrbuch, mit dem sie arbeiten. In diesem Bereich wirkt die Konkurrenz mit all ih-ren Vor- und Nachteilen.

Die neuen Auffassungen der Schulbuchautoren über den Sinn und die Darstellung der na-tionalen Geschichte sowie die Wahlmöglichkeit unter unterschiedlichen Lehrbüchern hat sich positiv auf die Beziehung der Schüler zur Schule und zum Schulbuch ausgewirkt. Das Buch ist nicht mehr eine Sammlung schwer verstehbarer historischer Daten und Ereignisse, sondern ein Mittel zum Verstehen der Ideen, der historischen Epochen und Regionen und ihrer gegenseiti-gen Beziehungen. Neu ist auch die Übereinstimmung zwischen der europäischen Idee und der nationalen Identität; die Geschichte der Rumänen wird nicht mehr als ein einzigartiges Ereig-nis dargestellt, sondern als Teil europäischer Geschichte. Die Verfasser eines der alternativen

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Schulbücher benützen oft Begriffe wie Alternative, Identitätsbereicherung, Werte von univer-seller Bedeutung, Vielfalt, Pluralität, Schulbuch als Herausforderung für Schüler und Lehrer, die Partnerschaftsbeziehung zwischen Schüler und Lehrer. „Was den Ablauf der Ereignisse be-trifft, ist Geschichte einzigartig. Die Antworten auf die Fragen können jedoch unterschiedlich sein. Diese müssen aber argumentiert werden und sich auf Informationen und Wissen begrün-den."

Was die Erklärung und Interpretation des historischen Stoffes betrifft, so hat man in den Lehrbüchern der letzten zehn Jahre auf das rigide marxistisch-leninistische Schema verzichtet, auf die Monopolstellung des historischen Ereignisses und die Auffassung von der Nationalge-schichte als einem Wettbewerb, der mit der Gründung des „rumänischen einheitlichen Natio-nalstaates" beginnt und mit der „vielseitig entwickelten sozialistischen Gesellschaft" endet. (Unter Sozialismus verstand man in der rumänischen Gesellschaft das diktatorische Einpartei-ensystem als Vorstufe zum Kommunismus, also nicht das, was der Begriff im europäischen Abendland bezeichnete). Schwerpunkte oder „heiße Eisen" der rumänischen Nationalge-schichte waren die Kontinuität der dakisch-römischen und der rumänischen Bevölkerung nördlich der Donau, die Bildung des rumänischen Volkes und der rumänischen Sprache, der Nationalkampf im 18.-19. Jahrhundert, die Entstehung und Entwicklung der Arbeiterbewe-gung im 19. und am Anfing des 20. Jahrhunderts, die Diktatur von Ion Antonescu und die Teilnahme am Krieg gegen die Sowjetunion, die Ereignisse vom 23. August 1944 (Frontwech-sel im Krieg und Verhaftung von Ion Antonescu, von der RKP absolut für sich in Anspruch ge-nommen), die „Volksrevolution" in den Jahren 1946-1947, der Sturz der Monarchie und die Proklamation der Volksrepublik. Bis 1989 waren Bezüge zu internationalen Ereignissen, zum historischen Umfeld und regionale Differenzierungen minimal.

Die hier skizzierten Fragen und Probleme der Schulbücher treffen auch auf die rumänische Geschichtsschreibung im Allgemeinen zu. Zurzeit scheint jedoch ein Gutteil der Darstellungs-schwierigkeiten überwunden.

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