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Barbara Duden Kreftingstraße 16 28203 Bremen Sammlung I Ausgewählte Schriften und Vorträge 1991-1998 Copyright - Bisher unveröffentlicht und nicht übersetzt. Alle Rechte bei der Autorin. Keine Veröffentlichung oder Übersetzung ohne Rücksprache mit der Autorin. Copyright Barbara Duden Weitere Nachfragen bitte an: Silja Samerski, Kreftingstr.16. 28203 Bremen Tel: 0421-7940094, Fax: 0421-705387, e-mail: [email protected]

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Barbara DudenKreftingstraße 1628203 Bremen

Sammlung I

Ausgewählte Schriften und Vorträge 1991-1998

Copyright- Bisher unveröffentlicht und nicht übersetzt. Alle Rechte bei der Autorin. Keine Veröffentlichung oder Übersetzung ohne Rücksprache mit der Autorin. CopyrightBarbara Duden

Weitere Nachfragen bitte an:Silja Samerski, Kreftingstr.16. 28203 BremenTel: 0421-7940094, Fax: 0421-705387, e-mail: [email protected]

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INHALT

VORBEMERKUNG....................................................................................................... 1

1. DER FLIEßENDE UND DER VERSTOCKTE KÖRPER................................................4

1.1 DAS BLUT DER HAGEREN WITWE............................................................................................4

1.2 DIE MÄNNLICHE UND DIE WEIBLICHE "RUTE": VERKÖRPERUNGEN DES UNTERSCHIEDS .......14

1.3 DER BÖSE BLICK UND DAS WISSEN UM DIE MACHT DER AUGEN ...........................................22

2. SCHWANGERSCHAFT: DIE GUTE HOFFNUNG UND DIE DIAGNOSE.................31

2.1 DIE TECHNIK DER HERSTELLUNG DES ERSTEN WEIBLICHEN FÖTEN (1799)............................31

2.2 TECHNOGENE 'REALITÄTS'- VERMITTLUNG ..........................................................................43

2.3 KANN DIE HEBAMMENKUNST DEN ULTRASCHALL ÜBERLEBEN?............................................50

2.4 VOM SCHMALEN GRAT DES ARZT-SEINS: DER IATROGENE KÖRPER .....................................63

2.5 GEBURT UNTER FRAUEN: GEBURTSHILFE IM TECHNISCHEN MILIEU .....................................75

3. DIE BIO-OPTIMALE FRAU.............................................................................................89

3.1 DIE EINSTELLUNG DES EIGENEN ZUSTANDS: "DIE PILLE" .....................................................89

3.2 WAS GENETIK TUT UND WAS SIE DIR SAGT: GENE IM KOPF ..................................................99

3.3 DIE PÄDAGOGISCHE ANLEITUNG ZUR SELBSTENTKÖRPERUNG: EINE AUSSTELLUNG IN LONDON........................................................................................110

3.4 DIE AKADEMISCHE DEKONSTRUKTION DER FRAU: JUDITH BUTLER.....................................119

3.5 WIE POPULATION ZUR ABHÄNGIGEN VARIABLE WURDE: MENSCH UND BIO-MASSE ...........130

3.6 DIE HÖCHSTRICHTERLICHE ANERKENNUNG DES KÖRPERLOSEN MENSCHEN: EIN DEUTSCHER SONDERWEG. ............................................................................................143

3.7 VOM PROTEST ANGESICHTS DER JURIDISCHEN GLEICHSTELLUNG DES MENSCHEN

MIT "EINEM LEBEN" ZUR SPRACHLOSEN OHNMACHT VOR DEM "ERLANGER BABY."............151

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Vorbemerkung

Im Laufe des letzten Jahrzehnts waren meine Forschung und meine Lehre einer Aufgabegewidmet: Vergangenheit als "Erlebnis damals" zu verstehen und mich von der Vergangenheit heran der Gegenwart zu befremden. Ich habe diesen Versuch zu Recht oder Unrecht"Körpergeschichte" genannt, um die heute befremdliche Sinnlichkeit des Erlebens der Verstorbenenzu wecken und dann, im Rückblick, Aufschluß über die Unsinnlichkeit der Gegenwart zu gewinnen.Oft allerdings habe ich mich dabei erwischt, nicht von dem fernen akademischen Ankerplatz desFrauenerlebens im frühen 18.Jahrhundert auszugehen, sondern von meiner oberbayrischen Jugendher über die Wasserscheide nachzudenken, diesseits derer jene Entkörperung liegt, um derenVerständnis es mir geht. Ich bin Frau geworden, bevor das Hormonbewußtsein und damit dieEinstellungsbedürftigkeit des Frauenkörpers den Alltag erreichten; vor dem Einsickern des"Immunsystems" ins Selbstverständnis war ich schon eine Erwachsene. Dennoch - ich hätte denUmbruch in den achtziger Jahren nie ermessen, hätte ich mich nicht um das Verständnis der Flüsseund Stockungen jener Toten vor eineinhalb Jahrhunderten plagen müssen.

Nur dadurch, daß ich von der Sinnlichkeit heute in Erinnerung an Sachen, Wörter und Gefühlespreche, die damals waren, habe ich den Abstand gewonnen, der zu einem historischen Verständnisder Entkörperung in den 1990er Jahren die Voraussetzung ist. Und nur durch den Geschmack fürdie Heterogenität, die Unvergleichbarkeit unseres Sensoriums Leib und Sinn in der Vergangenheitgegenüber, kann ich es vermeiden, die Frauen von ehemals hinterrücks zu modernisieren, ihnen alsodie Konstrukte zuzuschreiben, die heute das Erleben prägen.

In diesen Jahren, bevor ich als Professorin der Soziologie in Hannover unterkam, wollte ich alsHistorikerin auftreten. Meine zwei Bücher aus diesen Jahren, eins zur Begründung derKörpergeschichte1 und das zweite zur Geschichte des Blickens2, wenden sich an Fachkollegen. Eindrittes Buch, aus meiner Sicht eine Art Pamphlet, versucht historischen Sachverstand in den Dienstvon heute schwangeren Frauen zu stellen, um sie zur Unabhängigkeit von dem, was mit ihnengetrieben wird, zu ermutigen und zu ermuntern.3 Die Vortragsmanuskripte, die im vorliegendenBändchen erscheinen, stammen aus diesen sechs Jahren. Auf Drängen von Freunden habe ich michentschlossen, sie hier zu sammeln. Nur zögernd habe ich diese Herausgabe ins Auge gefaßt, dennweitgehend deckt sich das geschichtliche Quellenmaterial und auch seine Interpretation mit dem,was die Leserin in den oben genannten Büchern finden könnte. Aber schließlich haben dreiÜberlegungen mir Freude an diesem Entschluß gemacht.

1. Barbara Duden, Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen. Stuttgart 1987und 1991.2. Barbara Duden, Anatomie der Guten Hoffnung. Studien zur graphischen Darstellung des Ungeborenen.Stuttgart (in Vorbereitung).3. Barbara Duden, Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Vom Mißbrauch des Begriffs Leben. Hamburg 1991und München 1994.

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1. Jeder dieser Texte geht schwanger mit Erinnerungen: an Menschen, mit denen und für die ergeschrieben wurde; an Gespräche, die schon wenige Jahre später so nicht mehr möglich waren,an eine mentale Landschaft, in der wir uns heute nicht mehr orientieren. Die Verrückungunserer Orientierung durch die zeitgeschichtliche Wasserscheide, über die wir gerade befördertwurden, zeigt sich am Abstand manches folgenden Textes. Die höchstrichterlicheBiologisierung des "Menschen" zu einem "Leben", die das Karlsruher Gericht im Urteil zumSchwangerschaftsabbruch 1993 verfügte, war in den 1980er Jahren noch nicht denkbar. Mirdienen diese Texte als Stützen, um mir selbst diese rasante Umprägung faßbar zu machen. Siesind mir auch Anhaltspunkte, um zu erinnern, wie ich von einer Frage zur anderen weitergekommen bin, zum Beispiel im Kontrast der beiden Vorträge 1992 ("IPPNW") und 1998("Konstanz") - in Bezug aufs Verständnis des ärztlichen Handelns "damals" und "heute".Dennoch folgen die Texte nicht chronologisch, sondern sachbezogen aufeinander.

2. Zweitens ist mein Beitrag zur Zeitgeschichte des Frauenkörpers verstreut, da und dortveröffentlicht worden, wenn ich das Manuskript nicht in Papierstößen verschwinden ließ. Fürdie Studierenden und für die Frauen, die schwer an solche versteckten Drucke herankommen,serviere ich den Rahm von meinem Schreibtisch: eine Sammlung von Vorträgen, so wie ichmich mit ihnen eingesetzt habe, ohne Apologie für gelegentliche Überschneidungen oder Schamüber Wendungen, die ich heute vermeiden würde.

3. Ein dritter Grund aber hat mir die Arbeit an dieser Zusammenstellung umso interessantergemacht, je mehr sie mir eine Gelegenheit zu einer Revision wurde. Im Rückblick erscheint esmir überraschend, zu wie vielartigen Gremien ich meinen Senf habe beitragen sollen:Volkskundler und Ärzte, Kulturwissenschaftler und Gesundheitsplaner, Genforscher undSemiologen, Gleichstellungs-Beamtinnen und Pro-Familia-Beraterinnen, Hebammen undWissenschaftshistoriker, Architekturhistoriker und Phänomenologen. Jede Einladung war eineVersuchung zur Zerstreuung, aber auch eine privilegierende Gelegenheit, denn in jeweils neuemZusammenhang konnte ich die Relevanz meines Zugriffs zum Ausgangspunkt einerspezifischen Polemik machen.

Meine Entscheidung, in der Geschichtsschreibung das leibliche Echo des Alltags im Erlebnisder Frauen zu erforschen, und die damit gewonnene Einsicht in die Gefahr meiner eigenen,zunehmenden Ent-Körperung hat mich immer wieder dazu veranlaßt, nach der lebensgeschichtlichenRelevanz bio-sozialer, wissenschaftlicher Kategorien einerseits und betreuungs-technischerParameter andererseits zu fragen. Was meine ich mit dieser Doppelflinte? Ich meine einerseits denGeschmack, mit dem die Labortatsache der Nidation die morgendliche Übelkeit meiner FreundinMarie würzt und andererseits den Schatten, den ein nichtssagender und doch auffälliger Befund jetztüber ihre sehnlich erwartete Ferienreise wirft.

Sowohl in der Diskussion mit Natur- und Geisteswissenschaftlern, wie in der mit Ärzten,Sozialarbeitern, Seelsorgern und anderen professionellen Pflegern hat es mir der historischeAusgangspunkt meiner Rhetorik erlaubt, festgefahrene Frontlinien als das Resultatzweidimensionalen, flachen, also unhistorischen Zeitverständnisses darzustellen. Im Unterricht hatteich Erfahrung darin gesammelt, Studentinnen mit den Frauen aus anderen Epochen bekannt zumachen und sie auf die ungeheuren Schwierigkeiten aufmerksam zu machen, aus deren Welt her dieunsere auch nur in Umrissen für möglich zu halten. Ich hatte mich also darin geübt, das

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Frauendasein diesseits der Wasserscheide in einer Dimension darzustellen, die außerhalb dermentalen und sinnlichen Topologie unserer Gegenwart liegt. Ich habe mir aber auch, umgekehrt,überlegt, wie ich einer Frau aus der Generation von Hildegard von Bingen, Liselotte von der Pfalz,George Sand oder gar Simone de Beauvoir Verständnis für die Not meiner Freundin Marievermitteln könnte. Und bei dieser disziplinierten Herausforderung an die historisch gebildetePhantasie fällt aus einer neuen Dimension ein überraschendes Licht auf die Selbstverständlichkeitender Gegenwart, die von den wissenschaftlichen Disziplinen reflektiert, konstruiert und dann von denhelfenden Professionen propagiert werden. In jedem der hier ausgewählten Vorträge habe ich michmit der Frage beschäftigt, was vom Fach oder von der Profession, die mich geladen hatte, übrigbliebe, wenn sie aus dieser historiographischen Entrückung verstanden würde.

Den Mut, durch eine unabhängige Stimme aus der Reihe zu tanzen, die Bereitschaft, mitmeinen fachwissenschaftlichen Erkenntnissen auf so unterschiedlichen Hochzeiten aufzutreten unddie Herausforderung zu einer a-typischen Geschichtsforschung als Weg zum Verständnis derGegenwart, verdanke ich dem Leben, das ich seit zwanzig Jahren führe: in Berlin, Pennsylvanienund Bremen habe ich das Haus geführt, das für Ivan Illich die Atmosphäre geschaffen hat, um denFreunden eine uns gemeinsame Form des disziplinierten und kritischen Nachdenkens zuermöglichen. Ich verwende hier für mich einen Satz, den Illich im Vorwort zu "Genus" schrieb: "Ichkann heute nicht mehr sagen, wer welchem Satz seine hier veröffentlichte Form gegeben hat." Ichdanke Ivan.

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1. Der fließende und der verstockte Körper

1.1

"Erlebte Vergangenheit" steht immer in der Einzahl: eine lang Verstorbene, die zu jemandem,der ihr zuhörte, "ich" sagte, und die auch ich so verstehen möchte. "Ich" ist "leibhaftig", gibt diesemLeib da -- seine Stimme. Ein Freund, ein Rabbi, sagte mir mal: "das 'ich' bläst dem nefesh seinenruah in die Nase"; das "ich" ist der Atemzug, in dem der Sprecher zur lebendigen Seele wird.Körpergeschichte, wie ich sie betreiben will, ist das Verständnis für diese jeweils andersartigeBegegnung. Sie geht immer von der Stimme aus, beginnt mit der Einzahl.

Von den tausendsechshundert Handwerkersfrauen, Bauernmädchen, Ammen undAdelsfräuleins der protestantischen Residenz Eisenach um 1730, deren Klagen ich am Faden derTagebuchnotizen ihres Stadtarztes, Johannes Pelargus Storch folgen konnte, ist mir eine besondersans Herz gewachsen, eine cholerische Witwe, die ihn 1723 um Rat bat. Um auch nur so eine Witwezu verstehen, konnte ich nicht umhin, immer wieder auf Galen, den römischen Arzt und Hildegard,die Binger Äbtissin, auf den Wundarzt Rabelais und Georg Ernst Stahl, den Hallenser Professorzurückzugreifen, denn diese barocken Klagen vor dem Arzt wurzeln im Humus aus deren Sprache,Kosmos und Glauben. Das was ich als Körpergeschichte betreiben will, soll nie zu Begriffs-, Ideen-,Motiv- oder Wort-Geschichte werden; meine Mimesis mit ihren Körpern soll sich nicht aus demAbhören sondern dem Anhören einzelner Frauen bilden.

An den Anfang dieser Sammlung stelle ich deshalb ein Manuskript für ein Treffen an derUniversität Konstanz im Frühjahr 1998 zum mir fremden Thema der "Körper-Inszenierung".

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1.1 Das Blut der hageren Witwe

Vor 15 Jahren - damals, als ich an einem Buch über die Bibliographie zu einer Archäologie derKörpergeschichte saß - war body noch keine Eintragung in den 'Historical Abstracts'. Inzwischenfinde ich unter body history ganze Spalten. Dabei geht es meist um die historische Prägung desKörpers durch Mann, Macht, Mode, Medizin oder Moral; die Inszenierung des Körpers in Skulptur,Malerei, Tanz und Gewand und nicht um das Thema, das mich umtreibt: den Stoff. Die Geschichtedes Stoffes, des Wergs, der Ur-Flocke, die zwischen Daumen und Zeigefinger von Klotho geflossenist, der Spinnerin unter den drei Parzen. Das soma, das - und nun zitiere ich Homer - "(jedem)beschieden, wie ihm am Anfang die schwierigen Frauen, den Lebensfaden gesponnen (geinomenoo),als ihn die Mutter gebar (téke meter)" (Odyssee 3 7,197). Was mich seit Jahren umtreibt ist dieGeschichte des fließenden, formlosen Stoffes, aus dem Körper gewoben war und das Vertrocknendieser humores.

Diese Saftigkeit aller historischen Körpererfahrung steht in krassem Gegensatz zu dem, was ichspüren kann. Mir geht es in der Körpergeschichte um diese Geschichte des 'Stoffes', um dieGeschichte dessen, was die Griechen als hyle bezeichnet haben. Treffend wurde von Kos bis Athendieses Wort gewählt, denn es bezeichnet, so wie das entsprechende lateinische materia, das saftige'Mutter-' also Kernholz, das nur mit den Sinnen, nicht über Abstraktion begriffen werden kann. Mirgeht es bei der Körpergeschichte um die Stoff-geschichte dessen, was eine Frau erlebte, wenn sie"ich" sagte. Und da steckt die Überraschung: Der Körper wurde als ein Fließen erlebt und ich bintrocken. Ich bin saftlos -- trotz Freud'scher Hydraulik, Jung'schen Träumen von anima und trotz derBelehrung über meine Energien, meinen Blutdruck, Orgasmus und Zirkulation. Auch imPsychogeschwätz über kosmische Strömungen in und um mich finde ich nichts, was jene humores,die ich aus der Geschichte kenne, bei mir rührt. Und als ich dann, nach Jahren trotzigenWeiterstudiums, die Rührung dieser Frauen empfand, war mir das nicht geheuer.

DIE HAGERE WITWE

Wie soll man sich heute an die Exegese, an die Textdeutung der folgenden Eintragung imTagebuch eines Arztes vom 29.Juli 1723 machen?

"Eine 70jährige Witwe, hagerer und cholerischer Constitution, klagte .... über Hüft-Weh,nemlich reissende Schmertzen von der einen Hüfte an bis zum Fuß hinaus, daran sie nichtanders als hinckend gehen konnte. Nachdem nun - so der Arzt - nach der Ursache forschete,bekannte sie, daß sie zeithero ihre Monat-Zeit noch unverrückt gehabt, ausser vor 2Monaten wäre solche außen geblieben, von daher sie auch diese Schmertzen empfunden

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hätte. Sie hatte in ihrem Leben wenig Artzeneyen gebraucht; daher riete nur einen Dampfvon Milch sowohl an das Bein als an den Unter-Leib zu lassen.... darauf fande sich dieMonat-Reinigung wieder ein, und die Schmertzen verloren sich wieder."

Fünf Jahre später kommt die Frau wieder zum Arzt, weil ihr Monatsblut nun zwei Jahreausgeblieben war. Stattdessen wurde sie von Nasen-Bluten und Schwindel beunruhigt:

"und so gar wäre ihr ohnlängst eine Ader am fördern Arm von selbst aufgesprungen und wohlüber ein Nösel Geblüte herausgelaufen. Da sie nun vier Jahre das Aderlassen unterlassen, soriethe, solches am Fusse wieder geschehen zu lassen, und solches jährlich im Früh-Jahrwenigstens einmal zu wiederholen."1

Heute könnte kein Arzt sich zur Geschichte der hageren Witwe so verhalten. Hüftweh undSchmerzen am Bein hinunter weisen Arzt wie Patientin keine Spur zum "Blut". Eine Blutung aus derVagina nach den Wechseljahren löst den Verdacht auf Krebs aus. Ein Stadtarzt, wie es Dr. JohannStorch damals in Eisenach war, würde die alte Frau stracks zum Spezialisten überweisen. Eintraditioneller Gynäkologe würde - bevor er auch nur zuhört - den Unterleib abtasten, aber jeder Arztwürde ein halbes Dutzend Laborberichte abwarten, bevor er an die Therapie in der Chirurgie oderPsychiatrie ginge. Warmer Dampf von Milch an die unteren Teile appliziert, lockt heute bei einer70jährigen kaum die Rückkehr der Mensis. Schließlich besteht heute kein Zusammenhang zwischenMonatsblut und Nasenblut. Und dieser Zusammenhang war für die Witwe wie für den Arztselbstverständlich: denn wenn es unten nicht fließen will, dann muß es sich oben einen Ausgangsuchen. Und der Arzt rät hier zum Ausgang unten, Phlebotomie am Fuß.

MEINE BETROFFENHEIT

Die Klage dieser Witwe finde ich im letzten Band der achtbändigen "Weiberkrankheiten" desAutors.2 Das sind die Berichte über 1600 Fälle, casus von Frauen, die zwischen 1719 und 1741 ihmin seiner Eisenacher Praxis ihr Inneres eröffnet hatten. Was sie ihm offenbaren notiert der Physikuszur Belehrung jüngerer Kollegen. Jeder Fall besteht aus den Geschichten einer Frau, und fast immerhandeln sie vom Schicksal ihres "Geblüts", auf die der Arzt mit einer Rezeptur antwortet: Aderlaß,Verschreibung oder Rat gegen Kutschfahrt, Bier, dünne Hemden. Nur ganz selten berichtet der Arzt,daß er trotz seines Zögerns eine Patientin an der Brust oder 'unten' beguckt oder betastet hätte.Lange dacht' ich, ich wäre an einen absonderlichen Kauz geraten. Bald fand ich über die"Weiberkrankheiten" den Weg zu anderen, ebenso verstaubten Bänden des Autors aus seiner Praxismit Soldaten und Kindern, und dann weiter Regale zu den Krankengeschichten des siebzehnten undfrühen achtzehnten Jahrhunderts, den curationes und observationes clinicae, die in derMedizingeschichte kaum beachtet worden sind.

1. Johann Storch, Von Kranckheiten der Weiber, Achter Band: Von Gebrechen und Kranckheiten, so mander weiblichen Mutter zuschreibt, Gotha 1751, S.277 und S.278.2 Diese ärztlichen Fallgeschichten habe ich untersucht in: Barbara Duden, Geschichte unter der Haut. EinEisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1991.

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Als ich, vor eineinhalb Jahrzehnten, mit den ersten casus zu ringen begann, war ich mehr alsverwirrt: ich war angeekelt von diesen Frauen, die sich selbst nur als ein Gebräu von blutigemSchleim erlebten. Ich war davon angewidert, wie sie dem Arzt vom mal zähen, mal dünnflüssigenZustand ihres "Geblüts" berichten, war verdutzt durch ihre Angst vor der Verstockung. Mehr nochals Verlegenheit überkam mich etwas wie Scham und sie lähmte mich, wenn ich aus diesenTagebüchern vorlesen wollte. Aber, je mehr ich von den Ängsten dieser Eisenacher Frauenmitbekam, ihrem Terror vor dem inneren Stocken, umso peinlicher wurde die Einsicht, daß michetwas mit ihnen verband, das ich mir nie hatte eingestehen wollen. Beim Studium meldete sich einedunkle Seite in mir, in unsereins, vor der wir, anders als diese Frauen, wortlos stehen: einsomatischer Bezug zu den Elementen, zur hyle, der ertastet, aber nie mit meinen Augen gesehenwerden kann.

HISTORISCHE SOMATOLOGIE

Auf diesem Weg kam ich zum Ansatz einer historischen Untersuchung der Somatologie, dasheißt zum Nachdenken über die epochenspezifisch verschiedenen Zeugnisse für die Saftigkeit desgelebten Frauenleibes. Eine reiche Quelle dazu war für mich die medizinische Tradition. Was dieÄrzte über den Körper sagen, darf nie direkt mit dem identifiziert werden, was seine Patientinnen alsihr Fleisch und Blut erlebten, aber Rückschlüsse sind oft möglich. Das ist der Grund, warum ich dieärztliche Pathologie - das Wissen über die Krankheit - dem soma gegenüberstelle, dem Leib, überden die Frauen klagten. Das Forschen nach diesem soma nenne ich Somatologie, und der gilt meinhistorisches Interesse. Vorsichtig habe ich meine Forschung auf die Tradition beschränkt, derenUrsprung schon im vierten Jahrhundert vor Christus mit der ägäischen Insel Kos verbunden wurde,mit Hippokrates und seinen Schülern. In der Geschichte des Westens sind die Namen, entlang dererdiese Tradition verfolgt werden kann: Galen, Avicenna, Willis, Georg Ernst Stahl. Weit über dasAltertum und Mittelalter hinaus, also bis ins Hochbarock, hat die Humoralpathologie ihre Geltungbehalten. Über diese lange Epoche blieb die Schulmedizin eine Praxis, in der eine Erzählung -nämlich die Selbst-offenbarung des Hilfesuchenden - das Objekt war, und die Kunst des Arztes inder Exegese dieser Darstellung lag. So wie Aristoteles vom Teilnehmer an einer Tragödie fordert,nicht bei den Worten zu bleiben, sondern sich vom Darsteller in seine tragische Verwicklung mithineinreißen zu lassen, so wurde dieses Mitschwingen, diese mimesis, vom klassischen Arztgefordert. Er sollte sich durch Wort und Stimme und Haltung des Klagenden in dessen humoraleUnordnung hinein versetzen. Seine Aufgabe war es, eine narratio, eine schmerzliche Klage zudeuten. Die Patientin kommt mit ihren Geschichten zum Arzt. Sie erzählt ihm von den "Zufällen",die im Laufe ihres Lebens wohl ihre humores aus dem zu ihr passenden Gleichgewicht gebrachthaben. Seine theoretischen Kenntnisse der Flüsse ermöglichen es dem Arzt, diese 'Offenbarungen' zuinterpretieren. Auf Grund seines Wissens über die Entsprechungen in der Natur kann er das Mittelfinden, um die 'Heilkraft der Natur' im Patienten zu wecken und zu unterstützen.Zweitausendfünfhundert Jahre lang blieb diese Dialektik der Kern der Medizinischen Kunst, so

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unterschiedlich auch in verschiedenen Schulen über die Anzahl der Flüsse, ihr Wesen, ihreQualitäten, ihre Beziehung zu den Elementen und ihre gegenseitige Bezüglichkeit - ihre richtigeMischung oder krasis - nachgedacht wurde.

Zu den Theorien gibt die medizinische Literatur auf Griechisch, Arabisch und Latein breitenZugang, der auch intensiv in der Geschichtsschreibung berücksichtigt worden ist. Im Gegensatzdazu hat aber die Geschichtsschreibung bisher die Umstülpung des dialektischen Grundschemas derArzt-Patientenbeziehung fast außer Acht gelassen. Die heilende Deutung einer Leidensgeschichteund die biologische Manipulation von Messungen, die das Patientenprofil ergeben, passen schlichtnicht in denselben Raum. Was die Zeit um 1700 auszeichnet, sind Fall-Sammlungen wie die von Dr.Storch. Denn in dieser Periode liegt das Gewicht auf dem Protokoll der heute unbegreiflichenKlagen und nicht auf der Theorie. Aus diesem Wust habe ich versucht, vorsichtig heraushören, wieunzählige Frauen über ihren Leib sprechen, und mich gleichzeitig über die Mimesis des Arztesgewundert, der offenbar sein eigenes Innere in Analogie zu dem der Frauen erlebt. Bevor diePatientin noch spricht, weiß Storch meist schon, welcher Humor - hier die cholerische Konstitution -diesen Fall dominiert. Meist sieht er der Frau die Witwe, das Hoffräulein oder die Magd von weiteman. Aus seinen Überlegungen, die in den Fallbeschreibungen meist der Verschreibung folgen, wirdersichtlich, daß er viel mehr versteht, als das, was die bloßen Worte sagen. Auch wenn dieserAbsolvent der Universität Jena bestimmt nicht als Erbe der antiken "Viersäftelehre" gelten kann, sosteht er fest in jener Tradition, in der die ärztliche Kunst darin bestand, in die Geschichte, dieerzählte Lebensgeschichte des Klagenden helfend einzugreifen.

In dieser Geschichte des Körpers als Echo des in- und auswendigen Fließens ist, im Deutschen,'das Geblüt' der rote Faden. Es ist das eine Wort für die Pluralität der Säfte. Nicht dasKnochengerüst, nicht die Anatomie der 'festen Teile', nicht das physiologische Zusammenspiel vonOrganen bildet den Grundstock des Erlebens, das seit ihren Anfängen im Hellenismus dieGalenische Form der Hippokratischen Medizin beschäftigt hatte. Beim Rat, der vom Arzt gefordertwird, geht es um humores. Was den Patienten zum Galeniker bringt, ist die Sehnsucht nach denleuchtend-belebenden, die Angst vor den überwältigend zäh-schwarzen und der Schrecken vor demErstarren der inneren Flüsse. Ohne ein Wissen um jene vielfarbig wäßrigen, blutigen, haptisch inuns erfahrbaren Strömungen und Versteinerungen, führt die großartige Einsicht von MichelFoucault an der entscheidenden Wende der Medizin vorbei. Denn sein 'Klinischer Blick', dieRekonstruktion des horizontalen Körpers im Krankenbett als noch lebende Leiche, gibt uns denentscheidenden Schlüssel zum Verständnis einer neuen Medizin, einer vertikalen Bemächtigung unddamit einer ganz neuen hierarchischen Wissensform.3 Durch Foucault sind wir auf die neueGesellschaftskonstellation aufmerksam geworden, die neuartige Kontrolle von oben über denKörper. Foucault sagt uns aber nichts von der Kluft, die sich zwischen dem erlebten und dem neuendiagnostizierten Körper auftut. Und die Medizingeschichte, die in Deutschland überwiegend vonabsolvierten Medizinern besetzt ist, konzentriert ihre Aufmerksamkeit auf den Paradigmenwechsel

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in der medizinischen Theorie von der 'Humoral-' zur 'Solidar-pathologie', und verstellt sich damitden Blick auf die Somatik. Ich hänge so sehr an der Körpergeschichte des achtzehnten Jahrhunderts,weil hier der Kontrast beginnt, der mich plagt: der beschämende Widerspruch zwischen dem Körper,den ich mir wohlerzogen zuschreibe und den unheimlichen Wallungen, Regungen, Verhärtungen, diesich namenlos melden.

SPRACHLÄHMUNG

Im Vergleich mit dem Fachjargon ist die Umgangssprache zähflüssig. Auch heute noch sprichtsie vom Geblüt - oft ohne, daß wir dran denken: schwerblütig kann man sich fühlen, bei der PrüfungBlut schwitzen, das Blut kann noch zu Kopf steigen, in der Trauer kann das Herz zerfließen, manläßt sich noch fort- oder hin-reißen. Aber heute trennt eine Kluft den Wortsinn von der Aussage. Derda spricht hat keinen Körper mehr, der Blut schwitzt. Die Worte haben ihren somatischenBeigeschmack eingebüßt; nichts Fleischliches ent-spricht mehr der Behauptung.4 Das Fleisch, dasdiesen Worten einst antworten konnte, ist verkümmert. Nur als uneigentliche Rede haben sich dieSprechweisen erhalten. Die Kluft, über die jetzt eine Metapher hinkt, die liegt in uns, denn diesomatischen Flüsse, die sich von diesem Vokabular bewegen lassen, sind in uns vertrocknet. Undtrotzdem will ich den Versuch nicht aufgeben, "to flesh out the skeleton of the past", dem Gerippe inmeinem Fach Fleisch und Blut zu geben, mit dem Stoff, in dem sich die Vergangenheitniedergeschlagen hat, in Tuchfühlung zu bleiben.

Das Abtasten des Lebensfadens, das Hinlauschen aufs Geblüt, das Schmecken damaligerBitternis und Süße sind etwas anderes als die kategoriale Analyse des Körpers als Konstruktion.Wenn Körpergeschichte zur begrifflichen Rekonstruktion der Variationen einer biologischenKonstante wird, gibt sie Aufschluß über die Trockenheit der Historikerin und geht am Stoff derGeschichte, an den Geschichten der hyle, vorbei. Eine formelle Morphologie asynchronischerKörper-bilder und -Konstrukte kann Einsichten über die gesellschaftliche Artikulation von Machtbekräftigen. Mir geht es in der Körpergeschichte um das leibhaftige Da-Sein der Alten, auf das siemit dem Wort "ich" verwies. Ich will Geschichte als Einfleischung lesen, also radikal alsVerkörperung. Ich bin nicht Dr.Storch und doch - trotz der zweieinhalb Jahrhunderte, die unstrennen - will ich die Klage der hageren Witwe mimetisch auf mich wirken lassen, Mitleid nichtausschließen; ich will die Scheu überwinden, mich ihrer Geschichte und nicht nur dem Wortlautöffnen, der verstorbenen Frau hinter dem Text. Das führt mich an den Rand meines akademischen

3 Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Frankfurt/M 1988.4 In einer großartigen Studie hat die Literaturwissenschaftlerin Ruth Padel das flüssige Leiberlebnis imfrühen Griechentum untersucht: Ruth Padel, In and Out of the Mind, Princeton 1992, S.84f.; zur Spannungzwischen literalem und metaphorischem Wortgebrauch im Sprechen über den Körper, siehe S.34ff.

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Faches, an die Grenze, jenseits derer die Toten liegen, denen ich mich als Historikerin verpflichtetfühle.5

Die Re-konstruktion von Ideologien, mit denen ein invarianter Phänotypus "Frau" jeweilsanders der gesellschaftlichen Machtstruktur unterworfen wird - - als mas occasionatus (mißglückterMann), als Hysterikerin, Reproduzentin, Cyborg läßt mich kalt. Dr.Storchs Fähigkeit, die falscheOrientierung der Flüsse in der cholerischen Greisin wahrzunehmen, würde durch Biologie ebensowie durch Dekonstruktion unverständlich gemacht werden. Postmodern müßte ich Storchs FallNo.72 als eine protestantisch-barocke Sozial-re-konstruktion der, an sich a-historischen, uterinenPathologie lesen. Ich würde diese Form der Dekonstruktion den postmodernen feministischenTheoretikerinnen nicht übel nehmen, wenn diese diagnostische Analyse nicht von der mimetischenDialektik ablenken würde, in der ich ein Beispiel in Dr.Storch gefunden habe. Mein Interesse führteben woanders hin: ich bin auf der Spur von Fleisch und nicht von Text. Ich will diese Witwebegreifen und diesen Arzt, der ebenso wie sie Hüftweh als das Stocken des irre gegangenen Blutesversteht und weiß, wo und wann sie zur Ader zu lassen.

HUMORES

Die meisten Handwerksgattinnen, Adelsdamen, Dienstmädchen und Bauersfrauen in StorchsTagebüchern klagen über eine Unordnung ihres "Geblüts". Was meinen sie mit Geblüt? Sicher wirddamit nicht das bezeichnet, was wir als "Blut" verstehen. Das Geblüt ist kein arteriell zirkulierenderoder kommerziell verschiffbarer Stoff. "Geblüt" ist ein Saft, den man nicht ins Labor schickenkönnte. Geblüt und Blut zu verwechseln - was meine Kolleginnen routinemäßig tun - ist einemodernitätsgläubige Kolonisierung der Vergangenheit, die die Klage der Witwe unhörbar macht,weit mehr als die Unterwerfung des Frauenkörpers dem male bias. Die Verwechslung der Säfte mitPlasma und Hämoglobin macht aus der Vergangenheit ein Herbarium, ein Inventar verhutzelter,trockener Weiber. Dabei wird das Ohr und der Tastsinn der Historikerin taub für das Gesprächzwischen Storch und der Witwe.

"Das Monatliche", das der Alten ausbleibt und von dem sie berichtet, daß ihre nur zwei Jahrejüngere Schwester es "unverrückt" an sich erfährt, ist ebensowenig eine Menstruation. Man kann1723 einfach nicht an der modernen "Amenorrhöe" leiden, weil die "Menstruation" erst von derMedizin des 19.Jahrhunderts zu einer Funktion des weiblichen Reproduktionsvermögens gemachtworden ist. Das Monatliche der Schwestern war ein Blutfluß. Was floß, wurde wohl auch "Blut"genannt und kam aus der plethora, der Fülle des Schoßes; war nicht wie heute die abgelösteSchleimhaut eines Organs. Zur Zeit von Dr.Storch war es etwas, das auch Männern aus der Nase

5. Simon Schama, Dead Certainties, New York 1991 erinnert Henry James' jungen Historiker RalphPendrel, der darüber nachdenkt, daß der Versuch, das Verlorene in der Vergangenheit wieder zu finden,dem Versuch gleich kommt, als würde man hinter die feindlichen Frontlinien zu gelangen suchen, um dieeigenen Toten zum Begräbnis zurück zu holen.

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oder der goldenen Ader herauslief, aber nicht rhythmisch wie bei den Frauen. Ähnlich dem Zeugnisder Witwe in der Eisenacher Praxis überliefern die ärztlichen Fallberichte Geschichten über solcheFlüsse bei Männern, denn junge, blutreiche und auch ältere, betuchte, üppig lebende Männerbedurften des Fließens, um nicht zu erkranken. Zur Studienzeit von Dr.Storch erreichte die seriöseärztliche Literatur zur Mensis der Männer ihren Höhepunkt und zwar zur selben Zeit, in der in derAnatomie die bisher 'weiblichen Hoden', die testes muliebris zu Eierstöcken wurden: "In denZeitschriften erzählen die Ärzte von den blutenden Männern ohne Scham, geben den Namen, densozialen Rang der menstruierenden Männer (...), den Wohnort und ob sie noch leben."6 DerGemeinsinn der Zeit wehrte sich gegen den Gedanken, daß Frauen wie Federvieh Eier legen, abernicht gegen die heilsame und notwendige - periodische, wenn auch nicht monatliche - Reinigung derMänner.7 In Männerklöstern blieb der unter arabischem Einfluß im Mittelalter eingeführte viermal-jährliche Aderlaß an den Quatembertagen noch lange erhalten. Den Männern mußte zu demverholfen werden, was Frauen schlechthin konnten.

"Das Monatliche" läßt sich nur schwer beschreiben, denn es war ein Aspekt des erlebtenGeblüts. Geblüt konstelliert die endogene Orientierung an rechts/links, oben/unten, innen/außen: aneiner dem Subjekt eigenen Räumlichkeit. Da klagt eine Dienstmagd über ihre Verstopfung, "darbeysich eine schwammigte Beule auf dem Haupte eingefunden".8 Um die Niederkunft zu beschleunigen,verschreibt Storch bei einer anderen noch wie Galen den Aderlaß unten, an der vena saphena.

Das Geblüt hat und schafft Gewohnheiten: beim Dienstmädchen von sechzehn Jahren, bei derdie Mensis noch niemals kam, drängt es vor ihrer Menarche durch eine Fingerwunde, die sie sich miteinem Holzsplitter zugezogen hatte.9 Störrisch kann die Neigung der Flüsse werden: bei einemanderen Mädchen will die Fußwunde nicht heilen, "weil die Mensis alle Monat durch die Wundeihren Ausgang fänden."10 Irrige Flüsse auf falschen Wegen können zu einer hartnäckigen Neigungdes Körpers werden. Viele Frauen berichten von solchen Abwegen des Blutes, die Storch als "stellvertretende Blutung" (menses vicariae) auf "ungebührlichen Wegen" (insolitae viae) bezeichnet.Diese habituellen 'Verirrungen' des Geblüts können einmal mit Eindrücken begonnen haben:verängstigtes Blut wird auf den Schrecken beim Brand der Scheune zur Zeit der Schwangerschaftzurückgeführt, Mutterangst und Schwären vorn unter dem dicken Bauch, bleiben - bei einemSchloßfräulein - eingeschrieben als Erinnerung an die fröstelnde Teilnahme an einer spätabendlichenAuerhahn-Jagd. Die Ehefrau eines Kutschers klagt im Kindbett über das Ausbleiben ihrer Milch und

6 Die ärztlichen Fallberichte zu den Blutungen der Männer, die in Analogie zum Monatsblut der Frauenwahrgenommen wurden, untersucht: Gianna Pomata, Uomini mestruanti. Somiglianza e differenza fra isessi in Europa in eta moderna. In: Quaderni storici N.S. 79 (1992): 51-103, hier S.60.7 Dazu: Gianna Pomata, Wieso menstruieren Männer? Ein Gespräch mit Thomas Burg. In: ÖsterreichischeZeitschrift für Geschichtswissenschaft 7 (1996): 269-281.8 Johann Storch, Von Kranckheiten der Weiber, Zweiter Band, darinnen vornehmlich solche Casus, welcheden Jungfernstand betreffen, Gotha 1747, S.249.9 Ebd., S. 180.10 Ebd., S.252

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meldet stattdessen einen farblosen Durchfall, "weiß wie gestockter Käse".11 Bei einer anderen fließtdie Reinigung wohl am rechten Ort, aber sie schmeckt und riecht wie Muttermilch. Geblüt istzutiefst polymorph.

LEIBHAFTIGE LEBENDIGKEIT.

"Eine 50jährige cholerische Frau, deren vornehmste Verrichtung in ihrem Leben die Ausübungdes Zorns gewesen, kam den 28. Januar 1723, mit einem vornehmen Mieth-Manne inZanck, und wurde von selbigem am Arme zur Thier heraus geführet, darüber machte siesich solchen Verdruss, daß ihr Arm und Beine zitterten, und bey sich beymischenderCardialgie einen ziehenden Krampf in Händen und Füssen bekam."12

Im Streit mit dem "Mietmann" hatte diese Frau versucht, ihre aufwallende Wut in giftigerBeschimpfung zu ergießen. Umsonst. Man hatte sie nicht sprechen lassen.

"Sie war sonsten von Zorn und Zanck also durchhärtet, daß sie nicht leicht eine schädlicheWürckung davon merckte, weil sie aber vor diesesmal lächerlich tractiret worden, und mansich nicht mit ihr einlassen wollen, so mußte sie den Gift bey sich behalten, den sie sonstauszuschütten sich vorgesetzt hatte."

Sie konnte das 'Gift' nicht im Redestrom los werden, mußte es bei sich behalten, so daß sie von einercardialgie überfallen wurde, einem "Schmerz in der Gegend des Herzens", den die Fünfzigjährigemitsamt einem Krampf in Händen und Füßen erlitt. Trotz ihrer Gewöhnung an Streit und Zank,trotz ihrer lebensgeschichtlich gewordenen "durchhärteten" Konstitution, hatte dieser Streit ihrGeblüt weiter gerinnen lassen. Ärger, Zorn und Wut, das Gefühl, vom anwallenden, ausweglosenBlut ertränkt zu werden, trieb sie zu Storch.

Einen Tag nach dem Streit beantwortet dieser ihr Begehren mit Rhabarber Tinktur, um dieEingeweide zu reinigen, Polichrest-Pulver für die verstockte "Mutter" und Tartarum. Den Tag draufmeldet die Patientin "Besserung". Sie hat die schlechte, böse oder überflüssige Materie los werdenkönnen. Ihr Geblüt, das - statt zu strömen - sich "irrige Wege gesucht" und am "falschen Ort"stagniert hatte, war wieder in Fluß gekommen. Wenn ich das lese, frage ich unwillkürlich immernoch: Ist das jenes ärztliche Selbstlob, das zum professionellen Benehmen dieses Standes gehört?Läßt sich diese Besserung auf Suggestion reduzieren? Mir kommt es nicht auf einen Vergleich anzwischen der Wirksamkeit von Prozak versus Tartarum, sondern auf den Fluß im Leib, den Leib alsFluß.

11 Johann Storch, Von Kranckheiten der Weiber, Sechster Band, in welchem vornehmlich solche Zufälle,so die Wöchnerin und Kindbetterin betreffen, Gotha 1751, S. 281.12 Johann Storch, Von Kranckheiten der Weiber, Achter Band, S. 440.

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Unter der Leitung von J.B.Pontalis ist der 32.Jahrgang der "Nouvelle Revue de Psychanalyse"den Flüssen und ihrer Vielfalt gewidmet.13 Achtzehn Autoren gehen der Analogie zwischen Libidound Humores nach, sozusagen dem Vergleich von Dr.Freud und Dr.Storch. Beim Lesen dieserStudien konnte ich nicht umhin, mich zu fragen: könnte meine Scheu und Verlegenheit beimStudium der Vergangenheit des erlebten Fließens als Verdrängung von unterbewußter Libidoverstanden werden? Nein! Immer wieder kam ich zum Schluß, daß mich eine solche Haltung in eineSackgasse führen müsse. Denn Storch ist mein Zeuge für das alltägliche Selbstverständnis, mit demseine Patientinnen sich als ein stoffliches, leibhaftiges, orientiertes, polymorphes Fließen erlebten;eines Fließens, dessen sie sich mit ihren inneren Sinnen stets gewahr waren. Freuds Libido - imGegensatz dazu - ist eines der Resultate der sozialen Konstruktion der 'Energie' im späten19.Jahrhundert. Seine Analyse läuft auf eine disziplinierte Selbstzuschreibung des so konstituiertenabstrakten Objekts hinaus. Libido fließt nur metaphorisch, wie die Elektrizität oder dasLeitungswasser vor und nach seinem Gebrauch. Nicht ein hydraulischer Vergleich sondern derKontrast zwischen den humores und libido führt an das unheimliche Lebendige dieser Flüsse heran.Ich versuche ja die hagere Witwe und die cholerische Mieterin so zu hören, wie das vor demAustrocknen des Geblütes gang und gäbe war.

13 Nouvelle Revue de Psychanalyse. No. 32, Schwerpunktheft: L'humeur et son changement, Paris 1985.Auf 350 Seiten untersuchen Mediziner, Dichter, Psychoanalytiker die Tiefenströme im gelebten Leib desWestens.

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1.2

Im Herbst 1991 war ich in die Universitätskirche in Würzburg eingeladen, wo es um "Mannund Frau, Frau und Mann" und die "Hintergründe, Ursachen und Problematik derGeschlechterrollen" gehen sollte. Neben Theologen, Literatur- und Kunstwissenschaftlern waren vorallem Naturwissenschaftler gebeten worden. Der Zoologe besprach die "Biologie des Flirts", dieZoologin den Zusammenhang zwischen Chromosomen, Genen und Geschlecht. Ein Psychologeunterbreitete Folien mit Tabellen über "geschlechtsdifferente Variabilität von Aggression undFurchtsamkeit", der Anthropologe erläuterte die unterschiedlichen "Reproduktionsstrategien" derGeschlechter und deren Optimierung bei männlichen Affen durch die geschickte "Manipulation" desPartners. Verblüfft hörte ich zu, wie der Zoologe von "schmusenden Bakterien" sprach und"Sexualität" als Austausch genetischen Materials definierte. Zweierlei stieß mir bei diesem Gesprächauf: die Biologen sprachen ohne Zungenschlag von Mann, Frau oder Sexualität, wenn es um Affenoder Zellkerne ging und die Zuhörerschaft muckte nicht auf, wenn Bakterien "Rollen" angedichtetwurden. Die unwidersprochene Sphärenvermischung der Alltagssprache mit einem Gemisch vonBio- und Soziologie beunruhigte mich, denn darin zeigt sich zweierlei: ein für die Gegenwarttypischer Animismus in Bezug auf Zellen und biologische Substrate und die unverschämteBiologisierung von Frauen und Männern. Gegen diesen gemischten Chor akademischer Koryphäenzum Credo über den Geschlechtsunterschied wollte ich mich zu zwei, heute häretischenKlarstellungen bekennen: Geschlecht hat nur der Mensch, aber wie, das bestimmt jede Epocheanders.

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Barbara Duden: Die männliche und die weibliche Rute: Verkörperungen des Unterschieds 15

1.2 Die männliche und die weibliche "Rute": Verkörperungen des Unterschieds 1

Den Gegensatz, der Thema dieser Tagung ist, den gab es im frühen 18. Jahrhundert noch nicht.Ich habe mich seit bald einem Jahrzehnt dort angesiedelt. Mein Thema ist der erlebte Körper. MeinAugenmerk ist vorzüglich der Frau gewidmet. Unvermeidlich ums ich mich mit dem Gegensatzdamals zwischen Mann und Frau als Historikerin beschäftigen und - soweit ich davon heutesprechen will - besteht der darin, daß was bei der Frau drinnen ist, beim Mann draußen hängt. AlsKörperhistorikerin kann ich Ihnen versichern, daß es nichts von dem, was heute hier besprochenwird, damals so gab. Ich beschäftige mich schon lange mit der Entstehungsgeschichte jenerErlebnisse, die sich heutzutage in den Kopfgeburten spiegeln, die hier vorgetragen werden. Ich fragenach dem Rahmen, in dem Begriffe und Ideen wie "biologisch determinierte Rollen", "menschlicheBeziehungen", "biologische Determinanten", "primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale","geschlechtliche Variablen", "sexuelle Kommunikation" oder "Sexualsignale" erst entstanden, dannzu Selbstverständlichkeiten wurden und schließlich ihrerseits die erlebte Wirklichkeit prägen. MitErstaunen habe ich heute morgen verfolgt, wie das "Geschlechtsverhalten" und die "Genitalien derDrosophila" vorgeführt wurden und jedermann offenbar davon ausging, daß dies zum Thema gehört.Was mich dabei überrascht ist, wie kurz die Zeit zurück liegt, in der Sexualität, Reproduktion,Hormone, Orgasmus, Fötus als Uterusinhalt und anderes dergleichen wohl schon imwissenschaftlichen Diskurs gang und gäbe waren, aber im Gespräch zwischen Frauen einfach nichtauftauchen konnten. Es hängt vom Alter und vom sozialen Stand der Zuhörerin ab, ob jene Zeit, inder die Verwissenschaftlichung des Selbstverständnisses stattfand, die Generation ihrer Mutter oderihrer Urgroßmutter war.

Ich bin eine Frau Anfang der Fünfzig. Schon am Ende der Mittelschule habe ich mich selbst inderartigen Begriffen erleben sollen. Zehn Jahre später dann, als ich als Feministin in einerFrauenwohngemeinschaft wohnte, wurden diese - Ludwik Fleck würde sagen - wissenschaftlichenTatsachen zu alltäglichen Vorstellungen.2 Sie wurden zu Leib-, Leit- und Leidvorstellungen. Jedebewegte Frau meiner Generation erinnert sich wohl an den Versuch, die Abbildungen aus "OurBodies Ourselves" im eigenen Inneren wiederzufinden und zu bejahen. Die einen fanden damals inder Verinnerlichung dieses wissenschaftlichen Blicks die Bestätigung von Alice Schwarzers

1. Überarbeitete Fassung eines Vortrages, den ich im Winter 1991 bei den Universitätstagen in Würzburg,im Herbst 1993 in Erlangen vor Medizinhistorikern hielt. Gekürzte Fassung abgedruckt in: Mann und Frau- Frau und Mann. Hintergründe, Ursachen und Problematik der Geschlechterrollen. Stuttgart 1992, S.143-150.2. Fleck, Ludwik, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Frankfurt Main 1980(zuerst 1935).

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"Kleinem Unterschied" zwischen den Beinen, auf den sich der Gegensatz von Mann und Weibherunterkochen läßt; für andere führte die Selbstbespiegelung zur Entdeckung der Großen Mutter,des Mondes und des Blutes; nochmals für andere war die Entdeckungsreise in den biologischenUnterschied ein Weg zur historischen Distanzierung. Er führte zur Einsicht, daß sich aus denSteinen, aus den Motiven meines eigenen, modernen Körper-Erlebnisses keine Brücke zum erlebtenKörper vergangener Generationen von Frauen bauen läßt. Mein disziplinierter Versuch einerkritischen Auseinandersetzung mit der erlebten wissenschaftlichen Tatsache der Frau, die ich war,ist mir wenigstens erst durch die Körpergeschichte möglich geworden. Und Körpergeschichte istletztlich die Geschichte der Verkörperung des Unterschiedes.

Um zu zeigen, nicht nur wie zeitlich fern, sondern auch wie anders, sowohl in ihrerAndersartigkeit, wie auch in ihrer Gleichheit Mann und Frau im 17. und noch im 18. Jahrhundertbeschrieben und wohl auch erlebt worden sind, will ich mich auf ein winziges Detail konzentrieren.Ich will über die "Rute" sprechen und an diesem kleinen Ding Überlegungen zum Geschlecht imLeib zwischen dem 16. und frühen 18. Jahrhundert anstellen. Dann will ich kurz, beinaheprogrammatisch, ein Thema skizzieren, das sich aus einer solchen Einsicht ergibt: Nicht nur dieSubstanz des Männer- und Frauenkörpers, sondern das Wesen des Unterschiedes zwischen denbeiden hat Geschichte.

Gespräche wie das heute hier stehen in den letzten beiden Jahrzehnten im Schattengegenwärtiger Selbstverständlichkeiten, deren eine die Überzeugung ist, daß "Mann" für "Penis" und"Penis" für "Mann" steht -- und irgendwie der Neid darauf für "Frau". Das war im sechzehnten undsiebzehnten Jahrhundert einfach nicht vorstellbar, denn die "Rute" gehörte zur Frau ebenso wie zumMann. Diese Überzeugung hat über Jahrhunderte hin den Blick geprägt. Nicht die morphologischeVerschiedenheit der "Geburtsteile" nämlich, sondern ihre Lage, das drinnen und draußen bestimmtden Unterschied, dessen Geschichte --sowohl im gelehrten Denken, wie im alltäglichen Erlebnis --mein Thema ist. Wenigstens im sechzehnten und bis zum Ende des siebzehnten Jahrhunderts ist esschwer, eine Diskrepanz zwischen den diesbezüglichen Motiven im volkstümlichen und imwissenschaftlichen Diskurs zu finden.

Um das anzudeuten, berufe ich mich auf zwei Quellen. Einerseits auf Christoph Wirsungs"Arzneybuch, darin alle aeusserliche und innerliche Glieder des menschlichen Leibs, mit IhrerGestalt, Eigenschaft und Würckung beschrieben werden, darbey vom Haupt an bis zun Fersenverzeichnet, ....".3 Das Buch stammt aus der Dürerzeit und ist eines der ersten großendeutschsprachigen Arzneibücher mit einem Anspruch auf anatomische Darstellung. Es ist innerhalbvon fünfzig Jahren, zwischen 1568 und 1619, in neun Auflagen erschienen und wird bis zum Endedes achtzehnten Jahrhunderts in Testamenten immer wieder als Besitz genannt. Andererseits nehmeich Caspar Bauhins lateinisches "Theatrum Anatomicum", das 1590 zuerst erschienene

3. Wirsung Christoph, Arzney Buch, darinn werden alle aeusserliche und innerliche Glieder desmenschlichen Leibs beschrieben. Heidelberg 1568.

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Standardwerk des Basler Anatomen.4 Dieses "anatomische Theater" ist ein für den gelehrtenMediziner bestimmtes fachsprachliches Compendium.

Wirsung spricht im vierten Kapitel von "Gromen oder Hoden". Er sagt: "etliche nennen dieseGlieder züchtig die Gemechte, welcher Namen sich auf ... die Geburtsglieder beider Geschlechterstrecket ... in Mannen hangen sie außerhalb des Leibs, in erst beschriebenen Säcklin, ... seindkeiffes Fleischs, rund, etwas länglicht, ... Des Weibsbild seind inwendig, zu beiden Seiten an demAnfang des Mutterhals geheftet."5 Es besteht also eine strenge Homologie zwischen den Geilen inihren Bälglein oder Säcklein, die der feinen Zubereitung des Blutes zum Samen bei Mann und Fraudienen. Hören wir Wirsung weiter: "Das weiblich Glied, oder Scham ... das hat auswendig wenigerAnzeigen dann das männlich. Inwendig aber ist es vast wie dasselb gebildet. Der Mutterhals istanstatt der Ruten ..." Und einige Kapitel weiter heißt es zum gleichen Thema: "Wo Du nun dieseMutter samt ihren Anhängen besichtigst, so vergleicht sie sich mit allem dem männlichen Glied,allein daß dies ausserthalb, das weiblich aber inwendig ist."

Bei diesem Text fällt heute zu allererst auf, wie stark die Entsprechung zwischen männlichenund weiblichen Geburtsgliedern betont wird. Primär ist die morphologische und die funktionelleGleich-gültigkeit der beiden: beide haben Geilen, also Gromen, testes oder Hoden und diese sind beibeiden die Werkstatt des Samens, der bei beiden aus dem Blut verfeinert wird. Auch in ihreminneren Geblüt gleichen sich Mann und Frau. Beide müssen regelmäßig Blut entlassen, wenn auchnicht mit derselben Periodizität: Frauen in jedem Mond, Männer im Quartal aus der goldenen Aderoder durch Aderlass.6 Zeugnisse dafür finden sich noch in Krankengeschichten des frühen 18.Jahrhunderts. Auch der Eisenacher Arzt Johann Storch, dessen "Weiberkrankheiten" aus den Jahren1719 bis 1741 ich untersuchte, beobachtet das "Bluten" von Männern: er notiert, um ein Beispiel zunennen, wie am 17. April 1732 die "goldene Ader" eines vollblütigen Mannes "stockicht" wurde undder Patient sich darauf so elend fühlte wie sonst die Frauen bei einer "Verstopfung desMonatlichen".7

Wir sehen also, wie die Geschlechter sich in der morphologischen Ausstattung gleichen: beidehaben eine "Rute", wenn auch die eine ein dreidimensionales innerliches Spiegelbild der anderen ist.Bemerkenswert ist, daß Mann und Frau einander so als "Umstülpung" gegenüber stehen, wie es sichauch bei Bauhin, unserem zweiten Text nachlesen läßt: "Alle Teile des Mannes finden sich in denender Frau, aber in einer anderen Lage."8 Und weiter: "Wenn man die Geburtsglieder in ihrem Baunach ihrer Zusammensetzung, Größe und Ausbildung der Gestalt hin mit aufmerksamen Geist

4. Bauhin Kaspar, Theatrum anatomicum. Frankfurt/Main 1621.5. Dieses und die folgenden Zitate: Wirsung (1568), Kapitel 4, S.254ff. und Kapitel 19, S. 415ff.6. Dazu die gründliche Untersuchung von Gianna Pomata, "Uomini mestruanti. Somiglianza e differenzafra i sessi in Europa in eta moderna." Quaderni Storici 79: 51-103.7. Duden Barbara, Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen. Stuttgart 1991,S.132ff.8. Bauhin (1621) Buch 1, Kapitel 23, S.111.

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bedenkt, so wird man gewahr, daß Galenus recht hat, daß sie wunderbar sind, daß alle Teile, die dieMänner haben und was auch immer es im Manne gibt, sich in der Frau befinden, weil sie auch alsMensch geboren ist ... und sie weichen nur in einem ab, daß in den Frauen dasjenige inwendigbeschaffen ist, das die Männer außerhalb des Unterbauches tragen - was ja auch bei den Augen derMaulwürfe der Fall ist", die - und das ist nun mein Kommentar, wie jedermann weiß nach innengucken, da ja diese Tiere unter der Erde leben. Wie Mann und Frau und Rechts und Links undMakro- versus Mikro-kosmos, so werden eben auch die Augen über und unter der Erde inUmstülpungen gedacht.

In Analogie muß auch der Hodensack verstanden werden. So steht es wenige Zeilen weiter:"Die weibliche Mutter -- damit meint Bauhin das, was man heute den "Uterus" nennt -- wird vonGalenus dem männlichen Sack gleichgesetzt, wie wenn der Sack eine nach außen gestülpteGebärmutter sei. Der Hals der Mutter nimmt ja den Platz der Rute ein, und da ja Mutterhals undMannesglied gebührlich derselben Länge sind, kann durch ihr Hin und Her-Reiben der Samen beidersich in dasselbe Gefäß ergießen." So skabrös diese Details uns heute auch erscheinen mögen, wirdürfen ihre historische Tragweite nicht übersehen. Galenus, der von Bauhin zitierte römische Arzt,war eine jahrhundertelang unangefochtene Autorität. Die Homologie von Mann und Frau, die er wieschon vor ihm die griechischen Ärzte beschrieb, blieb vorstellungsbildend. Im ersten modernenAnatomiebuch, der "Fabrica" (1543) des Vesalius wird die Mutter mit Scheide und Scham demmembrum virile täuschend ähnlich abgebildet.9 Diese Homologie war nicht so sehr medizinischesFachwissen, sondern sie war grundlegend für die Selbstverständlichkeiten einer sehr langen Epoche,in der die Welt in der Homologie von Mikro- und Makrokosmos gelebt wurde.

Deshalb ist es wichtig, daß Bauhin, der sich am Ende des 15. Jahrhunderts in der Anatomie vonGalen abzusetzen beginnt, doch in seiner Kritik noch tief beim Gleichen bleibt, wenn er schreibt:"Ich bin eher geneigt zu sagen, daß der weibliche Mutterhals dem männlichen Beutelhals entspricht(collum uteri, collo scroti respondere) und der männliche Penis dem weiblichen Penis, den einigeauch Clitoris nennen". "Die weibliche Rute, die der lustvoll zu berührende Teil ist (quod est lascive),ergießt ebenso wie der männliche seinen Samen."10

Was mich an dieser Korrektur von Galen durch Bauhin und seine Zeitgenossen fasziniert, istdie grundlegende Identität der kritisierenden mit der kritisierten Anschauung: ob mit den AugenGalens oder Bauhins gesehen wird, ob also der Mutterhals den Penis schafft und die Scham derEichel gleichgesetzt wird oder ob die Analogie zwischen Penis und Clitoris hergestellt wird, es bleibtdasselbe Vor-Urteil, das den Blick bestimmt: was Mann und Frau unterscheidet ist nicht dieVerschiedenheit sondern die Inversion. Die sogenannte "Entdeckung der Clitoris" verbleibt in derganzen frühen Neuzeit in derselben Tradition, die wir bei Hildegard von Bingen im zwölftenJahrhundert, bei der einzigartigen schreibenden Hebamme Louise Bourgeois im siebzehnten und

9. Fabrica (1543) Buch 5, Figur 27.10. Bauhin (1621) Buch 1, Kapitel 23, S.111.

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noch in den Enzyklopädien des achtzehnten Jahrhunderts finden. Man braucht nur einmal dieentsprechenden Wörter -- penis muliebris, weibliche Scham, Geburtssame oder Geilen -- in JohannHeinrich Zedlers "Grossem Vollständigen Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste"nachzuschlagen, um sich vom zähen Überdauern dieser Analogien bis in die erste Hälfte des 18.Jahrhunderts zu überzeugen.

Bis zur Entstehung der "Biologie" Anfang des 19. Jahrhunderts blieb derGeschlechtsunterschied die Grundmetapher für Analogie. Alles auf der Welt konnte in einemMann/Frau Verhältnis verstanden und dieser Bezug sinnhaft und bedeutungsträchtig durch eineentsprechende Metapher gedeutet werden. Bis zum Ineinanderfallen von Makro- und Mikrokosmosin einem neuen, wissenschaftlichen Naturverständnis begründete das ganz Andersartige diewesenhafte Zusammengehörigkeit und diese schuf ihrerseits die Möglichkeit komplementärerDissymmetrie, die wir nach Jan Swammerdam, einem Zeitgenossen Harveys, "in den kleinstenPartikeln des menschlichen Körpers als unfassliche Weisheit des Schöpfers ... mit den Händenertasten können."11 Die Überzeugung, daß der Geschlechtsunterschied nicht als Differenz, sondernals Analogie verstanden werden muß, galt noch lange als Leitmotiv. Jan Swammerdam zumBeispiel, der schon 1680 zu fassen suchte, daß die "weiblichen Geilen" als Eierstöcke verstandenwerden müssen, schreibt: "Nichts, was in der Gebärmutter ist, ermangelt desBewunderungswürdigen und doch scheint es dem Ohr anrüchig und dem Blick wundersam, wennwir sagen, daß Frauen Eierstöcke haben und wie andere Tiere Eier legen" (ova ponere).12 Trotz derumstürzenden Einsicht durch die Linsen des Mikroskops blieb das Leitbild der Umstülpung noch einJahrhundert wirksam und es bestimmte auch die Deutung der Entdeckung von Eierstöcken, Tubenund der Clitoris.

Aus dem eben Gezeigten sollte klar geworden sein, daß das Wesen des körperlichenUnterschiedes zwischen Mann und Frau sich von Epoche zu Epoche grundlegend verändert hat.Natürlich ist es interessant zu verfolgen, wie vielfältig jener polare Unterschied zwischen Mann undFrau, der sich seit dem letzten Jahrhundert durchgesetzt hat, heute hormonal, psychoanalytisch,soziologisch, anthropologisch, ja theologisch verstanden wird. Ein zweites und anderes ist es, zuuntersuchen, wie in jeder dieser Perspektiven sich die Charakteristika verändert haben, die Mannund Frau bestimmen -- bis hin zum Progesteron und XX und XY-Gen. Etwas drittes und nochmalsganz Anderes ist es, die Frage zu stellen, die ich in die Diskussion bringen möchte. Diese Frage kannnur aus einer historischen Perspektive und mit dem Blick aus dem 18. Jahrhundert gestellt werden.Es ist die Frage danach, wie anders als heute in der Vergangenheit nicht die Eigenschaften vonMann und Frau, sondern der Begriff und das Erlebnis des Unterschiedes zwischen den beiden gefaßtwurde. Darin sehe ich die Aufgabe meiner historischen Körperforschung: nicht so sehr die unszugewandte Seite der Vergangenheit, an der sich die Fortschritts- und Entdeckungsgeschichte derMedizin orientiert, sondern die uns abgewandte Rückseite des Vergangenen bestimmt meinen

11. Swammerdam Jan, Miraculum naturae sive uteri muliebris fabrica. Leiden 1672, S.1.12. Swammerdam (1672) S.19.

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Versuch, das Gegenüber von Mann und Frau damals zu begreifen und so, bei meiner Rückkehr indie Gegenwart, eine untergegangene Dualität im Bewußtsein zu behalten. 13

So gesehen führt das Thema der Geschichtlichkeit der Körper in ein Neuland hinein. Es mündetzwangsläufig in eine Geschichte des Unterschiedes im Laufe der Neuzeit, die sich an Hand derGegenüberstellung von Mann und Frau schreiben läßt. Dazu muß die historische Kategorie desUnterschiedes als solche thematisiert werden. Das läßt sich vielleicht tun, indem man RodneyNeedhams Begriff der polythetischen Klassifikation heranzieht.14 Wir haben ihn schon vor Jahrenauf "Frau" in der Geschichte angewendet. Am besten läßt sich bei dieser Gelegenheit derNeedhamsche terminus technicus in einem Bild fassen: eine polythetische Klasse ist wie einHanfseil: nehmen wir nur ein kleines Stück aus dem Seil heraus, so finden sich sicherlich vieleHanffasern, die länger sind als dieser Ausschnitt und die Kontinuität mit dem Tau gewähren. Wennwir aber einen ganzen Meter aus dem Seil schneiden -- um im Bilde zu bleiben, eine ganze Epocheüberspringen -- dann kann es keine einzelne Hanffaser mehr geben, die hüben und drüben verankertist. So ist es wohl auch mit der Kategorie "Frau": wie ein Seil zieht sie sich durch die Geschichteund unterscheidet sich vom anderen Seil im Tau, das für "Mann" steht. Aber wenn wir die beidenKategorien an zwei voneinander genügend entfernten Punkten untersuchen, so bleibt keinCharakteristikum, das hüben und drüben verbindet.15

Diese Einsicht hat sich in Bezug auf das "soziale Geschlecht" im Laufe des letzten Jahrzehntesbei vielen von uns durchgesetzt. Als Körperhistorikerin sehe ich es als meine Aufgabe, dieseEinsicht auch auf das Erlebnis des Körpers zu beziehen. Nur zu oft geschieht es aber, daß derKörper auch vom Historiker als eine biologische Gegebenheit hingenommen wird. Der Historikerräumt wohl ein, daß das Denken über den Körper damals anders gewesen sein mag. Er weiß, daß dieVorstellung vom Körper, die Form seiner Abbildung, seine Gestaltung durch Haltung, Arbeit undKleidung große Variationen aufweisen. Aber irgendwie fließt dann doch unterschwellig dieAnnahme ein, daß der Körper in seiner Faktizität auch im 18. Jahrhundert hormonal, sexuell unddurch primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale gleichbleibend erlebt wurde. An dieserSelbstverständlichkeit wollte ich rütteln. Gerade die Medizingeschichte des 18. Jahrhunderts könntedazu beitragen, unsere Vorstellungen über das Geschlecht im Leib auf eine geschichtliche Grundlagezu stellen. Sie könnte einen Beitrag leisten zum epochalen Umbruch in der Struktur der

13. Schon vor einem Jahrzehnt hat Ivan Illich, Genus. Zur historischen Kritik der Gleichheit. 2.Aufl.München 1994 die sich gegenseitig konstituierende dissymetrische Komplementarität von Frauen undMännern als Grundlage des Weltverständnisses und jeder Analogie gezeigt. Zur Logik dieserKomplementarität siehe auch G.E.R.Lloyd. Polarity and Analogy. Two types of argumentation in earlyGreek thought. Cambridge 1966.14. Rodney Needham, "Polythetic classification: Convergence and consequences." Man 10,3 (1975): 349-369.15. Gianna Pomata hat zuerst die Anregung Needhams im Bild des Seiles gefaßt und für dieFrauengeschichte als Kategorie vorgeschlagen, lange vor der "Dekonstruktion" der "Frau", in: GiannaPomata, "Die Geschichte der Frauen. Eine Frage der Grenze." Feministische Studien 2 (1983): ...; sieheauch: Barbara Duden, "Anmerkungen zu neuer Literatur in der Körpergeschichte." Feministische Studien9, 1 (1991): 105-122.

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Barbara Duden: Die männliche und die weibliche Rute: Verkörperungen des Unterschieds 21

Unterschiedenheit und zur Erlebnisgeschichte der historischen Kategorie des Unterschieds. Derbisher medizinhistorisch wohl dokumentierten Entdeckungsgeschichte der "Biologie der Frau" säheich gerne Studien zur Seite gestellt, die nach der Umformung des Erlebnisgehaltes vom Gegenüberfragen. Die Geschichte der Hetero-somatik, der tiefen Andersartigkeit des alten und des neuenGeschlechtskörpers als Echo des Erlebens steht noch aus.16

16. Thomas Laqueur, Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bisFreud. Frankfurt/M. 1992 schrieb eine Geschichte der historischen Variation von "Modellen desGeschlechtsunterschiedes" seit der Antike. Seine ebenso kürzschlüssige wie griffige Modellbildung verfehltdie Einsichten in die tiefe Geschichtlichkeit des erlebten Körpers. Zur Kritik Duden (1991)S. 120ff.

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1.3

Mit diesem Beitrag möchte ich auf die Macht des Körpers aufmerksam machen: auf dasWissen um, das Vertrauen auf diese Macht, die Anerkennung dieser Macht in einer Unzahlvorindustrieller Gesellschaften, und schließlich auf die in der Mächtigkeit des Frauenkörpersbegründete, weit verbreitete Angst vor mächtigen Frauen. Ich bin mir dessen bewußt, daß ich damiteinen Topos in der Frauenforschung gegen den Strich lese. Nicht nur das Bluten und Fluchen vonFrauen traf, mehr vielleicht noch ihr Blicken. Der Böse Blick und das Grauen vor ihm kann uns dieMächtigkeit des Körpers ahnen lassen, die heute nicht, oder nur ausnahmsweise im Traum, imIrrenhaus oder in Star-War-Girls angesprochen wird.

Bei einem Treffen von Phänomenologen hatte ich Gelegenheit, auf die Geschichtlichkeit desAuges aufmerksam zu machen, und, am Beispiel weniger Geschichten, die Frage untergegangenen"körperlichen Wissens" aufzuwerfen.

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Duden: Der Böse Blick und das Wissen um die Macht der Augen 23

1.3 Der böse Blick und das Wissen um die Macht der Augen

Seit einigen Jahren wird in Frauenkreisen über Sinn und Unsinn des Ultraschalls in dermodernen Schwangerschaftsüberwachung diskutiert, aber keine der beteiligten Diskutantinnenbringt dabei die Frage ins Spiel, die mir vordringlich erscheint: die Umformung der Sinnlichkeitdurch diese Technik. Denn die moderne Schwangerschaft ist einzigartig durch Techniken derSichtbarmachung geprägt. Deshalb begann ich, mich mit diesen Techniken kulturwissenschaftlichzu befassen: ich studierte den Ultraschall, das Elektronenmikroskop, die graphischeVeranschaulichung von statistischen Häufigkeiten und zwar nicht im Hinblick darauf, was dadurchsichtbar gemacht wird, vielmehr richtete ich mein Augenmerk auf die neuartige klinische Situation,in der heute, rituell Frauen lernen, ihren Leibesinhalt nicht zu fühlen, sondern auf einem Bildschirmzu betrachten. Im Blick der Schwangeren auf ihr Ungeborenes am Bildschirm vermischen sichheterogene Wirklichkeits- und Sinn-sphären: Als Bildschirmvisualisation ist der Fötus die"bildhafte" Darstellung von "Dichtigkeiten", die nach den Gesetzen der Physik -- Masse:Ausdehnung -- registriert wurden; als "Baby" ist das "Gesehene" die Herzenssache einer Frau.Einerseits sieht die Frau eine "wirkliche" Welt, andererseits schaut sie in einenwahrnehmungsfremden, vom Standpunkt der Betrachtenden abgetrennten, technisch manipuliertenRaum hinein, in dem einem Etwas in ihrem Inneren technisch Gestalt gegeben wird. Das "Gesicht"der Frau, ihr Gesichtssinn wird dazu eingesetzt, über eine Schwelle hinweg in ein Sichtfeld derregistrierten und digitalisierten Daten hinein zu "sehen". Das Auge wird verwendet, um zu "sehen"was ihm gezeigt wird und zu erkennen, was die Legende oder die Stimme des Arztes dazu sagt.

Diese moderne Blickübung fordert die Historikerin heraus, und so kam ich zur Untersuchungvon gegenwärtigen und vergangenen Blickformen: zur Geschichte des Gesichtssinnes, seinerPrägung, Formung und Lenkung und insbesondere seiner Stellung im Zusammenhang der Sinne.Wonach ich zu suchen begann ist die Geschichte der Opsis, des Blickens, im Unterschied zur Optikals Studium des Lichtes. Bewußt stelle ich die beiden Begriffe gegeneinander: mit Opsis meine ichdie Sehgewohnheiten, die täglich eingefleischten Weisen und Formen des Blickens als einerTätigkeitsform des Auges; Optik dagegen nennt man die Lehre vom Licht und der Lichtbrechung.Mich fesselt die Geschichte der Opsis, also des Blickens. Ich versuche über die Epochen der Skopik,des Blickens auf einem neuen Weg an die Epochen der Somatik, also des erlebten Körpersheranzukommen. Was war und was ist heute ein Blick?1

1. Zu diesem mit Ivan Illich begonnenen Projekt, siehe Ivan Illich, Die Askese des Blicks im Zeitalter der Show-Interface. In: Interface II. Weltbilder - Bildwelten, hg. von Klaus P.Dencker. Hamburg 1995, S.206-223; BarbaraDuden und Ivan Illich, Die skopische Vergangenheit Europas und die Ethik der Opsis. Plädoyer für eineGeschichte des Blickes und Blickens. Historische Anthropologie 3, H.2 (1995):203-221.

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Sofort stellt sich die Frage nach der Gleichzeitigkeit von Blick-Formen, die Frage also nach derUngleichzeitigkeit, der A-synchronie, mit der sowohl das materielle Objekt wie die Haltung zu ihmsich wandeln können. Durst kann schon jahrelang zu einer Forderung nach CocaCola verwandeltworden sein, bevor die Haltung zum kalten Trunk sich geändert hat. Ich denke da an dieMexikanerin, die das Pepsie -- das sie mittags nicht hatte mit mir teilen wollen -- erst am Abendannehmen konnte, als ihr Blut schon gekommen war. Eine Frau, die übrigens vom Verkauf von junkfood und soft-drinks in ihrem Verschlag lebte; sie sah und schmeckte doch nicht dasselbe wie ich.Zäh überleben sinnliche Erlebnisformen und Wahrnehmungsmuster die Umwelt, in der sieentstanden sind. Aus den verschiedenen historischen Blickformen ist der "böse" Blick besondersgeeignet, um auf zäh überlebende Relikte einer vergangenen Körperlichkeit aufmerksam zu werden.

Thomas Hauschild formuliert sehr klar, worin die Schwierigkeit liegt, um an solche Formen desTuns und des sinnlichen Wahrnehmens heranzukommen, wenn sie jenseits der medial vermittelten,technogenen, warenförmigen Standardisierung liegen, zu der wir gehören, wie diese zu uns. Wenn ervom "Bösen Blick" spricht, dann meint er, daß nicht so sehr die Sprache der Blicke verlorengegangen ist, sondern eine gewisse Form des Wissens um sie.2 Die Volks- und Völkerkundlerdiskutieren Theorien von den bösen Blicken, aber das Wissen um das "wie" er ist, darüber weißniemand von uns Bescheid. Das stimmt auch für mich: Deshalb beginne ich mit einem Erlebnis:

Vor 17 Jahren ist mir auf der Fahrt mit meiner alten Tante in einem gemieteten klapprigenVolkswagen von Ciudad Altamirano nach Zihuatanejo -- in Mexico -- das Benzin ausgegangen.Man hatte uns vor der Reise auf diesem Karrenweg, weit von jeder Autobahn entfernt, dringendabgeraten. Die Berge waren damals eine Art Aufmarschgebiet im Drogen-Krieg. Es war dichterNebel, es fing an zu dunkeln und als endlich hinter einer Wegbiegung ein paar Häuser auftauchten,wurden wir von einem Haufen bewaffneter Soldaten gestellt. Da merkte ich die Angst vor denMännern bei meiner anarchistischen und immer sturen Tante: denn ungleich mir konnte sie beiUniformröcken einfach nur an Vergewaltigung denken. Meine Tante war 1907 geboren und hatteden 2. Weltkrieg erlebt. Nun, in dieser Stimmung traf ich die Frau, von deren Blick ich erzählenmöchte. Denn bis heute ist der mir unheimlich geblieben.

In jener Klemme -- Nebel, Soldaten, einfallende Nacht -- war mir eines klar: jetzt brauche icheine Frau. Wie finde ich die? Wo? Es muß hier einen Laden für Lebensmittel geben und dort ist mitSicherheit eine Frau. Eine offene Tür konnte ich sehen und ansteuern. Wortlos überblickte undordnete Doña Inez die Situation, und lud uns zum Schlafen ins Hinterzimmer.

Abends, bei einer Schüssel Bohnen, habe ich etwas von schmunzelnder Geringschätzunggespürt. Die Frau hatte bei unserem Auftauchen meinen verstörten Blick bemerkt, dessen ich michgelegentlich bis heute schäme. Ich wollte von ihr wissen, ob ihr "so etwas" passieren könnte? Sie

2. Thomas Hauschild, Der Böse Blick. Ideengeschichtliche und sozialpsychologische Untersuchungen. Berlin1982, S.7.

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verstand mich gleich und ihr Lachen war mir fast unangenehm. Langsam kam sie damit heraus:"Mir nicht! die Leute fürchten meinen Blick! Der hätte nie wieder einen hoch gekriegt." Plötzlichwußte ich, daß die das kann. Daß die da das kann, und ich ..... nicht. Damals begriff ich in denSinnen, was bis dahin bestenfalls ein Begriff in meinem Kopf gewesen war.

Das war in einem mexikanischen Bergnest vor siebzehn Jahren. Diese machtvolleAugentätigkeit ist ein alteuropäisches Phänomen, an dem das Messer des Historikers stumpf wird.Für den bösen Blick -- und der geht von den Haarspitzen zu den Zehenspitzen, der sitzt nicht nurrechts und links von der Nase - gibt es im Gegensatz zur Wissenschaftsgeschichte der Optik, in dersich die Historikerin an den Brückenköpfen der großen Autoren orientiereren kann, keinen rotenFaden der Chronologie. Wir stehen vor einem Magma, vor einem zähen Strom von Motiven undGeschichten. Als Zeugen für die Macht des Auges könnte ich Homer heranziehen, Plutarch, Konradvon Megenberg, die Bußbücher des Hochmittelalters, Gerichtsquellen des 17. Jahrhunderts oderCarlo Levis Christo si e fermata a Eboli.3 Levi spricht von der Furcht des Intellektuellen vor demscheelen Blick des alten Weibes.

Hauschild hat bewundernswert die Ablösung der Sache in den verschlungenen Wegen derSchrifttradition verfolgt und er hat die, darauf aufbauende, wissenschaftliche Interpretation auf demweiten Spektrum zwischen psychologischen, sozialanthropologischen, symbolanalytischen undsozialpsychologischen Theorien zum Gegenstand seiner Untersuchung gemacht. Als Historikerin deserlebten Körpers und der sinnlichen Wahrnehmung gehe ich anders an die Sache heran. Ich suchenach der A-synchronie in der Geschichte des Auges, in der wir eine ungeheure Spannung in derhistorischen Wandlung des Objektes und der Haltung zu ihm beobachten können.

Zunächst müssen wir uns vor Augen halten, daß der böse Blick in der Volkskunde zu dem nachund nach zum "Aberglauben" verfilzten Unterfutter der Fortschrittsgeschichte der Optik gemachtwurde. Das taktile Auge, das beim Öffnen der Augenlider tätig eine Emanation entläßt, war einRelikt der antiken "Sehstrahltheorie", denn das Blicken, sei es segnend, heilbringend, böse,schaulustig oder staunend wurde bis in das frühe 17. Jahrhundert auch von seiten der gelehrtenAstronomen und Anatomen als ein aktives Ausstrahlen mit respondierender Wirkung verstanden --und wohl auch so erlebt. Ein Hinausgreifen und Be-atmen durch das Auge. Mit "Sehstrahl" meineich also jenen Erguß aus dem Auge, der "für zwei Jahrtausende den konzeptuellen Rahmen fixierthat, innerhalb dessen sich die Problematik der Optik bewegte".4 Wie ein Fossil aus der Archäologiedes Gesichtssinns lebte dieser ergießende Blick weiter, trotz der Neudefinition des Auges weg vomSinnesorgan und hin zu einem optischen Dispositiv, einer Dunkelkammer gleich, auf derenRückwand passiv, also ohne Zutun des Schauenden, ein Bild der Außenwelt projiziert wird;Johannes Kepler wird diese Entdeckung des Netzhautbildes zugeschrieben. Kepler "de-

3. Carlo Levi, Christus kam nur bis Eboli. München o.J. Zu den älteren Autoren, siehe die große Sammlung vonSiegfried Seligmann, Die Zauberkraft des Auges und das Berufen. Amsterdam Nachdr.1922.4. Gerard Simon, Der Blick, das Sein und die Erscheinung. München 1993, S.

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anthropomorphisierte den Blick"5 in einer Forschungsstrategie, die Schule machen sollte und diestreng die Opsis von der Optik abtrennte. Die Welt wurde fortan visuell unberührbar, denn siebildete sich mit Licht und Farbe in einem toten Auge ab.

Dieses passive Modell des Sehvorgangs, aus dem das tätig schauende Subjekt getilgt war, istaber nicht nur Wissenschafts- sondern eben auch Erfahrungsgeschichte. Louis Marin und SvetlanaAlpers sprechen vom "neuen Sehen" als mechanischer Fabrikation eines Bildes, das Resultat einermomentanen Registrierung der Lichtstrahlen auf der Fläche der Retina. Der Augenstrahl wurde vonder Physik des Lichtes abgelöst und aus dem wäßrigen, sinnenempfindlichen Kristallkämmerlein imInnern des Auges, das zum Verdauen der visibilia gedient hatte, wurde die Linse, die das Lichtbricht. Aus der durchgeistigten Einverleibung der Welt über das Auge wurden schließlich jeneintrazerebralen chemischen Prozesse, in denen die Nerven visuelle Stimuli übermitteln. Das soschrittweise entkörperte moderne Auge war damit grundsätzlich entmächtigt, einen bösen Blick zuwerfen. Mit Kepler begann und mit Descartes radikalisierte sich die epistemische Entmachtung desAuges durch die Wissenschaft, die heute technisch durch Schirmbild, Bildschirm und digitalisierteVisualisationen einen Höhepunkt erreicht. Und doch, so gründlich der böse Blick im Rahmen derEntdeckungs- oder Erfindungsgeschichte der Optik getilgt und ins Unmögliche und deshalb"Abergläubische" verrückt wurde, in der Opsis, im Tun blieb er gelebte Tatsache, auch wenn fürviele Menschen die Sache nicht mehr eigentlich existiert: mitten im 20. Jahrhundert in Süditalienebenso wie bei Dona Inez in einem mexikanischen Bergdorf oder 20 km westlich von Dijon in Minotin Burgund zur Zeit der französischen Studentenbewegung.

Der böse Blick ist also ein gelebtes Relikt eines untergegangenen Körpers. Er überlebte alsTätigkeit, aber nicht mehr als Wissen. Dieser Blick ist das Relikt eines Auges, das mit dem Körper,mit der Person und der Außenwelt verbunden war. Verschiedene Traditionsschichten bekräftigtendiese Blickweise: das Feuchte oder Luftige des Gesichtssinnns, dessen Strom mit den Körpersäftenin Osmose stand; die Verwandtschaft zwischen tätigem Blicken und dem erblicktem Objekt, dieSympathie also zwischen Auge und visibilia; die erfahrene Angst und die eingeübte Abwehr desBlicks; die Macht des Auges im sozialen Gewebe, denn mit einem scheelen Blick vergifteten Neid,Gier, Mißgunst, Haß; schließlich, ich befremdete mich daran bei Dona Ines, der innere Konnexzwischen dem Auge und den Flüssen des Körpers.

5. Svetlana Alpers, Kunst als Beschreibung. Die holländische Malerei im 17. Jahrhundert. Köln 1985, S.79ff. zuKepler; siehe auch: Louis Marin, De la representation. Paris 1994, S.241: die camera obscura wird zum Modellfür die naturalistische Malerei bei den niederländischen Malern und zum Modell des Auges bei Kepler. Keplerfaßte den Blick als eine Form der Bilderfassung; "ein Bild, pictura der gesehenen Sache auf der Konkaven Flächeder Retina'". Damit entstand eine Theorie des Blicks als Replikation oder Duplikat der Sache. Alpers behauptet,es sei die Strategie Keplers gewesen, das "Auge zu de-anthropomorphisieren", ein passives Modell des Auges zuentwerfen, aus dem jedes handelnde Subjekt getilgt wurde, eine positivistische Konzeption des Sehens alsmechanische Fabrikation eines Bildes, das passive Resultat des momentanen Registrierens der Lichtstrahlen aufder Oberfläche der Retina.

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Mitte der siebziger Jahre hatte ich mich mit dem Bösen Blick in Friuli befaßt. Ein Artikel deritalienischen Historikerin Luisa Accati hatte mich beeindruckt, weil die Quellen, aus denen in diesemForschungsbericht die soziale Bedeutung des bösen Blicks im 17. Jahrhundert rekonstruiert wird,ausschließlich Gerichtsakten sind.6 Da stehen Frauen vor Gericht und werden verurteilt, weil sie mitden Augen, mit dem Monatsblut, mit der vulva Macht ausgeübt hatten. Vor dem Pfarrer alsverlängertem Arm der Inquisition sagten 1645 mehr als zwei Dutzend Frauen aus, die dasWirkvermögen ihres Körpers eingesetzt hatten. Da erscheint die Madalina Del Conte aus Brazzanound sagt aus, sie habe die Zannuta dazu gebracht, nackt ein 'cavallo di bigonzo' zu besteigen, imMorgengrauen ums Feld zu reiten und mit flehender Stimme zu rufen: "fui, fui, ruie e il mio con timanguie." Damit habe sie die Heuschrecken vom Feld vertrieben. Ihre Mutter habe es ihr gelehrt.Eine andere, die Svalda, beichtet dem Pfarrer in allen Details von diesen Beschwörungsworten: "sieist mit hochgehobenen Röcken herumgegangen und hat dabei die Schamteile entblößt zur Schaugestellt, um die Heuschrecken zu verjagen, welche im Feld Schaden anrichteten, indem sie sagte:"Flieh, flieh Heuschreck oder meine Scham frißt Dich." Louisa Accati zeigt mit diesen Quellen, wiedie Frauen mit ihrem Körper Kräfte entbanden, denn dieser Frauen- Körper hatte Macht: dieentblößte Vulva, die Flüssigkeiten des Körpers: Spucke, Blut, Kot, Atem und eben auchselbstverständlich das Auge, das unheimlich von drinnen nach draußen wirkte. Denn der Blick warmit dem Atem verschwistert, das Auge mit den Feuchtigkeiten oder dem Feuer verwandt, es hatteeine leuchtende oder wäßrige, blitzende oder zersetzend-blutige Natur. Das war im 17. Jahrhundertnoch gelebtes Wissen - nicht "Glauben" sondern Erfahrung aus der Archäologie des Auges, desBlutes und des Körperinneren.

Mit einem dritten Beispiel will ich das zähe Überleben dieses blutigen, taktilen Blicksunterstreichen. Bekanntlich trat das Monatsblut der Frauen durch die Augen als giftiger Hauch ausund fraß und zerstörte, was angeblickt wurde. Von Plinius klassischen Belegen in derNaturgeschichte7 über einen Strom schriftlicher Zeugnisse bis zu den Gesten und Worten der Frauenvon Minot, die Yvonne Verdier in Facons des dire, facons de faire im Ritus des Dorfes untersuchte.Die Blicke der blutenden Frau zersetzen, was sich binden soll, sie zerstören den Zusammenhalt vonElementen, die sich durch Fusion in einen anderen Aggregatzustand verwandeln sollen. Die Sphärendes Reifenden, des Haushälterischen, des Kostbaren, des Nährenden sind durch sie bedroht. Ähnlichwie das in der Augenaura vermittelte Menstrualblut auf das Pökelfaß, den Wein und die Milchwirkt, so wirkt der böse Blick auf den Menschen, der von ihm getroffen wird.8 Hereingeholt und

6. Louisa Accati, Lo spirito della fornicazione: virtu dell'anima e virtu del corpo in Friuli, fra 600 e 700. Quadernistorici 41 (1979):644-672.7. Selections from the History of the World, commonly called The Natural History of C.Plinius Secundus, hg. vonPaul Turner. Carbondale Ill.1962, Buch 7 zum giftigen Menstrualblut. Plinius der Ältere berichtet in seinermonumentalen Sammlung von antikem Volkswissen von den verderblichen Ausgießungen der Frauen; der Blickder Menstruierenden ist giftig, trübt und durchlöchert Spiegel, denn das Monatsblut sondert schlechte Säfte ab,die das Blut schwarz und dick machen; der Dunst steigt in die Augen und strömt beim Öffnen der Lider aus.Wenn dieser Blutdunst auf die Oberfläche eines Spiegels fällt, frißt er ihn an; dieser Blick bringt den frischenWein zum Umkippen und verstockt den Teig. Die Milch junger Mütter wird stockig.8. Yvonne Verdier, Drei Frauen. Das Leben auf dem Dorf. Stuttgart 1982.

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"verinnerlicht" wird er durch die Augen des Angeblickten: wenn der üble Dunst durch dieAugenöffnungen dringt, gelangt er in das Herz der angeschauten Person, verwundet es, vermischtsich mit dem Herzblut und strömt von da weiter ins Blut der befallenen Person.

Nun wurde nicht nur den blutenden Frauen ein solcher Blick nachgesagt, sondern überhauptMenschen, deren Herz und Sinn durch Zorn, Eifersucht, Neid und Begierde affiziert war. Im altenKörper der Säfte hatten derartige Gefühle ihren Sitz - nicht in einer entkörperten psychischenInstanz wie dem "Überich" oder "Unbewußten" - sondern in der Krasis der Säfte. DasErscheinungsbild des Neiders mit seinen eingefallenen Wangen und dem stechenden Blick hatte eininneres Korrelat: Neid war giftig, er verdarb die Säfte. Ein Gefühl wie der Neid löste imSäftegemisch des Körpers einen Reiz aus, durch den Ausdünstungen aus dem Auge austraten undden Angeblickten anfielen. Aber auch im Neid waren es, wenn ich den Quellen folge, zumeist dieFrauen, denen das Böse aus den Augen quoll. Frauen haben den bösen Blick häufiger, "weil sie eineso zügellose Kraft der Seele zum Zürnen und Begehren haben, daß sie sich auf keine Weise im Zornund der Begierde mäßigen können".9

Nun, das war eine Anzahl von Kommentaren, Tangenten, Versuchen zum Ausgangspunkt vonThomas Hauschild:

"nicht so sehr die Sprache der Blicke ist verloren gegangen, sondern eine gewisse Form des Wissensum sie."

Die Krämerin 270 km jenseits Altamirano in der Sierra Madre Occidental, die angeklagten Frauenin Friuli, die Geschichtenerzählerinnen im burgundischen Minot - ich habe sie herangezogen, weilsie mir eine Gelegenheit geben, die Beziehung von Körpergeschichte und Sozial- undKulturgeschichte Mitte der 90er Jahre zu überdenken.

- Da sind auf der einen Seite die Kollegen, die nach dem Stellenwert jenes Auges fragen, dastrüben, treffen, lähmen, beschmutzen, kränken kann; das die Milch zum Gerinnen und das Blut zumStocken und das Gemächt zum Erschlaffen bringt. Welchen Platz nimmt es unter den Sternbilderndes vorwissenschaftlichen Blickes ein? Leicht wird der tätig-wirksame Blick so zu einem Überrestder "kalten" Kulturen, ein Überbleibsel, Schwemmgut, in dem eine versunkene Vergangenheit nochüberlebt.

- Und da sind andererseits eine Anzahl von Forschern, die von Jung oder Eliade ausgehen, obFormalisten, Funktionalisten, Religionswissenschaftler oder Strukturalisten, die das Erbgut über denbösen Blick als Vorstufe modernen Wissens über die "psychischen Mechanismen" betrachten.

9. Zit. nach:

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Mir kam es weder auf "Hü" noch auf "Hot" an. In der Art wie ich sprach, wollte ich michbetont von jeder Stellungnahme distanzieren. Denn mir kam es -- auch diesmal wieder -- auf etwasganz anderes an: die Bedingungen dessen, wonach Hauschild fragt: das Wissen im Alltag heute. Ichstehe in dieser Frage klar auf den Schultern von Autoren wie Jacques Ellul, Ivan Illich, ja GüntherAnders in der Meinung, daß es grundsätzlich im Alltag vor nur zwei Generationen kaumansatzweise etwas von den prägenden Bedingungen gab, unter denen wir heute 'wissen'.

Hauschild sagt 'Wissen' und ich bin ihm bisher gefolgt. Aber 'Wissen' läßt uns an 'Kopf'denken, phrenes, so wie dieses griechische Wort von der Anatomie belegt und reduziert wurde.'Wissen' schließt allzu leicht die Leibhaftigkeit aus, mit der auch heute noch Menschen, die einandergut sind oder die aufeinander böse sind, sich ins Auge schauen. Das Studium des Körpers heute isteine Disziplin, die unentwegt auf einer Grenze zwischen zwei Weisen der Verkörperung, zwischenzwei Sphären der Wahrnehmungsmöglichkeit balanciert. Zwei Beispiele machen das vielleicht deminneren Auge handgreiflich:

1. Als ich bei Dona Inez de la Luz auf der Soft-Drink Kiste saß, war ich fremd, sehr fremd.Aber unter den Dingen, die mich damals befremdet haben, war eine, die mir zum Leitmotiv derForschung wurde. Die Bohnen, die sie uns zu essen gab, waren auf einem Holzfeuer gekocht, einFeuer aus Stäbchen, die unter der Tonschüssel brannten, auf einem mit Lehm feuerfest gemachtenTisch in einer Ecke. Wir kennen diese Objekte aus Museen, nennen sie wohl monolithisch. Wir aßenbeim Schein einer Talgkerze. Aber nebenan saßen drei Männer und guckten in einen tragbaren,batteriegetriebenen Fernsehschirm. Sache der Körpergeschichte ist dieser Blick im Kerzenlicht,gefangen von der zittrigen, schwirrenden Digitalik auf dem Schirm.

2. Noch ein zweites Bild, ebenfalls aus Mexiko: vor einigen Jahren war eine totaleSonnenfinsternis, die man selten klar in einem 150 km breiten Streifen sehen konnte, der sich durchMexiko zog. Die atmosphärischen Bedingungen waren hervorragend: die Sonnenscheibe genau, abersehr geschwächt sichtbar durch eine Wolkenschicht. Ein Lehrer erzählte mir, was da vor sich ging.Die Kinder waren fasziniert von den alten Texten, die er ihnen auf einer Klippe sitzend vorlas. Alsaber dann der Höhepunkt der Finsternis kam, wurden die Kinder von den Eltern in die Hüttengerufen: der Staatspräsident, auf einer Pyramide stehend, erklärte am Fernsehen das Phänomenanhand von Diagrammen und Satellitenaufnahmen.

Was ging da vor sich? Schizo-phrenie? Ja, ein Bruch im 'Wissen'. Aber eher als von Schizo-phrenie würde ich von Schizo-Aisthesie sprechen, von einem Bruch, der durch die Linse des Augesläuft. Denn der Alltag, in Bremen wie in Ciudad Altamirano, fordert immer intensiver, den Seh-Vorgang als etwas zu erleben, was nur noch ein

- registrieren, aufzeichnen, ver-bilden ...- gezeigter, produzierter, geplanter, verführerisch pädagogisierender, vor Augen gesetzter

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- Konstrukte, Diagramme, Fotos, Schirmbilder- mit gesprochenem oder eingeblendetem Kommentar ist.

Andererseits sind die so 'bespielten', 'visuell unterjochten' 'gebildeten' Augen doch auch nochfähig zu treffen, zu begreifen, zu gucken und zu schauen. Das "Wissen" als ein sinnliches,begreifendes, erlebendes Wissen kann nicht ganz getilgt werden. Das heißt: die Sinne hinken nach;so wie in Bezug auf das CocaCola, mit dem ich begann, so auch in Bezug auf die Pupille, auf dasAuge des Anderen. Einerseits ist das Auge schon durch das Fernsehen angelockt, angeworben ist, inDienst genommen wird, zum rezeptiven Apparat geworden ist; es sieht auf Befehl - auf kew, wie dasin der Filmsprache heißt. Auf der anderen Seite aber überlebt etwas vom alten Augenstrahl, vomtastenden, ergreifenden, treffenden, brennenden und zerstörenden Blick. Ein zentrales Problem derKörpergeschichte, auf das ich hinweisen wollte, wäre also die Untersuchung dieser Schizo-aisthesisder Moderne.

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2. Schwangerschaft: Die gute Hoffnung und die Diagnose

2.1

Bei meinem Stöbern in alten Atlanten auf der Suche danach, wie Anatomen vormals dasUngeborene sahen, bin ich auf eine überraschende Leerstelle gestoßen. Das, was heutigentagsselbstverständlich als embryonale Form und als erstes Stadium "des Menschen" "gesehen" wird, lagjahrhundertelang im blinden Fleck: ein Wesen, das bar jeder menschlichen Proportion ist,dickköpfig, stummelarmig, krummbeinig, wurde nicht als kommendes Kind erkannt. In vieler Weisewurde in anatomischen Traktaten und Atlanten das kommende Kind gezeigt, aber niemals war derschwangere Frauenleib das Umfeld für Entwicklungsstadien des Menschen. Erst ein FrankfurterAnatom, Samuel Thomas Soemmerring hat durch eine neue Zeichentechnik der standpunktlosenVerkartung den bezugslosen, mutterlosen Föten in einen neuen Raum der a-perspektivischenObjektivität hinein geholt.

Zwei Vorlesungsreihen 1992, eine an der Universität Göttingen, die andere an der FreienUniversität Berlin zur "Frauen- und Geschlechtergeschichte" gaben mir die Gelegenheit, auf denUmbruch in der Geschichte der Frauen und der Schwangeren hinzuweisen, der durch die technischeHerstellung des "Fötus" bewirkt worden ist: Die Herzenssache der Frau, ihr kommendes Kind,erscheint hier in dem wahrnehmungsfremden, weil konstruierten Raum a-perspektivischerObjektivität.

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2.1 Die Technik der Herstellung des ersten weiblichen Föten (1799)

Vor wohl zehn Jahren habe ich begonnen, mich immer tiefer in die Geschichte des Körpers derNeuzeit einzuarbeiten. Schon damals haben Historikerinnen, die ich verehre, dieses Thema in derFrauengeschichte für abgeschlossen erklärt. "Müssen wir denn die Geschichte der Frauen bei ihremKörper anpacken?" fragte Arlette Farge 1984. Es war für sie eine rhetorische Frage, bevor sie dasThema zu den Akten legte. Die Geschichtlichkeit des Körpererlebnisses hat mich dennoch gefesselt,weil sie für mich zum Schlüssel für jenes Geschlechterverhältnis geworden ist, das sich heutetypisch im Konflikt um den Schwangerschaftsabbruch, in der Diskussion um Reproduktionsmedizinoder im sogenannten "Erlanger Baby" spiegelt. Als Baby ist das Wesen Herzenssache in Bezug aufeine Frau, der Fötus macht seine Nische zu einem hormonellen Regelungsproblem.

Ich will die erste Darstellung eines weiblichen "Fötus" interpretieren. Die Figur stammt auseinem Werk von Samuel Thomas Soemmerring, Frankfurt/Main 17991. Soweit ich die Geschichtedes Ungeborenen überblicke, handelt es sich dabei um die erste Abbildung eines weiblichen Fötus.Wie Sie wissen, gab es bei Eva kein fötales Stadium, denn sie wurde während des Schlafes als, ichzitiere aus den mittelalterlichen Quellen, collateralis et aequalis aus dem Fleisch des Mannes undnicht wie dieser aus Staub gemacht. Die Töchter Evas, wie man uns nannte, entbehren nach demStand der gegenwärtigen Geschichtsforschung bis 1799 jedes fötalen Stadiums. Ich spreche abmundo condito, seit der Erschaffung der Welt: Nach dem jüdischen Kalender wurde Eva ungefähr6000 v.Chr. geschaffen und über Sarah, Anna, Maria, die Mutter Jesus, dauerte es bis zum Jahrenull und dann nochmals 1799 Jahre. Eine beinahe achttausendjährige Geschichte ohne einenweiblichen Fötus. Natürlich, es gab vor Soemmerring andere Darstellungen von Weiblein in utero:ich denke an das Mägdlein in einer Fünfbilder-Serie aus dem 12.Jahrhundert, wie es imumgestülpten Schröpfglas "Kindslagen" demonstriert;2 ich denke an eine barocke Tafel, auf der einUngeborenes mit aufgeschlitztem Bauch stolz mit dem Zeigefinger auf seinen Hymen und andereweibliche Innereien weist. Aber weder die sittsame Jungfer in der Miniatur, noch die kleineExhibitionistin aus dem Traktat über den geformten Foetus des Adrian Spieghel 1626 bezeichne ichals "Föten". Und selbstredend ist das strampelnde Putto aus einem Paduaner Druck von 1604 hier,zu meiner Linken, auch kein Fötus. "c" zeigt den Schweiß, in dem es schwimmt (sudor cui innatatfoetus) und "b" das, was damals im Anatomendeutsch die "Bauchwurzel" hieß, also dieNabelschnur. Ich klassifiziere alle diese Gestalten als symbolische Darstellungen von ungeborenenKindern. Ich stelle sie in Gegensatz zur Abbildung der vorkindlichen, also der fötalen, derembryonalen Gestalt, so wie sie erstmals bei Soemmerring dargestellt wurde.

1 Samuel Thomas Soemmerring, Icones Embryonum Humanorum, Frankfurt/M. 1799.2 Zu diesen Abbildungen in anatomischen Manuskripten und Drucken, siehe Barbara Duden, Anatomie derGuten Hoffnung. Studien zur graphischen Darstellung des Ungeborenen. Stuttgart 1999.

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Was ich zur Diskussion stellen will, hat zwei Seiten. Erstens die Faszination eines deutschenGelehrten 1799 mit der Geschlechtsbestimmung ab ovo; zweitens den Bruch in der Geschichte desGeschlechterverhältnisses, der im Auftreten der fötalen Gestalt sichtbar wird. Dieser Kupferstich derFötin ist nicht nur ein Erstling als Fötus und als vorgeburtliches Weib, sondern auch als Diagramm.Dargestellt ist nicht, wie der Anatom gesehen, sondern, wie ich zeigen werde, was er vermessen hat.Anhand dieser Figur will ich die Entstehung eines eigenartigen Paradoxes um 1800 besprechen: dieTechnogenese, die technikbestimmte Entstehung des Simulakrums der Geschlechtsneutralität ininniger Verbindung mit der Betonung von Geschlechter-differenz.

Um diese neuartige Konstruktion eines neuen Geschlechterverhältnisses zu skizzieren, will ichin drei Schritten vorgehen; ich will zunächst meine Quelle vorstellen, dann will ich, zweitens, überden Kontrast zwischen Ikone und Konstrukt des Ungeborenen in der Geschichte der anatomischenGraphik sprechen; schließlich will ich, drittens, etwas zur Methode der Bildinterpretation sagen. Ichwill zeigen, daß ich an dieses Bild nur herankomme, wenn ich zwischen einer ikonographischen undder ikonologischen Analyse anatomischer Graphik unterscheide. Erst dann kann ich die zwei Tafelndes Samuel Thomas Soemmerring interpretieren, aus denen die Figur der kleinen Fötin stammt.

DIE QUELLEN: SOEMMERRINGS LISTE

1799 hat Soemmerring die Icones Embryonum Humanorum im Elephantenfolio veröffentlicht.Er war damals mit 44 Jahren der maßgebende Anatom Deutschlands, mit dem Goethe seit seinemBesuch 1783 im Briefwechsel über den Zwischenkieferknochen stand. Soemmerrings Thesen habenbedeutende Zeitgenossen in Kontroversen verwickelt: über die klimabedingte Degeneration desMohren, die er am Körperbau eines Mohren aus der Kolonie in Kassel Wilhelmshöhe beweisenwollte;3 über die kulturelle Deformation von Rippen, Taille und Hüften durch Schnürbrüste; überdas Organ der Seele im Körper; über Auge und Ohr, über die Möglichkeit elektrischer Telegraphie.

Die Praefatio zu den Icones, das Vorwort zu dem Tafelwerk der "Abbildungen menschlicherEmbryonen" beginnt mit einer Auflistung seiner Vorgänger. Soemmerring nennt 37 anatomischeTraktate, in denen menschliche Embryonen oder Fraueneier nicht nur beschrieben, sondern auchgraphisch vor Augen geführt wurden. Die Liste beginnt mit Hieronymus Fabricius abAquapendente, einem Nachfolger des Vesal auf dem Lehrstuhl der Anatomie in Padua zu Beginn des17. Jahrhunderts, aus dessen De Formato Foetu der Putto stammt, den ich später als Kontrast zuSoemmerring heranziehen werde. Soemmerring bemerkt, daß er die 1738 von Jan Wandelaar inKupfer gestochenen Kopien eingesehen hat.

3 Londa Schiebinger, Nature's Body. Gender in the Making of Modern Science. Boston 1993, S.115ff.

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Soemmerrings chronologische Liste der Abbildungen von Eiern und Embryonen ist auch heutenoch unübertroffen. Aber keine der 635 Eintragungen der Standardibliographie zu Soemmerringbezieht sich ausdrücklich auf die Icones. Einen Forschungsstand zu diesem Gegenstand gibt esnicht.4

Ich habe die Soemmerringsche Liste durch weitere Abbildungen aus dem 15. bis 17.Jahrhundert ergänzt und einen lückenlosen Korpus der graphischen Darstellungen des Ungeborenenin Drucken seit 1492 erstellt. Bei dieser Untersuchung bin ich zu dem Schluß gekommen, daßSoemmerring mit der Behauptung recht hat, als erster eine Serie von Abbildungen vorgelegt zuhaben, in denen der "menschliche Körper von der dritten Woche bis zum ... sechsten Monat" gezeigtwird.5

ASTIGMATISMUS ODER DER KONTRAST VON KIND UND FÖTUS

Dieser Anspruch auf ein Erstlingsrecht seitens des damals schon durch eine Ehe in Frankfurtwohl installierten Professors ist um so überraschender, weil in gelehrten Traktaten undvolkstümlichen Einblattdrucken gynäkologische Illustrationen längst in Umlauf gekommen waren,und außerdem seit dem 17. Jahrhundert Hebammenkatechismen wohlfeil und bebildert zu habenwaren. Da gab es nicht nur die "Geburtsglieder eines jeden Weibsbild (zu sehen), wie solcheinnerlich gestalt und gelegen seyen", sondern dort wurde auch gezeigt, "wie das Kind rastet undruhet in Mutterleib".6 Und doch hat Soemmerring recht: nascituri waren zu sehen, Kinder, die sichzur Geburt anschicken, niemals aber das, was er selbst zeigen wollte, der Embryo. Der Inhalt derschwangeren Mutter blieb ein Emblem.

Dank der Kunst des Zergliederns und Präparierens, dank den Regeln von Perspektive undSchraffur, dank dem Zuwachs an Plastik und taktiler Qualität im Übergang vom Holzschnitt zumKupferstich, kam es gerade in diesem Zeitraum zu immer realistischeren Abbildungen vonEingeweiden und zartesten Geweben. Die Bläschen auf der Oberfläche von Epithelien und dieKapillaren in durchsichtigen Häutchen am Uterus wurden seit Ende des 17. Jahrhunderts mitverblüffender Treue -- meist nach dem Präparat -- gestochen. Und doch, über eine Periode von 300Jahren, blieb, trotz der Verfügbarkeit dieser graphischen Mittel, die Gestalt unsichtbar, die sich imLehrbuch des 19.Jahrhunderts und heute vom Bildschirm vermittelt in den Köpfen der Schwangerenals eine Tatsache angesiedelt hat.

4 Siehe Gabriele Wenzel-Nass, Soemmerring Bibliographie. In: Samuel Thomas Soemmerring und dieGelehrten der Goethezeit, hg. von G.Mann und F.Dumont. Stuttgart 1985, S.331-424. Eine Edition derIcones wird derzeit in der Forschungsstelle zu Soemmerring von Frau ...Enke vorbereitet.5 Soemmerring, Icones, Vorwort. Karen Newman, Fetal Positions: Individualism, Science and Visuality.Stanford 1996 sammelte die Abbildungen des Ungeborenen im gleichen Zeitraum, interpretiert sie abermodernitätsgläubig als schon immer gleiche "fötale" Gestalten.6 Jacob Rueff, Hebammenbuch, Daraus man alle Heimlichkeit des weiblichen Geschlechts erlernen ...Frankfurt/M. 1580, S.28.

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Die Graphik zeigte bis zu Soemmerring das kommende Kind. Sie bildete nicht ab, sondern sieverwies symbolisch, emblematisch, phantastisch und gelegentlich auch makaber. Beim DänenKaspar Bartholin (1675??) tanzen Drillinge mit dem Gesichtsausdruck und dem Gebaren vonStaatsbeamten an ihren Nabelschnüren um einen aus dem Leib entfernte Mutterkuchen. Derholländische Taxidermist Frederik Ruysch sammelte mit Besessenheit Abgegangenes aus der Frau,verschloß es in Gläser und stopfte damit in den 1770er Jahren sein Amsterdamer Haus voll. Erbaute Ensembles für dieses Museum, stellte das Fötenskelett auf einen Hügel von Gallensteinen undließ es mit dem Finger auf ein memento mori aus mumifizierten Leichenteilen zeigen. Seine kleinenSkelette dienen als Sinnbilder, sie verweisen nicht auf fötale Entwicklung.

Das Ungeborene wurde als ein Knäblein, als ein aus seinen Hüllen gewickeltes Bündelchen, alsein Knochenmännlein abgebildet. Aber dann, wenn im Text etwas beschrieben wird, was uns alseinigermaßen "fötal" anmutet, so wird es als ein großköpfiges Schmerl, als Mole, Mondkalb oder alsein Mißgewächs interpretiert. Abgänge, die heute als "Frühgeburten" gesehen werden, waren damalsnoch "Mondkälber" und "falsche Früchte", also ungestalte Mißbildungen.7

Leonardo da Vinci versetzt in seinen anatomischen Studien um 1505 einen kauernden Säuglingzurück in den Mutterleib, macht ihn zum Ikon des Mikrokosmos und stellt ihn in das Zentrum dersphärenartigen Schalen der matrix. Bei Fabrizius ab Aquapendente ist das optische Vor-Urteilzugunsten des Kindes noch aufschlußreicher. Sein De formato foetu (Venedig 1604) enthält nämlicheine Anzahl von Kupferstichen, auf denen die Föten von Maus, Hund, Schaf und Pferd, oft in diematrix geschmiegt, so überzeugend abgebildet sind, daß sie heute noch jeden Zoologen bestechen.Sie sind nicht nur schöne, sondern auch genaue Abbildungen, sagt Joseph Needham, derEmbryologe. Aber wenn derselbe Fabrizius auf der III. Tafel zum Kind in der matrix vorgedrungenist, zeigt er ein strampelndes, barockes Kind in seinem lotusartigen Kelch, von dem wir erfahren,daß es "ein Fötus, zwei Monate nach der Empfängnis" sei. Selbst William Hunter, der Geburtshelferam englischen Hof und Autor des einmaligen Prachtatlasses zur Anatomie des graviden Uterus,London 1774, auf dessen letzer Tafel Würmlein in hautigen Säcken zu sehen sind, thematisiert denFötus bloß insoweit, als er ein Objekt ist, das die Form der Gebärmutter in aufeinanderfolgendenStadien prägt. Bis in das spätere 18. Jahrhundert ließen die Anatomen niemals das Ungeborene alsfötale Form abbilden.

Diese langfristige Abwesenheit der vorkindlichen Gestalt in zunehmend realistisch illustriertenTafeln de utero gravido hat mich dazu gezwungen, nach dem Grund dieses Schielens zu suchen.Was da auffällt, ist die traditionsbestimmte embryologische Symbolisierung des Ungeborenen inkrassem Widerspruch zur forschend gynäkologischen Abbildung, manchmal auf derselben Seite.Das Ungeborene wurde weiterhin durch ein Ikonogramm, ein Sinnbild bezeichnet, während das

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vormalige Ikonogramm für die matrix, die "Mutter" im 17. Jahrhundert nach und nach durch dieAbbildung des Uterus zum Verschwinden gebracht worden ist. Bis zu diesem Zeitpunkt war dieanatomische Graphik von beiden, von matrix und Kind, durch die blickprägende Macht derbildhaften Metaphern aus der Antike bestimmt. Die Mutter war seit Soranus, dem römischen Arzt,ein "Topf", ein "Fass", ihre Bänder waren als "Hörner" konzipiert. Das im Sprachgebrauchvorgegebene Wissen gab dem vom Anatomen geschnittenen und gezeichneten Uterus auf anderthalbJahrhunderte die entsprechende Form des umgestülpten, zweihenkeligen Gefäßes, das auf zweiHörnern sitzt. Das ist 1672 bei Regnier de Graaf8 nicht mehr so. Auf Tafel XXII seines Traktatsüber die generativen Organe der Frauen zeigt er einen abortus trium mensium. Da steht links, nochan der Nabelschnur, aufrecht mit leicht erhobenem linken Bein, angewinkeltem Arm und dembetrübten Blick eines gescholtenen Dieners der drei Monate alte "Abortus" (so wie ihn kein Menschheute denken könnte) und rechts im Bild liegt die Plazenta, durchaus so, daß man sie heute nocherkennt. Das Ungeborene wird hier weiterhin als Emblem in die zunehmend 'realistischer'abgebildeten Eingeweide der Mutter gesetzt. Bis in die Lebenszeit Soemmerrings beschäftigt sichder das Weib abbildende Anatom fast ausschließlich mit der matrix.

IKONOGRAPHIE UND IKONOLOGIE: ZWEI ZUGÄNGE

Seit 19769 hat die historische Frauenforschung -- oft mit Belustigung -- den Blick derAnatomen auf das andere Geschlecht untersucht. In der Aufklärung wurde erstmals ein weiblichesSkelett konstruiert und mit dem männlichen verglichen. In jedem Detail der eigentümlich weiblichenMorphologie und Physiologie erblickten die Forscher nach und nach ein Argument für "des Weibes"Platz in der Natur, in der Ökonomie und in den Institutionen: vom Becken für die Ehe zu den Knienfür die Nähmaschine. In der Frauengeschichte ist die Ikonographie der medizinischen Traktate zueinem Schlüssel in vielen Bereichen der Geschichte des 19. Jahrhunderts geworden, durch denverständlich wird, wie "Biologie" als soziale Denkform des 19. Jahrhunderts sozial mächtig wurde.10

Ich versuche diese geschlechtshistorische Ikonographie durch eine Ikonologie der anatomischenGraphik zu ergänzen.11 Die beiden -graphie und -logie lassen sich am besten unterscheiden, wennman an Geographie und Geologie denkt. Die Geographie zeichnet die Fakten auf, klärt die Details,

7 Dazu Barbara Duden, 'Ein falsch Gewächs, ein unzeitig Wesen, gestocktes Blut'. Zur Geschichte derWahrnehmung und Sichtweise der Leibesfrucht. In: Unter anderen Umständen. Zur Geschichte derAbtreibung, hg. von Gisela Staupe und Lisa Vieth. Berlin 1993, S. 27-35.8 Regnier de Graaf, De mulierum organis generationi inservientibus. Leiden 1672, Tafel XXII. Bei deGraaf denkt man an das "Ei", denn an einem Zeitpunkt, an dem sowohl Präformisten wie Epigenetiker sichvon der Existenz des Fraueneies überzeugt hatten, zeichnete er die Follikeln des Ovars und wurde durchdiese mißverstandenen "Eier" berühmt. Dazu Jacques Roger, Les sciences de la vie....9 Ich verweise auf den damals bahnbrechenden Aufsatz von Yvonne Kniebiehler, "Les médecins et la'nature féminine' au temps du Code Civil." Annales E.S.C. 31, no. 4 (1976): 424-445.10 Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib.Frankfurt/M. 1991 hat die verschlungenen Wege dieser "Sonderanthropologie" des Weibes immedizinischen Diskurs aufgearbeitet; siehe auch Ute Frevert, 'Mann und Weib, und Weib und Mann'.Geschlechterdifferenzen in der Moderne. München 1995.11 Jan Bialostocki. "Iconography and Iconology" Encyclopedia of World Art. vol ?? col 769-785.

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beobachtet, was es zu sehen gibt. Die Geologie studiert die Struktur, die innere Formation, denUrsprung, die Konsistenz. Ikonologie nennt man die Untersuchung von Bildern als Symptom einerkulturellen Situation. Es kommt mir also nicht auf die einzelnen Züge des neuen Frauenbildes an, dieverschiedentliche Proportion von Rumpf und Kopf, die weibliche Hirnschale, die Hüftknochen, mitdenen sich die Gelehrten seit Albinus bis über Kant, Schiller, Humboldt zu den Kopfausmessern undHirnwägern des 19. Jahrhunderts befaßten, sondern auf eine neue Sehweise. Die Ikonographieentschlüsselt die sachlichen und stilistischen Vorurteile, also die zum Blick gewordene Ideologie imAuge des Anatomen. Die in der Legende beschriebenen Gestaltelemente des Ungeborenenuntermauern den Diskurs über die "natürliche Bestimmung der Frau zur Mutterschaft".12

In scharfem Gegensatz dazu zeigt eine ikonologische Analyse der Icones Embryonum, daß hierzum ersten Mal die Genesis des Menschen ohne jeden Bezug auf eine Mutter dargestellt wird.13 DieSoemmerringschen Embryonen sind ab der siebenten Woche jedes Restes von Eihaut entledigt. Vomvierten bis zum achten Monat sind sie ohne Nabelschnur abgebildet. Der Ersatz des erwartetenKindes durch Föt und Fötin, eines nabellosen Fötus, der im Gegensatz zum "ungeborenen Kind" ineiner nie-dagewesenen Bezuglosigkeit zur Frau steht, verwandelt die Mutter und damit das"Geschlecht". Das Auftauchen des Fötus um 1799 läßt eine neue Art von Frau entstehen und damit,mit logischer Notwendigkeit, ein neues Geschlechterverhältnis.

Mit der Sichtbarmachung des prä-infantilen Menschen, des Geschlechtswesens ab ovo, entstehtetwas wie die vom Astrologen Tycho Brahe 1572 im Sternbild der Cassiopeia gesehene Nova.Nachdem Tycho einen nie dagewesenen Stern auf dem Heimweg erspäht hatte, rief er erstHausgenossen, dann Bauern vom Markt und bat sie, zu gucken, ob er nicht doch einer Täuschungunterlegen war. Denn nicht ein neues Sternbild, sondern ein neuer Kosmos mußte erdacht werden,wenn auf Gottes abgezähltem Himmelszelt ein ganz neuer Stern aufleuchten sollte.

Der Fötus ist in diesem Sinne wie eine Nova: Nicht im Himmel, sondern im Bauch.Mutterschaft, Schwangerschaft und Geburt beziehen sich nicht mehr auf das erhoffte Kind sondernauf den werdenden Menschen. Ich verstehe die Icones embryonum humanorum als Icones embryonisnostri temporis: Vorboten der Bewohner einer heute erst selbstverständlich gewordenen Mutter,einer Redefinition, die hier beginnt, denn die Mutter, vormals Acker und Gefäß, wird schrittweisezum Umfeld oder gar zur Nische für ein neues Immunsystem; die Schwangerschaft wird vomhaptischen und kinästhetischen, einzig der Frau erfahrbaren Erlebnis zur Tatsache nach optischerImputation; die Geburt wird von der Epiphanie des Kindes zu einem Punkt in einem Prozeß.

12 Beispielhaft der Anatom Ackermann 1787: "So ist nun das Weib eingerichtet hauptsächlich, um diegrosse Absicht zu erfüllen, welche die Natur bloss für dieses Geschlecht bestimmt hat, nämlich das Kindbis zur Reife in dem Schoss zu tragen ... und zu gebären." Zit. nach Claudia Honegger, Die Ordnung derGeschlechter, S.176.13 Für mich ist dieser Fötus der archimedische Punkt zur Wendung auf ein neues Geschlechterverhältnis:zutiefst widersprüchlich, denn die Frau ist Mutter und doch ist der Fötus ein Eigenwesen; dem direktenBlick unzugänglich, denn er entsteht im architektonischen Aufriß aus unendlicher Entfernung und er istabstrakt.

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Wie sich Soemmerring ausdrückt, wird das Ungeborene zu einem Stadium incrementi etmetamorphosis corporis humani, zu einem Stadium des Wachsens und der Verwandlung einesmenschlichen Körpers: (1) Der Anfangspunkt der individuellen Biographie wird um 9 Monatevorverlegt; (2) Der vorgeburtliche Mensch stilisiert das Fraueninnere um, macht es zu einemSchauplatz der ersten Lebensabschnitte; (3) Schwangerschaft wird von einem Status, der der Frauzuerkannt wird, wenn sie das haptische Erlebnis der Kindsregung bezeugt, zu einer medizinischenTatsache, deren operationelle Verifikation zu dieser Zeit von Gebärhäusern angestrebt wird. InGöttingen vermaß und klassifizierte Johann Georg Roederer (1759) fünfunddreißig Gebärmütternach Breite, Länge, Tiefe und Höhe. Er versuchte, den gewöhnlichen Termin der ersten Regung beieinhundertfünfunddreißig Frauen auf fötales Wachstum zu beziehen.14

Diese Verschiebungen in der Wahrnehmung lassen sich beispielhaft an den zwei Tafeln derIcones untersuchen. Tafel I zeigt 17 Figuren in vier Reihen.15 Ich habe Figur XII vergrößert. Zu demBlatt, aus dem sie stammt, will ich erst kurz und konventionell, eine ikonographische und dann eineikonologische Beobachtung vornehmen.

IKONOGRAPHISCHE INTERPRETATION

Die neuere Geschichtsforschung hat sich meist mit den Motiven der Gelehrten beimanatomischen Vergleich von Mann und Frau um 1800 auseinandergesetzt, besonders mit derSoemmerringschen Tabula sceleti feminini (1797).16 Dabei wurde bisher übersehen, dasSoemmerring sich auch in seinen Icones akribisch mit den Geschlechtsmerkmalen der Fötenbeschäftigt.

Soemmerring wählt zur Darstellung aus seiner Sammlung jene Föten aus dem Weingeist, diesich ihm durch ihre -- je dem Alter entsprechende "Schönheit" -- als Typen empfehlen. Schon in derdritten Woche "sieht" er im Ei, das er in verdünntem Wein eingelegt hat, ein wohl drei Wochen altesKörperchen mit knolligen Fortsätzen, kaum mehr als eine "Pariser Linie" lang. Die Genitaliensprossen, (efflorescunt) Anfang des zweiten Monats. Der Penis ist um so hervorragender, je jüngerder Embryo ist und gleicht einer geschälten Eichel. Das virginale (Maidenteil) kann wie eine kleineSpalte gelegentlich schon im zweiten Monat erkannt werden. Im dritten Monat gleicht die Klitorisbeinahe dem erhobenen männlichen Glied, so daß von der Seite gesehen der weibliche mit demmännlicher Embryo verwechselt werden könnte. Soemmerring verweist auf seine "Beschreibung vonMissgeburten" (1791), in der er festgestellt hatte, daß weibliche Föten öfter abgehen, eineProportion in der Frühgeburtlichkeit, die auch de embryonibus monstrosis stimmt.

14 Dazu Esther Fischer-Homberger, Medizin vor Gericht, Bern ... , S....15 Nur unter den ersten zwei Figuren steht eine schematische Skizze des "gekrümmten Würmleins".16 Dazu Gunter Mann. "'Die schöne Mainzerin' Samuel Thomas Soemmerrings. MedizinhistorischesJournal 12 (1977):172-173. Londa Schiebinger, 'Skeletons in the closet': the first illustrations of the femaleskeleton in eighteenth-century anatomy. Representations 14 (1986): 42-82.

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Die nichtgenitalen Geschlechtsmerkmale sind, so sagt er, noch viel deutlicher zu beobachten alsdie Genitalien. Aber nirgends hat er von diesem 'bedeutsamen' Geschlechtsunterschied der Föten beianderen Autoren gelesen, obwohl diese Merkmale bei kaum einem Embryo fehlen, so klein undverfault er auch sein mag, solange das Objekt nicht eindeutig ein Monstrum ist. Der gewichtigsteUnterschied liegt in der Struktur des Brustkorbes, der im weiblichen Embryo wie eine Amphoraenger wird und dessen Schultern dementsprechend abfallender. Der Bauch beginnt nicht nur weiteroben, sondern er ist so gewölbt, daß die Genitalien wie Säcklein sind; wenn man es sich erlaubendarf metaphorisch zu sprechen - so Soemmerring - sehen sie aus wie ein Geschwülstlein (tumidulumdiceres). Auch an der Kopfform, den stärkeren Händen, den Unterarmen und Fersen läßt sich dasGeschlecht erkennen.

Hier spricht der Anatom wenige Jahre, bevor Goethe das Wort "Morphologie" prägte. DieEmbryonen geben ihm eine willkommene Gelegenheit, die vom Leichenzergliederer hergestelltenMerkmale des schönen Geschlechts nun auch im vorgeburtlichen Schicksal zu mustern. Die Artdieses "gewollten Sehens" kenne ich von früheren Anatomen, nur ging es früher bei den gesichtetenschnabelmäuligen Kindern des Kerckring oder bei den als gesehen dokumentierten Fraueneiern desGovrard Bidloo nicht um Geschlechter-Differenz. So beschwingt Soemmerring trotz seinerKantlektüren noch immer die anatomische libido videndi, die Schaulust aus dem TheatrumAnatomicum.

IKONOLOGISCHE INTERPRETATION

Zu ganz anderen Einsichten gelange ich, wenn ich mich nicht mit den ausdrücklichen Motivendes forschenden Blicks auf Penis oder Fersen und nicht mit den dichterischen Legenden zu denTafeln befasse, sondern der Frage nachgehe, wie Soemmerring selbst den Vorgang derwissenschaftlichen Abbildung hat gestalten wollen. Darüber kennen wir seine Meinung, die er auchbündig in der Einleitung zu den Icones zusammenfaßt.

Zunächst fragt sich Soemmerring, warum bisher die embryonale Form nicht "gesehen" wurde.Welche Vorurteile haben es verhindert, daß selbst Anatomen den Embryo nicht als kommendes Kindanerkennen wollten? "Von weiss Gott welchen Altweibergeschichten verführt, so Soemmerring, sindes nicht nur Laien, sondern auch Künstler, die die Form des menschlichen Embryos für abstoßend,ja unerträglich oder monströs halten."17 Das sei ein erster Grund, warum bisher "das im Mutterleibversteckte" aus der anatomischen Darstellung ausgeklammert blieb. Soemmerring nennt diealtüberkommene Scheu, die forma substantialis des Menschen in vorkindlichen Stadienwahrzunehmen. Er kennt die Bereitschaft, zwar alles mögliche und überraschende aus demMutterleib zu erwarten, es aber für ein Monster zu halten, wenn es nicht wie ein Kind aussieht.

17 Soemmerring, Icones, Vorwort.

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Schließlich nennt er noch einen vierten Grund, der bisher das Sehen erschwert hatte: das gewollteAbsehen. Was Hebammen den Ärzten brachten, was in Wunderkammern und Anatomiesälenaufbewahrt wird und was in Weingeist verblichen ist, kann schwerlich Bewunderung hervorrufen:"Sie wollen ja nicht sehen (intueri), was der Ordnung der Natur, sondern was ihrer Meinungentspricht: So verachten sie nicht nur die verfaulten und verdorbenen Früchte, derer sie habhaftwerden, sondern sogar diejenigen, die ihrem Alter entsprechend am vollkommensten sind."Soemmerring argumentiert für die Möglichkeit, daß ein Wesen an unterschiedlichen Momentenseiner Entwicklung morphologisch unterschiedlich und doch jeweils in voller Schönheit erscheinenkann.

Die Wahl der Exemplare wird also durch die Wahrnehmung ihrer "Schönheit" geleitet. Bewußtgängelt der Anatom die Aufmerksamkeit des Zeichners: Die Stellung der fötalen Gliedmassen wirdso belassen, "wie mir die homunculi überlassen worden sind."18 Aber in keiner Weise werden servilund lächerlich die Runzeln, Schwellungen und Entstellungen wiedergegeben, die durch dieAufbewahrung in Schnaps entstanden sind19: nur das, was der Anatom als das 'Bedeutsame' erkennt,soll vom Zeichner anvisiert werden. Soemmerring will effigies, also Porträt, aber nicht auf Kostenvon Nebensachen. Aber auch ein Archetypus soll dargestellt werden: "Ich habe sie alle so gestellt,daß das Licht auf sie in einem Winkel von 40 Grad fällt, und der Maler in erster Linie Kopf, Stirn,Nase, Backen, Mund die Form des Brustkorbes und der Genitalien vor Augen hat."20 Mit diesenVorkehrungen will Soemmerring eine paradoxe Kombination: Die Genauigkeit eines einmaligenPorträts und die Darstellung eines Typus.

Um diese paradoxe Kombination von Individualität und Typus zu verwirklichen, muß er, dreiJahrzehnte vor der allerersten Photographie durch Daguèrre, das Auge bei der Herstellungwissenschaftlicher Abbildung ausschalten. Er bricht mit der anatomischen Renaissancetradition, dienach den Regeln der Zentralperspektive ein Bild des Körpers vermitteln wollte, das dem Auge desBetrachters denselben Eindruck gibt, wie wenn das Objektum vor ihm läge. Inspiriert durch denMeinungsaustausch zwischen seinem älteren Freund Petrus Camper und dem Leidener AnatomenBernhard Siegfried Albinus, betrachtet Soemmerring 'Perspektive' als die Form, in der Sinnestrugins Bild gebracht wird. Der von ihm in Jahren ausgebildete Zeichner Christian Koeck soll nichtwiedergeben, was sein Auge sieht, sondern er soll nach architektonisch-geometrischer Vermessung(more geometrico) einen Aufriß des Fötus herstellen. Er will das Objekt nicht so darstellen, wie eroder der Zeichner es sehen, sondern er will das Objekt vermessen lassen und den Meßresultaten

18 Ebd.19 In seinem Traktat: Abbildungen des menschlichen Hörorgans. Frankfurt/M. 1806 fordert Soemmerringdiese Korrektur des anatomischen Objektes nach dem Leben. Es sei unerläßlich, "die Verbindung derTheile so darzustellen, wie sie im Leben statt haben, nichts vertrocknet, zusammengeschrumpft, verzogen,verschoben, zerrissen oder auf irgend eine Art entstellt abzubilden, ferner nur diejenige Form unter vielenauszuwählen, welche als die vorzüglichste oder vollkommenste, kurz als die Normalform bewährt schien."Dazu Armin Geus. Christian Koeck (1758-1818), der Illustrator Samuel Thomas Soemmerrings. In:Samuel Thomas Soemmerring und die Gelehrten der Goethezeit, hg. von G.Mann und F. Dumont.Stuttgart 1985, S.263-278.20 Soemmerring, Icones, Vorwort.

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graphischen Ausdruck geben. Der Zeichner muß jeden Punkt des Objektes durch ein doppeltesGitter fest-stellen, jede Einzelheit anvisieren und so zeichnen, wie wenn sie im rechten Winkel ausgroßer Ferne gesehen würde. Dadurch kann das Objekt so dargestellt werden, wie es in sich selbstist, da es nicht mehr perspektivisch auf das Auge des Betrachters bezogen ist. Soemmerring will einSimulakrum des Objektes und nicht ein Faksimile des Augenscheines. Er will nicht Abbild, sondernKonstrukt. Er weiß, daß die Gestalten, die er stechen läßt, vom nackten Auge so nie gesehen werden.Das Simulakrum stellt eine neue Art der Objektivität her: Eine gewaltsam distanzierte Ansicht derObjekte und auch ihrer Beziehungen zu einander.21

Mit Gründlichkeit beraubt Soemmerring den sinnlichen Akt des Sehens seiner Unschuld undfordert die Betrachtung einer konstruierten 'Wirklichkeit'. Er stimmt Peter Camper bei, daß dieZentralperspektive dazu dient, jene Verzerrung, die zur Sinneswahrnehmung gehört, ins Bild zubringen. Um die sinnliche und deshalb trügerische Wahrnehmung des Beobachters auszuschließen,will er nicht Perspektive sondern isometrische Projektion, also rekonstruierte "Wirklichkeit". Nurdurch diesen Willen zur unsinnlichen Entzerrung scheint mir seine vorkindliche Menschenserie von1799 verständlich.

Die Metamorphose des ungeborenen Kindes in einen "Fötus" beginnt mit der planimetrisch-architektonischen Zeichenmethode, die Soemmerring anwendet. Von diesem Moment an bleibt dieAbbildung des Fötus technogen bestimmt, soweit ich sie für das 19. und 20. Jahrhundert verfolgenkonnte. Die visuelle Vorstellung vom Ungeborenen als einem "vorkindlichen" Wesen kann, seit denZeichnungen Koecks, später dann der Mikrophotographie und Röntgens Durchleuchtungen bis zumUltraschall nur verstanden werden, wenn man sie als eine Geschichte der Interpretation vonmechanisch hergestellten records begreift.

GESCHICHTE DES GESCHLECHTER-VERHÄLTNISSES ALS GRUNDLAGE FÜR EINHISTORISCHES VERSTÄNDNIS VON FRAU HEUTE

21 Die Geschichte der graphischen Abbildungsweisen, besonders des Kontrastes zwischen perspektivischerund a-perspektivischer Darstellung, kann ich hier nur andeuten. Leon Alberti schraffierte, um dasZeigelicht sichtbar zu machen. Durch die Wahl (1) eines Horizontes und (2) eines Fluchtpunktes schuf erein Fak-simile der sinnlichen Wahrnehmung. Leonardo schon kritisierte ihn, denn Fernes verschwimmt,entfärbt sich und Nahes wird durch die Ein=äugikeit zum artificium. Und doch setzt sich, wenigstens inder anatomischen Graphik, Perspektivik bis Albinus durch. Gleichzeitig, auch mit Alberti, setztisonometrische, d.h. der Vermessung entsprechende Zeichnung architektonischer Gebilde ein. DerZeichner fixiert nicht sein Kinn, sondern setzt sich künstlich auf größte Entfernung. Er bewegt sich beimAnvisieren jeweils an den Punkt, der im rechten Winkel zum anvisierten Punkt am Objekt liegt. Eines derMittel dazu ist das Doppelte Raster, wobei das erste Raster mit kleinen, das zweite mit größeren Netz-Quadraten so voneinander entfernt postiert werden, daß von der gewählten Stand-Linie des Zeichners diebeiden Rahmen aufeinander fallen. Mir ist die Bedeutsamkeit wichtig, die dem Gegensatz vonperspektivischer Abbildung und architektonischer Konstruktion an diesem Zeitpunkt von einigenAnatomen gegeben wurde. Später im Jahrhundert werden ja sehr oft anatomische Präparate nachPhotographie für das Lehrbuch gezeichnet.

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Ich habe mit der Geschichte des vorgeburtlichen Geschlechtswesens begonnen und so durcheine historische Ikonographie des Fötus um 1800 die sozial- und kulturhistorische Trächtigkeit derAnatomie und der Physiologie untermauert, die von vielen Autorinnen22 schon reichlich untersuchtworden ist. Auch der vorkindliche Körper diente, wie gesehen, dem Aufklärer als Projektionsflächefür das legitimierende Forschen nach der naturgegebenen Sonderstellung, Verwendung undKompetenz der Frau.

Ich anerkenne vorbehaltlos, daß die Geschichte der wissenschaftlichen Herstellung vonBegriffen und Vorstellungen über den weiblichen Körper eine Grundlage ist für die rechtliche,soziale, ökonomische und kulturelle Stellung der Frau seit dem späteren 18. Jahrhundert. Sie hatauch progressiv das Selbstbild und das Erleben der Frau markiert. Die wissenschaftliche Prägungder weiblichen "Biologie" ist und bleibt eine Basis für die historische Untersuchung vonGruppenidentität und Interessenformierung, wie das Karin Hausen formuliert. Das bleibt so bis indas späte 19. Jahrhundert.23

So nötig aber auch die von einer erlebten Diskriminierung ausgehende Forschung über diehistorische Genese der Geschlechtswahrnehmung von Frauen ist, um aus dieser Perspektive zurneueren und neuesten Geschichte beizutragen, so drängt sich mir doch eine andere Ebene auf. Ichversuche, mich mit jener Entkörperung der Wahrnehmung und jenem sentimentalen Verständniswissenschaftlicher Tatsachen zu beschäftigen, zu deren Diskussion mir Soemmerrings IconesGelegenheit gaben. Heute wird meiner Überzeugung nach die Geschichtlichkeit einer greifbaren,sinnlichen Differenz von Frau und Mann durch eine abstrakte Reduktion auf zwei historischeAgenten bedroht und modisch wird diese différence immer häufiger dekonstruktivistisch formuliert,so daß sie verkappt oder explizit in einem systemtheoretischen Binom aufgeht.

Ich bin der Meinung, daß um 1800 die Polarisation in der sinnlichen Wahrnehmung derGeschlechter und gegenläufig ihre abstrakte Einebnung beginnt. Die Folgen dieses Vorganges in denverschiedenen Bereichen der Gesellschaft bis in die Gegenwart hinein zu verfolgen, halte ich für daszentrale Thema der Geschlechtergeschichte. Der Typus von "Geschlecht", der da entsteht, istmodern. Das Auseinanderstreben von Erstem Kuss oder Erster Regung einerseits und dem, was ihrund ihm schon nicht mehr wegdenkbare Selbstverständlichkeiten an der Sexualität oder dem Fötussind, dieses Auseinanderstreben hat Geschichte.

22 Yvonne Knibiehler (1976), Elisabeth Fee, Ludmilla Jordanova (1989), Gianna Pomata (1984), LondaSchiebinger (1985), Claudia Honegger (1991), Thomas Laqueur (1991), Ute Frevert (1995).23 Karin Hausen ...

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2.2

Das Wissenschafts-Ministerium Nordrhein-Westfalen veranstaltet Monsterkongresse über dieZukunft. Das Kongreßthema 1992 war nichts weniger als die 'Neudefinition des Menschen imZeitalter des Computers'. Auf dem Programm stand 'die Umgestaltung der Natur des Menschen'. Dasollte diskutiert werden, ob und in welchem Maße technologischer Fortschritt in eine solcheUmgestaltung mündet. In einer Arbeitsgruppe, in der die Funktion der Medizin in der Produktion desNeuen Menschen diskutiert wurde, sprachen außer mir ein Humangenetiker, ein klinischerImmunologe und eine Soziologin. Ich wollte, daß mein entsetztes Schweigen zum Thema mich nichtdaran hindere, zum Irrwitz des Vorhabens etwas zu sagen.

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2.2 Technogene 'Realitäts'- Vermittlung 1

Elisabeth Gernsheim ist es wohl, die meinen Namen auf die Teilnehmerliste gebracht hat. Undihretwegen habe ich beschlossen, hier aufzutreten. Das ist nicht ganz leicht. Was kann wohl eineKörperhistorikerin mit einem Immunologen und einem Genetiker diskutieren? Ich suche nach demSinn und der Bedeutung, die Worte damals hatten. Hier wird systemtheoretischen und statistischenProjektionen der Anschein einer geisteswissenschaftlichen Überlegung dadurch verliehen, daß dasGespräch mit deutschen Wörtern geführt wird. Mit Wörtern also, die mit der Vergangenheitgebrochen haben.

Ein paar Stunden lang habe ich gestern versucht, eine Art Wörterbuch zu diesem Gesprächanzulegen. Ich habe nicht die neuen Wörter notiert, die seit kurzem in die Alltagswirklichkeitgekommen sind, wie "Genom" oder "genetische Diagnostik" oder "Allokationsethik". Was michstutzig macht sind die Worte, die im Klang gleich geblieben, aber dem Sinn nach unvergleichbargeworden sind. Ein Herz, das transplantiert wird; Befruchtung, die im Glas stattfindet; Diagnostik.Erfassung und Aussonderung des Ungeborenen; Handlungen, die als Chance besprochen werden;Leiden, das technisch abgewendet werden soll; Schwangerschaft, die auf Probe stattfindet. All dassind Ungetüme, die im ersten Absatz des Einleitungsbriefes zu diesem Symposium stehen. Was denWorten da angetan wurde, hat sie für das Erleben unbrauchbar gemacht. Ich kann mich nicht miteinem auswechselbaren Herzen erleben oder als Vorratskammer für Eier. Warum? Einfach, weil ichdas nicht bin und es nicht sein will. Das ist jedoch eine persönliche Haltung, die hier nicht zurDiskussion steht.

Es gibt aber einen zweiten Grund, aus dem ich hier nicht so ohne weiteres mitsprechen kann.Mit diesen Worthülsen läßt sich nicht Geschichte schreiben. Und ich bin Historikerin, ich will essein. Ich will aus der Kenntnis der Vergangenheit heraus von der Gegenwart sprechen. Der Wunsch,von der Gegenwart im Spiegel der Vergangenheit zu sprechen, erfordert Disziplin in der Wortwahl.Wörter, deren Feld amöbenhaft beliebig geworden ist, vernebeln gerade, was sie aussagen wollten.2

In der Vergangenheit geht es mir primär darum, was Sinn und Bedeutung von erlebter Wirklichkeitgewesen ist. Die Geschichte des erlebten Körpers ist mein Thema. Und von dem, was hier zu Herzund Handlung, zu Leib und Leid besprochen wird, steht nichts in den Quellen, die ich zu

1. zuerst in: Gert Kaiser, Dirk Matejovski, Jutta Fedrowitz (Hg.), Kultur und Technik im 21. Jahrhundert.Frankfurt/M. 1993, S.213-218.2. Uwe Pörksen, Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur. Stuttgart 1988 hat Kriterienentwickelt, um die neue Klasse von Worten zu kennzeichnen, durch die heute die Grenze zwischenWissenschaftskonstrukten und Alltagswirklichkeit getilgt wird. Diese "Plastikwörter" sagen nichtsGenaues, sie denotieren nichts Konkretes, sie konnotieren aber Professionalität, Wissenschaft undakademischen Pomp.

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interpretieren versuche. Im 18.Jahrhundert klagen Frauen vor dem medicus über ihreHerzenserschütterung, den Riß am Herzen, die Kälte der Gebärmutter, die Verstocktheit im Bauch.Und der Arzt hört der melancholischen Küfnerin zu und läßt sie drei Unzen zur Ader. Was hierZugriff genannt wird, therapeutische Entscheidung, Handlungschancen, kalkuliertes Risiko war demArzt damals fremd. Er brachte Säfte ins Gleichgewicht und wollte Schmerzen lindern. DerErlebnisraum, in dem der Arzt von damals dem einzelnen Leidenden gegenüberstand, ist heterogen,unvergleichlich zu der Topologie, in der hier seit gestern gesprochen wird. Für Sie ist es, ich zitiereaus dem Programmheft, eine "neue, drängende Frage, was tun, wenn es viele Menschen mit Herz-Leber- und Nierenerkrankungen gibt, aber nur wenige Organe zur Transplantation bereitgestelltwerden."

Es stimmt einfach nicht was Sie, Herr Genetiker Pfeiffer im ersten Satz Ihres Abstrakts sagen:"Stets hat sich die Heilkunde neuer Methoden und Techniken bedient, um diagnostische undtherapeutische Verfahren zu verbessern (...) als Resultat eines Prozesses von (...) statistischerPrüfung und vernünftiger Abschätzung von Chancen und Risiken, Nutzen und Schaden, Gewinn undKosten." Das sind Ihre Worte. Mit dieser Aussage schließen Sie die gesamte hippokratisch-galenische Medizin aus der Heilkunde aus, weil Sie Heilkunde auf etwas reduzieren, das erst nachder Durchsetzung des Utilitarismus und des Fortschritts-Imperativs möglich wird und das eigentlicherst mit der angewandten Statistik überhaupt zustande kommt. Es waren also entweder Soranus undHufeland keine Ärzte oder heutige Mediziner sind etwas anderes.

Und das scheint mir so zu sein. Der soeben besprochenen Heterogenität in der Aussagekraftvon immer noch gleich klingenden Wörtern entspricht eine ebenso radikal heteronome Haltung zumErlebnis des Körpers. Ich will diese These mit drei Argumenten begründen. Erstens istProfessionalität in der Medizin etwas radikal Neues. Es gab früher keine Existenz eines Gremiums,dessen sogenannte Erkenntnisgewinne die epochenspezifische Erfahrung normierten. Zweitens ist dieMachbarkeit des einzelnen Menschen neu. Das was Jacques Ellul "la technique" nennt3, also eine sotiefe Einbettung des Einzelnen in eine technogene Realitätsvermittlung, daß fast nur mehr gesehenwird, was gezeigt worden ist; daß nur mehr Vorspiegelung erlebt wird, das ist neu. Und drittens ist,wie Ivan Illich das heute morgen dargestellt hat, Leben als ein verwaltbares Gut etwas Neues. Aufdie Bioethik, die diese Verwandlung des Menschen bemäntelt, komme ich in meinem dritten Punktzurück. Bei jedem dieser drei Punkte werde ich auf Beispiele aus der Sozialgeschichte des Fötusverweisen, denn ich habe mich seit einigen Jahren mit der Herstellungsgeschichte des "Fötus" in derAnatomie und - getrennt davon - mit der Soziogenese des durch den Fötus bestimmten modernenSchwangerschaftserlebnisses beschäftigt. Ich habe mein Augenmerk besonders darauf gerichtet, wasdie Technik der Visualisierung, zum Beispiel der Ultraschall, zum sozialen Wirklichkeitsstatus desFötus beigetragen hat.4

3. Jacques Ellul, The Technological Society. New York 1964.4. Barbara Duden. Der Frauenleib als öffentlicher ort. Vom Missbrauch des Begriffs Leben. Hamburg1991 und München 1994.

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PROFESSIONALITÄT

Meine erste These betrifft Professionalität. Die sogenannte "Natur" der heutigenSchwangerschaft lässt sich ohne durchprofessionalisierte Körperbetreuung nicht denken. Sie läßtsich nicht denken ausserhalb einer Gesellschaft, in der Frauen davon überzeugt wurden, daßMediziner ihnen sagen können und sollen, ob sie schwanger sind und ihnen beibringen können, wiefrau das richtig erlebt. Diese Medikalisierung auch des Erlebens wäre ohne die Professionalisierungdes Arztes kaum denkbar. Es scheint mir Unsinn, Hans Sachs oder Paracelsus als Professionelle zubezeichnen. Hans Sachs ist zünftig und Paracelsus gelehrt. Hans Sachs baut Schuhe, Paracelsusmischt Drogen. Hans Sachs versteht es, Schuhe anzumessen, Paracelsus weiß, wie man das rechteKraut administriert. Aber weder kann Hans Sachs dem Unbeschuhten seine Ware aufzwingen, nochschafft die Lehre von Paracelsus soziale Normen.

Die Medizin unseres Jahrhunderts hat ein prinzipielles Monopol auf das Wissen beansprucht,aufgrund dessen sie Normwidrigkeit erst bestimmen, dann erkennen und schliesslich behandelnkann. Sie zieht in einer Hand zusammen, was das Grundgesetz auf das Parlament, den Richter undden Vollzugsbeamten sorgfältig verteilt hat. In diesem Sinn nimmt das professionelle Ethosbesonders im 20.Jahrhundert zurück, was liberales Denken im 19. Jahrhundert errungen hatte.Aufgrund professioneller Meinung spricht der Richter den Eltern die Pflegschaft ihres Kindes ab,um es einige Wochen in der Klinik quälen zu lassen, bevor es stirbt. So ist das gängige Praxis seitdem Zweiten Weltkrieg.Dennoch hat Ulrich Beck in der "Risikogesellschaft"5 zurecht darauf hingewiesen, da auch inBeziehung auf den Professionellen nach dem Krieg ein Zeitalter zuende gegangen ist. Derwissenschaftlich verbrämte oder legitimierte Normokrat ist weitgehend durch den technokratischenStrategen und Logistiker ersetzt worden. Dieser Umbruch im medizinischen Selbstverständnis imLaufe der letzten zwei Jahrzehnte ist seit den Büchern von Bill Arney und David Armstrongmehrfach untersucht worden.6 Bis vor kurzem leitete man aus der wissenschaftlichen Bildung desArztes seine moralische Autorität ab. Zunehmend fordern der Klient und der Gesetzgeber vomMediziner primär und fast ausschliesslich technische Kompetenz in der Planung von diagnostischemund therapeutischen Vorgehen und im Einsatz von Ressourcen. Das lässt sich klar daran sehen, daßin den USA in der Medizin die ethische Entscheidungsbefugnis von der technischen getrennt wordenist. Das bio-ethische Komitee sagt, was sein darf und muß und der zum bio-medizinischen Technikerverkommene Arzt sagt, was zur Anwendung kommen kann und deshalb soll.

5. Ulrich Beck, Die Risikogesellschaft. Frankfurt/M. 1986.6. Bill Arney, B.J. Bergen, Medicine and the Management of Living: Taming the Last Great Beast.Chicago 1984; David Armstrong, Political Anatomy of the Body: Medical Knowledge in Britain in theTwentieth Century. Cambridge 1983.

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In dieser Verpflichtung zum Einsatz der Technik zeigt sich der technologische Imperativ. DerMacht des alten Professionellen konnte man sich durch Recht, Geld und Aufklärung in etwapolitisch erwehren. Den Krankenhauszwang bei der Geburt konnten wir durch politischeOrganisation von Frauen abschwächen. Dem durch ein Ethik-komitee legitimierten Bio-Systemverwalter gegenüber ist persönliche Verweigerung die einzige -- oft recht ohnmächtige --Antwort. Selbst freie Hebammen lassen die Schwangere jetzt vier bis fünf mal beschallen. DieVorsitzende von Pro Familia Monika Simmel forderte kürzlich auf einem Kongress von denBeraterinnen ihrer Organisation, die Schwangere in den "Dialog mit dem eigenen Fötus"einzuführen. Aus dem prinzipiell unsichtbaren Ungeborenen ist - auch für die Frau - ein Fötusgeworden.

ABHÄNGIGKEIT VON MESSUNGEN

Meine zweite These betrifft den Gegensatz zwischen dem Vertrauen auf die eigene sinnlicheWahrnehmung und der modernen Abhängigkeit von operationeller Verifikation, alsoTatsachenfeststellung durch wiederholte Messung. Das stellt mich als Historikerin vor Fragen, die inder phänomenologischen Wahrnehmungspsychologie behandelt werden. Die Geschichte derKindsregung gibt eine klare Illustration für diesen Gegensatz. Von Hippokrates bis zu denGynäkologen des ausgehenden 18. Jahrhunderts kannte der Arzt unzählige Anzeichen für einemögliche Schwangerschaft. Zedlers Grosses Vollständiges Universal-Lexicon nennt Mitte des 18.Jahrhunderts mehrere Dutzend.7 Aber keine Ansammlung von Zeichen konnte Gewißheit dafürgeben, was aus den Geburtsteilen der Schwangeren herauskommen würde -- Blut, eine Mole oderdas erhoffte Kind. Nur die erste Regung des Kindes ermöglichte der Frau, den Status derSchwangeren gesellschaftlich zu beanspruchen. Und das war ein Zeichen, das nur sie alleinbezeugen konnte. Heute ist es umgekehrt. Das Labor weiß es vor der Frau. Die Frau weiß von derkommenden Schwangerschaft, bevor sie erlebt werden konnte. Das ist uns selbstverständlichgeworden, wir erleben uns auf Befehl, wir erleben uns wie diagnostiziert, und in der Herstellung derneuen Selbstwahrnehmung spielt Visualisierung eine Schlüsselrolle.

Kindsregung ist ein haptisches Erlebnis. Das non-dum, das "noch-nicht" wurde gespürt undnicht gesehen, im Bauch erfahren und nicht erblickt. Es blieb im Dunkel unter der Haut, Teil einesLeibes, in dem Dinge fließen, strömen, stocken, Richtung haben, ohne daß man sie sich bildhaftvorstellte. Diesen Leib des 18. Jahrhunderts kenne ich aus Deutschland, England, Frankreich, Italienund Kanada. Ganz anders ist das mit dem heutigen Leib. Von Kind auf werden anatomische Bilderso gezeigt, daß sie sich erlebnismässig einprägen. Jedes Kleinkind lernt den Fötus kennen, der amFernsehschirm veröffentlicht wird. Die Technik der Klinik und die der Medien greifen nahtlosineinander: das Erlebnis des Leibes wird durch die Vorspiegelung innerer Sichtbarkeit geprägt. DasErlebnis der eigenen Körperlichkeit wird für viele Menschen seit fünzig Jahren technogen vermittelt.

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Ohne die Einbettung des Bewußtseins in einer gläsernen Welt, in der zunehmend auf Befehl gesehenwird, liessen sich die professionell geprägten Bedürfnisse des Körpers der modernen Frau nichterklären: vom Beratungsbedürfnis vor dem Schwangerschafts-Abbruch bis zu PMS, demprämenstruellen Syndrom. Kraß zeigt sich die somatogene Macht, also die körperbildende Prägkraftder technischen Symbolik, wenn ich moderne Schwangerschaft aus der Perspektive anderer Epochenzu deuten versuche.

Ich habe mich schon geweigert, dem heutigen medizinischen Bio-Ingenieur legitime Vorfahrenin der Ärzteschaft zu geben oder Frauen in der Barockzeit, die ich aus meinen Studien kenne, einen"Fötus" anzudichten. Das ist mein Weg, um an die Prägung des Bewußtseins und Erlebens durch dieSymbolmacht der Technik heranzukommen und heute schon Dinge zu sehen, die Zukunftsforschernim "noch nicht" zu liegen scheinen.

DIE KÖRPERGESCHICHTLICHE SCHWELLE DER 1990er JAHRE

Und damit komme ich zu meinem dritten Punkt: einer körperhistorischen Schwelle in denachtziger Jahren. In meiner Generation ging die Visualisierung des Körperinneren vor sich. Ichgehöre wohl zur letzten Phase der Epoche des "gläsernen Menschen", dessen erster ProphetLeonardo da Vinci war.8 Seit dem Naturkundeunterricht des Mädchengymnasiums habe ich mich bisins Innerste gehäutet vorstellen können. Zehn Jahre später im feministischen Aufbruch habe ichmich an der Selbsthäutung beteiligt. Für unsere Generation war die Haut keine Grenze mehr. Wirlernten die Dinge drinnen so zu spüren, wie wir sie in Aufklärungsbüchern zu sehen gelernt hatten.Die Visualisierung des eigenen Inneren wurde zu einer Mode in der Gesundheitsbewegung. MeineTante stand noch unter dem Einfluß ihres begeistert darwinistischen Hausarztes. Aufgeklärt wie siewar, stellte sie sich die Ontogenese in phylogenetischen Bildern vor -- als Würmlein, Fischlein,Krabbeltier. Mich hat der schwedische Photograph Lennart Nilsson mit seinen Life und SternBildern noch rechtzeitig erwischt. Die Leichenbilder Nilssons in den 60er und 70er Jahren zeigtenDinge von sichtbaren Dimensionen, die wir als solche verinnerlichen konnten. Was aber heute"gezeigt" wird, ist ein Bild von Unsichtbarem: digitale Anordnung von Molekülen, graphischeDarstellung von Flußdiagrammen. Schon das Volksschulkind spricht von seinem Körper als seinem"System". Schon junge Mädchen lernen mit dem "Mädchenpass", sich als hormonell "gesteuert" zuerleben und dementsprechend darauf vorzubereiten, später einem unabhängigen Immunsystem als"fötale Umgebung" zu dienen. Was noch abbildhaft ist am öffentlich paradierten Fötus dientzunehmend als Vorwand, hinter der ein durch Systemsprache entkörperter Zustand ausgebildet wird.

Und es ist dieser neue Fötus als Zygote, Blastozyt, als Immunsystem, dessen Zukunft zumHauptthema einer ganz neuen Wissenschaft geworden ist: der Bioethik. Die gab es vor 15 Jahren

7. Zedler. Grosses Vollständiges Universal-Lexicon ...Art. Schwangerschaft / Zeichen ...8. Katalog der Ausstellung des Hygiene-Museums Dresden: Der Gläserne Mensch. Berlin 1990.

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noch nicht. Heute verkauft sich die 500-seitige jährliche Bibliographie der Bioethik in zigtausendKopien. Diese Wissenschaft, die vorgibt eine Ethik zu sein, beschäftigt sich nicht mit Personenzwischen deren Geburt und Sterben, sondern mit sogenannten "Leben" "from sperm to worm", wieder Chicagoer Arzt Dr. Robert Mendelsohn das mit Ivan Illich formuliert hat. Die Bioethikbehandelt eine verwaltbare Sache unter dem Anschein, Ethik zu betreiben. Dies Unterfangen ist einOxymoron, ein Widerspruch in sich.

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2.3

Es fiel mir schwer, den folgenden Aufsatz in dieses Buch aufzunehmen. Zwischenmeinen gezielt streitbaren Einstiegen in diverse professionelle Arenen ist diese Plaudereiwohl eine Überraschung. Beim neunzigjährigen Jubiläum des Verbandes SchwäbischerHebammen in Ulm wollte ich nicht so sehr eine Festrede halten, sondernNichtakademikerinnen meine Art der Technikkritik lebendig verständlich machen. An diefolgenden Konversationen zum Ultraschall, zur Geschichte des Hebammenwesens nach derNazizeit, zu den neuartigen Ängsten, Verwirrungen und Zwiespältigkeiten der beiden anjeder Geburt beteiligten Frauen, erinnere ich mich besonders lebhaft.

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2.3 Kann die Hebammenkunst den Ultraschall überleben?1

Als Magdalene Weiss vor Monaten anrief und mich bat, bei diesem Jubiläumsfestmitzutun, zögerte ich. Eine Festrednerin wurde gesucht zum 90-sten Jahrestag derGründung des Hebammenverbandes Baden-Württemberg. Mein Zögern war keine Ziererei.Ich fühle mich nicht zur Festrednerin berufen und ermangele auch der Kompetenzen, dieman sich bei einem Hebammenjubiläum von so wem erwarten würde. Ich bin keineHebamme; noch bin ich Arzt, Genetiker oder Geburtsvorbereiterin; ich habe kein Kind; ichhabe niemals eine Frau im Gebären begleitet. Mein Zögern war also nicht unbegründet unddennoch habe ich zugesagt, denn so komisch die Auswahl des Vorbereitungs-Komitteesauch anmuten mag, sie gibt mir eine sehr willkommene Gelegenheit etwas zu sagen, woranmir viel liegt und von dem ich glaube, allerhand zu wissen. Denn trotz meinerUnfruchtbarkeit und trotz meiner lebenslangen Diskretion habe ich zwei Jahrzehnte langmich mit Frauen in ihren Wehen befaßt -- allerdings lauter Frauen, die seit Generationen zuden Toten gehören. Am meisten habe ich mich damit befaßt, wie Frauen Kinder in die Weltvon Kant, Lessing und Haydn hineingeboren haben. Und mein Wissen ist nicht auf dieseenge zeitliche Periode beschränkt. Um diese Frauen zu begreifen, mußte ich zweierlei tun:ich mußte mich immer wieder erneut mit der Tradition befassen, in der diese Schwangerendes frühen 18. Jahrhunderts standen. Denn in der Art, wie sie und ihre Helferinnen sichleibhaftig verstanden haben, steckt noch viel Ungebrochenes von dem drinnen, was wir ausder Tradition der Hippokratiker, des Galenus, Soranus oder der Hildegard von Bingenkennen. Und um die Gebärenden aus der des Johann Sebastian Bach nicht mißzuverstehen,mußte ich auch immer wieder erneut und mit Überraschung feststellen, wie vieles was michan ihnen heute befremdet, noch zu den Selbstverständlichkeiten der Schwangeren gehörthat, als meine Mutter mit mir schwanger ging. Nur durch diese Übung darin, dieZähflüssigkeit des körperlichen Magmas zu fassen, ist es mir möglich geworden, denabrupten und gründlichen Bruch im Körpererlebnis der schwangeren Frau zu verstehen,dessen Zeugen Frauen in meinem Alter alle gewesen sind.

PURZELBAUM IN DIE GEGENWART

Ich bin sicherlich nicht die einzige Frau, die heute morgen von dieser Epochenschwelleim Hebammenwesen sprechen kann. Eine Anzahl der Hebammen, die ihre Arbeitunmittelbar nach dem Krieg begonnen haben, sind noch unter uns. Und besonders

1 Vortrag in Ulm am 20.9.96: 90 Jahre Hebammenverband Baden-Württemberg

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diejenigen, die im Schwarzwald oder auf der Schwäbischen Alp und in Nestern wieWalheim oder Beutelsbach gewirkt haben, die erinnern sich, wie's da war:

"Die ganz Zeit d'Hand hebe ... Kreuzweh hen se ghabt, hab ichs Kreuz a bissle massiertoder einfach bei ihr sitze bliebe. Und wenn se gschwitzt hen, hat ma an Waschlappegnomme, was zu trinke bracht und Fürsorge für se ... Herztöne mit dem Hörrohr, ganzeifrig, genau. Und sie sind die ganze Zeit neben dem Bett der Frau gsässe oder in drWohnung bei ihr. Anders wie heut."2

Sie erzählen von ihrem Tun mit einer Mischung von Stolz und nüchternemSelbstbewußtsein, um das sie viele junge Frauen heute nur beneiden können:

"Und kindliche Lage, die Steißlage. Heute gibt’s ja ... bei Steißlage Kaiserschnitt. Des ischfrüher net gwäse. Hen Steißlage entwickelt. Des hen mir au mal glernt, aber bei jederSteißlage hat mer dr Arzt holen müsse ... han au zwei mache müsse, wenn niemand kamund dr Po vom Kind da ... Da schwitzt mer Blut... wie isch's ... was muß mer zuerschd, drHand, der Arm, des, wenn des do drin isch, muß mer des ja da drüber runter kriege. Ebbe,des sind die Blitzgedanke."3

Jahrhundertelang war das die Stimme der Geburtshelferin. Und nur durch das Studiumder Geschichte habe ich langsam verstanden, daß hier nicht gestottert wird, sondern einVersuch vorliegt, prä-anatomisch, ganz haptisch und nicht visuell vom Erlebnis einestätigen Beistandes etwas auszusagen, das von der modernen Hebamme, die am Phantom,am Atlas und am Bild-Schirm ausgebildet wurde, so garnicht mehr wahrgenommen werdenkann.

Meine Lektüre über das vergangene Leiberlebnis erlaubt es mir nicht nur, etwas vonder unvergleichbaren Andersartigkeit der vergangenen Beziehung von zwei Frauen zuahnen, ja vielleicht sogar zu begreifen. Meine Lektüre ermöglicht mir auch den Versuch,zwischen dem damaligen und dem gegenwärtigen Körpererlebnis zu pendeln. Das Heutealso im Spiegel der wiederbelebten Vergangenheit distanziert zu betrachten. Das kostbareGepäck, das ich vom anderen Ufer mitbringe, hilft mir dann einen Standpunkt einzunehmen,von dem aus ich die zwiespältige Situation der Hebamme heute ebenso wie die der ihranvertrauten Frauen besprechen kann.

2 Alle Aussagen schwäbischer Hebammen entnehme ich der schönen Magisterarbeit von Christine Köber,Schwangerschaft und Geburt als Zeitdiagnostik. Eine kulturanalytische Untersuchung über veränderteVorgehensweisen und Einstellungen nach 1960. Ludwig-Uhland Institut, Tübingen 1995, S.25. Das Zitatstammt von einer Hebamme, die 35 Jahre frei praktizierte und zwischen 1943 und 1979 ca. 4.500 Geburtenordentlich durchführte.3 Köber, Schwangerschaft, S. 44.

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Als Hebamme steht heute eine Geburtshelferin in einem mächtigen, vielarmigen,medizinischen Dienstleistungssystem. Sie ist zunehmend zu einem Agenten in einemkomplexen Programm geworden. Je nach dem Grad ihrer Lebendigkeit, ihrerFeinfühligkeit, ihrer Familientradition leiden Frauen verschiedentlich an dieserEntmachtung, Entkörperung und Unpersönlichkeit ihres Tuns: akuter als moderne Lehrer,Sozialarbeiter oder Berater. Der dadurch ausgelöste Frust hat viele Hebammen dazugebracht, sich aktiv in Kontroversen einzusetzen: Haus- oder Klinikgeburt? Vernunft oderUnvernunft der Schwangerschaftsvorsorge? Sinn oder Unsinn der medizinisch-technischenErfassung der Schwangeren? Oft überlagert dieser streitbare Einsatz der Hebamme inmedizinischen und sozialen Streitfragen jenen Frust, von dem ich sprechen möchte: einintuitives Wissen darum, daß die Geburt eines Kindes ein Ereignis ist, an dem zwei Frauenmiteinander tätig sind und nicht ein Frauenorganismus in den Fängen eines Systems, dasgelegentlich auch psychologische Massage mitliefert.

In der knappen dreiviertel Stunde, die mir hier zur Verfügung steht, will ich mehr tun,als auf diesen tiefen Frust, diese Desillusionierung, Enttäuschung, ja Kränkung derHebamme hinweisen. Ich will dieses spezifische Leid der Hebamme aus einer historischenDistanz so teilen, daß Sie auch als technisch ausgebildete Hebammen darin bestärktwerden, die Haltung der alten Geburtshelferinnen in sich zu wecken und auszubilden. Nichtum ihrer eigenen Genugtuung willen oder um im Rahmen des Medizinsystems demVerband größere Unabhängigkeit zu erobern, sondern aus Zuneigung der Geburtshelferinzu den Frauen, die sie in Schwangerschaft und Geburt begleitet. Eine Zuneigung, die heutenötiger ist als jemals zuvor.

Was ich mir da zum Ziel gesetzt habe ist nicht der Traum einer verzopftenRomantikerin. Nein, es ist der Versuch der Historikerin, die zwischen dem Damals und demHeute schaukelt, ganz konkret von der historisch neuartigen Zwieschlächtigkeit desFrauseins in der Gegenwart eine Aussage zu machen. Denn ich glaube fest, daß diemoderne Hebamme -- viel tiefer noch als die alte Hexe -- Zaunreiterin sein kann, wenn siees will: nur als kompetente Agentin der Geburtsmedizin, kann sie sich die Freiheitverschaffen, sich der Schwangeren als Geburtshelferin zuzuwenden, ihr den Beistand zugeben, der eine Voraussetzung dafür ist, daß diese mit Ruhe, Vertrauen und Hoffnungschwanger gehen kann, um schließlich nach neun Monaten ihr Kind zu gebären. Und umdas tun zu können, müssen diese zwei Seinsformen, die des AGENTEN und die derCOMADRE -- oder comadrona, wie sie in den romanischen Sprachen genannt wird -- alsHaltungen verstanden werden, die nicht aufeinander reduzierbar sind - so wie man ausblauer und gelber Farbe grün mischen kann - sondern als zwei Welten nebeneinanderbestehen: die Reduktion zu einer Funktionärin einerseits neben der mühsam geleistetenAnwesenheit andererseits. Und das kann eine Frau nur leisten, wenn sie in diesergespaltenen Position an der alten, trivialen Weisheit festhält, daß Hebammenkunst in derGeburt die Entbindung einer Frau ist - und nicht eine technisch kontrollierte "Lebens-

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Produktion" - und Schwangerschaft der Zustand einer Frau - nicht das technischüberwachte und gesteuerte Programm, in dem die Frau dazu verführt wird, sich 9 Monatelang als Umfeld eines Prozesses zu erleben, dessen Stadien zu Emblemen der Gesamtkulturgeworden sind: vom befruchteten Ei, zur Einnistung des Mehrzellers im Uterusgewebe,zum Embryo, zum Fötus - und das alles im genetischen Denkstil.

SIEB-TECHNOLOGIEUm diese Haltung plausibel zu machen, will ich die Wirkung einer gynäkologischen

Technik besprechen, die in weniger als zwei Jahrzehnten so zum Bestandteil einer jedenärztlich überwachten Schwangerschaft geworden ist, daß manche sie mit der Natur derSache verwechseln -- den Ultraschall.4

Diese moderne, elegante Technik der Sichtbarmachung von Massen im Inneren desKörpers ist schon in den 60er Jahren als diagnostisches Mittel in der Inneren Medizin undChirurgie eingesetzt worden. Erst in den 70er Jahren zog sie in die Geburtshilfe ein; 1979wurde in der Bundesrepublik die Ultraschall-Lotung als diagnostische Routinemaßnahmewährend der Schwangerschaft eingeführt. Zweimal sollte nach den"Mutterschaftsrichtlinien" jede Schwangere beschallt werden, bis vor einem Jahr die untereGrenze auf drei Beschallungen erhöht wurde. In der Praxis, das wissen Sie, gehört derSchallkopf zum Butterbrot des Gynäkologen: nirgendwo auf der Welt wird so viel geschalltwie in Deutschland; wenn die kassenärztlichen Abrechnungen in einem Jahr imDurchschnitt sieben Beschallungen pro Schwangere kassierten,5 können wir uns vorstellen,was das im Einzelfall heißt. "Lassen Sie uns einmal nachschauen", sagt der Arzt zur Frauund am Ende der Schwangerschaft ist das Ungeborene zwanzigmal traktiert worden.

Zweifel an dieser massenhaften Anwendung äußern inzwischen auch Fachleute. Dieeinen rechnen vor, daß der routinemäßige Einsatz weder auf Schwangerschaft und Geburtnoch auf die Gesundheit der geborenen Kinder positive Wirkungen hat, die sich statistischerfassen liessen.6 Andere dagegen sind überzeugt, daß durch diese Lotungen therapeutischeHilfeleistungen für den Fötus ermöglicht werden, die positive Konsequenzen für den Fetzeitigen könnten. Andererseits wird behauptet, daß durch Massenbeschallung fehlerhafteFeten rechtzeitig erkannt und vorgeburtlich abgetrieben werden können, was spätereKlagen gegen die Mutter wegen unzumutbaren Lebens erübrigt. Von dieser Seite wirdallerdings bedauert, daß in der deutschen Praxis trotz Mehrfachanwendung in den letztenJahren die meisten Fehlbildungen übersehen werden; wieder andere weisen darauf hin, daß 4 Eine gute Einführung zur Geschichte des Ultraschalls in der Geburtshilfe: Ann Oakley, The CapturedWomb. A History of Medical Care of Pregnant Women. Oxford 1984: zum Ultraschall in derSchwangerenvorsorge Eva Schindele, Schwangerschaft zwischen Guter Hoffnung und MedizinischemRisiko. Hamburg 1996.5 Schindle, Schwangerschaft, S. 69.

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nicht nur die "Aufdeckungsquote"7 zu wünschen übrig läßt, sondern daß auch die "falsch-positiven" Befunde enorm hoch sind. Es ist wahrscheinlich, daß die Häufigkeit vonFehldiagnosen depressiv auf die Schwangeren wirkt. Drittens ist die Vermutung nicht mehrvon der Hand zu weisen, daß geringfügige Folgen, wie Unruhe des Ungeborenen odervermutete Nebenwirkungen wie Nabelschnurumschlingung oder geringeres Geburtsgewichtder häufigen Beschallung zuzuschreiben sind. Einige Jahre lang wurden die einfachenGeräte, die mit geringer Intensität und 2-10 MHz arbeiten, für relativ unschädlich gehalten;eine Meinung, die heute kaum mehr vertreten wird. Kurz zusammen gefaßt: ob das Dinginsgesamt der werdenden Mutter nützt, läßt sich bezweifeln, und wie sehr es ihr und demKind schadet, weiß kein Mensch.

Von Frauen, Hebammen und Schwangeren sind vor allem die sozialen Folgen derRoutine-"Durchsiebung" kritisiert worden.8 Seit der Einführung des Ultraschalls ist derAnteil der Frauen, die als "Risiko-Schwangere" eingestuft werden, steil angestiegen. InNiedersachsen entgehen derzeit nur 36 von 100 Frauen dem Etikett der "Risiko-Schwangeren". Das ehemals diagnostische Instrument in einer klinischen Anamnese wirdnun weitgehend dazu eingesetzt, das Nicht-Vorhandensein von Pathologie in Serien derBeschallung zu bestätigen - Zweck und Mittel haben sich also verkehrt. Während am Fötusals dem Objekt der Überwachung gerade in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft immerneue "Fehler" diagnostizierbar sind, können die Ärzte nicht therapieren: ein "Patient" wirdhergestellt, dem bei lebendigem Leibe nicht zu helfen ist.9 Die Maschine löschte in wenigenJahren bei den Gynäkologen den Tastsinn aus; die Arbeit der Hebammen wurde symbolischentwertet, weil sie derartiges Gerät nicht brauchen; schließlich untergräbt die technischvermittelte Entwertung ihres Wissen auch das Selbstbewußtsein der Hebammen.10

Dies alles ist bekannt. Viele hier im Saal wissen es besser als ich. Warum soll ich andieser Gebetsmühle weiter kurbeln? Ich erinnere, wie auf dem letzten Kongreß derdeutschsprachigen Hebammen in Friedrichshafen im Oktober 1995; mit Beweisen aus derStatistik ein Referent die medizinische Ineffizienz und die vermuteten schädlichen

6 Schindele, Schwangerschaft, S. 70.7 Schindele zieht eine österreichische Studie heran, die nachweist, daß nur jede fünfte Fehlbildung vomniedergelassenen Gynäkologen erkannt wird. Ärztezeitung 19.11.92.8 Knapp und präzise dazu, wie der Einsatz des Ultraschalls Frauen beängstigt in dem Maß wie er'Sicherheit' gibt: Beate Zimmermann, Wie Schwangere zu Patientinnen werden. In: Die kontrollierteFruchtbarkeit. Neue Beiträge gegen Reproduktionsmedizin, hg. von Eva Fleischer und Ute Winkler. Wien1993, S.95-106.9 Margre Brak et al. Routine echoscopie in de eerstelijns verloskunde? Tijdschrift voor Verloskundigen,März 1992... These und Ergebnis des Aufsatzes: weder liefert der Routine Einsatz des Ultraschalls zählbarbessere Resultate, noch weniger Interventionen. Die exakte Prognostik des Geburtstermins und der Lage,Reife und Dauer der Schwangerschaft verfehlen ihre suggestive Wirkung nicht: gerade bei Erstgebärendenhat sich mit dem Einsatz der Technik die physiologische Schwangerschaftsdauer verkürzt.10 Köber, Schwangerschaft, S.86 zitiert dazu eine erfahrene Hebamme: "Und durch des, daß mer des jetztgmacht hat, traued sich au Hebammen viel weniger zu, weil irgendwo is da des Gefühl da, wenn i des soeinfach mach mit meine Händ ... isch des denn scho alles? Weil es is garnet soviel zum Gucke."

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Konsequenzen der Technologie herunter buchstabierte. Ich verstand aus seinersachkundigen Analyse, daß der Ulstraschall nur dort dem erfahrenen Tastsinn in derSchwangerenvorsorge überlegen ist, wo man nicht von "Diagnostik" im traditionellen Sinnesprechen kann: bei der Selektion von Mißbildungen, die durch "Feinsiebung" herausgefiltertwerden. Und dann kam der Satz: "dennoch, der Ultraschall gehört heut zum Besitzstandder Schwangeren!" Und, nochmals der vortragende Mediziner: "wir müssen den Frauenselbst überlassen zu entscheiden, was sie an technischem Einsatz wünschen und was nicht!"Dieser rhetorische Trick, durch den der schwarze Peter geschwind den Platz wechselt, wirdoft aufgetischt, wenn jemand die geringe Brauchbarkeit des Ultraschalls als diagnostischesMittel nachweist. Die Kritiker aus den Reihen der Medizin ziehen ihn als Trumpf aus derTasche. Dagegen ist meiner Kenntnis nach nur ein Kraut gewachsen : historische Distanzund eine Sicht auf die Sache, die mit den Füßen fest ihren Anhaltspunkt im Vergangenensucht.

DER HISTORIKER IN DER TRADITION DES TRICKSTERSWer bin ich, daß ich es mir erlaube, an das Tabu der "Selbstbestimmung" und

"Entscheidungsfreiheit" der Schwangeren zu rühren? Ich schulde Ihnen eine Antwort. Ichbemühe mich Geschichte zu betreiben. Der Historiker ist für mich einer, der in derNachfolge des Taschenspielers steht. Mit meinen Geschichten zum erlebten Körper damals,versuche ich, die Taschenspielerkunst neu zu beleben.

Ohne den Spieler, nein, den Trickster, so sagen uns die Ethnologen, könnenGesellschaften nicht existieren: bei den Yoruba ist es der Eshu-Elegba, bei den Norwegernder Loki, Hermes ist der grosse Witzbold, Tireisias, der erblindete und gleichzeitigbeschenkt wurde, als er die nackte Göttin ansah und Phithia, die im Trance sehen konnte.Alle diese Trickster kommen vom anderen Ufer. Sie sind begabt, den Konsens zu brechen.Im Zeitalter des Systems und der Logik und der Wissenschaft11 haben wir Fenster undTüren fest gegen den Witz des Tricksters verrammelt. Als eine Historikerin derWahrnehmung und Erfahrung von Frauen, will ich in die Fußstapfen des Tricksters treten,mich an die Stelle der Zaunreiterin setzen. Ich möchte Ihnen den Narrenspiegel vorhalten,in dem die heutigen Gewißheiten zerstieben.

DAS PRIVILEG DER HEBAMMENDie Gelegenheit für eine solche befreiende Deppertheit ist überfällig: in keinem Winkel

des Gesundheitssystems ist eine kritische und gewitzte Haltung den eingeschliffenenVorurteilen und Vorannahmen gegenüber so reif wie bei den Hebammen. Denn, wie ich

11 Auch die Hebammenforschung scheint mir manchmal von der Wissenschaftsgläubigkeit infiziert zu sein,die auch meinen Studentinnen in den Knochen steckt.

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eben am Ultraschall zu zeigen suchte, können auch radikalere Medizinkritiker sich nicht zurEinsicht durchringen, daß der Medizinbetrieb den Patienten neu definierte. Nur unter denHebammen erkennen viele der erfahrenen Praktikerinnen die Macht der somatogenen,körper/prägenden Technologie, die Bedrohung durch angst-machende Statistiken, dieKränkung durch Befragungs-Techniken, die das Selbst auslöschen und die Lähmung derWahrnehmung durch die Terminologie des Bio-Quack: Einnistung, Fötus, Genom, Risikound so fort. Eine Versammlung von Hebammen ist wohl das eine Milieu innerhalb desMedizinbetriebes, wo man auf Verständnis hoffen kann, wenn man zeigt, daß die Medizinseit langem die Patientin, die ihr als Klientin paßt und die sie braucht, selbst geschaffen hat -und zwar Körper und Kopf. An keinem der Vielzahl von technisch vermittelten Eingriffen,denen die typische Frau heute in der Vorbereitung und im Verlauf ihrer Schwangerschaftausgesetzt ist, läßt sich dieser Zirkel von Körperbehandlung und -herstellung so deutlichzeigen wie am Ultraschall.

ZWEI ARTEN DER TECHNOLOGIEKRITIKEs gibt zwei Arten in der Technikgeschichte, die Folgen von Technik zu untersuchen.

Was ich vorhin kritisch vom Ultraschall referierte, ist charakteristisch für die eine Art derFragestellung, bei der man überlegt, was Technik tut. Welche Optionen eröffnet dieVerwendung dieser Technik in der Medizin? Ohne den Ultraschall gäbe es z. B. dieAmniozentese so nicht; Was tut der Ultraschall den Geweben an? Also Wirkungen undNebenwirkungen; Welche Folgen zeitigt seine Verwendung auf die Rechtslage von Frauen?Ohne Ultraschall hätten die Karlsruher Richter im Urteil um Paragraph 218 den Fötus wohlnicht so selbstverständlich zum Rechtssubjekt erhoben und mit Würde und Ansprüchenausgestattet; Wem dient diese Technik und wodurch? Wie schleust die Technik früherunbekannte Qualitätsstufen in die Schwangerschaft ein? Der Ultraschall schafft neueSpezialistengremien und verursacht neue Kosten für die Versicherungen. Wie verschiebtder Ultraschall das soziale Gefälle zwischen niedergelassenen Gynäkologen undfreiberuflichen Hebammen? Nicht nur physische Pathologie und soziale Umschichtungerzeugt also die neue Technik, sie eröffnet neue Forschungsansätze, neue Einkommen, neueFachdisziplinen.

Ein ganz anderer Zugang zur Bewertung der Technik und ihrer zeitgeschichtlichenWirkmacht fragt nicht danach, was Technik tut, sondern nach dem, was eine neue Techniksagt: welche Vorstellungsformen, Wahrnehmungsstile und Befindlichkeiten sie durch ihreExistenz und Anwendung vermittelt. Im Kopf und im Fleisch. Was sagt die Technik denen,die sie bedienen, denen, in deren Dienst sie angeboten wird? Und schließlich denen, dieweder an der Technik verdienen, noch durch sie bedient werden und die nur Zuschauersind, wie die Ehegatten und Partner. Und wie, in welcher Instrumentalität "spricht" dieTechnik -- in unserem Fall so laut, daß sie die Abhängigkeit von Dienstleistungen alsWünsche einflüstert. Keine medizinische Technik der Gegenwart hat sich so folgenreich in

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der Alltagswahrnehmung der gebärfähigen Frauen eingenistet wie die Ultraschall-Lotung.Nicht die Kernspinn-tomographie, nicht der Blutdruckmesser, auch nicht das CTG.

Die Frage, die wir uns stellen wollen, ist also die nach der einzigartigen symbolischenPrägmacht des Ultraschalls. Die chemischen und biologischen Analysen wie derSchwangerschaftstest oder der Hepatitis-Test oder andere Blut- und Urin-Analysenvermitteln keine Gestalt. Der Blutdruck- oder Zuckermesser bestimmen bei begrenztenPatientengruppen Gefühle, aber kein Bild. Die Kernspinntomographie und magnetischeResonanz werden einstweilen nur von wenigen mit einem eigenen Erlebnis verbunden. Ander Beschallung hingegen läßt sich zweierlei in einzigartiger Prägnanz untersuchen: diesomatogene Macht einer spezifischen Technik und die Herstellung eines psycho-somatischen Bedürfnisses nach einer Synthese von Fleisch und Kybernetik im Zeitalter vonWindows 95. Wie es eine Hebamme aus Göppingen einmal gesagt hat: "Des is doch anQuatsch und des wird a Wunsch".12

Zu dieser somatogenen Wirksamkeit eines zweifelhaft nützlichen und wahrscheinlichschädlichen, kostspieligen Rituals möchte ich gerne vier Thesen aufstellen. Vielleichtgelingt es mir, sie plausibel und diskussionswürdig zu machen: unterbauen und beweisenkann ich sie in den verbleibenden 15 Minuten nicht.

1. Die Interaktion der Schwangeren mit dem Bildschirm des Ultraschallgerätes entkörpertdie Frau.

2. In dieser Interaktion des Blickens mit dem Phantom der eigenen Innerlichkeit wird dieSinnlichkeit der Wahrnehmungsorgane abgebaut, ja gelähmt.

3. An die Stelle der haptischen, also tastend-ergreifenden Wahrnehmung, die sich kaum inWorten und nur symbolisch in Bildern ausdrücken läßt, tritt eine heterogene, also fremd-bestimmte Verkartung, an der sich fortan die - - nun primär optische - Autozeptionorientiert.

4. In dieser Vereinnahmung durch das instrumentell hergestellte Phantom des eigenenInneren wird auch in jedem Moment ein Qualitäts-Urteil vermittelt: eine vielfacheBewertung des inter-uterinen Neoplasmas und seines biologischen Umfeldes. Aus demintuitiven, historisch traditionell verankerten und einzigartigen Erlebnis der "GutenHoffnung" wird ein Dossier für Planung, Versicherung und Diagnostik.

12 Dieser klassische Satz zur Bedürfniserzeugung durch Technik bezog sich auf die Epiduralanästhesie,siehe Köber, Schwangerschaft, S.50.

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Ich will diese Thesen besprechen, auch wenn ich beim Durchdenken der Sache ganztief traurig werde: beim Gedanken an diese Frauen, oft diese Freundinnen, die das Lachenverlernt habe. Frauen, die einen Anspruch auf das Wunschkind nach Maß erheben.

ZUR GESCHICHTE DES ENTKÖRPERNDEN BLICKS

Heute hüten sich schwangere Frauen vor Schlafmitteln, kaltem Tabakrauch undGemüse aus der Gegend von Tschernobyl. Den Frauen, mit denen ich mich befaßt habe,ging es um die Hut der Augen: sie hatten Angst vor dem Blitz oder dem Brand derScheune, die sich über ihre Augen im kommenden Kind eingraben würden. Sie hattenAngst vor dem bösen, neidischen Blick der Unfruchtbaren. Sie wußten etwas von derGewalt ihrer geschwängerten Lüste, die "les envies" auslösen konnten -- auf den ganzenKuchen, den vollen Krug Bier.13

Ich will jetzt etwas vom Blick der Schwangeren heute sagen: von der Gefährdung derwerdenden Mutter durch den Anblick, den Ausblick und die Einsicht, die ihr dasMedizinsystem heute aufschwätzen. Denn kaum ist ihre Schwängerung diagnostiziert undschon wird sie zum Objekt unzähliger, ihr undurchsichtiger Verfahren. Früher galtenRichtlinien für das Benehmen von Beamten; seit 1965 hat die Inflation der"Mutterschaftsrichtlinien" eingesetzt. Die meisten Resultate der Vermessungen, die an ihrvorgenommen wurden, werden ihr auch in etwa als Tabellen und Werte, als Teller undKurven, als Schatten und Umrisse gezeigt. Sie nimmt das Drum und Dran wahr, kann abermeist das Warum und Wozu nicht durchschauen. Im Laufe der letzten 20 Jahre sindvorschriftsmäßige "Vorsorgen" zur Schwangerschaft um 500 % gestiegen. Ein Minimumvon 190 Einzeluntersuchungen werden von der "einfachen Vorsorge" vorgeschrieben,typisch aber sind insgesamt 250 diagnostische Prozeduren, die sich auf 20 Sitzungen imLaufe der 9 Monate verteilen, vom Tripl Test zur Dopplersonographie, dem Vaginal-Ultraschall und der HIV Reaktion.14

Alle diese Maßnahmen haben umstrittenen Wert, stellen Belästigungen und Kosten darund sind nicht ohne Gefahr. Jede Maßnahme sagt etwas zur Frau, zeigt ihr etwas. Ich fragemich was sie ihr sagen. Sicher scheint mir, daß mit jeder Einladung einem Verfahrenzuzustimmen, mit jeder routinemäßigen Entnahme von Blut oder anderen Säften, mit jederDurchleuchtung und Vermessung der Frau bescheinigt wird, daß "hier etwas hättevorliegen können", auch wenn einstweilen wenigstens "nichts vorliegt" und alles derzeit "inOrdnung ist". Subtiler könnte man die schwangere Frau nicht verängstigen, geschickter ihreBefindlichkeit garnicht von einem fremden Urteil abhängig machen. Die Frau, die voll bei

13 Dazu Yvonne Verdier, Drei Frauen. Das Leben auf dem Dorf. Stuttgart 1982.14 Zur Häufung der Interventionen in der modernen Schwangerschaft, siehe den Sammelband einer Tagungin Bremen: 'Unter anderen Umständen'. Mutter werden in dieser Gesellschaft, hg. Bremische Zentralstellefür die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau, Bremen 1997.

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Sinnen schwanger wurde, lernt so ihren Sinnen nicht mehr trauen. Wie es ihr geht, was ihreAussichten sind, lernt sie sich sagen zu lassen. Genau jene Selbstsicherheit, jenes Vertrauendarauf, daß die Natur schon weiß, was sie tut, jene "gute Hoffnung", in deren Dienst dieGeburtshelferin stand, werden hier untergraben. Das Angebot an gynäkologischenLeistungen steigert deren Produktion und deren Konsum schafft neue Nachfrage, ja neueBerechtigungen.

"Ich frag immer -- sagt eine alte Hebamme über ihren Geburtsvorbereitungskurs --'Sind Sie gwäse?' Ja. 'Und wie isch's?' Ja, s'isch in Ordnung. 'Ja und wie fühle Sie sich?' Ha,ich bin beruhigt. 'Des isch wichtig. Wenn mer weiss, s'isch alles in Ordnung, wenn merdenkt, des isch net in Ordnung ...'15

VOM SCHWUND DER SINNE, VON DER LÄHMUNG DER WAHRNEHMUNG

Noch tiefer als Messungen und Labor-Untersuchungen wirkt aber die Technik derVisualisierung, um die es uns hier geht. Die Schwangerschaft ist in den letzten Dekaden zueinem körperlichen Zustand geworden, der einzigartig durch Techniken derSichtbarmachung von vormals Unsichtbarem geprägt wurde: Eletronenmikroskop,graphische Veranschaulichung von statistischen Häufigkeiten und der Ultraschall. Jededieser Techniken wirft einen anderen symbolischen Schatten auf die Schwangere. DieUltraschall-Lotung wirkt in ihrer klinischen Anwendung besonders tiefgreifend auf daskonkrete Erleben des eigenen Körpers und des eigenen Kindes -- und zwar in der neuenklinischen Situation, in der Frauen lernen, sich ihren Zustand durch dieBildschirmvisualisation digital verarbeiteter Vermessung von Gewebedichtigkeiten als"Herzenssache: Mein Baby" interpretieren zu lassen.

Beim Ultraschall in den Bauch wird je nach der Dichte des Gewebes dort, wo es vonder Schallwelle getroffen wird, ein Echo von verschiedener Stärke zurück geworfen. DiesesEcho wird elektronisch in unterschiedlichen Meßwerten beziffert. Jeder Meßwert wird ineinen Grauton umgesetzt und aus winzigen Quadraten dieser Grautöne entsteht ein Mosaik,das als Polaroidabzug oder als Video-Verzeichnung nachhause genommen werden kann.

Vor zehn Jahren war an den "Grautönen" noch wenig zu sehen, kaum mehr als einharter zerfranster Schatten, in dem sich nur mit gutem Willen und dem Kommentar einesExperten Rumpf und Glieder als Umriß ausmachen ließen. Aber die Bildauflösung wurdeinzwischen erheblich verbessert und die Technik wurde so gestaltet, daß die Schwangeregemeinsam mit dem Arzt in real time vermeintlich in ihren Bauch "gucken" kann. Miteigenen Augen kann sie den Ablauf eines biologischen Prozesses betrachten und ihm

15 Köber, Schwangerschaft, S. 29, siehe auch Fn 12 im alten Konzept.

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Wirklichkeitsstatus verleihen. "Die Wahrnehmung der Frau wird biologisch objektiviert"habe ich das 1991 gefaßt. Diese Einladung zur Verquickung ihrer Herzenswünsche undPhantasien mit dem biologischen Prozeß, dessen Entwicklung sie verfolgt, ist für mich einSkandal. Ebenso die Verquickung des Phantoms in ihrem Bauch mit dem "öffentlichenFötus" als einem Emblem für "ein Leben". Im "Blick" der Schwangeren auf den Bildschirmdes Ultraschallgerätes wird ihr Gesichts-Sinn von der wirklichen Welt, der sicht- und tast-und erlebbaren Gegenstände abgetrennt, um aus 320x200 Pixel etwas Neues zu fabrizieren,das auch "Körper" sein soll. Sie schaut in einen stockdunklen, technisch konstruierten"Raum" hinein und Ihr "Gesicht" wird dazu veranlaßt, dort ihr kommendes Kind zu"sehen".

VERKARTUNG: QUALITÄTSBLICK UND QUALITÄTS-PRÜFUNG

Mit dem "Körper", der bei Sinnen sein kann, schwindet auch die Grundlage, auf der inanderen historischen Epochen ge-urteilt und be-urteilt wurde: der Gemeinsinn, der sensuscommunis, der "common sense". So wurde bis in das frühe 18. Jahrhundert hinein vonPhilosophen und Medizinern ein Sinn genannt. Alle wußten, daß es ihn gab, auch wenn erverschiedentlich verortet wurde: hinter der Nase, im Herzen oder im Bauch. Seine Aufgabebestand darin, die anderen fünf Sinne gegeneinander abzuwägen und die Wahrnehmungdavon zu ermöglichen, was "gut" ist und worauf man sich verlassen und einlassen kann. Mitdem Gemeinsinn wurde die Grundlage der "guten Hoffnung" gelegt.

Im späten 17. Jahrhundert verschwand der Gemeinsinn weitgehend aus der Anatomieund wurde zu einem Begriff in der Rechtsprechung. Der historische Prozeß derEntkörperung des Guten und der Hoffnung konnte damit einsetzen. Dieser Prozeß erreichtmit den "Mutterschafts-Richtlinien" der 1980er Jahre sein Ende. Die Zuneigung derSchwangeren zum Kommenden wird mit einem ebenso fiktiven wie objektivierten "Körper"besetzt: in der Interaktion des Blickens mit dem Phantom der eigenen Innerlichkeit wird dieSinnlichkeit der Wahrnehmungsorgane abgebaut, ja gelähmt; und weiter: was dieSchwangere "sieht" und was ihr der Gynäkologe als "ihr Kind" deutet, erscheint auf demBildschirm zwischen den Koordinaten von zwei Messleisten, die auf eine Fötenklasse alseinem statistischen Durchschnitt kalibriert sind. Die genau genommen ohnehin nur"vermessene Masse", die ihr als ihr "Kind" vorgestellt wird, bietet sich im Rahmen einerregistrierenden, prüfenden und folglich technisch-verwaltenden Erfassung eines Körpersdar, dessen Normabweichung oder -passung schon durch die Koordinaten gegeben ist. Wirwissen wenig darüber, was diese mit den eigenen Augen konstatierte Kalibrierung ihresKindes zwischen Abweichung oder Paßgerechtigkeit in Bezug auf den jeweiligenDurchschnitt vergleichbarer Fetenpopulationen der Frau mitteilt. Die Hilflosigkeit vonSchwangeren, zum Angebot des genetischen screenings "ihres Kindes" ein klares Nein zu

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sagen, ist wohl auch in dieser Vereinnahmung ihrer Sinnlichkeit durch das instrumentellhergestellte Phantom des eigenen Inneren begründet.

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2.4

Die IPPNW, die "Internationalen Ärzte gegen den Atomkrieg", haben sich im Laufeder 80er Jahre zum medizinkritischen Forum innerhalb der Ärzteschaft gemausert. Ich hieltdiesen Vortrag auf der Jahrestagung anläßlich des zehnjährigen Bestehens der DeutschenSektion im Februar 1992 in Berlin. Im Spiegel der Körpergeschichte habe ich es versucht,auf eine vierfache Diskontinuität zwischen der westeuropäischen Tradition ärztlichenBeistands und der professionellen Funktion des heutigen Mediziners aufmerksam zumachen. Ich wollte das Augenmerk dieser Elite engagierter Praktiker von der Kritikmedizinisch verursachter, also "iatrogener" Gesundheitsschädigung zur Kritik deriatrogenen Entkörperung der Patientin lenken.

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2.4 Vom schmalen Grat des Arzt-Seins: Der iatrogene Körper 1

Schon mehrmals bin ich im Laufe dieser letzten Jahre aus meiner Eisenacher Praxis des18.Jahrhunderts auf einen Kongreß gerufen worden. Meine Gastgeber waren zu anderenMalen Wissenschaftshistoriker, Beraterinnen bei Pro-Familia, Semiotiker oderTechnikgeschichtler. Ich habe noch niemals zu einem Kongreß von Ärzten gesprochen, alsozu Leuten, die behaupten in der Nachfolge von Doktor Pelargus Storch zu stehen, in dessenAllgemeinpraxis am Thüringisch-Wettinischen Hof ich mich eingearbeitet habe. Etwaswackelig ist mir schon bei dem Gedanken, jetzt vor eine internationale Gesellschaft vonMedizinern zitiert worden zu sein.

Was meine Verdutztheit noch vergrößert, ist das Thema. Seit Jahren bin ich in einerArztpraxis des frühen 18. Jahrhunderts zuhause. Was mich dabei beschäftigt, ist nicht dieWirksamkeit der Storch'schen Rezepte, sondern der damals erlebte Leib der Frauen inseiner Praxis. Meine Forschung richtet sich auf das Erlebnis der Verstockung, der irrendenFlüsse, der kalten Mutter, der ersten Regung des Kindes, von denen die Frauen dem Arztklagen. Ebenso versuche ich, die vom Arzt zwischen 1721 und 1741 unternommenenVersuche zu verstehen, das Frauenblut in die der "Natur" entsprechenden Bahnen zulenken. Ich bin also bei einer Generation von Ärzten zuhause, deren Arztseinuntergegangen ist.

Hier soll ich von einem ganz anderen Thema sprechen: dem "schmalen Grat desArztseins" heute: im Zeitalter der Versicherungen, der Immunologie, der Systemanalyse,der Synapsen und der sogenannten Bioethik. Als mir das Thema vorgelegt wurde, dachteich beim "Grat" an beschädigte Wirbel. Erst langsam verstand ich, wie tief die ethologischeAporie, die benehmensbezogene Ausweglosigkeit sein muß, die zur Wahl dieses Titelsgeführt hat.

An die zwei Dutzend Vorträge stehen ja auf dem Kongreß-Programm der "Ärzte fürdie Verhütung des Atomkrieges", der hier im Berliner Kongreß-Zentrum läuft. Und nur eineinziges der Referate im Plenum hat das Arzt-Sein zum Thema. Und gerade für diesesThema haben sie mich, eine Kultur-historikerin eines untergegangenen Frauenkörpers undeiner unvorstellbar gewordenen Praxis, eingesetzt. Im Eisenach meines Stadtarztes gab esfast nichts von dem, was heute zum Stand, zum Wissen, zur Ideologie und zur Praxis des

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Barbara Duden: Vom schmalen Grat des Arzt-Seins: Der iatrogene Körper 65

Arzt-Seins gehört. In meiner Praxis gab es keine Laborantin, keine Sekretärin, keinVersicherungs-Formular; keine Kunstfehlerklage; kein Antibiotikum, Diazepam oderAspirin; keine Statistik und auch keine Einweisung ins Krankenhaus. Arzt-Sein damals warunvergleichbar mit der Ausübung einer modernen Profession. Was kann wohl so wer wieich sagen, wenn Hunderte von Ärzten sich treffen, um im akuten Bewußtsein Ihres "Arzt-Seins" Rüstung, Wiedervereinigung, Drittwelt, Ozon oder iatrogene Schäden zuverhandeln?

Was kann ich Ihnen bieten? Na, wenn Sie mitkommen wollen, kann ich Perspektiveschaffen: disziplinierte Entfremdung. Ich kann Sie zum Studium einiger casus einladen, dieder Eisenacher Stadtphysikus Storch notiert, kommentiert und überliefert hat. Im Spiegeldieser seiner Praxis kann ich Sie dann mit Befremden auf das Treiben derer gucken zulassen, die sich heute Ärzte nennen. Damit ließe sich am Beispiel des Arztseins die Frageüber "den schmalen Grat des Menschseins heute" stellen, die garnicht mehr soselbstverständlich ist wie früher. Ich war vor kurzem auf einem Monsterkongreß in Essen.Das Kongreßthema dort war die "Neudefinition des Menschen im Zeitalter desComputers". Kurz und bündig war das Kongreßthema beschrieben: auf dem Programmstand die Umgestaltung der Natur des Menschen. Da sollte diskutiert werden, ob und inwelchem Masse technologischer Fortschritt in eine solche Umgestaltung mündet. Bei einersolchen Erörterung will und kann ich nicht mitreden. Denn dort, wo die Natur desMenschen der Technik anheim gestellt wird, muß ich schweigen. Ich muß schweigen, wenndie Natur, der Mensch, der Körper zur Ziffer gemacht werden, zur Variablen, zu etwasalso, das mir als Historikerin unter diesem Namen unbekannt ist. Denn wenn so mitWörtern umgegangen wird, verlieren sie den Ankerplatz im Herzen, in der Leibhaftigkeitund jedes Echo im Geist. Dann wird es möglich, den entkörperten Menschengeist imdigitalen Alltag der künstlichen Intelligenz gegenüber zu stellen.

Andererseits würde ich in eine semantische Falle steigen, wenn ich dort mitredenwollte, wo Natur der Machbarkeit unterworfen werden soll. Wo das angenommen wird, daist der Unterschied zwischen Gut und Böse schon getilgt, um garnicht von dem zwischenLeiden und Schmerz, zwischen Innigkeit und Libido zu sprechen.

Der Ankerplatz, von dem aus ich mein klares "Nein" zu einer solchen "Neudefinitiondes Menschen" wagen kann, ist die Vergangenheit. Und dazu will ich Sie einladen. Wennmir diese Führung in die Vergangenheit auch nur annähernd gelänge, dann ließe sich geradeaus der Perspektive einer untergegangenen Epoche dieser rasante Verlust von historischerSelbstverständlichkeit überhaupt erst sehen. Und aus dem Blickwinkel einer alten Praxiserscheint dann unser "Sein" -- Arztsein und Menschsein gleichermaßen - unglaublich:

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einigermaßen verrückt und hoffentlich auch komisch. Vielleicht hat das Programmkomiteeeinen Gedankenblitz gehabt und diese Außenseiterin eingeladen, weil sich ein Zünftiger, einArzt, über das, was hier vor sich geht, nicht kreativ lustig machen dürfte.

Auch Frau Müller weiß, daß Atomrüstung ungesund ist, daß Wasser lebensnotwendigist, daß die Chirurgie oft mörderisch und Chemie oft giftig sind. IPPNW hat seit zehnJahren die Überzeugung genährt, daß Ärzte dies besser wissen. Warum? Doch wohl nichtdeshalb, weil sie die Hautkrebs-Rate, die durch Ozonverlust bedingt ist, genauer kennen alsFrau Müller, sondern weil die Überzeugung durchgesetzt wurde, daß das Arzt-Sein einesMedizinabsolventen diesen zu einem grundsätzlich Frau Müller überlegenen Urteil befähigt.Und diese ärztliche Sonderkompetenz in gesamtgesellschaftlichen Belangen beruht auf einergesellschaftlichen Akzeptanz der besonderen Befähigung des Arztes, mit Zukunftdiagnostisch, mit Entscheidungen therapiebezogen, mit Bedrohung präventiv und mitBefindlichkeiten objektivierend umzugehen.

Und eben die kulturellen Selbstverständlichkeiten wie die Planbarkeit, dieProgrammierbarkeit, die Versicherbarkeit der Befindlichkeit schaffen den Rahmen, durchden auch der ernsteste Versuch des "Arzt-Seins" heute von einer Historikerin wie mir inseiner unvergleichbaren Neuartigkeit wahrgenommen werden kann. Wenn ich also alsKulturhistorikerin des Frauenkörpers und nicht als Medizinhistorikerin an das mirvorgeschlagene Thema herangehe, so geht es mir nicht um den Zuwachs biologischerErkenntnisse oder therapeutischer Wirksamkeit im Laufe der Jahrhunderte, noch auch gehtes mir um die sozialen Konsequenzen der wachsenden Medikalisierung, die zum Beispiel inder hierarchisierten Benachteiligung von Frauen oder Ausländern im Vergleich zu Krüppelnund seltenen Fällen ihren Ausdruck findet. Es geht mir um den medizinischen Ausdruck --und noch mehr um die ärztliche Verinnerlichung -- gesamtgesellschaftlich praxis-prägenderAxiome.

So gesehen ist etwas gleichzeitig Absurdes und doch Passendes an der Entscheidungdes Programmkomitees, daß nicht einem Arzt, Pfarrer oder einer Politikerin dieses Themaaufgetragen wurde, sondern einer Historikerin, die sich seit einigen Jahren mit demUmbruch der körperlichen Hexis, also der leib-haftigen Alltagsverfassung in der Neuzeitbeschäftigt. Absurd sage ich, weil diese Wahl etwas darüber aussagt, daß kritische Ärztesich wohl mit dem ganz neuen Spektrum von globalen, ökopolitischen Fragen beschäftigen,die auf dem Programm stehen, offenbar aber nicht mit dem grundsätzlich neuartigen Wesendes Arztseins heute. Passend andererseits ist es, daß der bedeutendste Zusammenschlußvon kritischen Ärzten es wünscht, nicht systemimmanent, also abstrakt-vernünftig, sondernaus der großen Ferne des Gewesenen das eigene Tun im Spiegel zu sehen. Denn was die

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Rückschau über die beängstigende Beengung jenes Grates aussagt, auf dem der Medizinerheute noch als Mensch und deshalb als Arzt fungieren kann, beleuchtet zweierlei: einerseitseine historisch gegebene, für praktizierende Ärzte unvermeidliche - und für so mancheunaushaltbare - Beschränkung und andererseits eine nüchterne und deshalb klärendeEinsicht.

Vor ich nach diesem methodischen Wurmisieren der Historikerin meine altmodischenVexierspiegel herausziehe, müssen noch zwei Prolegomena behandelt werden:

Zuerst eine begriffliche Einschränkung: Wenn ich vom Arzt-Sein spreche, meine icheine Form der Begegnung. Ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, daß die meistenMediziner den harten Kern ihres Arzt-Seins in so einer menschlichen Begegnung mit demvon ihnen menschlich betreuten Patienten sehen wollen. Ich weiß, daß ich mit dieserEinschränkung des Arzt-Seins wahrscheinlich die Mehrzahl aller Betätigungen imMedizinbetrieb ausschließe: die des Chirurgen, Verwalters, Versicherungsfachmannes, desHämatologen oder Radiologen, auch wenn sie promovierte Mediziner sind. Der bewußteVerzicht auf das Arztsein muß für viele dieser Menschen traurig sein. Ihr Arzt-sein-Wollenkann, wie dies gründlich in der Medizin-Ethnologie nachgewiesen wird, für den Patientenkatastrophal sein: Diagnostik des Unheilbaren zum Beispiel kann nur tief kränken. Es hatmich berührt, wie neulich in Essen auf dem Podium eines großen Kongresses zur Zukunftder Technologie ein liebenswürdiger ehemaliger Kinderarzt, der jetzt ein genetischesBeratungsinstitut leitet, betroffen vom Abhandenkommen seiner ärztlichen Tätigkeit sprach.

Dann, nach dieser Eingrenzung des Arztseins "der" Medizin gegenüber, noch etwasZweites zur Einschränkung meiner eigenen "Empirie", meiner historischen Schatzkiste. Dievier folgenden historischen Anmerkungen zum Arzt-sein heute binde ich an die Begegnungdes Arztes mit der Frau, die vermutet, mit einem Kind schwanger zu gehen. ÄhnlicheVergleichsmomente ließen sich von der Historikerin ebenso anhand der ärztlichen Tätigkeitam verwundeten Soldaten, in articulo mortis, im Vorhof des Todes oder am Lager desPestkranken beobachten. Ich beschränke mich auf die Schwangerschaft, weil ich diehistorisch erforsche und auch, weil ich über ihren Verlauf heute oft Fragen an Ärzte undHebammen so gestellt habe, daß sie mir in Umgangssprache antworten mußten. ImGegenüber der Storch'schen Frauenpraxis in Eisenach und der Gynäkologie in Berlin heuteläßt sich der Kontrast in Diagnostik, Hexis, Patientenbeziehung, Prognostik undLebenswirklichkeit gut aufzeigen.

Das sind die vier Punkte die ich jetzt aufnehmen möchte:

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1. DIAGNOSTIKSchwangerschaft ist heute das Resultat eines diagnostischen Vorgehens, Ergebnis einer

Messung, die beliebige Male mit gleichem Ausgang wiederholt werden kann; einoperationell verifizierter Zustand; ein "entweder/oder". So alt das Wort Dia-gnosis ist, derheute geläufige Sinn ist neu. In der galenischen Praxis wurde das Wort empirea verwendetund bezeichnete etwas, das es nicht mehr gibt, nämlich den vom Arzt wahrgenommenenKontrast zwischen der Persönlichkeit des Kranken - seiner Signatur- und dergegenwärtigen Balance seiner Säfte.

Schon die hippokratischen Schriften nennen Dutzende von Indizien für eineSchwangerschaft. Noch Mitte des 18. Jahrhunderts werden in Johann Heinrich Zedlersgroßem Universal-Lexikon 157 solche signa aufgezählt. Alle Zeichen, einzeln oderzusammen genommen, ergeben für den Arzt eine Vermutung, aber nie ein Faktum, nie eineTatsache. Weder die Regung der Frucht, noch das Ausbleiben des Monatsblutes sindeindeutige Nachweise. Nur die Natur wird dem Arzt am Ende, also nachträglich, zeigen, obhinter der Regung Kind oder Wind gestanden hatten. Die Regung allerdings, die auch demArzt keine Sicherheit vermittelte, hatte eine besondere Funktion. Sie schuf für die Fraujenes, vom anderen nicht verifizierbare Erlebnis, durch dessen Erlebnis und Mitteilung ihrgesellschaftlicher Status sich änderte. Ein haptisches Begreifen von etwas Verborgenemwurde durch die Aussage der Frau zum Anlaß ihrer sozialen Wahrnehmung: ab dann galtsie als "wirklich" schwanger, mit allen Privilegien und aller Nachsicht ihren besonderenWünschen und Begierden gegenüber.

Beinahe kraß ist der Gegensatz zu dem, was meine schwangeren Freundinnen erleben.Denn die Unterscheidung der Säfte, der Temperamente, der Zustände, die sich aufgrundeiner Weiberklage für Doktor Storch ergeben, ist etwas grundsätzlich anderes als einediagnostische Verifikation heute: Das stimmt auf die Schwangerschaft wie auf dieFeststellung (Verifikation) einer Befruchtung, einer Nidation, einer Infektion, einesHormonspiegels und was sonst noch vor Gericht, vor dem Versicherungsbeamten oder imLaborbetrieb einen bezifferten Namen trägt.

Damals ging es also um Abwägung oder Vermutung, heute gibt es wiederholbareMessung. Arztsein beruhte damals auf dem Urteil über eine klagende Frau, auf derMeinung über ihren Zustand, der Vermutung über Zusammenhänge. Heute steht derklagenden Frau ein als Bio-Ingenieur ausgebildeter Praktiker gegenüber, auch wenn ihmbeigebracht wurde, sich vorschriftsmäßig mit Empathie zu verhalten. Für beide Vorgängeist das Wort "Diagnostik" gebraucht worden, obwohl die bezeichneten Vorgänge zuheteronomen taxa gehören. Foucault hat ein schönes Bild für diese Heterotaxie. Er spricht

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von einer chinesischen Enzyklopädie, in der unter die "Tiere" gerechnet werden:Vierbeiniges, Wesen mit Schwänzen, Dinge, die von fern her wie Mücken aussehen, derSchoßhund des Königs und die Kamele, die mit feinem Pinsel auf Reispapier gemaltwurden.2 Gute Medizinhistoriker wissen, daß Kraut damals und Rüben heute keine Summeergeben. Aber oft entgeht es selbst ihnen, daß schon durch die Verbindung von heutigenSach-Kategorien (wie Nidation, Hormonspiegel, Zygote) und der sie herstellendenMethode, Praxis damals und Praxis heute unvergleichbar geworden sind. Eine auftechnischem Können und systemorientierter Wahrnehmung fußende Praxis wird willkürlich,a-historisch und als Fortführung aus einer Praxis abgeleitet, deren Aufgabe es war,poetisch, sprachlich, ja religiös heute verlorenen, kulturellen Deutungsmustern für dasLeiden-Können autoritativen Zusammenhang zu geben.

2. HEXISUnvergleichbar ist die heutige Praxis auch, weil seit Michael Balint3 der medizinische

Fachmann dadurch zum praktizierenden Arzt wird, daß er beim Patienten um dieAnerkennung seiner Diagnose wirbt. Schwangerschaft war primär die langsameWahrnehmung eines körperlichen Erlebnisses, sie wird zur Kenntnisnahme undVerinnerlichung der Medizin-Sprüche.

Nehmen wir Fall 184 aus dem 3. Band der Weiberkrankheiten: die "Bauersfrau von 36Jahren", die über viele Wochen argwöhnte und "vermeynte", schwanger zu sein: "undfühlete noch keine Regung der Frucht, sondern ein schweres Wesen, welches im Liegenvon einer Seite zur anderen fiele..." Storch rät zu einem Aderlaß am Fuß und notiert:"darauf spürete sie bald Regung" und den Beginn einer wirklichen Schwangerschaft. DasZeugnis dieser Frau über eine "Leibesbewegung" änderte ihren Status. Für sie selbst unddie Nachbarschaft machte das eigene Gespür der Kindsregung ihr Schwangersein zumsozialen Faktum.4

Wenn ich so dutzendweise Storchs Protokolle lese, scheint mir, daß die Frauen denArzt rufen, weil sie Tröstung erwarten, die darin besteht, daß sie vor dem Arzt ihrKörpererlebnis ausbreiten können und der Arzt es mit seiner Diagnose besiegelt. Siekommen, um ihre Befindlichkeit, ihre primär haptische Hexis, vor diesem besonderenForum sprachlich als Klage darzustellen: als Gebärmutter, die ihnen zu Kopf steigt, alsKlumpen, der ihnen auf dem Herzen liegt, als Druck und Beschwernis im Leib. Undweitgehend entspricht Dr. Storch ihrem Wunsch. Die epochenspezifischen 2. Michel Foucault. Die Ordnung der Dinge. Frankfurt/M. 1974, S. ...3. Michael Balint...4. Johann Storch, Von Weiberkranckheiten, Dritter Band, in welchen ... S.

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Selbstverständlichkeiten der späten Barockzeit befähigen ihn als Arzt, ihren Zustand als ein"irrendes Fließen" unter der Haut zu fassen, das mit seiner Rezeptur wieder in die rechtenBahnen gelenkt werden soll.

Heute noch mag gelegentlich ein Arzt sich die Zeit nehmen, um abzuwarten, wie diePatientin dem körperlichen Erleben sprachlichen Ausdruck gibt. Aber die Aufgabe, für dieer ausgebildet wurde, ist nicht die galenische Empirie, die ihn den Leib als einen Tensor,d.h. einen vieldimensionalen Vektor gerichteter Flüsse und Stockungen erleben ließ. SeineAufgabe ist eine andere: es geht um die Einordnung der Patientin in ein komplexes Schemavon Normalkurven und dann darum, daß die Patientin unter der Leitung des Arztes sich mitder Selbstzuschreibung eines diagnostisch-therapeutischen Prozeßstadiums befaßt. Sie solllernen, sich durch die Optik der medizinischen Befunde zu sehen und einem Programm zuunterwerfen. Nicht das sprachliche Bekenntnis zum eigenen erlebten Soma, sondern dieVerinnerlichung einer medizinischen Heterosomatik, d.h. die Herstellung und dasFürwahrhalten von zwei miteinander nicht mehr vergleichbaren Vorstellungswelten, ist zurAufgabe der Visite geworden. Mit dem Arzt blickt die schwangere Frau auf den Schirm,um die Ultraschall-Lotung in ihrem eigenen Bauch zu verfolgen und sich die Ansicht desFötus deuten zu lassen. Es geht dabei um die Einübung einer neuen Art von körperlicherBefindlichkeit, die gesamtgesellschaftlich heute dominant ist: die optische Hexis. Das Sehenauf Befehl tendiert dazu, die haptisch-taktile Befindlichkeit zu verdrängen. Die ärztlichePraxis in unserer Gesellschaft muß also als eine der großen Agenturen gesehen werden - indieser Beziehung vergleichbar den Medien, dem Schulbetrieb u.a. -, in denen das Erlebenauf Anleitung und Befehl geübt wird; sei dies das Erleben der Welt, des Anderen, desGegenübers oder des eigenen Daseins. Schwangersein wird zur Einübung des Erlebens deseigenen Körpers als fötales Umfeld, wird zur Verantwortung für ein genetisch definiertesRisikobündel, wird zu einem Abhängigkeitsverhältnis von einem vielarmigenBeratungssystem.

3. PROFESSIONALITÄT

Dr. Storch interpretiert das Körpererlebnis der Frau. Er ist ein Exeget von Klagen undmuß so dem heutigen Mediziner als Analytiker von Befunden gegenübergestellt werden.Der Gynäkologe verfügt über die Mittel, durch die das Schwangerschaftserlebnis hergestelltwird, lange vor jeder Regung der Frucht. Doktor Storch war kein Professioneller. Er warakademisch gebildet. Zwei ganze Jahre hat er an der Universität Jena verbracht und seinStudium mit einer lateinischen Dissertation über Heilpflanzen abgeschlossen. Er hatSchriften des Vitalisten Georg Ernst Stahl ins Deutsche übersetzt. Er hat unter anderem

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acht Bände "Weiberkrankheiten" und drei Bände "Soldatenkrankheiten" - allesFallgeschichten - zur Belehrung junger Kollegen geschrieben. Aber der ärztliche Stand wargrundsätzlich etwas anderes, als es die Professionalität heute ist.

Die Patientin, die mit ihren Unterleibsstockungen wegen des ausbleibendenmonatlichen Blutes zum Arzt kam, suchte Rat wegen einer Kutschfahrt bei Tauwetter,Auskunft darüber, ob das kalte Bier auf den Weißkohl, das sie damals vor sieben Monatentrank, wohl die Ursache für die Stockung ihres Blutes sein könnte. Sie wollte sich Luftmachen und ließ sich vielleicht auch, wie verordnet, zur Ader lassen, wenn das nicht ihremund ihrer Mutter Gemeinsinn widersprach. Aber: sie ließ sich kaum durch den Arztdefinieren. Von jenem Patienten-Verhältnis, das für die neuere Medizinsoziologie weltweitzum normativen Begriff geworden ist, paßt kaum etwas auf die Frauen in meinerEisenacher Praxis. Das Arzt-Sein im frühen achtzehnten und im späten zwanzigstenJahrhundert in einen Topf zu werfen, läßt mich an Bremer Lapskaus denken. EinePseudohomogenität wird hergestellt, in der Ihre Art von wissenschaftlichenSchwangerschaftsverwaltern, Überwachern des Fötus, uterinen Schlüssellochguckern,"referral-specialists" sich eine Tradition zuschustern, indem sie sich als Nachfolger vonTristram Shandys Doktor ausgeben.

Und, dies wird meist übersehen, nicht nur für den Arzt und seine Klientin ist die Praxisein Ort, an dem heutige Selbstverständlichkeit eingeübt werden. Was in der modernenPraxis geschieht, ist zur Metapher gesellschaftlichen Handelns geworden: für dieDiagnostik, Therapie und Prognose von Golfkrieg, Ozonloch und Atomrisiken. Im Arzt-sein verkörpert der Mediziner das Selbstbild der systemorientierten Gesellschaft.

Der Arzt heute ist - ob er dies nun will oder nicht - Teil eines Verbandes. Und dieserVerband vereinigt, was das Grundrecht trennt: die Macht zu normieren, den Norm-Widrigen aufzuspüren und seine Behandlung zu verordnen. Der ständische Arzt in Eisenachwirkt in einer absolutistischen Gesellschaft, in der nicht er, sondern die Obrigkeit zuständigwar, zu normieren, was sein soll, zu befinden, wer abweicht und den entsprechendenVollzug zu überwachen. Storch steht der klagenden Frau als Arzt und nicht alsmedizinischer Agent, als Vertreter einer gesellschaftlichen Norm gegenüber.

4. LEBENSWIRKLICHKEIT

Dies Arztsein erlaubt es Storch, jedem seiner casus in seiner Einzigartigkeit an einemMoment des Frauenlebens gegenüberzustehen. Fast jede der über tausend Frauenklagen,

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die ich bei ihm gelesen habe, läßt sich als eine Biologie im traditionellen Wortsinnverstehen. Als Erzählung einer Lebens-Geschichte. Der Arzt hört einer narratio, einereinzigartigen Geschichte zu. Seine Therapie setzt mit dem vorläufigen Abbruch einerGeschichte ein, sie ist also auf den gegenwärtigen Moment bezogen. Hier verschreibt er dasrote Korallenpulver und notiert gewissenhaft in seinem Tagebuch, wie - nach der Visite -die (barocke) Geschichte weiter ging. Casus 29 im 3. Band beschreibt die Frau, deren Blutvor 7 Monaten - wohl durch das Essen von noch warmem Kuchen- zu stocken begonnenhatte. Er notiert, daß es fast unmittelbar nach dem Aderlaß vom rechten Knöchel zurBelebung der Frucht kam.

Meist denkt man heute bei einer solchen Geschichte in erster Linie an den Unterschiedzwischen Korallenpulver und Hormonspritze und nicht an den noch viel grundlegenderenKontrast von Situation, Haltung, Menschlichkeit. Wie damals weiß auch heute der Arzt umdie Macht des Placebos, auch wenn man damals das Wort nicht hatte. Aber nur nebenbeihört der Arzt heute eine Leidensgeschichte. Primär in der Anamnese sind Parameter:Messungen an Zeitpunkten, Tendenzen von Kurven. Der Arzt heute weiß um denWirkungsgrad der Mittel, die er einsetzen könnte und um die Schäden in ihrer Folge. Ersieht Patienten meist im Rahmen eines Versicherungsprogrammes und er sieht Menschen,die mit seiner Hilfe ihre sogenannten Entscheidungen auf Lebenserwartungen beziehen.

Storch stand vor der "Natur". Auch wenn diese Natur durch die Aufklärung schoneiniges an ihrer Lebendigkeit verloren hatte, war sie für Storch noch nicht tot. Der frommeProtestant sah noch die Natur in der klagenden Kreatur verkörpert und leiden. Die Klagewar sozusagen Teil einer Naturgeschichte, meist der des Geblüts dieser einen Frau.Arztsein war noch Umgang mit lebendiger Physis, natura, Geblüt. Von dieser Natur ist demArzt heute nichts übrig geblieben. Der Mediziner heute steht vor biologischen und auchpsychischen Messungen, vor Funktionen und Vektoren. Sein Erkenntnismodus ist vonStatistik geleitet, wenn nicht gar durch Statistik bestimmt. Die Ingenieur-Haltung despraktizierenden Biotechnikers scheint mir in einer historischen Arztkritik viel zentraler zusein als der Vergleich von Therapien. Die Wahrnehmung des ihm Gegenüberstehendendurch den Mediziner als regulierbares Immunsystem scheint mir viel tiefer iatrogeneSoziogenesis5, ärztlich kränkende Gesellschaftskonstruktion als Grobheit, Nachlässigkeit,Inkompetenz, Übereilung im Einzelfall. Die epochenspezifische Kulisse des Soziodramas,das sich bei jeder Begegnung des Mediziners mit einem Patienten abspielt, sagt uns vielmehr über das Arztsein als die Liebenswürdigkeit im Einzelfall.

5. Zur sozialen Iatrogenese: Ivan Illich. Die Nemesis der Medizin. Neuauflage: München 1994.

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Arztkritik richtet sich nur zu oft gegen den Mangel an Weiterbildung, die Hast, dieRespektlosigkeit, die Gleichgültigkeit gegen Nebenwirkungen, die Gefährdung durchungeprüfte Maßnahmen oder die Überwältigung durch Chemie und Strahlen in der Praxis.Die Untersuchung der iatrogenen, also medizinbedingten Schäden richtet sich nun schonseit eineinhalb Jahrzehnten auf vieles, dessen Vermeidung in der Macht des einzelnenArztes und noch viel mehr im Wirkungsbereich von Gesundheits-, Öko-, Stadt- undArbeitsmarktpolitik liegen könnte. All das läßt zu wünschen übrig, könnte geändert werdenund könnte die Richtung des "Grates" ändern, also das Tun des Mediziners, der Arzt seinwill.

Sie haben mich aber nicht hierher zitiert für eine Kritik am ärztlichen Tun, sondern füreine historische Distanzierung zum Arzt-sein. Und das Arzt-sein ist zutiefst homogen mitdem gesamtgesellschaftlichen Sein unserer Epoche. Und diese Homogenität drückt sichdreifach aus. Die medizinische Praxis, zu der sich der niedergelassene Arzt durch dasVersicherungswesen gezwungen sieht, spiegelt, stützt und formt das Lebensgefühl derGegenwart. Besser als in den drei ersten Vortragstiteln des Monsterkongresses in Essenkann der Versuch der Normierung dieses Lebensgefühls nicht ausgedrückt werden: derentkörperte Mensch, im digitalisierten Alltag, angesichts der künstlichen Existenz.6 Durchdas jede ärztliche Praxis normierende Versicherungswesen wird diese Elitehaltung demhandelnden Arzt aufgezwungen. Auch wenn er sich abmüht, sich windet und drückt, auchwenn er gelegentlich seine Praxis so rechtfertigt wie der gute Beamte in einer inhumanenBürokratie, sein Arztsein macht ihn zu einem Vermittler dieser abstrakten, theoretischenBefindlichkeit, in der sich der Patient - trotz der symbolischen gelegentlichen Ausflucht -durch die Augen des Versicherungsbeamten sehen muß.

Sie haben auf Ihrem Programm Berichte zur "Lage der Welt", zu Nato-Strategien,nuklearfreiem Europa, zur Auswirkung des Treibhauseffekts auf den Weltfrieden. Wennman als Arzt garnichts Glaubwürdiges mehr tut, dann kann man sich immer noch mitanderen der gleichen Profession zusammentun und gegen Kernkraftwerke und Raketen undfür den Frieden in Jugoslawien plädieren. Ans Abrüsten der Intensivstationen, ansAbschalten der Monitoren auf dem schmalen Grat des Arztseins haben Sie offenbar nichtgedacht.

Ich hoffe, daß es mir gelungen ist, Sie nachdenklich darüber zu stimmen, ob nicht dergutgemeinte Versuch, als moderner Mediziner Arzt sein zu wollen, eine viel unmittelbarere

6. Siehe den Tagungsband: Gerd Kaiser u.a. (Hg.). Kultur und Technik im 21. Jahrhundert.Frankfurt/Main 1993.

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Herausforderung an Ihren kritischen Geist stellt als das Morden in Osijek. Und ich meine,daß eine Distanzierung von den axiomatischen Selbstverständlichkeiten unserer Epoche,dann, wenn sie von dem betrieben wird, der Arzt sein möchte, aus dem Studiumvergangener Daseinsweisen von Ärzten ihre Sprungkraft beziehen könnte.

Auch ich kann ja nicht umhin, gelegentlich mal Rat bei einer Ärztin zu suchen. Unddann ist es mir wichtig, an eine zu geraten, die in ihrer Daseinsweise so dasteht, daß ich mirmeine hapsis von ihr interpretieren lasse. Und weil ich auch anderen Zugang zu historischdistanzierten Ärzten ermöglichen möchte, habe ich es mir erlaubt, hier zu sprechen.

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2.5

Unter den Freuden des Forscherlebens, dem ich mich verschrieben habe, ist mir dieResonanz der Hebammen besonders kostbar. Und dafür kann ich drei Gründe nennen.Erstens, weil viele unter ihnen handgreifliches Wissen von Sachen haben, die ich ahne.Zweitens, weil sie mir bestätigen, daß das Zeug, das ich aus altem Papier zum Lebenbringe, den Hebammen heute dient. Und drittens, weil ich kein anderes Tun kenne, an demder Kontrast von Beistand und Dienstleistungsproduktion sich so leibhaftig zeigt.

Ich glaube, daß auch oder gerade im technisch dicht durchgestalteten Milieu derGeburtsklinik der Mut zu einer persönlichen Haltung zueinander der beiden Frauenentscheidend ist. Aus mehreren Manuskripten von Vorträgen zu Hebammen wähle ichdiesen, den ich einer beispielhaft mutigen und schönen Frau aus Holland, der HebammeMargre Brak aus Gouda gewidmet habe. Margre ist in der Nacht nach unserem letztenGespräch in meinem Haus in Bremen gestorben. Ich weiß von ihr und anderen, daß aucheine professionelle Hebamme der Frau als Geburtshelferin beistehen kann; daß es trotz desdichten technischen Milieus, das bis in den letzten Winkel hineingreift, eine wirklicheAlternative gibt - für beide Frauen.

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2.5 Geburt unter Frauen: Geburtshilfe im technischen Milieu 1

* für Margre Brak, von 1985 bis 1993 Hebamme in Gouda.

Sehr geehrter Herr Ministerialdirigent, meine Damen und Herren, liebe Hebammen

Zwischen den fröhlichen Querflötistinnen, den feierlichen Begrüßungsworten undeinem Bericht über die Situation der Hebammen im "deutschsprachigen Europa" haben Sieeine Außenseiterin zu diesem "Festvortrag" vorgesehen. Eine Außenseiterin, die sich seitüber einem Jahrzehnt mit dem erlebten Frauenkörper in der Vergangenheit und in derJetztzeit befaßt hat. Sie haben eine Frau eingeladen, von der Sie wohl erwarten können, daßsie die heutigen Berufs-Erfahrungen kennt und die doch wieder genug Distanz zurklinischen Praxis hat, als daß sie durch sie gezeichnet, verbittert und vom Thema abgelenktwäre. Das stimmt, denn die Geburtshelferinnen, mit denen ich meine Tage und Nächteverbracht habe, sind allesamt seit zwei bis drei Jahrhunderten unter der Erde. Wenn ich mitHebammen heute spreche, dann habe ich oft den Eindruck, daß ich durch den Umgang mitdiesen Toten geprägt worden bin: daß ich der Jetztzeit, den späten 90er Jahren, als Fossil,ja Gespenst gegenüberstehe. Seit langem bemühe ich mich, das Selbstvertrauen dieserToten zu meinem Thema zu machen, wenn ich zu Frauen spreche, die heute noch Kinderauf die Welt bringen; zu Frauen, die am eigenen Leib die somatogene, also körperbildendeMacht des technischen Milieus und des statistischen Denkens erlebt haben; zu Frauen,denen

=überwachende Embryonenschau,=inter-uterine Intervention,=Regelung des schwangeren Immunsystems und=der Umgang mit neuen Worten für die Schwangere, wie "das Risiko" und "ein Leben"

in einigen wenigen Jahren so zu Selbstverständlichkeiten geworden sind, daß sie dieseKonzepte kaum mehr wegdenken können. Von dieser Somatogenesis2 durchVisualisierung, also der neuartigen Verkörperung des Bildes im Leib der modernen Frauhandeln meine Schriften, auf Grund deren Sie mich wohl eingeladen haben.

2. "Soma" ist das alte griechische Wort für das "Fleisch", den "Leib"; "Genesis" heißt die Schöpfung; ichspreche also von der "körperbildenden" Macht der neuen Techniken.

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Im Vertrauen auf Ihr Wohlwollen, will ich es mir erlauben streitbar zu beginnen, also inder Stimme der besten Hebammentradition, wie ich sie aus dem 18. und auch noch aus dem20. Jahrhundert kenne. Ich will von meiner Myso-iatrie sprechen.

Myso-iatrie gehört wie die myso-andrie zur Grundstimmung aufHebammenkongressen. Zwei Fremdwörter: das griechische myso läßt sich ohne weiteresins Deutsch als mies übersetzen: miese Gefühle dem andros, also dem Mann gegenübervermischen sich mit miesen Gefühlen dem Arzt gegenüber. Vorbehalte gegen denMediziner gehören wie das akute Wissen um ökonomische Benachteiligung der arbeitendenFrau und die soziale Geringschätzung der Hebamme im Medizinsystem zu denGrundmotiven, die im Hebammenmilieu sich verbünden. Nun:

= Myso-andrie, d.h. zu Deutsch die Herablassung gegenüber Mannsbildern, ist nichtmein Bier.

= Im Gegensatz zu Hebammen bin ich als deutsche Professorin nicht finanziellbenachteiligt; es ist viel eher das Privileg, das mich wurmt. Wer Frauengeschichtekennt, die weiß, daß immer dort, wo Frauen als Gruppe in solchen Strukturenhierarchisch gleichgestellt werden, sie als einzelne Personen einer neuartigenDiskriminierung unterliegen.

= Die Kränkung durch die moderne Medizin gehört zu ihrem Wesen; das erste Handbuchzur iatrogenese, d.h. zur Medizin als Pathogen wurde von Al-Razi, dem Leiter derKlinik von Bagdad im 9. Jahrhundert verfaßt. Das Pharmakon war immerzweischneidig: Labung und Gift. Der Arzt war immer Prügelknabe des Witzboldes.Aber aus der Medizingeschichte weiß ich, daß es bis heute nie eine religiöse,pädagogische oder magische Hierarchie gegeben hat, die sich mit der kränkendenKommandostruktur einer modernen Klinik vergleichen läßt.

Wenn ich von den alten Akten auf einem Wolfenbütteler Bibliothekstisch aufschaueund an Hanne, eine liebe befreundete Hebamme denke, dann gerät mein Blut in Wallung.Meine Säftemischung, meine Krasis ist gestört, nicht weil ich an sie unter den Mannsbilderndenke, noch an deren gefüllte Geldbeutel, sondern an die gläserne Architektur, diekonditionierte Luft und die komputergesteuerten Abläufe im Tempel, in dem sie ihrenDienst versehen muß. Was meine schwarze Galle zum Überlaufen bringt ist eben myso-iatrie.

Diese Myso-iatrie, also meine medizinische Bilderstürmerei, mein Luddismus, ist nichtemotionalen Ursprungs. Meine Myso-iatrie ist durchdacht. Ich will von den existentiellen

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Folgen der Medikalisierung des Hebammenwesens etwas sagen und zwar in ihrer doppeltenWirkung: auf die Geburtshelferin ebenso wie auf die Gebärende, die sich ihr anvertraut.

Meine Überlegungen gründen vor allem in meiner Anstrengung, alte Quellen zumSprechen zu bringen. Als ich im frühen 18. Jahrhundert noch ein Neuling war, jammertenmich die armen Patientinnen des Aderlassers. Der klägliche Zustand der Patientinnen, dashumoral-pathologische Geschwätz des Arztes und seine Krokus-, Korallen- undQuecksilberpillen waren mir fast unerträglich. Inzwischen hat sich der Vergleichzunehmend umgekehrt, je mehr ich am Leib meiner Freundinnen das Kränkende an dermodernen Medizin verstand. Erlauben Sie mir ein Beispiel:

Casus 82 in den "Weiberkranckheiten fünfter Band, darinnen solcherlei Zufälle, welcheordentliche und schwere Geburten betreffen"3 ist für Dr. Pelargus Storch, Stadtarzt inEisenach, die Bezeichnung für das eine ältere Weiblein, das 1727 mit einer harten Geburtdarnieder liegt. Sie bleibt jene Schuhmachersfrau, deren einzigartiger Lebensgeschichte ermit seinen Rezepturen und Handgriffen beisteht. Was casus 82 des pedantischen Arztesdamals verzeichnet, läßt sich mit dem Computer-Protokoll meiner Freundin, die mit 32schwanger wurde, nicht vergleichen. Meine Freundin ist der fiktive Bildschirm für diediesjährig gültigen Parameter, der Schnittpunkt von Häufigkeits-Kurven, ihreAmniozentese der Regelfall, der durch die Kreuzung zweier Risiko-Diagramme hergestelltwird. Ein "Fall" mehr, der in die weltweite Forschung eingeht.

Erst seit es mir gelingt, beim Lesen der alten Texte jenes unbedingte Vorurteil über denmedizinischen Fortschritt abzulegen, den immer noch meine Studentinnen in die Vorlesungmitbringen, begann ich den Stimmen der Frauen aus vergangenen Zeiten Vertrauenentgegen zu bringen. Ich glaube ihnen, daß der Eisenacher Arzt ihnen Mut gemacht hat;sowohl Susanne wie Bettina, deren Schwangerschaften ich gerade freundschaftlichbegleitete, wurden im Laufe der letzten 3 Monate durch jede neueSchwangerschaftskontrolle tiefer und frecher beunruhigt; Storch hatte seine Frauenbuchstäblich in Ruhe gelassen; jeder erneute Besuch beim Gynäkologen entdeckt heuteeinen wunden Punkt, der nach Beachtung, wenn nicht Behandlung heischt; der gültigeMutterpaß mit seinen 52 Risiken wirbt um die Mitarbeit der Gebärenden beim Lotsen desNeukömmlings durch lauernde Wahrscheinlichkeiten. In Baden-Württemberg waren 1993von 100 Schwangeren nur noch 34 Frauen der Stigmatisierung des Aufklebers "Risiko-

3. In: Geschichte unter der Haut. Stuttgart 1987 und 1991 habe ich die Protokolle dieses Provinzarztes imfrühen 18. Jahrhundert untersucht.

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Schwangere" entkommen.4 Dieser Impfung mit virtuellem Schrecken gegenüber war derAberglaube um 1720 unschuldig. Aus dieser radikalen Skepsis entsprang meine historischeForschung.

Das ist der Grund, warum mir in diesem Vortrag Marjorie Tew eine willkommeneKrücke ist.5 Sie ist nicht Historikerin. Sie verwendet die einzige Sprache, ja "Sprache", derheute nicht widersprochen wird -- nämlich die Statistik, um meine iatrophobe Haltung alsHistorikerin auf feste Füße zu stellen. Wie man so schön sagt -- zu "objektivieren". FrauTew ist Statistikerin. Sie unterrichtet "Public health" an einer medizinischen Hochschule inLondon. Ihr Buch "Safer Childbirth? A critical history of maternity care" ermöglicht es mir,grundsätzlich gynäkologische Fortschrittsmeldungen einerseits und die historischeEntwicklung des Befindens der gebärenden Frau einander gegenüberzustellen. Ich sage:"gegenüberstellen" und nicht "vergleichen", denn Äpfel und ... Katzen lassen sichebensowenig vergleichen, wie das Zagen und Bangen damals und die Risiko-Kalkulationheute oder der absurde Anspruch auf Qualitätsprodukte aus dem Dienstleistungssystem.Dabei ist das Schlüsselwort "safe", "safe childbirth", "eine sichere Geburt!" wie einAusrufezeichen, das keine historischen Vorfahren hat. Mit "safe", "Sicherheit" werden jaalle Prozeduren heute begründet.

Safe! Sicherheit! ist ein englisches Wort für das, was man "ein leeres Plus" nennt. Essagt nichts und sagt doch etwas. Ein Wort wie ein Ausrufezeichen! Das Wort besagt einenpositiven Wert. Safe/ "sicher" beinhaltet einen Vergleich, also die Abwertung vonAnderem, safe ist eine verpflichtende Warnung, enthält eine vernünftige Forderung. Werkönnte schon dagegen sein? Denn safe ist ja nicht einfach das Gute, das Richtige, dasKostbare und im einzelnen Wünschenswerte, sondern bloß das, was dem Unglück, demUnfall, der Katastrophe berechnend vorbeugt. "Safe" macht den Verzicht auf denSicherheitsgurt strafbar. Der BMW kann im Vergleich mit dem Volkswagen als schneller,prestige-trächtiger, bequemer, dauerhafter ja billiger angepriesen werden; sobald er aber als"sicherer" beschrieben wird, leuchtet in der Werbung moralisches Pathos auf.

"Lassen Sie uns nochmal am Ultraschall schauen, das ist sicherer!" sagt der Arzt."Safe" ist die erste Geige im Orchester der moralischen Schlüsselwörter, ist Leitstimme imZusammenspiel mit "Gesundheit", "Wohlfahrt", "Sicherheit" und "ein Leben". Das Wort

4. Christine Köber, eine Studentin im "Hebammen-Seminar", das ich am Ludwig Uhland Institut inTübingen 1994 durchführte, untersuchte den Kontrast zwischen "damals" (1950) und "heute" (1990erJahre) anhand von Interviews mit Hebammen und medizinischen Daten für Baden-Württemberg. Ihrverdanke ich die Zahlen, die ich hier anführe und viele Anregungen.5. Marjorie Tew, Safer childbirth? A critical history of maternity care. London 1990.

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beschwört Querschnittslähmung oder Fahrlässigkeit, macht Dein Versagen anverantwortlichem Handeln von vorneherein schuldig. Im Deutschen gibt es für dasWörtchen safe (wie im übrigen auch für "coping") kein Werbe-Wort, das sich ähnlichgriffig als Pranger eignete.

Nächstenliebe und Fürsorge sind in safe eingebaut. Väter und Großmütter sind für denAppell an die "Sicherheit" von Mutter und Kind in einzigartiger Weise anfällig. Dadurchkonnte die Verbindung von Geburt mit dem Slogan "Sicherheit!" dazu führen, daßInterventionen, die unter seltenen Umständen (und trotz ihrer bekannten Nebeneffekte)vertretbar sind, heute routinemäßig bei jeder Schwangeren an den Mann gebracht werden.Vierfache Ultra-Beschallung im Regelfall, ein Mindestprogramm von rund 190Einzeluntersuchungen bei einer Frau in guter Hoffnung. Denn, nach dem Grundmotiv deraufgeklärten Alltagsweisheit selbst im hinterwäldlerischsten Deutschland:

"Childbirth is fraught with dangers against which only care by obstetricians canprotect."6 Geburt ist ein Gefahren-umwitterter Vorgang, gegen die nur dieGynäkologie kugelfest macht.

Ganz abgesehen von wertlosen oder meist schädlichen Interventionen werden soBildschirm und Zangengeburt, Kaiser- und Damm-Schnitt, Provokation oder Zeitraffung inder Geburt zur Selbstverständlichkeit und das nachgewiesene Risiko der Luft, des Essensund der Bettwäsche wird aus dem Horizont verdrängt. So gering auch das Risiko jedeseinzelnen Faktors der Klinik sein mag, so deuten Marjorie Tews Zahlen doch darauf hin,daß ihr Zusammenwirken die Klinik zu einem Ort vordem unbekannter Bedrohung macht.Teils können die unliebsamen Folgen unmittelbar beobachtet werden, teils manifestieren siesich erst im weiteren Lebenslauf. Und vor allem: durch die symbolische Wirkung all dieserProzeduren kristallisieren sich unausweichlich soziale Haltungen bei Schwangeren undGebärenden, in der die eigene Hilflosigkeit tief verinnerlicht wurde und damit dieAbhängigkeit von der Medizin plausibel und deshalb notwendig wird.

Ich spreche hier nicht als Gesundheits-Wissenschaftlerin sondern als Historikerin. Zuden dringlichen Aufgaben der neueren Medizingeschichte gehört meiner Ansicht nach dieliteraturkritische Untersuchung der populärwissenschaftlichen Werbung für medizinischeTechnik. Sie alle kennen den erhabenen Ton der zünftigen Fortschrittsmeldungen derGynäkologenverbände auf Glanzpapier. Aus der Analyse dieser Texte wird eines klar: dasWort "Gefahr" für Mutter und Kind wird gebetsmühlenmäßig mit Hausgeburt undHebammen verbunden, während das technische Wort "Risiko" im Zusammenhang mit

6. Marjorie Tew. Safer Childbirth? S. 292.

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Klinik steht. Es bezieht sich auf die Kalkulation und Manipulation von Vorkommnissen,darunter auch gelegentlich auf die unerwünschten Nebenerscheinungen von Diagnose undEingriff. Da wird dann, wenn nötig, darauf aufmerksam gemacht, daß gelegentlich beieinem Kaiserschnitt ein Risiko von xy besteht.

Wovon Frau Tew überzeugend schreibt, ist nun dies: die Vielfalt der Interventionenmit statistisch bestimmbaren schädlichen Folgen auf einer geburtshilflichen Universitäts-Station, angefangen von Streptokokken bis zur Verwechslung von Personen summierensich derart, daß für die Gesamtheit der Frauen das Gebären im Krankenhaus weitausgefährlicher ist als zu Hause. Die hochtrabende Diskussion über "Risiko-Kontrolle",verbunden mit dem dunklen Gemunkel über die Gefahren der ehemaligen Hausgeburt,verhindern eine vorurteilslose und dringlich nötige Diskussion über die Bedrohung dergebärenden Frau durch die Klinik.

Die Verzerrung der Vergangenheit ist an deutschen Universitäten schon dadurchabgesichert, daß nur promovierte Mediziner an einen Lehrstuhl der Medizingeschichteherandürfen. Diese medizinische Kolonisierung vergangener Körperpraktiken läuft daraufhinaus, daß Vergangenes, soweit es Aussagekraft besitzt, in plastische Behälter abgefülltwird, die damals so weder gedacht noch erlebt worden sind. Und was da nicht hinein paßt,das wird dann der Religionswissenschaft, der Volkskunde oder Frauengeschichteüberlassen. Was aber außerdem in Deutschland einen stichhaltigen Vergleich von Klinikund Hausgeburt unmöglich macht, ist noch etwas andres: fast alle Geburten sind in dieKlinik vertopft worden, und jene Geburten, die nicht durch Unfall, Gewalt oder Zufallzuhause stattfinden, werden auf Wunsch der Schwangeren unter Beizug von Hebammendurchgeführt, deren Begrifflichkeit, Diagnostik und Methodik meist überdurchschnittlichgebildet ist. Denn auch die Hebammen sehen sich gezwungen, den symbolischen Schattendes Archaischen zu meiden.

Frau Tew und ich stehen in der Sozialwissenschaft an den entgegengesetzten Endeneines Spektrums. Sie betreibt faktorielle Regressionsanalyse, Analyse von Zahlen also. Ichhabe mein Ohr dazu trainiert, aus den vertrockneten Aussagen meiner Quellen die Stimmenzu hören und zum Klingen zu bringen, die von Sinn, Bedeutung und Erlebnis des Gebärenssprechen. Und doch kommen wir beide, Frau Tew und ich, zum gleichen Schluß: daßnämlich das Verständnis der Geburt als Risiko "eine spezifisch an die moderneIndustriegesellschaft gebundene Umgangsweise mit jenen Unsicherheiten" bezeichnet, "...die eben durch die Techniken dieser Gesellschaft hervorgebracht werden". Was ist dieFolge dieser Einsicht? Daß nur ein Kontrast, nicht ein Vergleich zwischen den traditionellenGefahren und dem gegenwärtigen Risiko der Geburt sinn- und bedeutungsvoll ist. Wenn

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entscheiden mußte, wann ihm das Gehäuse zu eng geworden war. Es gab den"Normal-Fall" und folglich die Abweichung vom Normalfall nicht.

= Die Hebamme ist heute darauf abgerichtet, mit der Uhr in der Hand den Ablauf einesProzesses zu kontrollieren. Vordem konnten Hebamme und Mutter warten undhoffen und sich überraschen lassen. Vor-Sicht und Umsicht, nicht Prognose anhandder statistisch ermittelten Verlaufsform der Durchschnittsgeburt, bestimmte dieHaltung.

= Die Häufung der Befunde, die differenzielle Diagnose und die statistisch gestütztePrognose stellen die Hebamme unter den Zwang wiederholter Entscheidung. Injedem Stadium sind prinzipiell wirksame Eingriffe möglich, deren Verzicht von derHebamme verantwortet werden muß.

Jede von Ihnen kann die Liste dieser Kontraste zwischen damals und heute verlängern.Denn "damals" meint hier nicht finsteres Mittelalter, sondern reicht weitgehend in denAnfang des Wirtschaftswunders hinein. Ich spreche also von etwas, das den Ehrwürdigenunter Ihnen noch gang und gäbe war. Ich habe da und dort Hebammen kennen gelernt, beidenen ich kaum etwas von diesem gynäkologischen Über-ich entdecken konnte. Denn inihrer Jugend stand Hebammen-Kunst noch nicht im heutigen Widerspruch zur intuitiven,empathischen, ermutigend-abwartenden, wissenden Geduld, die zum Wesen derGeburtshilfe gehört.

Ich hätte beinahe gesagt: die Geduld, die zum Wesen der Geburtshilfe gehört hat. Ichhab’s vermieden, weil mit dem Verlust dieser Grundhaltung etwas in der Geburtshilfeuntergegangen ist, und weil ich zu Frauen spreche, von denen einige, vielleicht viele, sichdie Frage stellen mögen, was ist es im Hebammenwesen heute, das diese Haltungverhindert oder lähmt? Ist es ein Mangel in der Hebammen-Ausbildung, im Status oderGehalt der Hebamme? Ist es also etwas, das verwaltungsmäßig, politisch oder technischbehoben werden kann?

Ich glaube das nicht. Ich glaube, daß dieser Untergang der Geduld von zwei Frauenmiteinander beispielhaft ist für einen abgründigen Unterschied zwischen damals und heute.Der heute vorgeschriebene, ritualisierte Ablauf der Geburt erübrigt den ehemals von beidenFrauen geforderten Mut, aufeinander zu vertrauen und etwas voneinander zu erwarten. Indiesem Verlust spiegelt sich der Schwund einer Haltung, nicht der eines Könnens.Hebamme und Gebärende stehen sich im Modell der Dienstleistungs-Produzentin und derKonsumentin, im Modell der Professionellen und ihrer Patientin gegenüber.

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Besonders in Amerika habe ich beobachten können, wie Vieles unternommen wordenist, womit die dadurch entstandene Kälte, Distanz, "Eile" und eine neue Art dermenschlichen Hilflosigkeit überwunden werden soll. Zusätzliche Kenntnisse undKompetenzen werden Gegenstand von Pflichtfächer in der Hebammenausbildung. Dazugehört die Ausbildung in Gesprächsführung, in Krisen-Management, Übung in nicht-direktiver Beratung, ja in psychoanalytisch angehauchter Therapie; Ausbildung in Körper-Visualisierung und Muskelkontrolle, ä und Gymnastik während der Schwangerschaft. Dazugesellen sich noch orientalisch angehauchte Meditationsübungen.

Ich glaube nicht, daß diese Bereicherung der Ausbildung schädlich sein muß. Sicherlichist sie weniger bedrohlich als noch mehr Hochtechnologie, die mit Sondermenü fürHebammen geliefert wird. Aber allzuleicht wird durch diese Forderung nach sanftenProgrammen die Aufmerksamkeit von jener eigenartigen, ja einzigartigen weiblichenHaltung abgelenkt, die ich aus der Geschichte der Geburtshilfe kenne.

Geburtshilfe ist wie der Brennpunkt, in dem die ganze Situation von Frau in der hoch-technologisierten Dienstleistungs-Gesellschaft aufblitzt, und aus dieser Perspektive scheintmir die Geburtsbegleitung wie eine Gratwanderung zwischen zwei Wirklichkeitsformen:Durch ihre Ausbildung, Prüfung und Zulassung ist die Hebamme nicht nur für Drittesondern auch in ihrem Selbstbewußtsein Agent in einem vielarmigen technischen System,das Körper, Frau, Fötus, Gesundheit, Risiko, safety als Sozialkonstrukte herstellt. ImKreissaal ist sie Agentin zur Verinnerlichung dieser Kopflast für die Gebärende. Denndurch ihre Technik tut sie Dinge, die der Frau auch etwas sagen. Andererseits vermittelt ihrihr Stand als Hebamme das Privileg, als Geburtshelferin da-zu-sein, so sehr ihre technischeFunktion und ihre Professionalität ihr dabei in die Quere kommen mögen. Ich weiß, daß deroft lebendige Wunsch, der Gebärenden als Bär-mutter, Schwester, Frau Beistand zu leisten,sich mühsam trotz -- und gelegentlich gegen -- ihre Verpflichtung als Dienstleistungs-Beauftragte durchsetzt. Und dabei sollen meine historischen Überlegungen ermutigen.

Durch ihre Anwesenheit, ihr Da-sein für eine andere Frau in diesen Stunden, kann diePerson einer Hebamme für die Existenz der Gebärenden noch einmal entscheidender seinals für das Kind, das da zur Welt kommt. Denn die werdende Mutter steht mitten in einemeinzigartigen Erlebnis, in dem sie sich zwischen spezialisiertem Dienstleistungskonsumeinerseits und dem Ringen um eine neue Daseinsweise entscheiden kann. Beinaheunvermeidlich sind die meisten Schwangeren Deutschlands heute

=seit früh auf einer intensiven Entkörperung unterworfen;=im Laufe der Schwangerschaft durch die hermeneutische (also diagnoseabhängige)

Haltung dem eigenen Leib gegenüber noch weiter "von Sinnen" gebracht;

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=aber oft auch, so sagen mir das erfahrene Frauen, in einem Zustand besondererOffenheit für eine Andere, die sie ansprechen kann.

In dieser Situation begründe ich meine Aufgabe als Historikerin, um Sie anzuwerben.Nicht als Studentinnen an unserem Institut in Hannover, nicht als Bibliotheksbenutzerinnen,nein - als Frauen, die etwas wissen über andere Frauen; als Zeuginnen für den Blick auf dieGegenwart, den Sie bei ihrer eben beschriebenen Gratwanderung erworben haben. Unddarin besteht das Privileg, das ihr Stand der Hebamme gibt, nämlich als Geburtshelferin dazu sein.

Denn darin konkretisiert sich in den wenigen Stunden jeder einzelnen Geburt die tiefeZweideutigkeit des lebenslangen Frau-Seins in einer entkörperten und entkörperndenGesellschaft: die Frau will bei Sinnen bleiben, und ist doch unentwegt dabei, das ihre zudieser Entkörperung beizutragen; sie will diese eine Frau ent-binden und kann doch nichtumhin, ihre klinische Rolle abzulegen. Mein Bestehen auf dieser Ambiguität derGegenseitigkeit von Mutter und Helferin können Sie entweder als das Mißverständnis einerhoffnungslosen Romantikerin verstehen, oder als meinen Bericht über die Einsicht, die mirden Weg zum erlebten Körper vergangener Epochen eröffnet hat.

Dem technischen Milieu können wir nicht entkommen; aber es wird nur für die zumentkörpernden Knast, die sich ihrer Sinne, ihres Herzens, ihres Körpers entledigen lassen.Er-Innerung, Nach-Erleben, Wieder-Entdeckung dessen, was Geburtshilfe war, kann (someine ich) jeder Hebamme Mut und Stolz und Geduld geben, um in diesem SinneGeburtsHILFE zu leisten.

Da denke ich an die selbstbewußte Siegemundin, die kurbrandenburgischeHofwehemutter aus dem 17. Jahrhundert.

"Mutterspiegel? was brauch' ich sehen, weil ich es mit den Händen weiss."9

Da denk' ich an Martha Ballard, die tüchtige Hebamme im fast dauernd vereisten US StaatMaine, die von ihren 814 Gebärenden zwischen 1785 und 1812 keine verloren hat; dienichts mehr fürchtete als eine Geburt ohne Hilfe; die nach ihrem 53.Baby im Jahr 1793notierte:

"23. April. War bei den Husseys, neun Tage schon dort und wieder dort beim Wartenauf das Baby, das nicht kommen will ...".10

9. Waltraud Pulz, 'Nicht alles nach der Gelahrten Sinn geschrieben.' Das Hebammenanleitungsbuch vonJustina Siegemundin. München 1994.

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Da denk' ich an die alte Hebamme, die 1819 in Marburg vor einem Professor bei derPrüfung nach der Muttermund-Erweiterung befragt wurde:

"das weiss ich doch danach, wie es weh tut."Da denk' ich an die Traudl, eine freiberufliche Hebamme im Württembergischen:

"Das eine, was ich nur langsam gelernt habe, ist das Warten. Mich mit meinem Rückengegen den gesellschaftlichen Zwang zu stemmen, der den Wunsch nach Kontrolle,Eingriff, Beschleunigung als Begehr der Frau bis in die entlegendste Provinzgebracht hat".

Da denk' ich an Margre Brak, die großartige Hebamme aus Gouda in Holland, die mit demHolzhörrohr noch umzugehen wußte. Warum nicht Ultraschall? schrieb sie:

"to make a difference it must make a difference" "... um besser zu sein, müßt eswirklich besser sein."11

Margre setzte ihre Tatkraft und ihr Wissen ein, einen Raum für die Gebärenden zuschützen, jenen Raum, der dem instrumentellen Zugriff eine Grenze setzt. Nicht dieQuantität ist entscheidend, sagte sie, sondern die Qualität, also die gute, ruhige,hoffnungsvolle Befindlichkeit der Frauen. "Am Gebären -- so Margre -- zeigt sich, wie ineiner Kultur gedacht wird. Eine nicht-medikalisierte Geburt ist nicht mehr oder wenigergut, sie ist nicht mehr oder weniger hierarchisch, sondern sie ist anders."12

Schließlich denke ich an ein Gespräch mit Frau Helga Schweitzer, Lehrhebamme in derTübinger Hebammenschule. In ihrem Schwäbisch sagte sie:

"wisset'se, wenn die Fraue zu uns kommet, die könnet nimmer gebäre. Die hänAngscht. Die hän alles voll im Kopf. Die wisset von weiss ich was, was ellespassieret kann. Und die könnet nemme gebäre."13

10. Laurel Thatcher Ulrich, A Midwife's Tale: The Life of Martha Ballard, based on her Diary, 1785-1812. New York 1990. Diese einfühlsame und anschauliche Studie über die Hebamme Martha Ballardwurde leider nicht ins Deutsche übersetzt.11. Margre Brak, Cobi van de Coevering, Renske Drejer, Nicky van Wely. Routine echoscopie in deeerstelijns verloskunde? In: Tijdschrift voor Verloskundigen. März 1992, S. 109ff.12. Margre Brak und ihre Hebammen-Freundinnen in Gouda und Amsterdam lehrten mich, so zusprechen; die Gebärenden und deren Wohlbefinden war ihr das Wichtigste, deshalb wußte Margre, daßHebammenkritik am Medizinbetrieb vonnöten ist.13. Ich danke Christine Köber, Tübingen, die mit Frau Schweitzer sprach.

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Vielleicht ist jenes Dabei-sein, von dem ich zu Ihnen sprechen will, heute nochmal etwasNeues: denn den Mut dazu, bei sich und bei Sinnen zu bleiben, muß die Hebamme heuteder Gebärenden vermitteln.

Ja, wer nicht gebären kann, die kann man nicht entbinden.

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3. Die bio-optimale Frau

3.1

An den Anfang dieses dritten Teils der Sammlung stelle ich meine Überlegungen zur"Pille", die ich gelegentlich einer Ausstellung des Hygienemuseums in Dresden 1996verfaßt habe. In diesem Aufsatz verbindet sich die Philosophie der Technik mit derGeschichte des Körpers. Mit dieser Wahl will ich verhüten, daß sich durch meine Betonungdes historischen Umbruchs vom fließenden zum iatrogenen Körper ein Mißverständniseinnistet. Der neue, der anatomische Körper hat nicht nur eine aufregendeEntdeckungsgeschichte von Harvey bis Barnard; ich wage zu behaupten, daß er heute,1998, durch ein fundamental neues Körpermodell abgeschafft worden ist. DieseBehauptung gründet auf der bisher vernachlässigten Ideengeschichte der Instrumentalität.

Fünf Jahre lang war Technikphilosophie an der Pennsylvania Staatsuniversität derLieferant für die Butter auf meinem Brot. Im Forschungsseminar von Ivan Illich und CarlMitcham zu den historischen Stadien der causa instrumentalis sind wir der Frage nach-gegangen, wie und wann die Kategorie des Werkzeuges, also der Begriff des "technischenMittels" seine Umrisse angenommen hat. In diesem Kreis fiel mir die Aufgabe zu, dieEntwicklung des organon-Begriffes zu verfolgen. Für Galen, den römischen Arzt zumBeispiel, war organon sowohl die Hand, wie das Messer, wie auch der messerbewaffneteArm. Wann kam es dazu, dem Messer eine intentio zuzuschreiben? Wie kam es dazu, dieSichel unabhängig von der Frauenhand zu denken oder das Schwert unabhängig vom Adeldes Armes? Schrittweise verstanden wir "die Technik" als "Arbeitsmittel" und "die Arbeit"als Kraft, um Technik produktiv zu machen, als fundamentale und bisher überseheneCharakteristik einer langen Epoche, deren Untergang im späteren 20. Jahrhundert meistübersehen worden ist.

Über die Pille läßt sich aus historischer Perspektive vieles sagen und so mancheskörper-historische Thema entwickeln. Von der Sozialgeschichte von Lust und Liebe zuWandlungen in den festen Bindungen von Mann und Frau. Von der "Geschichte desgeplanten Lebens" zum Wunschkind nach Maß und der Gleichstellung der Geschlechter.Die Einladung von Gisela Staupe war mir Anlaß, die Pille in Bezug auf die Technikbegrifflich zu verorten. So erscheint die Pille als Wendeboje vom Zeitalter des Körpers imSchatten der Instrumentalität und der persönlichen Verantwortung zum Zeitalter desKörpers im Zeichen der Optimierung eines Systems.

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Barbara Duden: Die Einstellung des eigenen Zustands: “Die Pille” 90

3.1 Die Einstellung des eigenen Zustands: "Die Pille" 1

In der Kulturgeschichte hat das, was schlechthin "die Pille" heißt, Spitzenwert. Es gibtandere Objekte, denen man zeichenhafte Wirkmacht zuspricht: Hakenkreuz, Hiroshima,dem Transistor, dem PC, TV und AIDS. Für jedes dieser Objekte haben sich Autorengefunden, die nicht die Sache und ihre technische Leistung, -- also was das Objekt tut --zum Thema gemacht haben, sondern die sich mit dem beschäftigt haben, was das Objektsagt. "Nach Auschwitz ....", "nach Hiroshima...", "seit UNIVAC.... dem erstenComputer..." sind gebräuchliche Satzanfänge, mit denen man auf grundlegendeVerschiebungen der Existenzweise in unserer Generation aufmerksam macht. Das ist andersbei der Pille. Nur oberflächlich ist bisher die symbolische Technogenese der Pille untersuchtworden. "Seit es die Pille gibt..." ist selten mehr als die Einleitung zu einem Satz, in demMargaret Sangers übervölkerte Arbeiterwohnung, die Bevölkerungsexplosion, Frauenelendund Frauenbefreiung, pubertäre Promiskuität oder Krebrisiko das Subjekt sind. So bleibt"die Pille" zahm und der Frauenkörper bleibt trivial. In dieser Vernachlässigung desepochalen Symbolwertes der Pille zeigt sich wiederum die Unterbewertung desFrauenkörpers -- auch durch Frauen.

Mit der folgenden Skizze möchte ich die Pille als bewußtseinsprägendes Objekt derJetztzeit ins Rampenlicht stellen. Ich will behaupten, daß die Pille der Archetypus ist fürden Anbruch eines Zeitalters, das andere "post-industriell" oder "post-modern" nennen, dasaber aus der Sicht einer Körperhistorikerin als ein post-instrumentelles Zeitalter verstandenwerden muß. Wiederum ist es der Versuch, die Geschichte von leibhaftigen Frauen meinenStudentinnen verständlich zu machen, der mich zu einer meta-historischen Entdeckungzwingt: die Pille hat keine Ahnen. Sie in eine Reihe mit dem Prostituierten-Schwämmchendes Spätmittelalters, dem Lämmchendarm des Flaneurs zur Zeit von Baudelaire, demMillionengeschäft mit Gummi oder mit Schaum und Spirale zu stellen, geht an der Sachevorbei. Die Pille ist ein Wechselbalg unter den "Mitteln". Das will ich zeigen, und dazukomme ich nicht ohne einen Ausflug in die Technik- oder Philosophie-Geschichte aus.

Durch die tägliche Pille ist es gang und gäbe geworden, sich selbst zu regulieren. DiePille wurde zum Paradigma für die Jetztzeit-Technik, mit der nicht etwas "getan" wird,sondern mit der ein Zustand nach Belieben "abgerufen" und "eingerichtet" werden kann.Die Pille ist damit beispielhaft für Myriaden von anderen Techniken geworden, an die wiruns seither gewöhnt haben und die "Zustände" hervorbringen, -- beispielsweise diese Frau

1. Beitrag zum Katalogband des Deutschen Hygienemuseums Dresden: Die Pille. Von der Lust und von derLiebe, hg. von Gisela Staupe und Lisa Vieth. Berlin 1996, S.67-79.

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da in den Zustand der sexuellen Disponibilität versetzen. Der Frauenkörper wurde dadurchim Laufe von dreißig Jahren zum Logo, zum Symbol des "leeren Mondes" (wie das eineChinesin nannte) für das Zeitalter der beliebigen Irrealität. Er schmeichelt in die virtuelle"Realität" ein. Im Zeichen der Pille wurde die Schwelle in ein neues -- meiner Ansicht nachein drittes -- Groß-Zeitalter der Technik passiert.

GESCHICHTE DER URSACHE

archoi, ure waren schon immer da: sie gebaren die Götter. Die Philosophie verdanktihre Geburt bei den Vorsokratikern dem Ersatz von Göttern durch Ur-Sachen, und dietechné, die Kunst, also die Fertigkeit ur-sächlich zu bewirken, ist das Thema derTechnikgeschichte. In der westlichen Geschichte können wir drei Denkweisen über dasWirken von Ursachen, d.h. Werkzeugen unterscheiden.

In Athen, Rom, Byzanz, ja am Hof Karls des Großen war organon gleichbedeutend fürdas Miteinander von Hand, Schulter und Hammer. Alles was zum Einschlagen des Nagelsnötig war, wurde zusammengesehen und mit einem Wort benannt, gleich ob Fleisch, Holzoder Eisen. Gedanklich unterschieden wurden vier causalitates, Ursächlichkeiten: das Holz,aus dem der Stuhl entstehen sollte, der "Sitz", den der Stuhl bieten sollte, die Form desThrones, der für den Herrscher würdig war und schließlich die Wirkursache, also derTischler mit seinen Händen und seinem Zeug. Diese vier Ursächlichkeiten nannte man causamaterialis (den Stoff), causa finalis (das natürliche Ziel, den kosmischen Zweck) und diecausa formalis, also die Gestalt, die durch die causa instrumentalis, die Wirk- oder Beweg-Ursache der Intention Wirklichkeit verleiht.

Im 13. Jahrhundert wird aus dieser letzteren, der Beweg-Ursache, eine Sonder-Kategorie ausgebettet: die causa instrumentalis. Sie ist und bleibt im Vierer-schema deraristotelischen Ursachenlehre, bewirkt aber nur auf Anlaß der Intention einer"geschaffenen" Person. Das konnte damals noch ein Engel sein, der einen Planeten regierteund durch den er am Weben der Natur teilnahm oder ein Handwerker mit seinem Zeug.Auch der Philosoph begann nun von seinem Besteck, den Kategorien, als instrumenta zusprechen. Das erste Handbuch über die Werkzeuge der verschiedenen Künste wurde an derWeser um 1128 verfaßt und kurz darauf die erste Liste der Schreibwerkzeuge.2 Der Körperging auf Distanz zum Instrument, und das Instrument begann auf eigene Faust zu bewirken.Die Beweg-Ursache überschattete bald ihre drei Geschwister und wurde zur "Ursache"kurzum.

Die Zeitspanne vom 13. Jahrhundert bis zur Schwelle, an der eben die Pille steht, standim Zeichen der Instrumentalität, so deutlich sich diese sieben Jahrhunderte in

2. Ivan Illich ... L.Kuchenbuch

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unterschiedliche Epochen jener Instrumentalität einteilen lassen. So kann man die"Getriebe" unterscheiden. Mühle, Turmuhr, 'Unruhe' der Automaten, Dampfmaschine,elektrischer Motor, Düsentriebwerk erfordern aber nicht nur neue Begriffe vom Technik-Philosophen, sondern sie stellen sich auch dem Denken über die Welt bereit. Das Wasserradtreibt nicht nur den Mal-Stein, sondern auch den Erzhammer und die Mühlen Gottes; dieTurmuhr schlägt auch meine Stunde; die tanzenden Püppchen im Automaten bestätigen dieHerrschaft in Versailles; die 'Unruhe' der goldenen Uhr in der Westentasche des Bürgerswird zum Symbol des Kräfte-Ausgleichs im Parlament; nach dem Bild der Maschine wirdder Körper jeweils neu verstanden, mechanisiert.

Auch der Bezug der Menschen zum Instrument hat seine Geschichte. Die Wartung derMühle war noch unheimlich und die herumziehenden mechanici standen dem Teufel nahe.Das Aufziehen der Turmuhr wurde schon Aufgabe des Sakristans. Die Hand auf denHebeln zu haben, war dann Privileg des Industriekapitäns. Der schwarze Koffer durfte sichnie mehr als 17 Meter von Präsident Nixon befinden, denn er enthielt den Knopf, um denAtomkrieg auszulösen. Also nicht nur die technische Wirksamkeit des Getriebes, nicht nurseine soziale Zeichenhaftigkeit haben Geschichte, sondern auch seine Kontrolle undWartung. Das Instrument war immer ein Gegenüber.

1995 gehört das organon in die Welt archäologischer Kuriosa. Auch dieInstrumentalität gehört ins Gestern, in ein "damals", dessen Vergangenheit vielenerschreckend und deshalb nicht akzeptabel ist. Die Vorstellung, durch gezielten Einsatz von"Mitteln" gewollte Ziele erreichen zu können, prägt aber immer noch weitgehend dasDenken, die Lebensgewohnheiten und das Selbst-Verständnis. Nur, dieses emotionaleFesthalten an einer instrumentalen Denkweise geht an der neuesten technischen undsozialen Wirklichkeit zunehmend und bald vollkommen vorüber. Was die technische,politische und symbolische Gegenwart bestimmt, sind Regelkreise. Und ein Denken inRück-Koppelungen, Vernetzung, Kommunikation, Interface, Informations-Austausch,Optimierung, Funktion und ähnlichen Abstrakta sickert seit fünfundzwanzig Jahren auch indie Selbstwahrnehmung. Das neue dominierende Symbol ist nicht mehr ein "Getriebe",sondern das "operating system", das die Rückkoppelung von allem auf alles erlaubt undbestimmt. Der Manager steht nicht mehr über dem, was er verwaltet, nicht mehr demSystem gegenüber: dem Wesen des Systems entsprechend sind "operator" und "operant",Manager und Betrieb ein System.3

Jener öffentliche Raum, in dem Bürger einander und der Regierung gegenüber stehenkonnten, jene Öffentlichkeit, die noch unter Willy Brandt gedacht werden konnte, ist amVerschwinden. Der auf dem kontraktuellen Denken beruhende Gewaltenausgleich hat sich

3. Arney, William Ray, Experts and Expertise in the age of the System: Tickling the Tail of the Dragon.Chicago ...

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im Weltsystem aufgelöst wie Zucker in Wasser. Vor 20 Jahren waren es nur die VereintenNationen und ihre 12 Töchter -- wie UNESCO und WHO --, die gemeint waren, wenn manvom "internationalen System" sprach. Heute ist auch die Müllabfuhr ein System, wie dasFernsehen und das neugeborene Kind. Und im System-Denken lassen sich alle Wörterbeibehalten, denn sie passen, was immer sie dann auch meinen. Die Begriffe der Freiheitund Individualität werden heute immer häufiger in Analogie zur Computerspracheverstanden: maximale Freiheit und Möglichkeit zur Selbstrealisierung beruhen dann aufeinem "operating system", einem Betriebs-system, das die größtmögliche Installierung vonverschiedenen "applications", also Anwendungs-Programmen erlaubt.

An dieser säkularen Dreiteilung von techne in historischen Perioden, zunächst alsHandwerkskunst, dann als Maschinenbau und jetzt als Rückkoppelungskontrolle will ichanknüpfen, um von der Pille als jenem Emblem zu sprechen, das den Übergang vomZeitalter der Instrumentalität zum Zeitalter des Systemdenkens markiert.

DREI EINSCHRÄNKUNGEN

Um die einzigartige Symbolmacht der Pille als fleischlich wirksames Zeichen derEntkörperung zu fassen, darf ich mich nicht durch die sozialen, ökonomischen,hygienischen oder krankmachenden Folgen der Pille ablenken zu lassen.

= So anstößig das erscheinen mag, muß ich, um die Pille semantisch neben Hiroshimaoder dem Chip unterbringen zu können, mich aus jeder Polemik heraushalten, die untervielen Etiketten geführt wurde und wird: der Diskussion ihrer Wirksamkeit auf dieBevölkerungs-Explosion, Krebserregung, Papst Woytila, Margaret Sanger, die Rockefeller-Foundation oder Experimente an Frauen. Mir scheint die Verinnerlichung derSystemanalyse bedrohlicher als Krebs.

= Ebensowenig darf ich mich durch die herzkranke, dreißigjährige Mutter von elfteilweise kränklichen Kindern ablenken lassen, die sich im Laufe einer neuenSchwangerschaft am 25. Januar 1925 ratsuchend an Margaret Sanger gewendet hat und der35 Jahre später durch die Pille eine weitere Empfängnis hätte vermieden werden können.Wenn es darauf ankommt zu fragen, wie eben diese Pille seit nun 35 Jahren derfrauenspezifischen Selbstintegration in das System-Erlebnis gedient hat, muß ich das Elendder Arbeitermütter der Zwanziger Jahre in Klammer setzen.4 Gerade im Rückblick und vordem Hintergrund der zur Routine werdenden chemischen "Einstellung" der Frau auch inden Wechseljahren und bis ins hohe Alter stellt sich die Frage, wie die Biographie zumProtokoll einer chemischen Selbstverwaltung zu werden droht: Frau schaltet erst auf "anti-

4. Bernard Asbell, The Pill. A Biography of the Drug that changed the World. New York 1995 beginntseine Erfolgsgeschichte der Pille mit dem verzweifelten Brief dieser Frau an Margaret Sanger.

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Baby" ein, und dann schaltet sie kurz aus, wenn's gelingt. Und schon mit vierzig schaltet sieum auf die Hormonpille, mit der dann nicht mehr Empfängnis sondern Knochenbruch oderAlzheimer in höherem Alter verhütet werden sollen.5 Mein Thema ist die Modernisierungdes Körpers durch eine neue Autozeption, eine neue Selbstwahrnehmung, nicht sozialeoder medizinische Folgen-Abschätzung.

= Endlich, drittens, ist es mir unmöglich, mich jenen Frauen anzuschließen, denen dieSelbsterniedrigung zum Ky-borg6 -- zum halb-kybernetischen Organismus -- unvermeidlichoder gar wünschenswert und erträglich erscheint. Aus Gesprächen mit Studentinnen weißich, wie viele junge Frauen die Ideologie der Auto-Dekonstruktion geschluckt haben undversucht sind, ihr Fleisch auf eine Konstruktion des Diskurses zu reduzieren. Soaufmerksam Frauen für die entkörpernde Wirksamkeit dieses Bewegungs-Jargons seinmüssen, so klar müßten sie die symbolische Logik durchschauen, die sie mit der Pillegeschluckt haben.

ZWEIDEUTIGKEIT EINES MITTELS

Seit die Pille im Diskurs aufgetaucht ist, wurden Chemie und Symbolik verbunden.Nach dem Kriegsende begannen amerikanische Pharmakonzerne Geschäfte in Richtung auf"Pille" zu wittern und zu forschen. Nicht die Angst vor der Konkurrenz, sondern die Sorgevor dem Boykott durch katholische Hirtenbriefe motivierte in den ersten Jahren eineirreführende Benennung der Sache. Kapitalintensiv wurde die Forschung um 1950, dennZusatzfinanzierungen aus Geldern von Stiftungen an die Universitäten konnten durch dieVorstellung gewonnen werden, daß die gesuchte Chemikalie ein wirksamesdemographisches Agens in der Entwicklungshilfe werden könnte. Wenn in denLaborberichten um 1955 die Forschung nicht durch die Panik vor der "Bevölkerungs-explosion" motiviert war, dann war es die Familienhygiene der Ärmsten, derenGesundheitsprobleme durch mangelnde Kompetenz der Verwendung anderer Formen derVerhütung anders nicht lösbar schienen. Bis in die frühen 1960er Jahre hinein wollten dieWaschzettel der Pillenverpackung noch den Eindruck erwecken, daß zeitweiligeUnfruchtbarkeit eine Nebenwirkung der Hormonbehandlung sei. Eineinhalb Jahre nach derFreigabe von Searles "Enovid" ergab eine Umfrage, daß schon einer halben Million US-amerikanischer Frauen die Hormonpille zum täglichen Konsum gegen"Menstruationsbeschwerden" verschrieben worden war.7

5. Birgit Luise Lunau hat das vorzüglich in einer Magisterarbeit untersucht: Die Medikalisierungnatürlicher Lebensveränderungen bei Frauen - die Hormonbehandlung der Wechseljahre als Beispiel.Magisterarbeit Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Universität Frankfurt/M. 1993.6. Donna Haraway, Lieber Kyborg als Göttin. In: dies., Monströse Versprechen. Coyote Geschichten zuFeminismus und Technowissenschaft. Hamburg 1995, S.165-184.7. Asbell, The Pill, S. 163.

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Diese Zweideutigkeit war -- ohne jeden Zweifel -- werbetechnisch begründet. InMassachusetts gab's damals noch einen Paragraphen, der die Werbung fürEmpfängnisverhütung unter Strafe stellte. Überraschend ist aber doch, daß bis 1957 invielen Schlüssel-Beiträgen zu hormonwissenschaftlichen Kongressen ähnlich verunklarendeTerminologie verwandt wurde. Beschönigung war nötig, um die Finanzierung derLaboratorien nicht zu gefährden.

Das Zögern, die Sache bei ihrem Namen zu nennen, hatte aber nicht nur kommerzielleund werbetechnische Gründe. Die epistemische Sonderstellung der Pille als Pharmakonwurde in den Jahren des Wirtschaftswunders und der Entwicklungshilfe, des Kalten Kriegesund des scheinbaren Endsieges über Malaria, Tuberkulose und Geschlechtskrankheitennoch deutlicher wahrgenommen als heute. Gesucht war ja ein chemischer Wirkstoff, dessenpharmakologische Klassifizierung Schwierigkeiten bereitet: ein synthetisches Produkt derPharma-Industrie, das aber nicht eine Medizin ist; nicht ein gelegentlich verwendetes Mittel,wie z.B. eine vaginale Desinfektion, noch ein Ersatzstoff wie das Insulin; nicht einzusätzlicher Nährstoff, wie ein Vitamin; nicht die Vorbeugung gegen eine Infektion, wieeine Impfung. Gesucht war ein Etwas, das langfristig verwendet wird, um eine "natürliche",eine "biologische", eine "selbstverständliche" Funktion im Körper zu unterbinden. EineChemikalie, durch die eine Frau sich eine neue Verfassung geben kann. Kein Wunder, daßdamals eine Anzahl von Forschern ihre Mitarbeit an diesem Projekt verheimlichten, teilsweil Unfruchtbarmachung im Bekanntenkreis ärgerniserregend gewesen wäre, teils weil dieIdee der An-ovulation selbst ihnen etwas Widerliches war.

Ebenso problematisch wie die "public relations" für die Firmen in den 50er Jahren warund blieb die epistemische Kategorie der Pille. Weder Medikament noch Nährstoff nochDroge zur Belustigung, wie Alkohol oder Tabak, nicht topisch eingesetzt wie Aspirin, nichtein Placebo, noch ein Kosmetikum wie Seife, Hautcreme oder Desodorant -- was war das?Etwas, das täglich geschluckt wird, nicht um das herbstliche Rotzen aus der Nase zuunterbinden, sondern um einen inneren Vorgang, die Ovulation zu unterbinden, also einenProzeß, der überhaupt erst seit kurzem, nämlich seit 1923 empirisch verifiziert worden war.Wie sollte man diesen Befehl zur unsichtbaren Umgestaltung, der dem eigenen Körpergegeben wird, in die Denkformen der Instrumentalität einordnen?

Ist das ein Mittel zur Selbstverstümmelung? So wurde damals tatsächlich argumentiert.Küchenmesser können gelegentlich zur Selbstverletzung eingesetzt werden undWäscheleinen als Strang. In beiden Fällen handelt es sich aber um einenunvorhergesehenen, man könnte sagen, zweckwidrigen, mancherorts verbotenen, vonmanchen Religionen als sündhaft erklärten Mißbrauch. Das stimmt nicht bei der Pille. Dahandelt es sich um ein hochtechnisches Spezifikum mit unübersichtlichen, unabsehbarensystemischen Folgen, die sich an der Konsumentin heute oder morgen oder erst in ihrerNachkommenschaft zeigen können.

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Dazu fragt die Technik-Historikerin: Läßt sich so etwas wie diese Pille noch als einMittel beschreiben? Ein Mittel zu einem Zweck? Als ein instrumentum? Als ein Werkzeug,Besteck, das sich idealtypisch in die Serie von historischen Kategorien derTechnikgeschichte einreihen läßt? Das gelingt nicht. Der Kondom ist eindeutig ein Gummi,das einen Fluß frustriert, das den Samen daran hindert, an seinen "natürlichen Ort" zugelangen. Papieren, abstrakt, körperlos klingt jeder Vergleich des Kondoms mit der Pille.Denn auch wenn die Frau zwischen Gummi und Hormon frei wählen kann und beide beimBeischlaf die Empfängnis verhindern, so wählt sie -- ob es ihr paßt oder nicht -- zwischenObjekten aus zwei getrennten Epochen: einem Instrument und einem chemischen Befehl anden eigenen Leib. Mit der Pille verinnerlicht sie ein chemisches Kommando, das ihre ganzeKonstitution umzustellt, das ihr Befinden, ihre Haltung, ihre Autozeption auf lange Sichtstabil verändert, auch dann, wenn ihr die Rückgängigkeit vorgegaukelt wird.

Was also ist die Pille dann, was "tut" sie? Diese Frage wurde 1957 ausdrücklich beieiner marktstrategischen Sitzung vom Verkaufs-Chef der Firma Searle gestellt: er wußte,daß mit "Enovid" etwas Unheimliches vermarktet werden mußte: "we are going intoabsolutely unexplored ground in terms of public opinion".8 Die Konkurrenz Parke-Davisentschloß sich aus demselben Grund, mit ihrem "Syntex", einem "potent drug for perfectlyhealthy women"9, garnicht auf den Markt herauszurücken.

Im Rückblick über die Epochenschwelle der 1980er Jahre ist dieses kategorialeSchlingern von hartgesottenen Verkäufern um 1960 viel verständlicher geworden. Einhochpotentes technisches Objekt, das sich nicht in die Kategorien der Zweckrationalitäteinreihen ließ, lag damals jenseits des Vorstellungshorizonts. Das Umformatieren einesProgrammes war kaum vorstellbar. An den Fingerdruck auf eines der Bildschirm-Ikonenvon "Windows-95" dachte damals niemand. Die Verkaufs-Chefs wußten, wie unheimlichihr Angebot wirken würde -- auch auf Abnehmerinnen, die jeden Monat wegen derausbleibenden Mensis zitterten und gerne diese Angst los gewesen wären. Aber damals gabes den uns geläufigen Wortschatz in der Umgangsprache noch nicht, mit dem etwas wie diePille kulturhistorisch zu verorten wäre. Die Gewöhnung an die Pille hat symbolischePionierarbeit geleistet. Sie hat das Musterbeispiel der Regulierung abgegeben, derEinstellung, der Umstellung, der System-Neuvernetzung, der Substitution von System-Zuständen, die in den 1990er Jahren zu epistemischen Selbstverständlichkeiten gewordensind. Die Pille paßt auf das Verhalten, Erleben und die Logik der Jetztzeit, die zur Zeit ihrerEinführung gerade im Anbrechen war. Sie entspricht jener Vorstellung, die erst 20 Jahre

8. Ebd., S. 164.9. Ebd., S. 165.

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später, also 1978, zum ersten Mal ein "Immunsystem" genannt worden ist.10 Für vieleFrauen war die Pille das Objekt, das von ihnen zur Selbst-Entkörperung eingenommenwurde, auch wenn es dann Männer waren, die das entkörpernde Denken über mich undDich eingeführt haben. Es waren die deutschen Verfassungsrichter, die in ihrem Spruchzum Paragraphen 218 im Mai 1993 den "Menschen" des Grundgesetzes zu "einem Leben"umdefiniert haben, die also juristisch die Person als biologischen Lebensprozeß redefiniertund damit den Bürger zum schutz- und manipulationsbedürftigen "Leben" entwürdigthaben.11 Es war kurz darauf der Papst, dem die Frohbotschaft nicht genügt, weil er unsendlich das "Evangelium des Lebens" predigen will.12

Meine Kritik an diesen Autoritäten könnte leicht so mißverstanden werden, als wollteich in Sache "Pille" päpstlicher sein als der Papst. Das wäre entweder ein Zeichen meinerrhetorischen Inkompetenz oder ein Fehlschluß der Leserin. Mir geht es in diesem Beitragkeinesfalls darum, von einen "Naturzweck" zu sprechen, den die Pille unterbindet, wie dasnicht nur moderne Scholastiker, sondern auch Philosophen gelegentlich immer nochbehaupten.13 Ich kritisiere nicht mit dieser vergossenen Milch, sondern ich bedaure dieUnfähigkeit der juristischen, theologischen, philosophischen Denker, die historischeSchwelle wahrzunehmen, die system-bestimmte Jetzt-Zeit vom Zeitalter derInstrumentalität trennt und zu deren Entkörperung die "Pille" spricht.

Es geht mir auch nicht um Rat oder Verbot. So sehr ich mich gegen jede Vernetzungsträube, kann weder ich noch keine, die ich kenne, sich beliebig entstricken. Es geht mir umetwas Zartes und Schmerzhaftes im modernen Frausein. Es geht mir darum, meine Haltungals Historikerin des Körpers jener Frau verständlich zu machen, die sich zur Pilleentschlossen hat, um ihr zu einer Distanz zu verhelfen zu jener Selbstverständlichkeit, dievon der Pille eingeflüstert wird. Was sie tut, ist und bleibt Umstellung, Neu-Einstellung,Verinnerlichung einer Körper-Konzeption, die nicht sinnlich erlebt werden kann.Herstellung eines neuen Zustandes, nicht einer spezifischen Funktion, sondern einer Frau.Und was sie uns symbolisch vermittelt, wenn wir ihrer nicht gewitzt sind, ist: Du bist einprovisorisches Subsystem, ein vorläufiges Rückkoppelungs-Bündel, "ein Leben". Nur die,die sich in einer historischen Verankerung distanzieren kann, kann darüber lachen, wenn siesich je so begriffen hat. Schmunzelnde Distanz ist - in jenem Zustand, in den uns system-

10. Emily Martin, Flexible Bodies. Tracking Immunity in American Culture. From the Days of Polio to theAge of AIDS. Boston 1994. Die Ethnologin beschreibt die verblüffend kohärente Selbstwahrnehmung vonAmerikanerinnen und Amerikanern in Begriffen des Systems, der Rückkoppelung.11. In: Barbara Duden, 'Das Leben' als Entkörperung. Anmerkungen zum Urteilsspruch zu Paragraph 218durch das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. In: LebensBilder, LebensLügen. Leben und Sterben imZeitalter der Biomedizin. Hamburg 1996, S.89-100 untersuche ich das systemische Körperverständnis derRichter, das im Urteilsspruch zu Paragraph 218 zum Ausdruck kommt.12. Papst Johannes Paul II, Über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens. Enzyklika'Evangelium Vitae' vom 25.März 1995. Köln 1995.13. Z.B. G.E.M.Anscomb. The Reality of the Past, In: Philosophical Analysis. A Collection of Essays, hg.von Max Black. Englewood Cliffs N.J. 1963,S. 35-56.

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bestimmte Technik versetzt - mehr denn je die Bedingung für eine leibhaftige Haltung zusich "selbst" und zum "Gegenüber".

Mir ging es hier darum, aus der Geschichte der Technik und der Körpergeschichte jeneKategorien zu gewinnen, die Distanz zur Pille geben können und die darauf einstimmenkönnen, zu hören was sie sagt. Und vor allem, was sie gerade jenen Frauen mitteilt, die sichzur Pille entschlossen haben. Denn ich bin fest davon überzeugt, daß selbst der technogeneZustand, in den wir uns auch ohne die Pille versetzt finden, uns nicht unserer eigenenHaltung berauben kann.

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3.2

Das Hamburger Senatsamt für die Gleichstellung der Frau hat 1991 einen Studienauftragerteilt, um die sozialen Folgen für Hamburger Frauen von Gentechnologie undReproduktionsmedizin zu erforschen. Diese in ihrer Entstehung bitter umstrittene Studie wurde am24. Mai 1993 im Kongress-Zentrum in Hamburg der Öffentlichkeit vorgestellt. Nach der Begrüßungdurch die zuständige Senatorin und vor den Expertinnen war ich an der Reihe.

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3.2 Was Genetik tut und was sie dir sagt: Gene im Kopf 1

EINE NEUE WORTART

Raymond Williams, der Drama Professor von Cambridge veröffentlichte 1976 ein Buch über"Schlüsselwörter”. (2) So nennt er jene Wörter, an denen sich die Linke seiner Generation geschürzthatte. Dieses Buch ist ein Meisterwerk leidenschaftlicher Genauigkeit: Jede der drei DutzendEintragungen erzählt von der Betroffenheit des alternden Autors durch die "klammheimliche"Bedeutungsverschiebung gerade in jenen Wortfeldern, auf deren Umrissen die persönliche Integritätseiner Jugend beruht hatte. Williams begann seine politische Wort-Wacht 1945, als er von seinemPosten als Artillerist am Kieler Kanal nach Cambridge entlassen wurde, und vor 18 Jahren brachteer seine Key Words heraus.

Wenn ich in dem Buch blättere, dann suche ich vergebens nach "Risiko", "Chance", "Umwelt","Abfall", "Entwicklung" oder "Bedürfnis". Die starken Wörter der Politik hatten damals noch ihrenUrsprung bei Dichtern, Denkern, Juristen und Demagogen: sie waren noch nicht, wie heute, Spiegelder Technokratie. Noch weniger natürlich finde ich bei Williams das Vokabular der"Gentechnologie", "pränatalen Diagnostik" oder gar der "Angstindikation", von denen es in dieserStudie wimmelt. Diese Sprache ist erst im letzten Jahrzehnt aus dem Jargon der Biomedizin und ausdem Kauderwelsch des Dienstleistungs-Apparates in unseren Alltag geschlüpft. Im Alltagbeschwören diese Wortungetüme nun den Eindruck herauf, daß sie neuen Wirklichkeitenentsprechen, die sich Frauen nicht entgehen lassen sollen. Der Einwanderungsweg war dabei fürdiese Wort-Fremdlinge immer derselbe: In einer ersten Phase verwenden Wissenschafts-Journalistenden Neologismus im Bericht über einen "Durchbruch" im Labor; dann streiten Politiker über einenneuen "Haushalt" und um das Bundesland, in dem er institutionell angesiedelt werden soll. Dannbemächtigen sich die Abteilungen für Populärwissenschaft in Presse und Fernsehen des neuenWortes und orchestrieren es als den Schlager des Jahres. In einem vierten Schritt entdeckenInteressengruppen ihr Recht auf Sonder-Ansprüche in Bezug auf die Kontrolle von Forschung oderBeratung, weil sie für AIDS, MS oder Schwangerschaft besonders anfällig sind. Und schon ist ausdem Fragment eines wissenschaftlichen Diskurses ein knapper Wert in der politischen Arena und einGegenstand im Schulunterricht geworden.

PROPAGANDA FÜR BIO-QACK

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Die Untersuchung, die heute vorgestellt wird, will die Technik, die hinter diesen Begriffen steht,"aus der Perspektive der Bedürfnisse und Interessen von Frauen besprechen". Die Autorinnen wollenbeweisen, daß Frauen "Informationen" über diese Techniken brauchen, um durch sie nichtgeschlechts-spezifisch geschädigt zu werden. Sie appellieren an Hamburgs Öffentliche Hand undfordern Programme, die Frauen den Weg zu diesen "Informationen" ebnen.

Diese Forderung halte ich für unangebracht. Mehr noch: ich halte diese Werbung zugunsteneines gen-zentrierten Umdenkens der Frau für eine Gemeinheit. Gleich wie lauter die Intentionen derAutorinnen, die Absicht wohlmeinender Biologinnen, Propagandistinnen für Gen-Informationenauch sein mögen, unvermeidlich stopfen diese Informationen Frauenköpfe mit Gen-Wust voll.Frauen lernen, sich selbst als gen-regulierte Immunsysteme verstehen. Sie verwandeln sichwahrnehmungmäßig zu Nischen, in denen Neues Leben genetisch programmiert werden kann.Anstatt auf ein Kind, also ein werdendes "DU" zu warten, verfolgen sie durch die Schirme desGynäkologen die Selbst-Organisation eines Etwas. Ich halte die so betriebene Verkörperung dergenetischen Mentalität durch die Frau für etwas Verheerendes und will das von Anfang an nichtverstecken.

Diese Versammlung hat vor 30 Minuten damit begonnen, daß eine mehrjährige Teamarbeitvom auftraggebenden Geldgeber abgesegnet wurde. Nach dem Kaffee soll dann das Resultatdargestellt und kritisiert werden. Als Zwischenakt haben sie nicht einen Clown noch einen Pastor,sondern eine Historikerin berufen. Ein Hauch von Vergangenheit soll erst mal die Nachdenklichkeitfördern. Ich habe mir lange überlegt, ob ich das tun darf. Denn sobald ich vom Erleben des eigenenKörpers, vom Vertrauen auf die Matrone oder gar von der Haltung zur Leibesfrucht spreche, so wiesie von damals lebenden, heute toten Frauen gelebt wurden, müssen die Fragen, die von der Studieformuliert werden, auf den Kopf gestellt werden. Um das vorsichtig zu tun, will ich mit der Sprachebeginne.

KULTURELLE NEBENFOLGEN EINER "STUDIE"

Die vorliegende Studie ist ein Expertinnen-Bericht. Er ist in ethisch geladenem Bio-quack,einem Dialekt des internationalen Uniquack verfaßt: eine italienische Kollegin, die kein Wortdeutsch kann, verstand sofort, Seite um Seite, worum es geht. Diese Studie richtet sich an dieFrauen-Öffentlichkeit, an die immer wieder genannten hilfsbedürftigen Frauen. Ich frage mich: 'Wiewar es möglich, daß in einer Dekade der Denkstil des bio-medizinischen Labors und dieTerminologie einer zur Biotechnik verkommenen Medizin sich im Wortschatz der Frauenbewegungso eingenistet haben, daß sie nun ihre Selbst-Wahrnehmung prägen? Wie kommt es, daß Frauen geildarauf sind, sich die Kommandoworte im Gen-Programm anzueignen?

1. Vortrag im Congress-Zentrum Hamburg, 27. Mai 1993. Gekürzte Fassung zuerst in: Die kontrollierteFruchtbarkeit. Neue Beiträge gegen die Reproduktionsmedizin, hg. von Eva Fleischer und Ute Winkler.Wien 1993, S.11-22.

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Die Studie soll Frauen helfen. Und um zu helfen fällt den Autorinnen nichts Besseres ein, alsihre Klientinnen in die konzeptuelle Wüste der Biokratie zu locken, in der das weiblicheKörpererlebnis zwangsläufig zerfleddert wird. Schön wäre es, wenn ich mir einbilden könnte, daßdie meisten Frauen diese Enzyklopädie des Bio-Horrors ablehnen werden. Das wird aber nicht derFall sein. Die Autorinnen kennen ihr Publikum. Sie wissen, daß viele Frauen ihnen auf den Leimgehen werden: Biogefasel mit ethischem Anspruch ist Mode. Das ist der Grund, warum ichbefürchte, daß schon durch seine Sprache dieses Dossier auf viele Frauen entkörpernd, betäubend,verwirrend und lähmend wirken wird. Nicht die Gelder, Stellen, Vereine und Verordnungen, die sichauf diese Studie gründen mögen, sondern ihre Symbolmacht ist mein Thema.

Über die geschlechts-spezifischen Nebenfolgen -- also die Frauen betreffenden Folgen --ökologischer, medizinischer, und sozialer Natur enthält diese Studie reichliches Material. Vor nurfünfzehn Jahren, wäre ein solches an Sonderinteressen orientiertes Kompendium von Nebenfolgennoch beispiellos gewesen. Was der Senat bezahlt, wird ihm hier gewissenhaft geliefert. Aber überdiese Nebenfolgen will ich gar nicht sprechen. Mein Thema sind die Nebenfolgen nicht derGentechnik und ihrer Anwendung, sondern die der Propaganda für den genetischen Denkstil. Ich willüber die Axiome, Bilder und Anschauungen sprechen, die diese Flut von Technologie wie Treibholzmit sich schleppt und dort ablagert, wo die Genetik zum Schuß beim Weben des Gesprächsstoffeswird. Ich will über die Folgen sprechen, die das Einfädeln der eigenen Erlebnisse in diesenGesprächs-Stoff auf die Körperlichkeit einer Frau hat. Denn es ist meine These, daß es meist keinenSachzwang für eine Frau gibt, sich in diesem Morast zu verfangen. Die Studie dient mir dazu zuzeigen, wo es noch Raum gibt für wirkliche Wahl. Denn in den letzten 20 Jahren hat unsereGeneration von Frauen gelernt, "NEIN!" zu sagen, wenn uns "das System", "dieMännergesellschaft" mit ihren Selbstverständlichkeiten auf den Leib rückt. Mir scheint, daß dieZukunft jener Bewegung, die mein Leben bestimmt hat, entscheidend davon abhängt, daß wir jetztnicht in die Falle laufen, daß wir jetzt dem bemächtigenden Griff nach unserem Fleisch, nachunserer geschlechtlichen Intimität, der unerwartet subtil als "Genetik" erscheint, ein entschiedenes"Nein" entgegenhalten.

Ich kann nicht umhin, mit der Luft der Stadt, in der ich lebe, ihre Gifte zu schlucken: Denmateriellen Umweltfolgen der Technik gegenüber, bin ich weitgehend ohnmächtig. Die fettenRegenwürmer in meinem winzigen Stadt-Garten trösten, aber sie entgiften mich nicht. Das stimmtaber nicht für die Aura in meinem Kopf und die Stimmung meiner Sinne. Die sind nicht durch meineOhnmacht sondern durch meine Trägheit gelähmt. An der Tür meines Herzens kann ich aufpassen.Zur Diagnostik, Beratung und Planung kann ich "NEIN!" sagen. Und diese Unabhängigkeit kann ichumso besser wahren, je klarer ich mit andern in einer Aura der Wachsamkeit lebe.

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GRUFTI NIMMT ANSTOSSDenn auch ich bin in das Benehmen verwickelt, das so neu ist wie die Wörter in dieser Studie.

"Man muß ein Grufti wie Du sein, um zu merken, daß das nicht immer so war", hat mir neulich eineStudentin gesagt. Und so sprachen wir von der gebrochenen Sinnlichkeit. Wir sprachen konkret überdas, was diese Studie objektivierend, sachlich angeht:

.... Die Hausfrau, die sich kundig machen soll, ob sie diese Kartoffeln in die Suppe tun darf:denn sie sind auf "Hebizidresistenz" traktiert, was im Klartext heißt, daß sie auch bei totalerVergiftung des Bodens nicht eingehen.

.... Die Freundin, die sich fragen muß, ob die Nerven ihres Liebsten das mit gentechnischen "Wachstumshormonen" traktierte Schwein in der Pfanne vertragen können.

.... Die Schwangere, deren Zustimmung gefordert wird, um sie in das "pränatale Screening-Program zur Risikoeinschätzung" einzureihen. Sie soll verstehen, daß der Schatten des komputergesteuerten Datenausstoßes, der ihre nächsten drei Monate überschatten wird, zur modernen Schwangerschaft gehört.

.... Die Frau, die um jene Kriterien wissen und mitentscheiden soll, nach denen ihre Eier zur Laborbefruchtung selektiert werden.

Von all dem spricht diese Studie, und tut es informativ, so daß es als Teil des Alltags erscheint,daß Frauen sich als genetisch bestimmte, regulierbare und reproduzierbare Systeme erleben. DieStudie stellt es sich zur Aufgabe, "die gravierenden Probleme (...) bezüglich der informationellenSelbstbestimmung von Frauen" zu bedenken (p.139). Sie tut es in Worten, die dem Deutschen sofremd sind wie die Sache: "(...) es bedarf für die einzelne Person einer langen und gründlichenReflexion darüber, welcher individuelle, betroffensspezifische Bedarf hinsichtlich der Teilnahme amGen-Test und den daraus resultierenden Informationen besteht". (p.13).

Ich zitiere, nicht weil ich den Autorinnen sprachliche Inkompetenz vorwerfen will. Das ginge ander Sache vorbei. Ganz im Gegenteil - das was der Historikerin auf den ersten Blick als verquasterStil erscheint, ist genau das was diese Studie sprachwissenschaftlich zu einem zeitgeschichtlichenDokument macht. Die symbolischen Nebenfolgen dieser sprachlichen Inszenierung einesGleichstellungsvorhabens bestehen nicht nur in der Restrukturierung des Kopfes, sondern imErlöschen des Echos traditioneller Worte im Fleisch.

Die Sprache, die von den Autorinnen gewählt wurde, spiegelt nicht nur die Realität derWissensverwaltung in den Alltag hinein, sondern sie schafft und zementiert eine neue Form desDenkens und des Erlebens. Viele Paragraphen bestehen aus Sätzen, die eindeutige Worte, klareUrteile, sinnlich überprüfbare Aussagen, ja Sätze so zu vermeiden wissen, daß Wörter zu Variablenin einem Algorithmus schrumpfen.(3) Wer die von den Verfasserinnen aufbereiteten "umfassenden

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Informationen" nicht nur -- so wie den Wetterbericht oder den Landeshaushalt -- zur Kenntnisnimmt, sondern sich auf sie einläßt, die ist damit schon in jener Sackgasse, in der man, um"informiert" mitzusprechen, der eigenen Sprache entsagt, das eigene Herz verschließt, die Sinnebetäubt und sich selbst entkörpert. Was für Frau Müller "Unsinn" ist, wird durch die Studie zum"Problem".

Auch Frau Müller weiß:daß am genetisch traktierten Erdapfel etwas nicht stimmen kann; daß da dran was "faul"

ist;daß eine induzierte "Abtreibung" im sechsten Monat eine Gewalttätigkeit ist;daß am routinemäßigen genetischen screening jeder Schwangeren etwas "Verrücktes" sein

muß.

Frau Müller kriegt Gänsehaut, ihr schaudert, wenn solcher Schmarrn besprochen wird. Aber diealten Frauen, die gefühlsmäßig "NEIN!" sagen konnten, die sterben aus. Eine Studie wie diese hierhat den Zweck, ihre Töchter von dieser Rückständigkeit zu befreien. Wenn morgen früh dieZeitungen von dieser Studie berichten, werden so manche Müllerinnen sich sagen lassen, daß sie inReproduktions-Angelegenheiten sachkundige Verbraucherinnen werden sollten; daß sie die dazunötige "umfassende Information" nur durch wissenschaftlich vorgebildete "bewußte" Personenbeziehen können; daß sie durch das Mittragen genetischer "Verantwortung" ihren Beitrag zurGleichstellung ihrer Töchter leisten. Diese Studie, wenn sie nicht einfach ad acta gelegt wird,erzeugt einen neuen, geschlechts-spezifischen Sog in die ohnmächtige körperliche Abhängigkeit derFrau von Professionellen.

Wenn jene Beraterinnen, deren Finanzierung die Verfasserinnen fordern, anderes leisten solltenals die erlebnismäßige Anpassung ihrer Klientinnen an ein Denkmodell, in dem der Zwangunausweichlich mitgeliefert wird, sich psycho-physisch als genetisch programmierte Immunsystemezu erleben, dann müßten sie nicht die "wissenschaftlichen Fakten" aus dieser Studie diskutieren. Siemüßten ihren Klientinnen vielmehr dazu verhelfen, die Axiome, die Selbstverständlichkeiten, dieVoraussetzungen zu durchschauen, auf denen derartige Techniken und ihre institutionelleAnwendung zustande kommen: das "Risiko", die "Chance", "Gesundheit", "Qualitätskontrolle desFötus", "Immunität". Aber das kann nicht sein. Ich wenigstens glaube nicht an die Möglichkeit eineröffentliche Finanzierung von Stellen, die durch Frauen besetzt sind und im Dienst von Frauen stehenund deren Aufgabe es wäre, fundamental die Selbstverständlichkeiten unseres politischen undsozialen Systems in Frage zu stellen. Diese Art der körperlich ermutigenden Aufklärung kann wohlnicht als Dienstleistung, sondern nur in Freundschaft geschehen, und Freundschaft ist, emphatisch,nicht das Thema dieses Zwischenaktes.

DER BLICK AUS EINER GEN-FREIEN ZEIT.

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Die Vergangenheit ist der Ankerplatz, von dem heraus ich mein "Nein!" zu den Axiomen sage,auf denen diese Studie fußt. Ich kenne keinen besseren Standpunkt und Halt und biete deshalbmeinen an. Meine Disziplin fordert von mir, Tag um Tag den Wurzeln nachzugehen, aus denenheraus gelegentlich eine Frau Müller noch heute fühlt und spricht. Meine Disziplin fordert von mir,dem Körper-Erlebnis einer Frau aus anderer Zeit nur ja nie meine Selbstverständlichkeitenüberzustülpen, sondern das ganz Fremde zu verstehen. Das ist es, was auch meine Haltungbestimmt: zum Phänomen der Menschen-Eier in der Petri-Schale; zum Phänomen der hydroponischkultivierten, also der bodenlosen Tomate; zum Phänomen der genetischen Qualitäts-bestimmungeines zukünftigen Menschen; und, eben auch, zum Phänomen der Frau, die gleich nach derGeschlechtsbestimmung ihres Embryos, den Ultraschall-photoabzug ihrer Gebärmutter alsWeihnachstskarte verschickt.

So betrachtet ist der Kontrast zwischen dem Heute und dem Damals schwindelerregend. Dennich kenne den Fall der Leinwandweberin in Eisenach, die am 27. März 1735 besorgt zu ihrem Arztkommt, weil ihr die Braunschweiger Mettwürste seit geraumer Zeit schon im Magen kleben; ichkenne die Sorgen der Adelsdamen um die Folgen des Weißkohl auf ihre Eingeweide; ich weiß vonder Wirkung des kalten Biers, besonders in Verbindung mit warmem, also unfertigem Brot auf dieweiblichen Innereien. Nicht nur die Frau sondern auch der Arzt können diese Symptome nicht mitSicherheit von einer Schwangerschaft unterscheiden.4 Ich bin vertraut mit der schwangeren Pastorin,die sich fragt, ob nicht ihr gieriger Blick auf die Himbeeren neulich ihr Ungeborenes gezeichnet hat;und mit der Frau, die fürchtet, daß ihr Schreck beim Ansehen des Krüppels die Gliedmassen ihresUngeborenen verdorren könnte. Ich habe versucht, die Gedanken der kinderlosen Schuhmacherin zuverstehen, die mit allen Mitteln ihre "Mutter" reinigen wollte, damit aus der Samenvermischungdoch noch eine rechte Frucht entstünde. Kurz - ich weiß etwas vom Wissen der Frauen ehemals umdas Essen, die Leibesfrucht und den Kinderwunsch. Und ich weiß insbesondere, wie sehr dieses"Wissen" -- so sehr es je Kind einer Zeit, einer Gegend, einer Tradition war -- im Frauenbaucherlebt wurde. Ich weiß, daß ich von Frauen stamme, die sich selbst und auch andere erleben konnten.Aus Hunderten von Fallbeschreibungen aus der ersten Ärztegeneration, die deutsche Notizen in ihrertäglichen Praxis niederschrieben, weiß ich eines: nie hat der Arzt die Frau berühren müssen, um ihrRat geben zu können. Das heißt nicht, daß ich nicht froh bin, daß heute die Gynäkologin meinekranke Freundin nicht nur innerlich und äußerlich abtasten kann, sondern auch, notgedrungen, siedurchleuchtet, ihr Blut analysiert, ihren Blutdruck nimmt. Ich spreche nicht gegen Technik, sonderngegen ein Monopol des technischen Denkens, durch das der absolute Vorrang des Erlebens undBefindens als Kriterium des Wohlseins bedroht wird.

Nichts von all den Geschichten aus Eisenach gleicht den Themen, über die heute gesprochenwerden soll. Ich nannte die Leinwandweberin, um zu betonen, daß es sie und ihren Körper gab, aberso nicht mehr gibt. Ich kenne Romantikerinnen, die wollen zurück. Ich kenne andere, die wollen vonden Frauen damals "lernen". Und ich kenne noch andere, die graben in der Vergangenheit nach

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"Normen" fürs Heute. Ich will weder zurück, noch will ich aus der Geschichte Belehrung oder garWerte. Das Einzige, was ich aus dem Geschichtsstudium zur Diskussion dieser Studie mitbringenkann, ist Distanz, Skepsis. Und die brauche ich, um das tödliche an der Gegenwart in den Blick zubekommen, gelegentlich mit Galgenhumor.

In der Bildzeitung vom 9. Februar 1993 sah ich die Schlagzeile:FORSCHER UNTERSUCHTEN DIE MÄCHTIGSTE KRAFT DER WELT: DIE LIEBE. JEDER HAT EIN

KUSCHEL-GEN."Die Natur hat jedem Einzelnen über Gene eine Art Diskette von Erinnerungen mitgegeben.Auf diesen Disketten sind schöne und traurige Informationen gespeichert. Wir fragen dieseDiskette ab, (...) wenn wir jemanden treffen. (...) Zwei Menschen haben sich getroffen. IhreGehirne haben, wie Computer, ihre Disketten abgefragt. Und nach vielen, vielenÜbereinstimmungen, hat ein rotes Lämpchen geleuchtet: Liebe. Dann folgt die Chemie..."

Unter dem Bombardement von Expertenberichten im Fernsehen, den Illustrierten und demBioquack im Frauenhaus wird für Frau Müller die Welt, in der sie damals schwanger ging,zunehmend unwirklich. Ihre Tochter wiederum, kann sich die Zeit vor dem Fötus, vor AIDS undHormonschweinen kaum mehr vorstellen. Die intensive Heterogenität, die dichte Andersartigkeit derverwalteten Gegenwart läßt beide, Mutter wie Tochter, die Vergangenheit nur mehr als Kostümfilmwahrnehmen. Am meisten entsetzt mich an der Studie, die wir besprechen sollen, dieSelbstverständlichkeit, mit der dieser Bruch mit der "Urzeit", d.h. der Zeit vor Ultraschall undAmniozentese, also vor 1980, hingenommen wird. Das ist es, was Mutter und Tochter anfälligmacht für den Sog in die Biokratie. "Wie geht's?" sagt die eine zur andern, und die antwortet "daswerd' ich Dir morgen sagen, wenn mir das Labor den Bericht über meine Immunwerte zuschickt!" Beide leiden am Schwund der Begabung zu wissen, wie's ihnen "geht". Beide sehen und fühlen aufsich und die andere mit einem biomedizinisch bewaffneten Blick. Ich nenne diese Studie eine"Gemeinheit", weil sie Frauen dazu anleitet, diese Tendenz zu untermauern.

ALEXAEs gab einmal Zwillingsschwestern, die wuchsen in der Nachkriegszeit am Schliersee in Bayern

im Haus ihres Großvaters auf. Fremde konnten die zwei dünnen Mädchen kaum unterscheiden. Dieeine, das war ich, war pumperl gsund. Die andere, Alexa, wurde früh schon von Zuckungenbefallen. Irgendwie wußte man, daß mit dem ersten Blut sich das bessern oder verschlimmernwürde. Als die Zeit gekommen war, nahm die Mutter sie in die beste Klinik, nach Heidelberg. DieDiagnose auf Hirnschaden wurde gestellt -- und die Prognose auf spätere Idiotie. Diese Prognoseverurteilte Alexa zum Leben im Gefängnis unserer Blicke. Der Arzt hatte "Fresslust" als Symptomeinsetzender Idiotie genannt. Ich fühle noch, wie ich Alexa beobachtete und erschrak, wenn sie einezweite Portion Grießbrei nahm. Ich "sah" dann das vom Arzt beschriebene, verstümmelte Gehirn.

4 Duden 1987

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Aber auch heute noch sehe ich Alexa's Gesicht über dem Grießbrei, wenn die Gene einesUngeborenen zur Sprache kommen. Denn ich kann den Bruch in mir nicht heilen, den mir Alexas"Diagnose" beigebracht hat. Die ungebrochene Beziehung zu meinem gelegentlich zuckendenZwillings-Du war mir fortan durch "Etwas" entrückt: Hinter ihrem Gesicht lag die Phantasie vomverstümmelten Gehirn und der Debilität. Unser "morgen" war zu prognostischem "Wissen"geronnen. Immer wieder sah ich nicht Alexa, sondern die Patientin auf dem von den Worten desArztes ausgelegten Weg. Im Mittelpunkt meiner Überlegungen zu den Nebenfolgen diesergenetischen Aufklärung steht der Beitrag, den das Denken in Kategorien von "System","Immunität", "Kontrolle" zu dieser Entsinnlichung, dieser Entpersönlichung leistet. Was in meinerGeneration ein Ausnahmefall war und der "Schnitzer" eines brutalen Stations-Arztes, das ist imNamen der vorgeburtlichen Diagnostik zum sozialen Anspruch geworden.

Die Schwangerschafts-Überwachung, die nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt wurde, isthistorisch gesehen nicht das Resultat einer Technik gewesen, die Anwendungen sucht, sondern dieAusdehnung eines Wohlfahrtswesens, dessen Mentalität auf der statistischen Erfassung derBedürftigen aufgebaut hat. Das hat William Arney schon vor zehn Jahren beschrieben.5 Noch vorkurzem war die Fahndung nach "chromosomalen Aberrationen des Fötus" auf Frauen beschränkt,die nach 35 schwanger wurden. Aber im Laufe des letzten Jahrzehnts hat sich das geändert: Aus derAngst vor dem behinderten Kind wurde ein "Anspruch auf's Qualitätskind". Aus dem Recht aufBeratung und Überlegung entstand die Erfahrung der "Schwangerschaft auf Abruf". Aus derprivaten Wertabmessung vor einer bedrohlichen Diagnose des Genetikers wurden Diskussionen überden "Schutz der Gesellschaft vor unbezahlbaren Krüppeln". Anfang der 80er Jahre war ich verblüfftüber das Aufnahmeformular einer amerikanischen Geburtsklinik, in der die Schwangere "thepreferred reproductive alternative" ankreuzen sollte: "vaginal" oder "cesarean". Die Studie, die unsvorliegt, nennt einen langen Katalog abwägbarer Optionen, über die Frauen informiert und beratenwerden sollen.

Ich kenne eine Anzahl von Studien, die sich mit den einzelnen psychologischen Konsequenzender symbolischen Prägmacht der Reproduktionstechnik auf Frauen auseinandergesetzt haben: dasdiagnostische Angebot, das Ängste schafft und zu Verfahren zwingt, die diese Ängste beschwörensollen. Wie Frauen sich heute zunehmend unter Druck fühlen, weil die Geburt eines behindertenKindes ihnen als Schuld angelastet wird und sie diese Schuld dem Mann, den Geschwistern, denNachbarn gegenüber nicht mehr von sich weg halten können. Ich kenne die Qual einer Freundin, diesich nicht traut, vom eingeleiteten Spätabbruch zu sprechen. All dies ist wichtig und richtig. Dempsychischen "Preis" der genetischen Diagnostik und Beratung kann gar nicht genügendAufmerksamkeit gewidmet werden. So wie der Enthusiasmus für die Krebsjagd in den Geweben derFrau, dem in Deutschland noch ungebrochen gehuldigt wird, von amerikanischen Ärztinnen seiteinigen Jahren als eine Form der psychischen Folter erkannt worden ist, so formuliert sich schon seitgeraumer Zeit eine feministische Problematisierung der Gen-Jagd. Die Ablehnung der pränatalen

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diagnostischen Verfahren mit Ausnahme von familiär besonders belasteten, von älteren Frauen odersolchen, die unter hohem Strahlungs- oder Gift-Pegel gearbeitet haben, ist zu einem legitimen Themades feministischen Diskurses geworden. Das läßt sich auch in diese Studie hinein und gelegentlichaus ihr heraus lesen. Aber die Abwägung des "Risikos" psychischer Belastung als ein Faktor der"Wahrscheinlichkeit einer Langzeitbelastung der Frau" (p...) greift mir doch zu kurz. Denn sie läuftauf einen Einbezug der Frauenpsyche als eine der abhängigen Variablen in den Interessenkalküle derGen-Verwaltung hinaus. Die durch statistische Merkmale hergestellte "Konkretion Frau" wird durchden Einbezug ihrer "psychischen Werte" bereichert und -- um ein Wort aus der Werbung zuverwenden -- naturidentisch. Aus der Distanz, die mir der Umgang mit meinen Leineweberinnengegeben hat, will ich der Identifikation meiner schwangeren Freundin mit ihrem eigenen,naturidentischen Doppelgänger zuvorkommen. Durch meine Skepsis will ich ihr klar machen, daß eskein Sachzwang ist, sondern eine traurige Niederlage, wenn sie sich als "Fall" visualisiert. Aberdazu wird sie sich schon mit einem prinzipiellen "Nein!" gegen das Eindringen der Gene in ihrenKopf wehren müssen.

Vor nun fast einem halben Jahrhundert ging die Bombe auf Hiroshima nieder. Eine Anzahl derStudien haben sich nicht mit der technischen, sondern der seelischen Wirkung dieses Tages befaßt.Vom Aufatmen der Ami-Familien über das Ende des Krieges zum Grauen über die neue technischeAntwort auf die organisatorische Leistung der Konzentrationslager und über den, von Jay RobertLifton beschriebenen Welt-Verlust der Hibak'scha, jener Japaner, die aus der Hölle entkommenwaren und mit einem grauenhaften, lebenslangen Schuldgefühl überlebten, zur blitzartigen Einsichteiner Anzahl von Denkern -- wie Robert Jungk --, die in dieser Stunde sofort wußten, daß ein neuesWeltzeitalter angebrochen war. Danach stand vier Jahrzehnte der Offizier mit dem schwarzenKoffer und dem code fürs Weltenende durch den Knopfdruck in abgezählten Schritten in der Nähedes amerikanischen Präsidenten. Aber nur wenige Denker haben, wie Günther Anders oder HansJonas, das Hauptaugenmerk auf die psychische Verwandlung gelenkt, die weltweit durch dieatomare Technik eingeleitet worden ist. Nur eine Minderheit hat sich in diesen zwei Generationen zueinem "Nein, ohne jedes Ja" den AKWs gegenüber durchgerungen. Nur wenige haben sich formellgeweigert, am Gespräch über die Anwendung von Atomkraft auch nur teilzunehmen.8

Die Gen-Technik ist nicht mit einem Knall vor die Weltöffentlichkeit getreten. Sie hat sicheingeschlichen. Die Studie, zu deren informationellem Gehalt wir den Autorinnen gratulieren wollen,entwirft einen vielseitigen Atlas dieser neuen Dimension. Sie zeigt, wo überall Bio-Technik schon inden Alltag hineinhängt: mehr versteckt als die Tschernobyl-Strahlung, an deren unsichtbareTatsächlichkeit wir uns gewöhnt haben. An keinem Geigerzähler, ja nicht einmal einem Spektroskopkönnte man die Bedrohlichkeit des mutierten Schweine-koteletts ablesen.

5 William R., Power and the Profession of Obstetrics. Chicago 1982.8 Uwe Pärksen, Papier zum Schweigen

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Man kann die Studie als Nachschlagewerk gebrauchen. Man kann die Qualität ihrerInformationen abklopfen. Man kann einzelne ihrer Folgerungen infrage stellen, ausbauen,diskutieren. Man kann auch danach fragen, in welchem Zusammenhang diese Studie entstanden ist:politisch, technisch, ideologisch. Gut und schön. Um diese Fragen zu stellen, brauchen Sie michnicht.

Man kann aber auch so an diesen Text herangehen, wie ich das tun muß, wenn mir eine Schriftaus dem Barock oder aus dem Mittelalter in die Hände fällt. Dann geht es mir vor allem darum, zuverstehen wes Geistes Kind ich da vor Augen habe. Was sagt mir diese Säftelehre Alberts desGroßen, diese Anatomie des Mundinus, diese Kindslagenminiatur aus Bayern über das Seins- undWeltverständnis, aus dem sie entstanden sind? Zum Beispiel muß ich bei diesen mittelalterlichenSchriften immer mitdenken, daß die Welt in Gottes Hand liegt -- als Neuschöpfung in jedemAugenblick. Ganz anderes muß ich mitdenken, wenn ich zur selben Sache Quellen aus dem 17.Jahrhundert lese. Da muß ich die "Große Lehre" der Proportionalität mitdenken, um verstehen zukönnen, warum ein wasserköpfiger Schmerl aus dem Frauenbauch unter keinen Umständen als einvorkindliches Stadium des Menschen "gesehen" werden kann. In dieser heuristischen Haltung habeich versucht, die Rhetorik des Ungesagten in der Gen-Studie zu verstehen. So gelesen kann ich nurbewundern, mit welcher Überzeugungskraft hier der angebliche Sachzwang zur Entkörperungfrauengerecht dargestellt und im Kopf der Leserin verfestigt wird.

Ich gehöre nicht zu denen, die dem Wort und Begriff "Sachzwang" prinzipiell ablehnendgegenüber stehen. Ich werde vom Arzt, Dekan, Politiker am Kreuzungspunkt von Systemen gesehen.Ich lebe, finde mich und schrumpfe unter den Sachzwängen der Pünktlichkeit, desEnergieverbrauchs und meiner Steuern für Bundeswehr und Gen-Labore. Ich mußte sogar meinenKopf an genetischen Basensequenzen trainieren, um einer Freundin zu helfen. Aber ich werdeweiterhin mein Bestes tun, um meine Liebsten, die Studentinnen in den Seminaren und letztlich michselbst nicht genetisch reduzieren zu lassen.

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3.3

Im Sommer 1995 bat mich eine Gruppe von Lehrern und Erziehungswissenschaftlern, einGespräch über den Körper als Lehrfach in Gang zu bringen. Im Zug meiner Semestervorlesunghatte ich mir soeben einen Überblick der Literatur zum Thema verschafft. Ich stand noch unter demEindruck eines Berges von Büchern, Kursen, Zeitschriften, Videoserien zum Thema. Sie gaben allevor, Körperlichkeit, Körperwahrnehmung, Körperbewußtsein zu vermitteln. Mit einem Bericht übermeine Grübeleien beim Besuch einer Ausstellung in London wollte ich nicht den Inhalt diesesneuerdings zugeschriebenen Lernbedürnisses kritisieren, sondern auf die Absurdität ja Perversiondes Unternehmens selbst aufmerksam machen.

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3.3 Die pädagogische Anleitung zur Selbstentkörperung: Eine Ausstellung in London1

Im letzten Semester hielt ich an der Universität Hannover eine Vorlesungsreihe zu "Soziologieund Geschichte des Körpers". Ich wollte den Studierenden durch den Kontrast mit vergangenenhistorischen Erlebnisformen des Selbst einen körpergeschichtlichen Bruch verständlich machen,dessen Zeugen wir sind. Das heute untergehende Modell des "Körpers" hat Michel Foucault amklinischen Blick der Medizin seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts verfolgt. Das war der Körpernach dem Modell der Anatomie, der Pathologie, jenes isolierbare, dreidimensionale Objekt, dasdurch Vermessungen und solidarpathologische Verortungen zustande kam, und das die Medizin derGesellschaft als ihren "Körper" lieferte und der Arzt dem Patienten zur Verinnerlichung anbot. DiesModell veraltet mit atemberaubender Geschwindigkeit; es wird ersetzt durch den "System-Körper" -- wenn das Sechsbuchstabenwort K - ö - r - p - e - r überhaupt noch angemessen ist. DieSystemanalyse hat heute das Bild des Patienten derart durchsetzt, daß von einem 'medizinischenVorhaben' ebensowenig mehr gesprochen werden kann, wie von einem durch die Medizin geprägtenKörper. Diese in wenigen Jahrzehnten durchlebte historische Diskontinuität wollte ich Studentennahebringen, deren Logik, Autozeption und Sensorium meist intensiv von Systemanalyse alsGrundstoff der Wahrnehmung geprägt sind. Wie konnte ich vorgehen?

Ich unterschied in dieser Hannoveraner Vorlesung zwei vergangene Perioden, die ich zurBefremdung an der Jetztzeit einsetzen wollte: den flüssigen Körper des Barock und densolidarpathologischen Körper, der bis in die 1960er Jahre gültig war. Davor allerdings brauchte icheinen Abstützpunkt, von dem her ich diesen Rückwärtsgang in die Geschichte antreten konnte. Fürdiesen Abstützpunkt hätte ich Unterschiedliches wählen können. Eine Vielzahl biotechnischerVerfahren hätten mir ebenso dienen können wie die frappante Durchsetzung des Systems-Begriffs inder Immunologie und dann in der Selbstwahrnehmung. Eine Analyse aufeinander folgenderJahrgänge des Magazins GEO hätte den gleichen Dienst getan. Ich entschied mich schließlich dazu,einen Fall heranzuziehen, an dem sich der Bruch in der Geschichte des modernen Körpers besondersprägnant abzeichnet. Das Objekt, an dem ich mein Argument führte und hier führen will, ist derWellcome-Körper.

Der wird seit einem Jahr in London ausgestellt -- in einem klassizistischen, säulenbewehrten,pompösen Gebäude in der Euston Road mitten in London. Dort habe ich ihn gesehen und zwar ineiner Ausstellung mit dem Titel: "Science for Life - A window into Life". Ich will diese Ausstellungals ein Zeitdokument beschreiben, und werde das in einer Art phänomenologischen Verfahrenszunächst ohne Deutung tun. Dann will ich in einem nächsten Schritt versuchen, die Sache zu deuten,und zwar werde ich das so tun, daß ich den Wellcome-Körper als wirklichkeits- nein, genauer als

1 abgedruckt in Das Argument, Nr... "Leben, Natur, Gesellschaft".

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wahrnehmungsschaffendes Konstrukt fasse. Ich werde mich im letzten Schritt also fragen: was derWellcome-Körper jemandem wie mir tut.

Das Wellcome Institut hat seinen Namen vom gleichnamigen großen englischenPharmaziekonzern, der im 19. Jahrhundert Geld stiftete für eine medizinhistorische Bibliothek, fürmedizingeschichtliche Forschungen und für große publikumswirksame Ausstellungen über dieMedizin im erfolgreichen Kampf gegen Malaria, Tuberkulose und Kindbettfieber. Millionen vonMenschen sind in den letzten Jahrzehnten durch diese Ausstellungen hindurchgeschleust worden. Ineindrucksvollen Schwarz-Weiß-Montagen wurde gezeigt, wie die Medizin nach und nach dieMenschheit von traditionaler Unwissenheit, Not, Todesfurcht und Kindswehen befreit.Schwarzbefrackte Herren, die sich über altertümliche Mikroskope beugten, lächelnde Missionsärztehinter klapprigen Schreibtischen (Lambarene), Krankenschwestern neben dunkelhäutigenrachitischen Kindern waren die Hauptpersonen, an denen der heilsame Effekt pharmakologischerForschung demonstriert werden sollte. Ich habe vor einigen Jahren die alte Ausstellung gesehen undnun lockte mich die im letzten Jahr installierte Show.

Der Titel der Ausstellung heißt Science for Life, Wissenschaft für das Leben/ oder auchWissenschaft vom Leben. Dreimal bin ich durch die Ausstellung gegangen, um mir ins Klare zukommen, was sie soll. Ich will mir Zeit nehmen, das teure, hochstilisierte Sammelsurium in denAusstellungsräumen genau darzustellen. Die Ausstellung beginnt mit einer Serie von Objekten, indenen vielfach die absolute Modellierbarkeit, Nachahmbarkeit, funktionelle Abbildlichkeit alleranatomischen Niveaus unterschwellig mitgeteilt wird und endet schließlich nach ca. 10 Räumen ineinem Horror-kabinett mit AIDS-Kästen und einem Raum des englischen Pfunds. Dort wird derBesucherin, die nun unscheinbar von etwas überzeugt wurde, in einem guten Dutzend vonWerbeobjekten die finanzielle Bedürftigkeit der englischen "Medizinforschung" nahegelegt. DieEngländer geben dafür zu wenig Geld aus: eine große Summe privat verausgabter Budgets inGroßbritannien versickert in Wettabschlüsse. Hunde und Pferde im Wettrennen locken immer nochvergleichsweise mehr Geld aus den Taschen der Bürger als die Forscher in ihrem Wettrennen gegendie Viren.

Am Eingang wird man von einer körpergroßen Attrappe begrüßt, die einen gesunden und einenkünstlichen Fuß hat und einen Jog-stick, mit dem man sich davon überzeugen kann, daß dieBewegung der beiden Beine sich funktionell nicht voneinander unterscheiden läßt. Ob Fleisch oderPlastik, beide heben und senken sich gleichmäßig, wie die Steuerung es verlangt. Dann komme ich indie erste Abteilung: "In dieser Abteilung - so der Text der Ausstellungswand - können Sie ihreeigene Entdeckungsreise machen, sie können sich selbst beobachten, messen und an sichexperimentieren und Ihren Körper mit den Augen des Wissenschaftlers sehen." Die Ausstellung willden Besucher aktivieren, sie ist nicht zum passiven Schauen, sondern zum aktiven Mittun gestaltet:"enter the microscopic world ... explore the amazing world of the invisible ... see your heartbeat ...test your memory ... probe your senses ...". Handle wie ein Wissenschaftler in "a thoroughlyentertaining and accessible way".

Im ersten Raum, den wir nun betreten, steht ein Gipsmodell aus Middlesex von 1927, das nacheinem antiken Torso modelliert ist und aus dem sich Organe herausnehmen lassen: "wie schnell

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können Sie ihre Organe herausnehmen und wieder reinsetzen?" Vater stand mit der Stoppuhr da, umzu sehen, ob Sohn oder Tochter schneller den Brustkasten wieder einräumen. Gegenüber eineSchachtel mit einem Loch: da läßt sich ein roter Schlauch heraus ziehen, um zu erkunden, wievieleMeter lang die Gedärme sind. Ich erinnere mich ans Doktorspielen in meiner oberbayrischenKindheit, ganz hinten an dem verschwiegenen Platz im Garten, der vom Haus aus nicht eingesehenwerden konnte. Einen Moment lang stieg die Erregung ins Gedächtnis, die verbotene Lust inKörperöffnungen zu gucken oder den Finger rein zu stecken. Da kommt aber schon die"Skelettstation". Hier zucken Ohrknöchelchen oder Fußzehen auf Knopfdruck. Zwischen Gedärm,Brustbaukasten und Skelett war mir das Modell des Körpers, das veranschaulicht wurde, bekannt.Da wurde ein Körper vorgeführt, der noch ins Schulbuch meiner Kindheit und Jugend paßt; der inBildern und Beschreibungen ausgelegte dreidimensionale Innenraum der Anatomen: Venen blau,Arterien rot, Gedärm gelb, Atemwege grün. Was man sah, war noch vorstellbar, es hatte die Massemenschlicher Körper, war räumlich situiert, greifbar plastisch geformt und irgendwie "wirklich".

Der zeithistorische Bruch kam beim Übergang ins "menschliche System". "Alles unterKontrolle" meldet der Text: "the body is a complex and delicate machine guided by controlsystems,which monitor and respond to any change. These systems operate at all levels within the body, fromcontrolling temperature to ensuring that the subtle balance of chemicals in our cells is maintained"."Der Körper - ist ein komplexes, homoeostatisches Steuerungsystem, das von multiplenKontrollsystemen organisiert wird; sie überwachen die kleinste Veränderung und reagieren sofortdarauf. Diese Systeme funktionieren auf allen Ebenen im Körper, vom Temperaturcheck bis zurSteuerung der Gleichgewichtsbalance der chemischen Prozesse in den Zellen." Auf Knopfdrucklassen sich die einzelnen "Systeme" erleuchten: das Kreislaufsystem in afrodunkler Farbigkeit unterdem blonden Körperumriß, das die Aufgabe hat "Materie durch den Körper zu transportieren"; daslymphatische System, das überflüssige Gewebeflüssigkeiten in die Zirkulation zurück schafft; dasendokrine System, dem die Langzeiteinstellung des Körpers aufgetragen ist; das Nervensystem, dasdie Verteilung und Verwaltung der Zufuhr zum Hirn unter sich hat; das Immunsystem alskomplexes Netzwerk von Gewebe und Zellen, das den Körper durch die Kommunikation undKoordination seiner Zellen nach außen verteidigt und nach innen aufrecht erhält.

In diesem Raum habe ich mir gut 150 Gegenstände angesehen. An keinem war für mich etwasbegriffsmäßig Neues. Die Apparate zur Ermittlung von Reaktionsgeschwindigkeit undKurzzeitgedächtnis und deren Einübung auf das persönliche Maximum sind ihrem Wesen nachjedem Piloten aus der Prüfung in den Zwanziger Jahren bekannt. Was mich erstaunte, war ihreVerwandlung in ein Spielobjekt, ihre idiotensichere Einfachheit in der Anwendung und dasdurchweg smarte Design. Ich habe mit gut 2 Dutzend Gegenständen gespielt, die dazu Hebel undKnöpfe anbieten, z.B. einem gläsernen Kopf mit 9 Tasten auf einem Schaltbrett, in dessen Innerembeim Drücken auf das Schaltbrett in jeweils einer Farbe das Sprechzentrum, bzw. das Geruchs- undGeschmackszentrum aufleuchten. Und dann probierte ich die neueren Typen von Apparaturen:druckaktive Bildschirme, Wärmesensoren, die es mir erlaubten - das war nicht vorgesehen - durchKonzentration die Veränderung der Wärme an meinen Fingerspitzen zu beobachten oder mit Otho-Skop, Laringo-Skop und Gastroskop in die vorprogrammierte Veränderung der Körperhöhlen einerGipsfigur zu gucken. Ich konnte nicht umhin, den technischen Aufwand zu bestaunen.

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Unverständlich war mir, als einem histologisch geübten Menschen, die Neugierde, mit derErwachsene Schlange standen vor 6 oder 7 intelligent arrangierten Mikroskopen, auf jedem vondenen durch eine Drehscheibe Mikrotomschnitte von Körpergeweben auf die Objektträger eingestelltwerden konnten. Kurz danach wurde Dr. Koch, der Urgroßvater der Mikrobiologie an seinemMikroskop gezeigt bei der Untersuchung von schlecht vergorenem Wein und dann gleich danebenwurde auf einem Ultramikroskopschirm die Simulation einer weißen Blutzelle vorgeführt.

Ich bin wie gesagt dreimal durch die Ausstellung gegangen, um mir ins Klare zu kommen, wasdas Ganze sagt. Habe die Kinder beobachtet und mich gefragt, was Ihnen diese Sache antut.Überwältigend war auf den ersten Blick der Eindruck der absoluten Plastizität, Nachbildbarkeit,synthetischen Ersetzbarkeit auf allen anatomischen Niveaus. Der Körper als überschaubareArbeitsmaschine, ein Ersatzteil-lager von systematisch aufeinander bezogenen Rädchen, Auslösern,Hebelwirkungen - und doch war dies Modell nur der Anfang und letztlich nicht das eigentlicheThema. Als ich das dritte Mal durch die Ausstellung gegangen war, habe ich mich entschlossen,meine eigene Interpretation zu wagen: die Ausstellung besteht aus 9 color-coded Abteilungen, inderen Zentrum nicht die Körper-Maschine steht, sondern in deren Zentrum ich zu einer Zelle werdeund diese Zelle in einem komplexen Steuerungssystem funktioniert. Genau in der Mitte derAusstellung wird die Besucherin durch einen Engpaß hindurch in eine Zelle gezwungen. GroßeLeuchtschrift im gewundenen Eingang: Wellcome to the cell! Futuristische Musik untermalt undstützt die Einladung, sich als ein Protein zu fühlen, das durch die Lipidwand in eine Zelle eindringt.Also: Großbuchstaben: ENTERING THE CELL! An einer diagrammatischen Illustration wird mirerklärt, was ich tue: als ein Ion, als Zuckermolekül oder eine Aminosäure "betrete" ich die Zelle. Die"cell tour" beginnt als Reise in den Zellkern: Man tritt da durch graue, lappige Gebilde, die gestaffelthintereinander liegen in einen gewundenen, sich verengenden Gang. Auf diesen Lappen sindfadenförmige Gebilde etwas verknotet angebracht und blitzen in verschieden irisierenden Farben inunvorhersehbaren Abständen hier und dort auf. Betäubende Musik verdichtet das unwirklicheMilieu. Die Zelle stellt sich in mehreren Guckkästen und in Kurzfilmen auf Bildschirmen als "aliving being", als Lebewesen vor. A living object. In diesem dichten Visualisationsgetöse konnte ichnun die in mir wirksamen Programme, Informationsübermittlungen, Kontrollen, Steuerungen,Interfaces, Prozesse, Rezeptoren mit eigenen Augen anschauen:

Die Zelle als lebendes Etwas. Ich will die "Welt der Zelle" vorstellen: die Welt der Zelle, soheißt es, ist in dauernder Bewegung; komplexe Strukturen pulsieren, bewegen sich, schrumpfen undexpandieren, brechen zusammen und bauen sich in Lichtgeschwindigkeit neu auf, währendChemikalien sie in rasender Geschwindigkeit umtosen. Trotz dieser wahnwitzigen Geschwindigkeitin der Welt der Zelle, ist die Zelle ein organisiertes System: wie die Organe und Sekretionen desKörpers, so hat jede ihrer Strukturen eine einzigartige Funktion. "Rolle" sagt der Begleittext. Weiter:Die Zelle ist wie eine Fabrik: sie hat Arbeiter, Fließbandabläufe und Kraftwerke (power-stations).Sie erhält Rohmaterialien von außen und baut neue Produkte. Manche davon verbraucht sie selbst inder Fabrik, andere werden verpackt und exportiert. Die Zelle zerlegt und recykliert Materie. Inihrem Zentrum liegt die zentrale Kommandostation, der "Kern", der in jeder Sekunde alleAktivitäten überwacht. Äußerlich ist die Zelle "umgeben" (-falls dies deutsche Wort nicht einen zuumhüllenden Sinn konnotiert) von der "Zellmembrane": keiner Ritterrüstung, sondern etwas wieeinem flexiblen Ballon in der Art einer Seifenblase, die sich permanent zusammenzieht und

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extrahiert. Die Zellmembrane ist Teil der Fabrik: einige Proteine bilden Kanäle und Passagen, durchdie andere Moleküle hineineilen und heraussausen; andere empfangen einkommende Nachrichtenund geben sie weiter. Andere geben der Zelle ihre "Identität". Zuckermoleküle zweigen aus Proteinenab oder aus Lipiden, wie feine Fühler. Sie dienen als zusätzliche Marker, durch die die Zellen sichgegenseitig erkennen. Die Zell-Grenze ist zentral für das Überleben der Zelle, denn hier wirdreguliert, was hinein und was hinaus dringt. Die wasserabweisenden Fettmoleküle alsdoppelschichtiger Teil der Zell-Grenze wirken als Barriere für die meisten Stoffe.

Den Nukleus, die Gen-Kommandostation, lasse ich beiseite, um noch etwas über diesogenannten Spezialistenzellen zu sagen: sie stellen andauernde "Kommunikation" zwischen denZellen her. Wir wissen, daß manche Zellen zusammenbleiben, weil sie sich gegenseitig an ihrerklebrigen Oberfläche als Marker "erkennen"; andere Zellen werden "zurückgewiesen", sie müssenweiter wandern, bis auch sie ihren richtigen Ort gefunden haben. Die Kommunikation zwischen denZellen, das Senden und Empfangen von Nachrichten bildet das Zentrum jener Koordination, durchdie sich "das Leben" erhält. Benachbarte Zellen sind oft in Kontakt, eng verbunden, voneinanderentfernte Zellen kommunizieren durch im Blut und in den Nerven vermittelte messages. So gibt esNervenzellen, die "wie ein Telefongespräch" Nachrichten "person to person" übermitteln. Hormonedagegen funktionieren als Radio-nachrichten, die mit dem Blut in alle Teile des Körpers zirkulieren.Wie ein Lautsprecher, der einer Menschenmenge sagt, daß Mr. X verlangt wird, aber nur Mr. Xreagiert auf die Nachricht; genauso werden die Hormone nur von den Zellen gehört, die auf ihremessage geeicht sind. .

Das Leben als Substantiv erscheint zwar im Titel der Ausstellung und wohl hier und da ineinem Nebensatz, aber die Zelle und das System stehen im Mittelpunkt der Show. Ich habe es leidervergessen, mir die Ausstellungstexte genau daraufhin anzusehen, ob das Wort body, "Leib" imemphatischen Sinn jemals vorkommt. Beim Ausgang hatte ich das Gefühl, ich sei meinerLeibhaftigkeit entkleidet worden, hätte sie abgelegt. Ich habe mich zwischen die monumentalenSäulen des Foyers gesetzt, um nochmals zu überlegen, wodurch mich dieser intensive, vielseitigeAngriff plastischer Objekte, Bildschirmvisualisationen, Raumsimulationen so sehr beeindruckt hatte,daß ich beschloß, eine Vorlesung zum Körper mit einer Beschreibung der Ausstellung zu beginnenund den Wellcome-Körper als Idealtypus der postmodernen Totalentkörperung vorzustellen. An demAngriff auf meine Sinnlichkeit war nichts Geschmackvolles, nichts was gute oder üble Gerücheevoziert. Eigentlich war nichts Greif- und Sichtbares an all dem. Und doch war mir schlecht.Warum?

WAS SAGT DER 'WK'?Das Objekt der Medizin wurde für mich hier, durch diese Diagrammatik, in den Nachvollzug

der Visualisation von Prozessen gestellt. Was da gezeigt wurde, hatte nichts mit dem "Körper" zutun, den ich oder ein Allgemeinmediziner noch in meiner Jugend gelernt hatten: hier waren alleDimensionen verrückt, jede Orientierung an einem soma, an Körper, Fleisch, Sensibilität warausgelöscht, der Innenraum unter der Haut getilgt in Informationsabläufen auf einem Bildschirm;Was mich so erschöpfte, war die Herausforderung, das Objekt der Medizin als ein "backwardengineering" aus unglaublich komplexen Darstellungen vermessener Prozesse zu verstehen.

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Ich war erschöpft, denn da war ich Zeuge bei einem zeitgeschichtlichen Vorgang, in demSchulkinder lernen, sich zu entkörpern, indem sie sich selbst als Zelle und System von Steuerungen,Informationsverarbeitung, Interfaces und Austauschprozessen vorstellen sollen. Der Begleittext imBefehlston -- enter the cell! -- und die anheimelnde Metaphorik, die hinterfotzig heterogene Sphärenvermengte, ebenso wie das schicke Design für eine aufregend aktive, spielerische Entdeckungsreise,- Uwe Pörksen prägte dafür den Begriff Infotainment - waren äußerst geschickt, ich würde sagen,heimtückisch darauf zugeschnitten, das Objekt der Medizin und das Selbstgefühl des Besuchers zuverbacken.

Was also sagt der Wellcome Körper, der WK! der Besucherin?

1. Um wohl zu sein, um gesund zu sein, um zurecht zu kommen - das sind meine historischfundierten Worte - brauchen wir Forschungsgelder für immer mehr molekularbiologischeForschung. Das Labor ist ein Moloch, der immer mehr Gelder verschlingen muß und darf, denn wieder Text sagt: die enorme Explosion des Wissens in der Molekularbiologie demonstriert nur, was esnoch zu wissen gibt. Die Forschung hat grad mal an der Oberfläche gekratzt, neue Krankheiten sindneue Herausforderungen, wir brauchen Gelder: AIDS... neue tödliche Krankheiten ... neuePathogene ... wir lösen die Probleme der Zukunft, aber dazu brauchen wir Geld!

2. Um diesen Anspruch zu untermauern, appelliert die Ausstellung nicht nur mit der Fahne: mehrGeld für mehr Aufklärung (von was?), sondern sie setzt ein, was man im 19. Jahrhundert epater lebourgeois nannte. Schau, was wir alles können, was wir schon alles wissen, immer in geraderFortschrittsbahn! staune nur, was es da alles zu sehen gibt! Und deshalb

3. lernst Du als erstes, daß Du eh nichts davon verstehst! Du weißt ja nicht, was Du körperlich,leiblich bist. Wir wissen es: wir die Forscher in den Laboren, die Wellcome-Angestellten wissen esund Du weißt nix! Der Besucher wird elegant erniedrigt, klein gemacht, da er seine Erfahrung innichts des hier Gezeigten einfädeln kann: Hilflosigkeit wird systematisch hergestellt. Die Besucherinwird zu einer abhängigen Haltung disponiert: "weh, weh, sag mir was los ist in meinem Körper!"Diese Hilflosigkeit wird äußerst geschickt hergestellt durch

4. das Faszinosum des Gesehenen, Gehörten, Getanen. Die Ausstellung ist magisch in Bild undText. Das ist ihr Ziel: den abstrakten, ungreifbaren, unsichtbaren, unmenschlichen Zellhaufen unddas Konstrukt des Körpers als System als Faszinum erscheinen zu lassen. Das heißt nichts andres,als daß das Kind lernt, sich vor diesem Faszinum wie die Maus vor der Schlange zu fühlen. Wennman sich die einzelnen Vorführungen ansieht und analysiert, wird einem klar, daß äußerstlangweilige, trockene, uninteressante Sachen thematisiert werden, die eigentlich nichts mit einem zutun haben. Man muß es mal ohne Design, ohne flickernde Lichter, ohne Bildschirme sich vorstellenin altmodischen Vitrinen wie man sie in den 50er Jahren verwandt hatte, als Ausstellungen nochnicht solche Techniken einsetzten. Diese langweiligen Sachen sollen durch ihre Schau, durch dasglänzende Trugbild unweigerlich anziehen und bannen und dadurch:

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5. wird man im Inneren ergriffen. Das Mittel dazu sind die vielfältigen Techniken der Aktivierungdes Zuschauers, der in ein ihm fremdes Geschehen hineingezogen wird. Vom ersten Schritt an wirddie Besucherin zur Selbstbeobachtung aufgerufen und zwar zur Selbstbeobachtung vermittelst vonVermessungen und zur klassifikatorischen Einordnung des eigenen Selbst in einem molekular-biologischen oder medizinischen Rahmen: es wird Dir gezeigt, wie Du sich selbst einstufen mußt:wie schnell, denke ich, ist meine Reaktionsgeschwindigkeit; wie normal ist mein Pulsschlag? Durchdieses Einschleusen in die Selbsteinstufung in diesen unwirklichen "Körper" aus Messungen, inderen Parametern man sich selbst aktiv situiert, wird etwas Neues hergestellt:

6. misplaced concreteness nenne ich das. Das buddhistische tat sam asi erhält hier eine furchtbareRichtung. Sieh Dich selbst an: das bist Du! Siehst Du, auch Du bist ein Molekül! sieh in dieser Weltder Zelle Dich selbst: ja leg nur die Hände an die Knöpfe und sehe Dich selbst und die Welt indiesem Rahmen! Misplaced concreteness ist die Zumutung, sich selbst mit einem Molekülgleichzusetzen: "Denn Du bist das und Du bist nichts andres als das!" Auf den Fotografien desBegleitheftes sind nette Menschen in Sonntagskleidern abgebildet, die mit den Fingern staunend aufdie Nervenzelle zeigen. Die Personen stehen graphisch im gleichen Raum wie ein Virus oder dieNervenzelle. Diese verrückte Konkretion am falschen Platz führt psychisch zu

7. einer epistemischen Larmoyanz. Was meine ich damit? Die Botschaft sagt: ja, wenn wir Geldhätten, könnten wir die Welt beherrschen. Etwas muß getan werden, denn so, wie die Schöpfung ist,ist sie nicht gut genug: die conditio humana muß verbessert werden und wir wissen, wie sie zuverbessern. Epistemische Larmoyanz - damit meine ich, zuerst sich selbst als Zelle sehen, sich alsZelle fühlen zu sollen und dann das Gejammer, daß sie eben noch nicht beherrscht werden kann. DerSelbstlauf einer psychisch so hergestellten Weinerlichkeit setzt ein. Denn

8. wenn die molekulare Forschung als Medizin verbrämt und verkauft wird, wenn Medizin --einstmals Heilkunde von Menschen -- zur Unterabteilung der molekularbiologischen Laborsverkommen ist, wenn also das, was mit den Sinnen gespürt werden kann -- Schmerz, Wohlgefühl =Krankheit, Gesundheit -- nicht mehr Erlebnisse wirklicher Menschen, sondern Zustände von Zelleund Zellpopulationen sind und die Selbstwahrnehmung dem angepaßt wird, dann wird eintechnizistisches Wahrnehmen produziert. Weg mit dem Fühlen, Spüren, Erleben auf der Ebene, aufder Menschen traditionell historisch sich erfahren hatten, zurecht kommen konnten, hin zu einemtechno-fix. Mit technischem Einsatz ist das Problem zu lösen! Her mit der Pille; her mit demBetablocker; her mit den Chemikalien, die mein T-4 T-8 Zellen Verhältnis so umbauen, daß dieMessungen mir Besserung zeigen, obwohl ich mich, wenn ich ehrlich bin, entsetzlich und immerschlechter fühle.

Auf der paradigmatischen Ebene eines magischen Ausstellungsobjekts in London erschien fürmich im "Wellcomekörper" (WK) die spätmoderne Sozialkonstruktion des systemischen Körpers, indem sich einzigartig ein Lebensgefühl verkörpert. In diesem Lebensgefühl sind die vormalsgetrennten Begriffe von Leben, Natur und Gesellschaft synthetisiert. In meiner Kindheit war derMensch als Person noch kein zellularer Lebensprozeß, Natur als "Biologie" noch keinInformationssystem, Gesellschaft als societas noch der "Natur" gegenübergestellt. Der WK ist nureine Variante des gleichen Modells: die Zelle als System, die Umwelt als System, der Planet als

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System. Dagegen hilft meiner Erfahrung nach nur, fest auf den eigenen Füßen zu bleiben, das heißtin einer geschichtlich orientierten Verankerung.

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3.4

In den achtziger Jahren habe ich gelegentlich mit neugierigem Kitzel die feministischenKolleginnen gelesen, die sich von moderner Technik die Erlösung von einem Frauenschicksalerwartet haben, das bis dahin, seit jeher die Anatomie gewesen war. Mit meiner Forderung nachstrenger Disziplin in der Körpergeschichte, wollte ich damals die Historizität auch des modernen,weitgehend technogenen Frauenkörpers plausibel machen. Denn auch innerhalb der Bewegung wardie "Natur der Frau" für die meisten Leserinnen der Ausgangspunkt ihrer Neuentdeckung desFrauseins und ihrer Kritik an der vom 19.Jahrhundert ererbten "Ordnung der Geschlechter".

Kaum ein Jahrzehnt später ist für die jüngeren Studentinnen, "Natur" ein Kürzel für etwas"Eigentliches" geworden, für ein bedrohendes Ideologem, ein Synonym für das hetero-sexuelleMonopol, für das XX-Gen, für biologischen Determinismus und für Zopf. Feminismus hat,weitgehend, seine Theorie im Sog der Leithammel von Dekonstruktion, Postmoderne und Vertextungder Welt gefunden. Nicht mehr die Technik soll die Schicksalsmacht des Körpers brechen, sondernTheorie seine Beliebigkeit zur Voraussetzung machen. Die meisten meiner jungen Studentinnenwollen den Körper nur mehr als ein Sozialkonstrukt haben.

Eine Einladung von Karola Gramann an das Frankfurter Frauenkulturhaus gab mir dieGelegenheit, an einem US-amerikanischen Text von meinem Versuch zu sprechen, zwischen derScylla der Natürlichkeit und der Charybdis der Vertextung hindurch zu steuern.

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3.4 Die akademische Dekonstruktion der Frau: Judith Butler1

EIN ZEITDOKUMENT

Vor drei Jahren erschien in Amerika "Gender Trouble" von Judith Butler. Das Buch wurdeschnell ins Deutsche übersetzt - jetzt wird es hier von Studentinnen aus den ersten Semesternteilweise begeistert aufgenommen. Ich habe mir das ehemals unterstrichene Exemplar vorgenommen,um Fragmente daraus zu kommentieren.[2] Ich will kommentieren, nicht rezensieren. Ebensowenigwill ich Butler in der innerfeministischen Debatte kritisch verorten. Ich lese Butler imZusammenhang der Körpergeschichte als Zeitdokument und nicht im Rahmen der feministischenTheorie. Am Beispiel dieses Textes kann ich die Selbstwahrnehmung eine "postmodernen" Fraubelegen, die mich befremdet, mit der ich mich aber intensiv befassen will, weil sie bei manchenmeiner Studentinnen starken Widerhall findet.

Historische Quellen befremden. Ich halte Befremdung durch eine Quelle für ein Merkmal derausdauernden historischen Praxis. Ich versuche die Studenten in die distanzierte Befremdung derHistorikerin vor gegenwärtigen wie vergangenen Zeugnissen einzuführen. Die Befremdung, die ichdem Butlerschen Text gegenüber beschreiben werde, wird durch meine Gewöhnung an diefachbestimmte Skepsis einer Historikerin bedingt und hat nichts mit psychologischem Deuteln zutun.

DIE DISZIPLIN (askesis) DER KÖRPERGESCHICHTE

Durch meine Analyse des Butlerschen Schreibens will ich deutlich machen, warum ich mich -und wie - mit Körpergeschichte befasse. In zeitaufwendigen Quellenuntersuchungen habe ichversucht, die Körpererfahrung von Frauen vor zwei- und dreihundert Jahren zu entschlüsseln. Dabeihabe ich immer wieder mit Frust erleben müssen, daß ihre Körpererfahrung nicht zu meiner eigenen Die Konstellation von Erlebnissen, die das Fleisch von Frauen in anderen Epochen bestimmt hat, istder Konstellation meiner eigenen Autozeption so fremd, daß ich im Laufe meiner Exegese oft mehrEinsichten über mich und meine Zeit habe sammeln können als über die Frauen, die in meinenQuellen aufgetaucht sind. Diese fachbedingte "Unpäßlichkeit" ist im Vergleich mit der Seelenruhedes Sozial- oder Ideengeschichtlers schon von Praktikanten der Histoire des Mentalitées bemerktworden, verdichtet sich aber sprunghaft, sobald der Körper das zentrale Objekt der Forschung wird.

Die Körpergeschichte ist so für mich ein Weg geworden, auf dem ich gezwungen wurde, dieeingefleischten Selbstverständlichkeiten meiner eigenen Generation explizit zu machen. Nur insoweit

1 Vortrag am Frankfurter Frauen Kulturhaus am 10. Februar 1993, erschien zuerst in: FeministischeStudien 2(1993): 25-34.2. Ich zitiere aus der englischen Ausgabe: Judith Butler. Gender Trouble, Feminism and the Subversion ofIdentity. New York 1990. Deutsche Ausgabe: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/M. 1991.

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mich das Studium historischer Körpererlebnisse meine eigene sensuelle Konstitution als etwashistorisch Gegebenes hat erfahren lassen, und zwar als etwas, über das ich nicht beliebig verfüge,konnte ich es wagen, eine ganz andere Hexis, eine fremde Befindlichkeit aus vergangenen Epochenzu deuten.[3] Diese peinliche Distanzierung ist der körperhistorischen Disziplin (und nicht nur derEthnologie) eigen, wie dies schon mehrfach beobachtet worden ist.[4] Wenn ich aus Wehleidigkeitoder aus Systembegeisterung heraus meine biographisch gegebene somatische Hexis aufgäbe, wäredas für mich der Verzicht auf das Sensorium, ohne das es Körpergeschichte nicht geben kann.

Wenn ich von fleischlichen Selbstverständlichkeiten spreche, so meine ich triviale und deshalbschwer thematisierbare Orientierungen. Ich meine das intime Äquivalent der Verkehrszeichen,Treppen, Ampeln und Lichtschalter, an die ich nicht denke, wenn ich mich von ihnen bestimmenlasse. Ich meine auch Zustände, an die ich so gewohnt bin wie das Atmen der schalen Luft im Turmder Gesellschaftswissenschaften an der Frankfurter Universität oder das Schlucken von Farbstoffenmit der bodenlosen Tomate.

Auf diese Bedingtheit, Dressur, Einfärbung und Geschmacksausrichtung meiner Sinnlichkeithat mich das inständige Klagen und auch der gelegentliche Leichtsinn von Frauen aus verschiedenenJahrhunderten aufmerksam gemacht. Die Exegese von Gesundheits- und Speise-regeln,Hebammeneiden, Sprichwörtern und Gesten hat mich immer wieder dazu gebracht, der vielfachgebrochenen und oft zeitlich verschobenen Markierung, Spiegelung und Prägung von "Draußen" und"Drinnen" nachzugehen, in denen die Autozeption dieser Frauen ihren Niederschlag gefunden hat.Eine halbrohe Speise wie ofenwarmes Brot oder eine feuchte Witterung am Beginn einerSchwangerschaft bedingen den Körper, und im Bild des Körpererlebnisses wird die Umwelt alssomatisches Gegenüber erfahren. Wie Joseph Rykwert nachgewiesen hat, ist existentielles Erlebnisbis ins 18. Jahrhundert immer "kosmisch" gewesen, wenn man dieses Wort seinem Ursprung nachals Resultat von dissymmetrischer "Gegenüberstellung" versteht.[5] In den Geschichten derKranken, die ich bearbeitet habe, geht diese Bezüglichkeit, die als Leibhaftigkeit erfahren wird, jederTextualisierung voraus -- so wie die Stimme dem Diktat.[6]

3. Hexis ist das griechische Wort für habitus, den eingekörperten "Zustand", die "zweite Natur". Meinehexis steckt im (historischen) Fleisch, sie liegt tief unter der Haut, die sich standesgemäß schminken oderpolitisch kleiden läßt. Ich wäre bereit, mich zu häuten, aber nicht zu entkörpern.4. Das betont zum Beispiel: Marie-Christine Pouchelle. Corps et chirurgie à l'Apogée du Moyen-âge. Paris1983. Die Autorin ist eine psychoanalytisch gebildete Anthropologin, die sich an die Exegese einerspätmittelalterlichen Chirugia gewagt hat, um die Psychodynamik und Symbolik der implizitenMetaphorik darzustellen. Ebenso spricht Ruth Padel. In and Out of the Mind: Greek images of the TragicSelf. Princeton 1992 von sich selbst als "sehr fremde Beobachterin" der vorsokratischen, also dervorschriftlichen Körperlichkeit, die für sie "astoundingly alien from ourselves" bleibt.5. Diese Einsicht in die Materialität der Körperordnung ist seit über einem Jahrzehnt durch Gespräche undEntwürfe bestimmt worden, in denen Joseph Rykwert, der Architekturhistoriker, sein großes Werk zurgegenseitigen Bedingtheit von kosmischer Ordnung, Raum und Körper vorbereitete. Jetzt publiziert: TheDancing Column. On the Order in Architecture. Cambridge Mass. 1996.6. Ich formuliere hier aus der "Schriftstück-Geschichte" heraus, einer Disziplin, die in einem Kreis vonKollegen parallel mit der Körpergeschichte betrieben worden ist. Dieser, von Ludolf Kuchenbuch(Fernuniversität Hagen) in seiner 6-bändigen Unterrichtseinheit Schriftlichkeitsgeschichtehistoriographisch ausgesteckte Bereich geht von der Historizität der Schriftlichkeit im Gegensatz zurMündlichkeit aus, geht aber (insofern in Konvergenz mit der Körpergeschichte) nun dahin, aus der

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Wenn der einen das Geblüt zu Kopf steigt und der anderen die Mutter im Bauch rumort und die

dritte noch als alte Frau an der Stockung leidet, mit der sie das Feuer in der Scheune im Innerengebrandmarkt hat, dann kommt hier eine Materialität zur Sprache, an der ich nicht vorbei will, auchwenn ich mich damit der Kritik aussetze, die Konkretheit meiner Autozeption zu einer heuristischenBedingung von Geschichtsschreibung zu machen.[7]

ENTKÖRPERTE SUBJEKTIVITÄT UND HISTORIOGRAPHIE DES KÖRPERS

Butler spricht zu Kollegen, die (nach ihrer Darstellung) über Foucault hinausgegangen sind undbei denen die Stimme zum Phantom geworden ist. Auch ich bin von Foucault beeindruckt worden:von seinem Mut und durch seine Fragestellung über die körperprägende Macht des Diskurses. Abermich hat er dazu gebracht, aus den im Text enthaltenen Diskursen auf die Stimmen vergangenerEpochen zu lauschen. Ich suche also in den Quellen die Aussagen über den Körper in den Stimmenvon Toten -- und nicht in den Texten stimmloser Gespenster. Jenes Gruseln, das viele von uns beimDenken an den Strahlen-, den PCB-, und den Ozonpegel erleben, kommt mich an, wenn Butler daskörperliche Selbst und damit die Stimme als "foundationalist fable"[8] bezeichnet und damit "thegendered core" als eine x-beliebige Erfindung. Stimme hat für meine Ohren immer Klang. Aus derStimme klingt immer ein Mann oder eine Frau; beim "ich" sagen braucht keine Sprache dasGeschlecht anzugeben, denn es klingt aus dem gesprochenen "ich". Deshalb gruselt mir, wenn hierein stimmloser, stummer Diskurs, also reiner Text zur Grundlage des Wissens über Frauen gemachtwird.

Es erschreckt mich, weil so für die Leserinnen des Buches die Illusion geschaffen wird, daß dieWelt des Scheines, die Welt der show die einzige Wirklichkeit ist, in der sie Frauen sein dürfen.Denn wir haben uns daran gewöhnt, den Frauenleib aus Unsichtbarem zusammenzusetzen. Ich binentsetzt, wenn immer mehr von uns verlangt wird, unser Erlebnis an visualisierendenBeobachtungen zu orientieren, also nach Vermessung, Durchleuchtung, Projektion, Analyse zuspüren: den Fötus, den Krebs, den Hormonpegel und was sonst noch visualisiert wird. DiesesUnbehagen setzt bei mir ein, wenn meine Kollegin auf den nächsten Bluttest wartet und eine anderesich zur Chemotherapie an Stelle des Freisemesters entscheidet. Aber es wird akut, wenn in der von

Geschichte des ge- und be-schriebenen Materials die spiegelnde, stützende, prägende und auch lähmendeWirkung dieser Objekte im Rahmen der Gesellschaft zu untersuchen.7. Ich halte Körpergeschichte, (und damit auch die Geschichte des Geschlechterverhältnisses in seinerKonkretheit) nicht für ein Thema, zu dem der Körper einer HistorikerIN privilegierte Arbeitsbedingungenvorgibt. Die großen Wahrsager unseres Jahrhunderts wie Hölderlin, Nietzsche, Freud oder Lacan hättenwohl gar nicht das erleben können, was sie zukunftprägend beschrieben haben, ohne den Mut zurHistorisierung ihrer eigenen Autozeption. Empirisch aber läßt sich feststellen, das "Akademiker" mittabuisiertem Körper (und dazu darf man wohl den Frauenkörper einstweilen noch rechnen) im Rahmen desWissenschaftsbetriebes der letzten 20 Jahre mit besonders feinfühliger Eindringlichkeit den Körperthematisiert und damit ins Rampenlicht gerückt haben. Einsicht in die Körpergeschichte der 80er Jahregeben die drei großen Bände von Fragments for a History of the Human Body. hg. M.Feher, ZONE, Nr3,4und 5. New York 1989; ich verweise auf meinen Literaturbericht: Geschlecht, Biologie, Körpergeschichte.Bemerkungen zu neuer Literatur in der Körpergeschichte. In: Feministische Studien 9, H.2 (1991):109-126.8. S.3.

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Frau Butler zitierten Literatur "Frau" zum Phantom hinter einer Stimme definiert wird, die ihrenKlang gänzlich verloren hat. Gerade weil ich mir der tiefen Historizität von Richtung, Fluss, Stimmeund Rhythmus historischer Frauen bewußt bin, erschreckt mich die unter dem Deckmantel dergepflegten Ironie betriebene zynische Entkörperung durch die wetteifernde Anpassung feministischerKoryphäen an die Epigonen der großen Brüder: Foucault, Derrida, Lacan, Lyotard und Deleuze.

Wir brauchen eine Bezeichnung für dieses Produkt eines stimmlosen Diskurses, das FrauButler offenbar selbst darstellt: Wir könnten von diesem phantomatischen Produkt neuerSubjektivität als der "entkörperten Frau" sprechen. Ich habe den Begriff des "öffentlichen Fötus"[9]für das technogene, phantomatische Emblem geschaffen, dem ich auf einer Plakatwand inHausgröße in Amerika täglich begegnen mußte. Beim Wiederlesen von Butler hatte ich plötzlich denEindruck, daß sie sich für das entsprechende postfreien Konstrukt hält und Diskursanalyse betreibt,um die Erlebniswelt für diese lieblose Selbstdefinition zu monopolisieren. Zur Propädeutik derKörpergeschichte heute gehört die Ablehnung dieser Entkörperung. Immer deutlicher scheiden sichin unserer Gesellschaft die Körper mehr noch als die Geister.

Von der schlesischen Barockfrau oder der steirischen Bäuerin, die im sechsten Monat nochnicht weiß, ob sie wirklich schwanger ist, habe ich gelernt, nur zögernd und immer provisorisch zuSchlüssen über untergegangene Formen der Körpererfahrung zu kommen. Die Quellen haben mireine skeptische Haltung meinem Körper gegenüber aufgezwungen, und ich akzeptiere sie alspsychische Extrabelastung, die sich bei meinem Unternehmen nicht vermeiden läßt. So wie jedergute Historiker es gelernt hat, seine Überzeugungen provisorisch in phänomenologische Klammernzu setzen, so muß die Körperhistorikerin die eigenen Formen der Autozeption einklammern, die ihrals ein sinnliches A-Priori ihrer Wahrnehmungsform bisher Halt, Haltung, Gleichgewicht undSelbstgefühl geben hatten. Aber Schwindelgefühle ums der Bergsteiger in Kauf nehmen.

Mit dieser beim Studium alter Quellen eingeübten Körperdisziplin lese ich Butler. Und Seiteauf Seite erlebe ich auch bei dieser Lektüre Befremdung, und zwar in einem noch intensiveren undweitaus verwirrenderem Masse. Judith Butler gehört einer Textgattung an, die neu ist, aber ohne diemancher Verlag seit 1990 nicht mehr auskommen will: Diese Texte behandeln die dekonstruktiv-kritische Genealogie der diskursiven Kategorien sex/gender/desire, die allesamt als Konstrukteheterosexueller Phallogozentrik dargestellt und als Produzenten von "Weiblichkeit" verstandenwerden.[10]

9. B.Duden. Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Vom Mißbrauch des Begriffs Leben. Hamburg 1991.10. "This text is divided into three chapters that effect (NB: die Kapiteln sagen nicht etwas, sie erzeugen!)a critical genealogy (kritische Ahnenforschung) of gender categories in very different discursive domains."(S.IX) "Gender categories" (also die Personen als Kategorien) wird hier als Hauptthema des Buches soeingeführt, das damit jene Perspektive auf "gender" ausgeschlossen ist, die im Zentrum von Ivan Illich.Genus. Eine historische Kritik der Gleichheit. Reinbek 1983, München 1995 stand. Das Gegenüber, "zwei"wird von Butler kategorial bestimmt, als Begriff und nicht als Grunderlebnis; als ein Wort, das als Subjekteines Satzes dienen kann. Diskursanalyse, nicht Gestik, Zugriff, Orientierung im Alltag, Rhythmik,symbolische Zuordnung bestimmt deshalb bei Butler die Bedeutung dessen, was sie untersucht. Und"Diskursanalyse" heißt für sie Reduktion des Gesprächskreises auf drei französische Schulen.

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Bewußt wähle ich aus diesem Korpus Judith Butler. Ihrem Buch fehlt der Kitzel nach demweiblichen "Terminator II" der Donna Harraway [11], und sie vertritt eine These, was man vonvielen Teilnehmerinnnen an der dekonstruktiven Modenschau kaum behaupten wird. Wenn Butlerjemanden referiert, wie Foucault, Irigaray, Kristeva oder Mary Douglas, dann lern' ich oft was:dann versteh' ich gelegentlich etwas mir Neues vom referierten Autor und seh' auch deutlicher,worauf Butler selbst hinaus will. Das sind einige Gründe, warum ich aus dem Korpus derpostmodernen Theoretikerinnen, die die Studentinnen präsentieren, Butler wähle. Ich lese sie nicht,um durch sie systematischen Einblick in die postmoderne Denkweise zu suchen, die sie beim Leservoraussetzt. Eines steht fest: Für Butler sind 'ich'/'du'/'wir' Epiphänomene einer "performance", der"Leistung" eines stimmlosen "Diskurses". Bei Butler hat die Berufung darauf, daß dieser Diskurs ineiner Gruppe von Akademikern verstanden wird, jenen Platz eingenommen, der bis in dieRenaissance dem Zitat einer klassischen Autorität, später dem logischen Beweis und noch später derphänomenologischen oder linguistischen Analyse vorbehalten war. Denn so stolz Butler daraufpocht, diese Position zu beziehen, und zwar so, daß sie dabei glaubt, über Foucault und Nietzscheund Irigaray hinauszukommen, habe ich in dem Buch keine andere Begründung für ihre Wahl dieserTheorie gefunden, als die, daß sich die Autorin in ihr gefällt.

Ich verstehe also, was Butler sagt, beobachte, daß Studentinnen sie aufmerksam lesen, aberwas sie sagt, sagt mir nichts. Das beginnt damit, daß die Autorin sich selbst als Produkt eines"Herstellungsvorganges" versteht, der sie zu etwas gemacht hat, das in einem historischenFrauenkörper keine Resonanz finden kann. In meinem Quellenkorpus zum Frauenkörper steht damitihr Text an einem nicht mehr überbietbaren Endpunkt: Die durch Verkörperung von Theorieentkörperte Frau. Sie ist meine Zeitgenossin und ist doch meinem Erlebnispotential ferner als dieFrauen im 18. Jahrhundert aus der Kleinstadt Eisenach, wenn diese vor dem Arzt über ihre "Flüsse"und "Stockungen" klagen.

OHNE NATUR

Wenn ich auf die Rückseite der amerikanischen Ausgabe gucke, hat dort der New YorkerVerleger fünf Rezensionen anerkannter feministischer Theoretikerinnen zitiert. Ausnahmslosbegrüßen sie, daß Frau Butler "mit Witz und Literaturkenntnis" Weiblichkeit von jedem Makel "desNatürlichen" säubert. In diesem Falle stimmt, was die Werbung verspricht. Mit Konsistenz undgleichzeitig mit Akribie stellt Butler ein Subjekt feministischer Studien her, das durch kein einzigesMotiv, durch keine Bedeutung, durch keine erlebbare Sinnfaser in die Vergangenheit führt: "(she)reconsiders the status of 'women' as the subject of feminism and the sex/gender distinction." [12]Mit diesem Unternehmen "leistet" Butler aber nicht nur etwas für ihr Fach, sondern sie macht sichzum Objekt meiner geschichtstheoretische Analyse. Sie stellt diskursiv und als Subjekt derfeministischen Disziplin den Idealtypus des postmodernen Objektes her. Ich sehe dieses Subjekt alseinen Spiegel, um in ihm die Entkörperung unserer Epoche zu betrachten. 11. Donna Harraway. "Lieber Kybord als Göttin: für eine feministisch-sozialistische Unterwanderung derGentechnologie." In Argument-Sonderband AS 105: 1984. Hg. v. Peter Lange u.a. Bd.14 p.66-84.

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Butler ist Sprachrohr eines Diskurses, der ganz mit dem Verständnis von Natur als Matrix,also als Geburtsort im Fleisch, als Ur-Sprung gebrochen hat. Mit selbstgefälliger Larmoyanz, die siefür Parodie hält, stellt sie sich als Autorin als machtlosen, aber dafür unbegrenzt permutierbarenSchreiberling dar.[13] Ohne Witz verlächerlicht sie jene Kolleginnen, die es noch immer für nötighalten, to "find a doer behind the deed" [14]. Unzählige Male permutiert sie die Überzeugung, daß "...the question of agency is not to be answered through recourse to an 'I' that preexistssignification".[15]

Mir geht es um das genaue Gegenteil dieser dekonstruktiven "Performanz", in der das, was ichspüre, fühle, schätze, zum gespensterhaften Schattenbild meines sozial determinierten Benehmensgemacht wird. Ich beschäftige mich mit dem Text einer Amerikanerin, die wohl auch als "Mädchen"geboren wurde, um im Spiegel ihrer Denkweise die hier vorgetragene Ablehnung gegen einhistorisch bedingtes Körpererlebnis untersuchen zu können. Was Butler anbietet, ist ein Wortritual.Sie stimmt in den Chor von Akademikerinnen ein, durch den der Selbstentkörperung in derMediengesellschaft der Anschein verliehen wird, im Interesse auch der Frauenbewegung zu sein.

Wenn ich das sage, so setze ich mich dem Einwand aus, doch selbst nichts als Resultat genauderselben seinsprägenden Konstellationen zu sein, das eben in diesem Buch als "Judith Butler"auftritt. An meinem Geburtsdatum kann ich nichts ändern, noch an der Mediengesellschaft. Ich habedie Option, modische Journale bei Empfang in den Papierkorb zu stecken, gleich ob die nunpostmoderne Wäsche oder dekonstruktive Theorie verzapfen. Und ich muß diese Haltung nichtbegründen. Die Arbeit an alten Texten zwingt mich zum angestrengten Lauschen nach "der" Echo[16] in mir, die den Aussagen der Frauen aus dem 18. Jahrhundert antworten könnte. Ich unterrichtegern junge Frauen in Körpergeschichte, weil ich ihnen diese Haltung vermitteln möchte. So wie mirkein Psychoanalytiker einsichtig machen kann, daß meine Widerstände mir wertvolle Einsichtenverschließen, so lasse ich mir von keinem Dekonstruktivisten meine Leibhaftigkeit ausreden. Es istan der Zeit, daß wir die Möglichkeit anerkennen, daß es heute auch im sogenanntenwissenschaftlichen Gespräch über Frauen in der Geschichte heterogene Positionen gibt, derenVertreterinnen miteinander nicht mehr sprechen können.

12. Vorwort S.IX13. Vom unterhaltsam-frechen Mut und dem zügigen Stil einer Julie Burchill, Sex and Sensibility London:Grafton, 1992, und von der geisteswissenschaflichen Bildung der Camille Paglia, Sex, Art and AmericanCulture. NY: Viking, 1992, 377p hat sie nichts. Ihr Text ist zu hochtrabend, um unterhaltsam zu sein, undzu modisch, um meinen Studentinnen einen Begriff von historischer Skepsis zu vermitteln.14. S. 142.15. S. 143. Butler lehnt jede prädiskursive Unterscheidung von sex oder gender ab, denn: "... theepistemological paradigm that presumes the priority of the doer to the deed establishes a global andglobalizing suject who disavowes its own locality as well as the conditions for local intervention" (p.148)"The denaturalization of gender as such.." (p.149), die auf den ersten Blick wie eine Aufforderung zurHistorisierung der gesellschaftlichen Gegenüberstellung von Mann und Frau klingt, kann aber bei Butlernicht so gelesen werden. Denn: " The 'real' and the 'sexually factic' are phantasmatic constructions (alsonicht historische Begebenheiten)-- illusions of substance -- that bodies are compelled to approximate, butnever can." (p.146) "The illusion of gender identity ... reveals its fundamentally phantasmatic status".(p.146f)

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Wie sehr das intuitive "Ja" zur eigenen, historisch bedingten Sinnlichkeit eine Voraussetzungist, die mich aus einem Diskurs ausschließen kann, das habe ich letztes Jahr bei einerMonstersitzung über Computergesteuerte Wirklichkeit im Kongreßzentrum von Essen erlebt. MeinThema war die Soziogenese des substantiven Lebens. Da war ich auf einem Podium mit Dr. X.Y.,einem Blutkrebstherapeuten, der uns an Schaubildern demonstrierte, daß es ihm schon mehrmalsgelungen war, Patienten total auszubluten, so daß er ihnen auf diese Weise ermöglichte, die ihnendiagnostizierte Lebensdauer zu überleben. Dazu versetzt er sie in einen "sub-lethalen", d.h. doch'fast schon toten' Zustand, um sie nach dem Totalverlust ihrer Immunität mit fremd gespendetenKörpersäften als prekäre Immunsysteme wieder zu beleben. "Aber, Herr Professor, ich bin dochkein Immunsystem" begann ich meinen Einwurf. Beinahe beleidigt gab er mir zurück: "Frau Duden,Sie sind ein Immunsystem! Sie sind's, ob Sie's wollen oder nicht."

Nun bin ich ebensowenig das Resultat einer performativen Illusion wie ein Immunsystem. AlsFreundin des GEN-Archivs in Essen vermeide ich jeden Arzt, der seine Therapie auf seinerWahrnehmung von mir als zweibeiniges Immunsystem aufbaut. Ebenso vermeide ich eineKontroverse, in der mein 'ich' als ein sekundäres Konstrukt meiner Performanz vomGesprächspartner weggedacht werden darf. Ich bin nicht ohne Substanz, bin nicht sinn-los, wie dasFrau Butler von sich behauptet. Ich bin nicht zweidimensional: ich habe ein Außen und auch einInnen, und das ist nicht jedermann zugänglich. Ich habe ein Gesicht, das ich zeige, und auchInnigkeit: es gibt Dinge, die ich an mir sehe und andere, von denen ich gelegentlich was ahnen will.Ich bin kein Schneider MeckMeckMeck nach dem Durchlauf in der dekonstruktiven Mühle.

Ich bin doch wer und nicht was. Ich kann mich nicht als programmierbares Immunsystembegreifen. Mein Denken hallt in meinen Sinnen: Ich verlasse mich in meinem Urteil auf den Ekeloder das Licht oder die Süße, die mir eine Überlegung einflößt. Damit wird meine Sinnlichkeit nichtzum Wahrheitskriterium -- aber sie ist und bleibt Bedingung, um meiner historischen Forschung jeneKonkretheit zu verleihen, ohne die Körpergeschichte zum Geschwätz wird. Und die Stimme derNymphe Echo in mir bedingt auch mein Zuhören: Nur wenn sie mithört, kann ich mein Vertrauenverschenken.[17]

PRAXISLEITENDE VORSTELLUNGEN

Seit ich mich mit Körpergeschichte befasse, bin ich entschlossen, mir meinen Umgang mit demKörpererlebnis der Frau in der Vergangenheit durch die Dekonstruktion der Postmoderne nichtnehmen zu lassen. Und dazu ist Intuition nicht genug. Ich sah mich also gezwungen, einhermeneutisches Hilfskonstrukt zu schaffen, das mir bei der Interpretation von körperbezogenenQuellen im Rahmen der heutigen historischen Wissenschaft dienlich sein könnte.

16. Sie ist und bleibt für mich eine Nymphe.17. Durch ihre unbegrenzte parodistische Pose macht es Frau Butler klar, das sie auf das Vertrauen ihrerLeserin pfeift. Ich kann diesem Text kein Vertrauen entgegenbringen. Was mich besorgt, ist die Studentin,die versucht, dem Text Butlers Vertrauen zu schenken, weil er von einer Frau geschrieben ist, und ihr, wiesie sagt, als Medizin dient, um ihr Unwohlsein im Alltag zusammen mit ihrer Körperlichkeit abzulegen.

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Nach einigen Jahren des Sammelns und Verzettelns des erlebten Frauenkörpers seit dem Mittelalterhat mich Bricolage mehr als Theorie dazu gebracht, wenigstens vier Ordnungen zu unterscheiden, indenen Frauen von sich sprechen:

(1) Sie verstehen sich kinästhetisch (als wahrgenommene kineses = Bewegung); d.h. sie nehmensich als angeregt, hurtig, träge, verstockt, verhärtet wahr.(2) Was ihnen geschieht, ertasten sie. Es ist ein haptisches, ertastetes und nicht optischvisualisiertes Erleben. Es schwillt, fehlt, sprießt, drückt, kribbelt, beißt, würgt.(3) Die Aussagen betonen syn-aisthesis (Gemein-sinniges): Geschmack und Geruch, Galle, Fäulnisund Erquickung, aber auch Hitze und Kälte fließen ineinander: in der Leber, im Magen, in derMutter. Eine Vielzahl von Worten bezeichnet diese Vermischung: schwarze Galle, male au coeur,frisches Blut.(4) Und insbesondere sind all diese Erlebniskomponenten ihrem Wesen nach orientiert, wobei"oben" und "unten" ebenso qualitativ voneinander verschieden sind wie "rechts" und "links", "vorn"und "hinten", "innen" und "außen", "nah" und "fern", "hier-dort-drüben" oder "oben-drüber".

Je mehr ich Quellenaussagen nach diesem Schema zusammenstellte, umsomehr wurde mir"Körper" zu orientierter Materialität. Die linguistischen und ethnologischen Vorarbeiten zursinnlichen Wahrnehmung der Raum-Zeit stehen zur Verfügung.[18] Ebenso die semantischen oderbedeutungshistorischen Studien zur Bewertung dieser sinnlichen Vektoren.[19] Je genauer ich dieAussagen oder die symbolischen Handlungen in den Quellen untersuchen konnte, um so deutlicherverstand ich, daß es sich dabei sehr oft um eine Gestaltangabe handelt, die sich als komplex-orientiertes Wohlbefinden oder Übelsein verstehen läßt: als Anleitungen sozusagen, etwas amerlebten Ungleichgewicht zu ordnen.

Ich habe mich also entschlossen, von praxisleitenden Vorstellungen (PLV) zu sprechen, diezum Beispiel in den Hunderten von Frauenklagen aus dem früheren 18. Jahrhundert dem Arztgegenüber zum Ausdruck kommen.[ 20] An der Orientierung der beklagten Verhärtung oder Hitze,an ihrer Intensität und ihrer Qualität mochte es mir gelingen -- so wie ihrem damaligen Arzt -- etwasvon ihrem Körpererlebnis nachzufühlen. Die Untersuchung dieser haptisch und nicht optischwahrgenommenen Vektoren hat es mir oft schon erlaubt, nicht nur das Gespräch unter Frauen zuverstehen. Auch das Verständnis des traditionellen Arztes für den Zustand der klagenden Patientinberuht auf seiner Kenntnis des epochalen Erlebnis-Tensors.[ 21] Als ein mögliches heuristischesHilfskonstrukt bei der Erforschung kulturell voneinander sehr entfernter Körpererfahrungen hat sichdie Suche nach dem Schema der praxisleitenden Vorstellungen, die für eine Epoche und Gesellschaftcharakteristisch sind, brauchbar erwiesen.

18. Dazu die Stichworte: "Space", "Landscape", "Interiority", "Microcosm", "Soma" in der kommentiertenBibliographie: Barbara Duden. Body History - Körpergeschichte. A Repertory, ein Repertorium. Wolfenbüttel: 1990. Zum Beispiel Ekkehart Malotki. Hopi-Raum: Eine sprachwissenschaftliche Analyseder Raumvorstellungen in der Hopisprache. Tübingen 1978.19. Zum Beispiel Rodney Needham, Hg. Right and Left: Essays on symbolic classification. Chicago 1973.20. Barbara Duden, Geschichte unter der Haut. Stuttgart 1987 und 1991. Zu den "Praxis-leitendenVorstellungen, S.123ff..21. Mit Vektoren meine ich Bewegungen, die je nach Orientierung und Intensität anders erlebt werden.Tensor ist ein mehrdimensionaler Vektor.

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Bis in die Gegenwart hinein läßt sich die Autozeption von schwangeren Frauen mit diesemMuster gelegentlich besser verstehen, zum Beispiel, wenn ich mit freien Hebammen spreche. Schonmehrmals haben mir solche Hebammen erzählt, daß die heute üblichen pränatalenVisualisierungsübungen die Fähigkeit der Frau zum haptischen Erleben kinästhetischerWahrnehmung lähmen können. Selbst in den optisch kolonisierten Schwangerschaften der achtzigerJahre habe ich gemerkt, wie befreiend das Gespräch mit Hebammen sein kann, die von dieseminneren, orientierten, synaisthetischen Wissen selbstverständlich ausgehen.

An jene Existenzweise aber, die Butler vermitteln will, läßt sich mit meinem Hilfskonstrukt derpraxisleitenden Vorstellungen nicht mehr herankommen. Sie beschwört eine Art derSelbstwahrnehmung herauf, in der selbst der Unterschied zwischen Außen und Innen gelöschtwerden soll. Das Körperphantom wird zum Hilfskonstrukt, das es der einfältigen Frau ermöglichensoll, am feministischen Diskurs teilzunehmen. Die Autorin gibt mir den Eindruck, daß sie sich sofühlt, wie der öffentliche Foetus meist dargestellt wird: Der Fötus, der zum Symbol des ungeborenenLebens geworden ist, wird in den Medien meist ohne jeden Bezug auf seine Mutter als Kosmonaut inseiner Fruchthaut dargestellt. Nach Butler ist der Frauenkörper ein Epiphänomen, das je nachsozialer Witterung als "Kosmonautin" in der Gesprächsblase eines Diskurses zustande kommt.

GESCHICHTE MIT UNTERLEIB.

Kein Wunder, daß -- nach Butler -- "woman, even in the plural, has become a troublesometerm, a site of contest, a cause for anxiety".[ 22] Natur hat hier keinen Stellenwert. Ich komme auseiner Tradition von Frauen, die stolz darauf sind, daß natura a nascitura dicitur, daß also "dieNatur" nach der Frau, nicht die Frau nach der Natur verstanden wird.

Kaum wagt man sich heute noch, in diesem Zusammenhang "Natur" zu nennen. Ich sprechenicht von der Göttin, nicht vom Matriarchat. Ich mache aus Natur auch kein Ideologem: Ich kenneden, auch von Butler behandelten Ansatz, mit dem Julia Kristeva der Semiotik eine "ur-mütterlichenDimension" zuspricht [23], und so versucht, den Diskurs an die Stelle der Mutter-Natur zu setzen.Ich schreibe Butler kein besonderes Interesse an der Dekonstruktion von Natur zu. Sie beschäftigtsich nicht mit dieser vergossenen Milch. Wie Carolyn Merchant es sagt: Der Tod der Natur [24]liegt schon viel zu weit zurück, auch wenn die Frage danach, wie es in einem toten Universum zumLeben kommt, auch heute noch bei der Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch viele Geisterbewegt.

Mein Thema ist das Echo, mit dem junge Freundinnen im leibhaftigen Erleben auf dieWahrnehmung von Personen, Sachen, Bildern und Wörtern antwortet, wenn sie Butler gelesen

22. S.3.23. Julia Kristeva. Desire in Language: a semiotic approach to literature and Art. New York 1980 (womeiner Kenntnis nach dieser Versuch beginnt).24. Carolyn Merchant. Der Tod der Natur. Ökologie, Frauen und neuzeitliche Naturwissenschaft. 2. Aufl.München 1994.

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haben. Wird die Leibhaftigkeit verlächerlicht? Verschämt über Mangel an politischer Korrektheit alsPrivatsache versteckt? Analysierend zerlegt? Oder kommt bei ihnen dieses Mitschwingen desFleisches beim Denken und Fühlen nach dem Ätzbad der dekonstruktiven Lektüre in ganz neuerWeise zum Tragen? Zu jeder der genannten drei Optionen kennen wir die entsprechendeLiteraturliste: post-modern, multikulturell und psychoanalytisch orientierte Frauenstudien. Ichmöchte zur vierten Option beitragen: Junge Frauen könnten, gewitzt durch den genau begriffenenKontrast zwischen ihren eigenen Wahrnehmungsformen und den Butlerschen Konstrukten, an dasStudium historischer Frauenkörper herangeführt werden. Ich möchte es den Studentinnenermöglichen, zur besseren Selbst-kenntnis dasselbe multivektoriale dynamische Hilfskonstrukt beider Deutung ihrer eigenen Verwirrung oder Verliebtheit anzuwenden, mit dem sie eine Frauenklageoder eine Speiseregel aus früheren Zeiten analysiert haben.

Diese Methodik der Ausbildung für die körperhistorische Forschung scheint mir im Augenblickdringend zu sein. Denn die Theorie, daß Frau die Verkörperung von Launen ist, erhält derzeit neueSubstanz in bemerkenswerten Vorbildern. M-TV und Madonna machen buchstäblich "Schule" anden amerikanischen Universitäten der neunziger Jahre: Brilliante Frauen vom Stil der Camille Pagliaund der Julie Burchill machen die Kunst des meisterhaften Auftritts zu einem integralen Element derakademischen Diskussion. Sie erreichen ihr Ziel durch bewußte, hochkarätige Selbststilisierung als"Frauen": sie beweisen den blassen Epigonen französischer Ex-Marxisten, daß so privilegiert "Frau"Jedermann überlegen ist, wenn es darum geht, sich nicht produzieren zu lassen, sondern sich selbstals intellektuelles Medienphänomen zu produzieren.

Geschichte hat mir geholfen, etwas von meiner -- oft etwas beschämenden -- historischgegebenen Leibhaftigkeit zu begreifen.[25]

25. Und nicht als eine "regulative Fiktion" wie Judith Butler. "Gender Trouble, Feminist Theory andPsychoanalytic Discourse." In: Feminism/Postmodernism, hg. von Linda J. Nicholson, London 1990, S.339betont.

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3.5

Drei Jahre lang diente unser Haus in Pennsylvanien als Treffpunkt für ein internationalesSeminar zur historischen Semantik des Nachkriegsdiskurses über "Entwicklungsländer". Unter demVorsitz von Wolfgang Sachs trafen sich dort Menschen aus aller Welt, um den Bedeutungswandelder Schlüsselbegriffe zu diesem Thema seit 1949 zu untersuchen. So entstand der von Dr.Sachsherausgegebene Development Reader, in dessen Rahmen ich es übernommen habe, die tendenzielleGleichsetzung von "Bevölkerung" und "Population" im politischen Gespräch als einen sprachlichenEinstieg in die Unmenschlichkeit aus körperhistorischer Perspektive zu deuten.

An der Verwendung von "Bevölkerung" als Synonym für den statistischen Ausdruck"Population" im Alltag zeigt sich die Intensität, mit der popularisierte Gesellschaftswissenschaft denGemeinsinn lähmen kann. Parteiredner und Soziologen, Feministinnen nicht weniger als der Papstverwenden wohlmeinend ein entkörperndes Wort, wenn sie 'Mensch im Plural' sagen wollen.Bevölkerungen sind bedroht, haben Anspruch auf Hilfe, sind Faktoren in der Produktion und imKonsum. Die politische Kalkulation mit Menschen-mengen spiegelt einen Endpunkt in derKörpergeschichte. Denn Bevölkerungen sind absolut leibfrei.

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Barbara Duden: Wie Population zur abhängigen Variable wurde: Mensch und Biomasse 131

3.5 Wie Population zur abhängigen Variable wurde: Mensch und Bio-Masse 1

Die Entwicklungspolitik seit 1949 ist der Kontext, in dem ich das Konzept von Bevölkerunguntersuchen will. Das ist nicht einfach, denn heute, in den neunziger Jahren, scheint dies Wort fürdie meisten Menschen der Name für eine natürliche Sache zu sein, eine Sache, ein Problem, über dassich neutral sprechen läßt, ein Objekt, das von Menschen kontrolliert und verwaltet werden kann.Ich will den epistemologischen Status dieses Gegenstandes in internationalen politischenVerlautbarungen untersuchen und dabei auf die Bedeutungen eingehen, die Bevölkerung(population) in der Umgangssprache angenommen hat, z.B. in Kontroversen überGeburtenkontrolle, über die Stellung der Frau und in der Umweltbewegung.

Im Englischen weckt der Begriff "population" wie im Deutschen die "Bevölkerung"unweigerlich Bilder von einer Explosion, vorzüglich der Explosion von ungebildetenMenschenmassen in der Dritten Welt in Ländern, die ihre Schulden nicht zurück zahlen können. BeiBevölkerung denkt man auch an qualvolles Gedränge, an Menschenmassen, die über ihre Grenzenverschoben und in Lagern eingepfercht werden. Irritation über verantwortungslose Kinderzeugung,über die unzureichende Finanzierung von Programmen für die Geburtenkontrolle und über denWiderstand der Katholischen Kirche gegen Geburtenverhütung und Abtreibung schwingt mit.Feministinnen sagen, daß das Bevölkerungsproblem solange nicht gelöst werden wird, solange mandie eigentliche Ursache nicht versteht, nämlich den Ausschluß von Frauen aus denEntwicklungsprozessen. Ökologen wieder, mit ihrer Perspektive der "einen Welt", denken bei"Bevölkerung" an die Grenzen der "Belastbarkeit" des Planeten. Das Wort hat etwas Alarmierendes,weckt Angst und taucht deshalb meist in Verbindung mit "Über" auf. Bevölkerung konnotiert heuteein unerwünschtes Zuviel.

Schon die Mittelschüler lernen in Geographiebüchern, daß die "Bevölkerungsexplosion" eineFolge von Entwicklung ist. Durch Entwicklung kamen Impfstoffe, Antibiotika, bessere Hygiene,bessere Ernährung, gründliche Abwasserbeseitigung. All das wurde von den Leuten in der DrittenWelt und gerade von den Nicht-Weissen schneller akzeptiert als Kondome, Pillen und Spiralen.Bevölkerung ist zu etwas Bedrohlichem geworden. Mit dem Wort wird ein Schatten über dieZukunft geworfen und aus der Perspektive der nördlichen Breitengrade sieht die Bedrohung gelboder schwarz aus.

Diese heftigen, wertbeladenen, manchmal panischen Assoziationen fehlen, wenn Statistikeroder Demographen von "let p = Bevölkerung" als Algorithmus sprechen. Sobald aber die Formelnund Daten der Bevölkerungswissenschaftler aus dem Kontext der reinen Wissenschaft heraus und indie Modelle von Politikern hinein gepflanzt, dann erhält der Algorithmus "p" ein eignes Dasein. "P"ist dann nicht mehr die Formel für eine beliebig hergestellte Klasse von Sachen. "P" verweist dannauf die Möglichkeit, "wirkliche" Menschen in Zahlen zu packen und "let-p = Bevölkerung" vermengtdas kranke Kind, die schwangere Frau und auch den Beamten, der den Zensus erhebt, zu dem

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Barbara Duden: Wie Population zur abhängigen Variable wurde: Mensch und Biomasse 132

Subjekt eines Satzes, dessen Prädikat der "Bevölkerung" den Schein von Wirklichkeit verleiht."Bevölkerungen" wachsen, konsumieren, verbrauchen, verschmutzen, brauchen, fordern und habenBedürfnisse und Rechte. "Bevölkerungen" werden zu Objekten, mit denen sich etwas tun läßt: Mankann sie kontrollieren, entwickeln und begrenzen.

Mein Thema ist also diese Schein-Sache. Ich will über ihre Umformung in vierzig Jahren desEntwicklungsdiskurses sprechen und über die sozialen Wirklichkeiten, die der Wortgebrauch hervorbrachte. Der politische Mißbrauch des Begriffes durch Statistiker oder Demographen ist es nicht,was mich beschäftigt, vielmehr möchte ich verfolgen, wie das Wort sich zu einem Mittelverwandelte, das auf die terminologische Austilgung von Menschen hinausläuft.

Wie Menschen zu Bevölkerung werden: eine neue Perspektive

Die Geschichte von "Bevölkerung" muß man in anderer Weise untersuchen als Entwicklung."Entwicklung" ist ein Schlagwort, das im Unternehmen Fortschritt nach dem Zweiten Weltkrieggeprägt wurde, als der soziale Wandel in eine Aufgabe eines neuen, vielarmigen, professionellenExpertentums umdefiniert wurde. "Bevölkerung" dagegen war damals schon ein altes, gängigesWort im Sprachschatz der Politik, das seitdem allerdings einen radikalen Bedeutungswandeldurchlief.

Gilbert Murrays Oxford English Dictionary gibt uns Zugang zum Sprachgebrauch imEnglischen an der Wende in das 20. Jahrhundert. Der Eintrag zu "population" umfaßt nicht mehr alseine halbe Spalte. In den meisten Phrasen ist population das Hauptwort für Tätigkeiten, wie zumBeispiel in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, in der es heißt, daß der König vonEngland versucht hatte, die "'Population' der neuen Länder zu verhindern". "Population" wie"Bevölkerung" war damals noch ein Verbalnomen. England wollte die 'Peuplierung' der Kolonieverhindern, d.h. die generative Tätigkeit des Besiedelns, Haus, Hof und Familie Schaffens durchwirklichen Pöbel, echtes "Volk". Das OED von 1889 verzeichnet daneben aber auch schon dasHeraufziehen einer anderen, einer technischen Wortbedeutung. Nach Malthus (1789) "wächstBevölkerung im geometrischen, die Subsistenz dagegen nur im arithmetischen Verhältnis an". Soverwendet, kommt das Wort in der englischen Umgangssprache vor, wenn z.B. Macauley 1849konstatiert, daß "man die Bevölkerung Englands 1685 nicht mit absoluter Genauigkeit festgestellenkann". Eine Generation später rühmt der Vererbungsforscher Pater Mendels seine blauen und rosaBohnen als "Bevölkerung". Das nomen actionis, das Tätigkeitswort schwindet im Verlauf dernächsten hundert Jahre in dem Masse, wie im politischen Diskurs Bevölkerung sich zur Bezeichnungfür eine Einheit, einen Handlungsträger oder Anspruchsberechtigten verwandelt.

Diese Bedeutungsverschiebung vollzieht sich vor dem Hintergrund der Entwicklung eines neuenZweiges in der Mathematik. Die daraus folgende und jüngste Mutierung der Bedeutung des WortesBevölkerung im Zeitalter von Entwicklung und Systemtheorie läßt sich nicht begreifen, wenn mannicht vorher den Zusammenhang von Bevölkerung mit den Anfängen von Statistik geklärt hat. Dennes ist keineswegs der Zensus, die Haushalts- und Leutezählung des absolutistischen Staates, die ander Wiege der Statistik steht, sondern das ist die politischen Arithmetik in ihren Anfängen im 17.Jahrhundert. William Petty -- von Hobbes, der über Gesellschaft more geometrico sprach,

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beeinflußt -- kam als erster auf die Idee, die Gesellschaft zu quantifizieren. "Anstatt nur reinvergleichende und steigernde Worte zu gebrauchen und mit der Sprache das Argument zu führen ...habe ich beschlossen, mich in den Termini von Zahlen, Gewichten und Massen auszudrücken."2 Mitdieser Methode hoffte Petty, eine Politischen Arithmetik begründen zu können (London 1690). Erwollte Bacons Versuche weiterführen, der schon nach der Parallele zwischen dem "natürlichenKörper" und dem "politischen Körper" gesucht hatte. Petty suchte zu beweisen, daß die Macht undder Reichtum eines Staates von der Anzahl und Beschaffenheit seiner Subjekte abhängt. Aber diesepolitische Arithmetik war noch weit davon entfernt, mit den erhobenen Zahlen zu kalkulieren, auchdann noch, als in Irland der erste Zensus der Moderne erhoben worden war. Man räsonnierte überdie Zahlen, bedachte sie, betrachtete sie in verschiedenem Licht. Peter Süssmilch, der frommepreußische Bevölkerungsgelehrte, glaubte zwar schon früh, daß die zahlenmäßige Erfassung vonMenschen die Grundlage für jede Verwaltung in einem Staatswesens ist, aber auch für ihn bliebStatistik weiterhin eine spekulative Wissenschaft.

Der Übergang vom allgemeinen Räsonnement numerischer Daten, die man aus denKirchenbüchern gewonnen hatte, zu ihrer mathematischen Manipulierung wurde erst und zwarschlagartig um 1800 vollzogen. In der politischen Arithmetik des 18. Jahrhunderts war dasArgumentieren mit Zahlen noch ein Anhängsel an Beobachtungen gewesen. Erst jetzt wurde diemathematische Verarbeitung von Quanten zur Grundlage einer neuen Theorie und zum Versatzstückneuer Konzepte. Mit diesem Übergang entstand eine neue Sprache, eine neue Begrifflichkeit, die esmöglich machte, Menschen im Kontext von Quantifizierungen zu fassen. Im Licht dieser Begriffewurde es möglich, allgemeine Wahrheiten jetzt in Phänomenen der Masse zu entdecken, obwohl manden Beweggrund jeder einzelnen Handlung weder kennen noch letztlich ausfindig machen konnte.Bevölkerungen wurden typische "Verhaltensweisen" zugeschrieben und deren Vorkommen mit"Wahrscheinlichkeiten" erklärt. Die Statistik stieg zum Vademecum, zum neuen Latein allermodernen Wissenschaft auf und das Wort "Bevölkerung" verlor seinen Bezug zu wirklichenMenschen.

Im Ergänzungsband zum Oxford English Dictionary, der achtzig Jahre nach der erstenAusgabe herauskam, listet der Eintrag zur Sache Population jetzt mehr als zwei Spalten an neuenBedeutungen auf. Aus dem Wort, das ursprünglich von "bevölkern" und von "Volk" her kam(populare im Lateinischen), war nicht nur die aktive Wortbedeutung verschwunden; in den meistenFällen hat es jetzt mit "Völkern", mit Menschen überhaupt nichts mehr zu tun. "Population"bezeichnet die Gesamtheit von Objekten -- und das können Geschosse ebenso gut sein wie Leute;"Population" bezeichnet eine sich reproduzierende Gruppe, die sich mit gegebenerWahrscheinlichkeit und Häufigkeit begattet und vermehrt; das mögen unterschiedslos Menschenoder Moskitos sein. In der Physik spricht man von "populations" in Bezug auf Partikel, die sich ineinem bestimmten energetischen Aggregatzustand befinden. In der Astronomie bilden diemetallreichen Sterne im Zentrum von Galaxien eine "population", die von den Sternen in globularclusters unterschieden werden kann. Strafwissenschaftler unterscheiden die "Pupulation" ihrerInstitutionen danach, ob sie sich gerade im Freigang oder im Gefängnis befindet. Schließlich führt 2. Zit. nach M.J.Cullen. The Statistical Movement in Early Victorian Britain: The Foundations ofEmpirical Social Research. New York 1975, S.2. Zur Geschichte der Statistik: Theodore M.Porter. The

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das OED-Supplement eine vierte, ganz neue Kategorie von Wortvorkommen an, nämlich eine Serieneuer Wortverbindungen mit "population", wie -zählung, -kontrolle, -zyklus, -verteilung, -politik,-planung, -explosion, -wachstum, -trends, -überblick, -erhebung, -inversion und noch weitere solcherVerbindungen, die allesamt Bezeichnungen für Funktionen und Faktoren sind, die untersucht undoffenbar auch gemanagt werden können.

Die meisten dieser neuen Komposita treten heute täglich in den Zeitungen auf. "Bevölkerung"ist ein Paradefall für jenen Vorgang, den Uwe Pörksen die Kreolisierung des Sprechens und derSprachen durch die Pseudosprache der Statistik nennt.3 Die "Bevölkerung", mit der wir es jetzt zutun haben, ist Resultat einer Kreolisierung, die in drei aufeinander folgenden Schritten vor sich ging.

Im ersten Stadium, um die Jahrhundertwende, stieg die Statistik zu einem eigenen Gegenstandin der Mathematik auf. Ihre strenge Begrifflichkeit entfremdete sie der Umgangssprache. Es warendie Demographen unter den Begründern der mathematischen Statistik, die danach suchten, wie manein Werkzeug schaffen könnte, mit dem sich Darwins Theorie der Evolution politisch interpretierenließe. Dies politische Interesse der Demographen war dann wohl einer der Treibriemen, durch dendie Wissenschaftswelt, Physiker ebenso wie Biologen, dazu bewegt wurde, sich den Einsatz vonaggregierten Daten und Mittelwerten zu eigen zu machen, um damit ihrer Natur nach unabhängigeund wechselnde, als Größen aber voraussagbare Gegenstände zu untersuchen.

Im zweiten Stadium wurde die Statistik zur lingua franca, zur Allgemeinsprache. Ihre Axiomebildeten fortan den Hintergrund für die Biologie ebenso wie die Physik oder die Soziologie.Einführende Lehrbücher, nach denen Studenten lernen, wie man mit statistischen Methoden operiert,vermitteln unter der Hand auch gleich die Vorstellung mit, daß die Variablen und Prozeduren, derenManipulation gelernt werden soll, irgendwie natürliche Gegebenheiten sind. Studenten lernen z.B.,Graphiken zu entwerfen, in denen Bevölkerungsgrößen mit verschiedenen Variablen wieErnährungssituation, Bruttosozialprodukt oder genetischer Analage korreliert werden. Sie lernen mitdiesen Variablen zu arbeiten, sie so oder so zu korrelieren und glauben dann, daß Menschentraktierbar und kontrollierbar sind wie abhängige Variablen.

Erst jetzt, im dritten Stadium, unterwandern statistische Konzepte die Umgangssprache. Diehandlichen Kästen neben der wöchentlichen Kolumne sind mehr noch als das Lehrbuch die gängigenMittel, durch die Berichte des Reporters über Hungersnot, Epidemien oder Diskriminierungen inschnell überschaubare Darstellungen von aggregierten Zahlen verwandelt werden. Auf der einenSeite zeigt die Zeitung das Photo einer Frau, die von ihren ausgemergelten Kindern umringt wird.Auf der nächsten Seite geben drei Schaukästen die visuelle Ausdeutung des geschriebenen Textes.Da gibt es Linien-, Säulen und Kurvendiagramme, auf denen die Geburtenverhütung, dieErnährungslage und die Abtreibungsraten in den USA oder Nigeria verglichen werden.

Die meisten Schlüsselworte des Entwicklungsdiskurses sind wie "Bevölkerung" statistischesTreibholz. Einwanderer aus der Terminologie der Statistik in die Umgangssprache, Algorithmen, die

Rise of Statistical Thinking 1820-100. Princeton 1986.3. Uwe Pörksen. Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur. Stuttgart 1987.

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außerhalb ihres ursprünglichen Kontextes gebraucht werden. Man setzt sie ein, um den Schein eines"Referenten" für etwas herzustellen, der zumeist eine Pseudo-Wirklichkeit ist und doch wirdgleichzeitig der Eindruck erweckt, daß hier etwas Bedeutsames und auf-der-Hand-Liegendesverhandelt wird. Etwas, das kein Laie ohne Erläuterung des Experten verstehen kann. Der Anstiegdes "Bruttosozialprodukts" z.B., ebenso wie die Alternative, nämlich das "aggregierteRealeinkommen", suggerieren dem Laien den Zustand von Wohlhabenheit und verlangen doch imgleichen Zug die Interpretation durch Professionelle. Unter den Plastikwörtern hat Bevölkerungeinen besonderen Status. Es aggregiert nicht Sachen, sondern Menschen; es übersetzt nicht Dinge inDollars, sondern Personen in blutlose Einheiten, die als eigenschaftslose Klassen manipuliert werdenkönnen; Größen, die sich reproduzieren, produzieren, konsumieren, Umwelt zerstören und die, imInteresse der Allgemeinheit, Kontrolle auf den Plan rufen.

2. Empfängnisverhütung für Entwicklung: Von der Geburtenkontrolle zur Bevölkerungskontrolle

Zwischen 1950 und 1990 lassen sich drei Perioden unterscheiden, in denen der Referent von"Bevölkerung" immer stärker den denkbaren Bezug zu wirklichen Menschen verliert. In den erstenzehn Jahren nach Präsident Trumans Vier Punkte Erklärung (Januar 1949) wird "Bevölkerung" inpolitischen Statements weiter als Äquivalent für je konkrete soziale Kollektive gebraucht. Damitmeint man die Einwohner eines Landes, einer Region oder eines Kontinents. In politischenVerlautbarungen erscheinen Bevölkerungen als Nutznießer der wirtschaftlichen, technischen oderkulturellen Entwicklung, von der sie betroffen sind, von der sie aber, als Subjekte, unterschiedenbleiben. Bevölkerungskontrolle wird noch nicht als Ziel öffentlich vertretener Politik definiert. Selbstals im Laufe der sechziger Jahre, Bevölkerungskontrolle allmählich in den Reden von Ministern undStaatsoberhäuptern auftaucht, ist Bevölkerung immer noch ein externaler Faktor ein äußerer Faktorim EntwicklungsKalkül. Wurden Entwicklungsfolgen abgeschätzte, war Bevölkerung immer nochetwas Gegebenes wie die Flüsse eines Landes oder seine fruchtbare Erdkrume. Nur im drittenStadium, in den siebziger Jahren, begann man, das Wachstum von Bevölkerungen als einen nebenvielen anderen und miteinander verknüpften Prozessen zu betrachten. Bevölkerung wurde zu einemendogenen Faktor eines sich in Entwicklung befindlichen "Systems".

Im Laufe der sechziger Jahren drehte sich die US-amerikanische Politik um 180 Grad. ImDezember 1959 erklärte Präsident Eisenhower: "Geburtenkontrolle ist nicht unsere Aufgabe. Ichkann mir kaum einen Gegenstand vorstellen, der sich weniger als Aufgabe, Funktion oderVerantwortung von Politik oder Regierungen denken läßt, wie Geburtenverhütung." Knapp 10 Jahrespäter, im Juli 1969, erließ Nixon die erste offzielle Verlautbarung eines amerikanischen Präsidentenzu Bevölkerung. Darin ist zunächst vom Bevölkerungswachstum in den USA und im Weltmaßtabdie Rede, dann von der Notwendigkeit von Familienplanung und schließlich heißt es: "unsereRegierung steht zu ihrer Verantwortung, in dieser Frage die Führung zu übernehmen." Fünf Jahrespäter dann hatte Führung sich in selbstverständlichen Auftrag gewandelt. George Bush, damalsBotschafter der USA bei den Vereinten Nationen, erklärte 1973: "Heute ist da Bevölkerungsproblemkeine Privatsache mehr ... Die Bevölkerungfrage sollte im Zentrum der Aufmerksamkeit nationaler

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und internationaler Führungskräfte stehen."4 Eisenhowers Politik der Nichteinmischung inGeburtenkontrolle folgte Nixons Parteinahme für Familienplanung und schließlich BushsVerpflichtung in der Bevölkerungsproblematik.

Dieser bemerkenswerte Umschwung der US-amerikanischen Politik kann weitgehend mit einerungewöhnlich wirksamen privaten Philantropie erklärt werden. 1952 machte John D.Rockefellerdurch eine große persönliche Spende die Einrichtung des "Population Council" möglich. DasPopulation Council - seit 1982 eine NGO (nicht Regierungs Organisation) - diente seit seinerGründung als Forum und Lobby für handlungsorientierte Demographen, die ihre Aufgabe darinsahen, das Ziel von Empfängnisverhütung im Zeitalter eines explosiven Bevölkerungswachstumsneu zu bestimmen. Seit den 1920er Jahren hatten die Fabianer, hatten Sozialdemokraten, dieMargaret-Sanger-Liga und Gesundheitsorganisationen sich darauf eingerichtet, Frauen zurGeburtenkontrolle zu motivieren -- teils um deren Gesundheit, teils um das Wohl ihrer Familien,teils um den Erhalts eines kräftigen "Volkskörpers" willen. Die neue Lobby in den 1950er Jahrenbehauptete nun, daß das Privatinteresse mobilisiert werden müsse, und zwar im Dienste von nichtsGeringerem als dem Überleben der Erde. Vor dem Hintergrund von Entwicklung und dem damiteinhergehenden drastischen Abfall von Kinder- und Kindbettsterblichkeit forderten die Schriften desPopulation Councils jetzt, daß die "Überbevölkerung" dabei sei, die Verwirklichung derEntwicklungsziele zu unterlaufen. Ja, mehr noch, das explosive Bevölkerungswachstum bedrohe dieunterentwickelten Länder mit einem neuen, bisher undenkbaren Ausmaß von Hunger, Krankheit,Gewalt und sozialer Desintegration. Geburtenkontrolle erschien jetzt als das eine und einzigvorstellbare Mittel, mit dem sich ein neu gestecktes Ziel erreichen ließe: die "Kontrolle" vonBevölkerungen.

In den späten fünfziger Jahren begann man, "Über-Bevölkerung" als unheimliche Bedrohungaufzufassen. Die Geschwindigkeit des Bevölkerungswachstums überraschte selbst einen Fachmannwie Frank Notestein, einen der großen Männer der modernen Demographie. Am Ende des ZweitenWeltkrieges noch hatte Notestein, der damals Professor in Princeton war, eine Weltbevölkerung von3 Milliarden für das Jahr 2000 vorausgesagt. Tatsächlich wurde die 3 Milliarden-Grenze bereits1960 überschritten. In einer Ansprache an die Ceylon Association for the Advancement of Science1964 räumte Notestein ein, daß bis zum Jahrhundertende ein weiteres Verdoppeln der Menschheitnicht zu verhindern war.5 Modernisierung senkt die Sterblichkeit lange vor einer Senkung derGeburtenrate. Die Folge davon ist, daß Entwicklung das Bruttosozialprodukt zwar steigern, zugleichaber das Bruttosozialprodukt pro Kopf verringern kann.

Während die US-amerikanische Bevölkerung beim Stand von 1968 sich in 63 Jahren, die vonÖsterreich in 175 Jahren, die Großbritanniens in 140 Jahren verdoppeln sollte. hatten Kenya und dieTürkei "Verdoppelungszeiten" von 24, die Philippinen von 20, El Salvador von 19 Jahren erreicht.Was aber noch wichtiger ist, ist Folgendes: Selbst unter der Hypothese, daß es möglich sein sollte,innerhalb von 15 Jahren die Geburtenrate z.B. von Ägypten oder Mexiko zu halbieren, dann wärendoch im gleichen Zeitraum so viele junge Mädchen, die im Interimszeitraum geboren worden waren, 4. P.T.Piotrow. World Population Crisis: The United States Response. New York 1973, S.X und VII.

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in die fruchtbaren Jahre herangewachsen, daß eine weitere Verdoppelung der Bevölkerung in dennächsten dreissig Jahren nicht zu verhindern war. Selbst bei einem drastischen Rückgang derdurchschnittlichen Kinderzahl pro Frau mußte die Bevölkerung weiter anwachsen. Man stellte fest,daß "Bevölkerung" eine Schubkraft in sich hat, die zum Problem ihrer Kontrolle erschwerendhinzukommt. Die "Unterentwickelten", die gerade erst durch den Entwicklungsdiskurs als einbesonderer Typus von Bevölkerungen definiert worden waren, schienen jetzt sowohl den Norden mitihren Geburten zu überrunden als auch die eigene Entwicklung zu unterlaufen.

In den fünfziger Jahren waren die Demographen noch Stiefkinder des Entwicklungsdiskurses.Dann, in den sechziger Jahren, entdeckten Politiker "den potentiell wichtigen Beitrag einesinduzierten Wandels des demographischen Verhaltens für Entwicklung".6 Demographen stiegen zuExperten auf, Demographie stieg in den Rang einer Technik im Dienst von Entwicklung auf. DerRückgang von Zuwachsraten im Bevölkerungswachstum wurde nun als Bedingung dafür angesehen,daß mit Erfolg in Entwicklung zu investieren war. Hohe Raten im Bevölkerungswachstum ließen dieArbeitslosigkeit rascher ansteigen als die Arbeitsplätze, vermehrten die Zahl der Münder schnellerals die Produktivität von Reisfeldern, die Zahl der wilden Siedler in Elendsquartieren schneller alsdie Bewohner moderner Siedlungen, die Exkremente schneller als die Abwassersysteme. EineBevölkerung, die schneller wächst als die Produktion moderner Güter und Dienstleistungen,frustriert nicht nur die Entwicklungsziele, sie untergräbt auch die Glaubwürdigkeit derVersprechungen im Namen von Entwicklung und nagt am politischen Willen, den Preis für denFortschritt zu zahlen.

Als die ersten Demographen in die Positionen von Entwicklungsexperten aufrückten, ging mannoch von einer Voraussetzung aus, die heute unglaublich erscheint. Politiker und Planer gingendavon aus, daß die Mehrzahl jeder rasch wachsenden Bevölkerung gewillt sei, die Zahl ihrer Kinderzu senken und daß ihnen bloß das Wissen dazu noch fehlt. Diese erste Generation von Demographenentwarf zuversichtliche Prognosen über die Zahl von "acceptors of proffered contraceptives", die"verhütungsbereiten Empfänger von Contraceptiva" und sie berechnete die "Nettokosten derzukünftig verhinderten Geburten".

1964 schloß sich Präsident Johnson dem Mut seiner Bevölkerungsberater an. Zur Feier deszwanzigsten Jahrestages der Vereinten Nationen erklärte er, daß jeder Fünf-Dollarschein, den manin Bevölkerungskontrolle steckte, Hundert Dollar Investition in wirtschaftlichem Wachstum gleichkomme. (Die geschätzten Kosten einer verhinderten Geburt beliefen sich auf 5 Dollar). In seinerBotschaft zur Lage der Nation 1965 versprach Johnson: "die Suche nach neuen Wegen, auf denenunser Wissen im Kampf gegen die Explosion der Weltbevölkerung eingesetzt werden kann."7 1966erhielt Martin Luther King den Margaret-Sanger-Preis für Menschenrechte. Es ist erstaunlich, wieMartin Luther King, der schwarze Bürgerrechtler im Gegensatz zu Johnson, der eine ökonomischeSprache gebraucht hatte, in medizinischen Termini über Bevölkerung sprach: "Im Unterschied zur

5. Dieser am 22.9.1964 in Colombo, Sri Lanka gehaltene Vortrag wurde abgedruckt in: Population andDevelopment Review 9, Nr.2 (June 1983):345-360.6. P.Demeny. "Social Science and Population Policy." In: Population and Development Review 3 (1988):45.7. P.T.Piotrow, op.cit. S.89.

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Pest vergangener Zeiten oder zu Krankheiten der Jetztzeit, deren Ursache wir noch nicht kennen,läßt sich die moderne Pest der Über-Bevölkerung mit Mitteln beseitigen, die wir entdeckt haben, undmit Ressourcen, die wir besitzen." Hatte man in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beiKondomen an die private Verhinderung unerwünschter Kinder gedacht oder an den Schutz vorSyphilis im Dienst persönlicher Lust, so dachte man in den späten 1960er und 1970er Jahren beimKondom an die Verteidigung der Gesellschaft gegen eine neue Epidemie, die manBevölkerungsexplosion nannte. Der Geschlechtsverkehr ohne Folgen in den armen Ländern erhieltden Status einer Maßnahme im Rahmen von Gesundheitspolitik.

Die Popularisierung des Algorithmus "p" verbreitete sich jetzt über die Medien als Gespenstder Überbevölkerung. Die Lobby der Fachleute für Bevölkerung half kräftig mit, geschlechtlichesBenehmen in eine Angelegenheit von Politik umzumünzen. Und das wiederum zog die Einrichtunghochdotierter Institutionen nach sich, deren Aufgabe darin bestand, weltweit sexuelles Verhalten zuverändern.

Schweden war 1958 das erste Land, das internationale Unterstützung fürBevölkerungskontrolle vergab, noch eher als Sri Lanka oder dann Pakistan. Dieses Hilfsprogrammnannte man allerdings noch schamhaft "Hilfe zur Familienplanung." 1966 erreichte man in derGeneralversammlung der Vereinten Nationen einen Konsensus zum Begriff "population assistance".Der Titel vermied jeden Anklang an Kontrolle und Begrenzung und wurde zum euphemistischenNamensschild für alle Haushaltsposten, die im internationalen Transfer von Funds der Finanzierungvon Kondomen oder IUDs, der Pille oder Karman tubes gewidmet waren; für deren Reklame,Verteilung und Anwendung; für die Finanzierung von Demographiedepartments anUS-amerikanischen Universitäten, von internationalen Bürokratien und von Beratungsstellen vorOrt. Die Gesamtsumme der offiziellen Mittel für "Unterstützung" in Sachen Bevölkerung wuchszwischen 1961 und 1979 von jährlich sechs Millionen Dollar auf jährlich 455 Millionen. Der Anteilvon "Bevölkerungs-Hilfe" (population assistance) an den Gesamtausgaben für Entwicklungshilfeüberhaupt stieg von 0.1 % (5 Milliarden) auf 1.7% (1979 insgesamt 26.0 Milliarden).8

In den frühen sechziger Jahren richteten fast alle großen Staaten Asiens und einige Länder inLateinamerika moderne, großangelegte, steuerfinanzierte Familienplanungsprogramme ein. Unterdem Zeichen von Bevölkerungskontrolle und mit dem Etikett der Familienplanung mauserte sich dieBeförderung von Empfängnisverhütung zu einem veritablen und eigenständigen Wachstumssektor:Arbeitsplätze und Einkommen wurden geschaffen für Halb-Professionelle und lokale Laien-Helfer,deren Aufgabe es war, die Akzeptanz kostenlos verteilter Pillen, Cremes und Gummis zustimulieren. Die meisten der Beschäftigten in diesem Sektor waren arm und weiblich, während dasgroße Geld der Internationalen Hilfe in die Taschen von Bürokraten, Experten undpharmazeutischen Forschern floß. Politisch aktive Demographen taten nicht nur das ihre, diepolitische Bedeutung der Bevölkerungsdynamik öffentlichen zu einem Thema zu machen undkonkrete, ja aggressive Bevölkerungspolitik für Indien oder Ägypten, oder auch für die USA zu

8. "International Population Assistance". In: International Encyclopedia of Population. New York 1982,Bd.1, S.375.

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entwerfen, sie stellten auch das nötige Führungspersonal eines hochdotierten, weltweitenProgramms.

Heute in den 1990er Jahren, nach zwei Jahrzehnten der Diskussion um die Nebenwirkungen desmassenhaften Einsatzes von Kontrazeptiva, ist es nicht leicht, sich zu vergegenwärtigen, wie kurzerst das IUD und die Pille den Markt erobert haben. 1964 konnte Notestein noch sagen: "Ich nehmean, daß die meisten von Ihnen von gewissen Steroidpillen gehört haben, die eine Empfängnisverhüten, wenn man sie täglich eingenimmt. Und Sie wissen vielleicht auch von der wachsendenEvidenz, daß neue plastische, interuterine Geräte ideale Kontrazeptiva sind."9 Nur fünf Jahre späterwar diese Verheißung zu einer Tatsache geronnen. 1969 setzte Gunnar Myrdal die Wirksamkeitdieser neuen Methoden voraus und forderte die Regierungen dazu auf, "daraufhin zu wirken, daßMillionen einzelner Paare ihr intimstes sexuelles Verhalten verändern."10 In den siebziger Jahrenschließlich glaubte jeder daran, daß die Bevölkerungsgröße etwas ist, das man mit Technik machenläßt.

Diese Naivität wurde allerdings schon in den späten 50er Jahre von den Fachwissenschaftlernder Sozialanthropologie längst nicht mehr geteilt. Ihre Forschungsergebnisse widerlegten dieVoraussetzungen, unter denen die Bevölkerungsprogramme der sechziger Jahre gestartet wurden,nämlich den Glauben, daß "die Menschen in Entwicklungsländern zur Geburtenbeschränkungmotiviert sind und es ihnen bloß an den entsprechenden Mitteln fehlt. Stellt man die Mittel zurVerfügung, werden die entsprechende Bevölkerungen sie nehmen und ihre Fruchtbarkeitkontrollieren. Der beste Weg dazu ist ein großangelegtes, auf Freiwilligkeit aufgebautesFamilienplanungsprogramm."11 Feldstudien zeigten, daß die Verhütungsmittel, selbst wenn sie vonden Klienten "genommen" werden, wirkungslos sind, solange sich nicht tief eingewurzeltetraditionelle Vorstellungen von Fruchtbarkeit geändert haben. Ein solcher Wandel aber setzt selbsteine Serie elementarer Umstülpungen voraus: das Erlebnis und der Sinn der Liebe und der Kinder;das kulturell gefärbte Verständnis von Frausein und die Erfahrung des Frauenkörpers; das kulturellGewebe, in dem "Geschlechtliches" getan wird - dies und vieles andere müßte sich geändert haben.Diese eben angedeuteten Wandlungen zeigen sich im Licht der Feldstudien aber selbst als daspsychologische Resultat einer relativ fortgeschrittenen Stufe von Entwicklung: Sie kommen erst mitDauerbeschäftigung, städtischem Leben, Verschulung etc. Mit geringer Investition konnte zwar dieSäuglings-, Kinder- und Müttersterblichkeit drastisch gesenkt werden, die hochfinanziertenFamilienplanungsprogramme aber zeigten selbst bei hohem Einsatz von Mitteln keine verifizierbarenResultate -- es sei denn bei "Zielgruppen", die bereits von Entwicklung profitiert hatten.

Aus einer anthropologischen Perspektive sind die Bevölkerungsprogramme fraglos derarroganteste Teil aller von außen aufgedrückter, exogener Entwicklungsstrategien. Fabriken,Staudämme und Schulen mögen wohl Arbeitsplätze, Kilowatt und Schulversager produzieren, ohnedaß sie den Nachweis einer Einstellungs- oder Verhaltens- Änderung erbringen müssen.

9. F.Notestein in: Population and Development Review 9, Nr.2 (June 1983): 359.10. G.Myrdal. The Challenge of World Poverty. New York 1970. Auszugsweise in: Population andDevelopment Review 13, Nr.3 (September 1987):536.11. D.P.Warwick. Bitter Pills. Population Politics and their Implementation in Eight Developing Countries.Cambridge 1982, S.34.

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Sulfonamide, Penizillin und Salz zur Rehydrierung der Kleinstkinder haben mit geringen KostenMortalität gesenkt. Die Verteilung billiger Verhütungsmittel aber hat eine Wirkung aufFruchtbarkeit erst dann, wenn ein Stützpfeiler der Kultur zerbrochen ist.

Wirtschaftswissenschaftler wußten schon immer, daß man dem konventionellem Wissen überdie Kosten von Kindern glauben schenken sollte. Sie wußten, daß für den Subsistenzbauern vieleKinder ein Gewinn sind und daß Familienbegrenzung keinen Sinn macht. Seit den frühen 60erJahren aber gingen sie von der These aus, daß ein Zusammenhang zwischen Geldeinkommen undKinderzahl behauptet werden kann: Wenn nur arme Leute ein bissel Geld bekämen, würden sie esschon ablehnen, immer mehr hungrige Mäuler durchzufüttern. Diese allzu einfache Binsenweisheitmußte revidiert werden, als Studien den Nachweis erbrachten, daß Fruchtbarkeit im größten Teil derWelt für die meisten der eben erst Verstädterten direkt und positiv mit Unsicherheit korreliert.Gewerkschaftlich organisierte Arbeiter haben, wie eine Studie zeigte, deshalb weniger Kinder alsArbeiter mit einem vergleichbaren Einkommen, für die aber die Kinder die einzige Sicherung einesObdachs im Alter darstellen.

Bevölkerungskontrolle zum Globalen Überleben

Die komplexe wechselseitige Abhängigkeit von Fruchtbarkeit, Alphabetisierung,Medienverbreitung, Arbeitsplatzsicherheit und Wohnniveau war ein Grund dafür, daß in den frühen1970er Jahren Bevölkerung als bloß ein zusätzlicher exogener Faktor in dieEntwicklungsberechnungen einging. Das geschah vor dem Hintergrund der Debatten, die Grenzendes Wachstums, die Studie des Club of Rome, ausgelöst hatte. Das Buch -- ein Bestseller --verkündete für jeden die Vorstellung der Welt als "System", dessen "Überleben" in Gefahr ist. Indiesen Argumenten wurde die "Gattung Mensch" mit einem neuen Heiligenschein versehen und ihrSchutz der Verantwortung eines internationalen Managements übertragen. Und jetzt ging es um dieWeltbevölkerung als Ganzes. Eine neue Logik setzte sich durch. Es war Paul Ehrlich, der dieBehauptung zuerst aufstellte, daß die "carrying capacity", die "Tragfähigkeit" der Erde durch dasBevölkerungswachstum bedroht sei.12 Nicht mehr die Morgenröte von Entwicklung, sondern dieAngst vor einer globalen Katastrophe beflügelte jetzt nochmals neu die Anstrengungen im Dienst derBevölkerungskontrolle. Paul Ehrlich beginnt sein Buch mit den Sätzen:

"Der Kampf darum, die ganze Menschheit satt zu machen, ist vorbei. In den siebziger Jahrendes zwanzigsten Jahrhunderts wird die Welt Hungerkatastrophen nie gekannten Ausmaßes erleben:trotz aller Hilfsaktionen und Sofortmaßnahmen werden Millionen von Menschen verhungern....Rettungsprogramme werden die Massenhinrichtung nur hinaus zögern, wenn sie nicht vonentschiedener und erfolgreicher Anstrengung um Bevölkerungskontrolle getragen werden. DieGeburtenrate muß mit der Sterblichkeit in Übereinstimmung gebracht werden, sonst wird dieMenschheit sich in das Nichts hinein vermehren. ... Bevölkerungskontrolle ist die einzige Antwort."13

12. Heide Mertens. "Frauen, Natur und Fruchtbarkeit. Die Bevölkerungsdebatte und die ökologischeTragfähigkeit der Erde." In: Christa Wichterich (Hg.). Menschen nach Mass. Bevölkerungspolitik in Nordund Süd. Göttingen 1994, S.181-200 zeigt, wie die Verknüpfung der "Überbevölkerungs"-Problematik mit"Umwelt" die Debatte biologisiert.13. Paul Ehrlich. The Population Bomb. New York 1968.

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In den 70er Jahren setzte sich so im politischen Denken der Gegensatz von Mensch undRessourcen durch. Die Menschen werden von diesem Aussichtspunkt her zu Gegenspielernerschöpflicher Ressourcen und Bevölkerung wird zu einem Faktor, der die Fähigkeit der Erdebedroht, "menschliches Leben" zu erhalten.14

Die Vollversammlung der Vereinten Nationen gründete 1969 einen besonderen Fund forPopulation Activities und in kürzester Zeit schwoll dessen Budget auf die Summe von 1 MilliardeDollar. Die UNFPA sah ihre Aufgabe darin, "die komplexen Interdependenzen zu erforschen, indenen Variablen der Bevölkerung mit Variablen sozio-ökonomischer Entwicklung wechselseitiginteragieren und zu erforschen, wie praxisnahe Programme organisiert werden können, in denen dieBevölkerungsaktionen mit Gesundheits-, Erziehungs-, Landwirtschaftsentwicklungs-,Industrieentwicklungs- und anderen Programmen integriert sind."15

UNFPA brüstete sich mit der "Reife und Komplexität der Konzeptualisierung desBevölkerungsproblems, die sich von der vormals einfachen Modellbildung abhob."16 In politischenStatements der späten 1970er Jahren ist Bevölkerung bloß eine Variable im Algorithmus, auf dender ganze, ungeheuer vielfältige Entwicklungsprozeß insgesamt reduziert wurde. Bevölkerung warzur Variablen geworden, analog dem Kapital, der Arbeit, der Technologie oder der Infrastruktur ineinem "Welt-System".

Rückblickend läßt sich erkennen, daß die Entwicklungsdekaden ein unvorhergesehenesWachstum der Bevölkerung dieser Erde bewirkt haben. Dieses historisch einzigartige Phänomenförderte ebenso nie dagewesene Konzepte über Menschen. Bevölkerungen wurden wechselweise alsHandelnde, Prozesse, Gegenstand von Entwicklungsplanung, Hindernisse für erfolgreicheInvestitionen, als Quellen qualifizierter Arbeitskraft und als Gefahr für das Öko-System der Erdeher- und vorgestellt. Erst zögerlich, dann mit allgemeinen Konsensus entwickelten alle größerenStaaten der Dritten Welt mächtige Bevölkerungsprogramme, die nach und nach die existierendenkleinen Bewegungen aufsogen, die Familienplanung propagiert und den Zugang zu Kontrazeptivaund Schwangerschaftsunterbrechung verschafft hatten. Nach einer Studie, in der 1977 114Entwicklungsländer erfaßt wurden, hatten zu diesem Zeitpunkt 83 eine zentrale, der Regierungunterstellte Planungsbehörde mit dem Auftrag installiert, "Bevölkerungsfaktoren mitEntwicklungsplanung zu integrieren."17

Zwischen 1974 und 1984 fiel die Wachstumsrate der Bevölkerung global gesehen tatsächlichvon 2.34 auf 1.67 Prozent pro Jahr, was nichts anderes heißt, als daß sich die "Verdoppelungszeit"der Weltbevölkerung von 30 auf 42 Jahre ausgedehnt wurde. Im gleichen Zeitraum war die absolute 14. Christa Wichterich beschreibt diesen "Argumentationswechsel" von "Entwicklung" zu "Umwelt" in:"Menschen nach Mass - Bevälkerung nach Plan - Die neue Weltordnung der Fortpflanzung." In: dies(Hg.). Menschen nach Mass. Bevälkerungspolitik in Nord und Süd. Göttingen 1994, S.9-38.15. R.Salas. International Population Assistance: The First Decade. New York ... (??) S.140 (Doc. Aug 8,1977)16. Op.cit. S. 147. (Doc. April 3, 1978).17. D.L.Nortmann und J.Fisher. Population and Family Planning Programs: A Compendium of Datathrough 1981. New York 1982.

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Zahl derer, die nach den Kriterien der Weltbank als absolut verarmt eingestuft werden, zu einerGröße angewachsen, die ziemlich genau der Gesamt- Bevölkerung der Erde von 1974, also zuBeginn der Dekade, entspricht. Ein Anstieg trotz des Rückgangs der globalen Wachstumsrate. Es istzu erwarten, daß das Bevölkerungswachstum und damit das Anwachsen der Ärmsten weiter steigt.1990 sind die 1.6 Milliarden Frauen, die im Jahr 2000 ihre fruchtbaren Jahre erreicht haben werden,bereits geboren und 1.3 Milliarden von ihnen leben in Ländern der Dritten Welt. 90% desWachstums wird dort stattfinden.

Im Rückblick auf die letzten 25 Jahre erweisen sich alle Behauptungen und Voraussagen übereine massenhafte Auswirkung von Bevölkerungsprogrammen als reine Spekulation -- China einmalausgenommen. Selbst in den Fällen, wo die Geburtenrate nach Plan gefallen ist, steht dieserRückgang in keinem beweisbaren kausalen Zusammenhang mit öffentlich finanzierten Programmender Familienplanung. Die Verteilung und Propagierung neuer Techniken, sei dies Schaum, Pille oderIUD durch die verschiedensten Instanzen hat wohl in den Ländern, die ihre Fruchtbarkeitsrateerfolgreich senkten, kaum eine bemerkenswerte und nachweisbare Rolle gespielt. Selbst wenn wireinräumen, "daß es sich als außerordentlich schwierig erwiesen hat, die Wirkung von Programmenauf nationale Fruchtbarkeiten gründlich und quantitativ zu evaluieren",18 ist eines klar: DieBevölkerungsprogramme, die man seit den 1960er Jahren initiierte, erweisen sich als Träume, dieMonster generierten: erstens die gesellschaftliche Verantwortung für unsinnige öffentliche Kontrollevon sexuellem Verhalten; und zweitens, die allgemeine Gewöhnung an die Formel: eineGemeinschaft von Menschen = eine Bevölkerung = P'. Und P ist (wie Atomstrahlung,Umweltvergiftung, das Ozon-Loch und globale Erwärmung) eine der unsichtbaren Bedrohungen derMenschheit.

18. "Family Planning Programs". In: International Encyclopedia of Population, op.cit. S.214.

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3.6

Das Verfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland hat am 28.Mai 1993 ein Urteil zumSchwangerschaftsabbruchs erlassen. Mit diesem Urteil wurde der Rahmen geschaffen, in dem dasParlament im Juni 1995 ein Gesetz erliess.

Das Urteil setzt den Schutz der Würde des Menschen mit dem Schutz "ungeborenenmenschlichen Lebens" ineins. Das Gericht nimmt es sich also heraus, einem a-typischen Genom inder Schleimhaut des Uterus -- von dessen Existenz der Richter nur aus dem Hörensagen einesExperten wissen kann, gleich dem in der Verfassung genannten "Menschen" -- Rechte undAnsprüche auf Würde zuzuschreiben. Mit dieser Definition des "menschlichen Lebens" im Singularbereichert das Gericht die juristische Wirklichkeit der Bundesrepublik; es erhebt eine demGemeinsinn unzugängliche, "wissenschaftliche Tatsache" zum Subjekt des Grundgesetzes.

Im Februar 1994 feierte ProFamilia Bremen ihr fünfundzwanzigjähriges Gründungsjubiläumim Rathaus der Stadt und lud mich als Festrednerin ein. Keine einzige Stimme aus Juristerei,Akademie oder Bewegung zum "Karlsruher Urteil" hatte sich dazu gemeldet, auf dieseBiologisierung des Staatsbürgers aufmerksam zu machen oder gar auf die groteske -- Hand- undFuß-lose -- Rebiologisierung sechzig Jahre nach den Nürnberger Gesetzen. Die Gelegenheit schienmir günstig, ohne prätenziöse Richterschelte diesen Schnitzer als Folge des Körperverständnissesunserer obersten Magistraten plausibel zu machen.

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Barbara Duden: Die höchstrichterliche Anerkennung des körperlosen Menschen... 144

3.6 Die höchstrichterliche Anerkennung des körperlosen Menschen: Ein deutscher Sonderweg.1

Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Mitstreiterinnen von Pro-Familia.

Zwei Freundinnen, Susanne von Paczensky und Renate Sadrozinski, Emigrantinnen ausHamburg, werfen auch noch aus ihrem neuen Zuhause in Berkeley ein ermutigendes Licht aufmeinen Werdegang, dem ich mich nicht entziehen will. Ein Jahrzehnt lang waren diese beidenFreundinnen für mich ProFamilia. Es genügte deshalb, daß Hanna Staud mir diesen Auftritt - hier,heute - nahelegte, um mich sogleich an den Entwurf einer Festrede zu machen. Im gleichen Raum, indem vor nur 3 Jahren die Universität Bremen ihr 20-jähriges Jubiläum gefeiert hat, beweist heuteProFamilia mit einer Ausstellung zu "Lust und Moral" ihr noch höheres Alter. Ich will bei dieserGelegenheit an diesem doch sehr "öffentlichen Ort" von der Geschichte des Frauenleibes als einemrotem Faden sprechen, an dem entlang sich der Werdegang von ProFamilia verstehen lässt.

Wie komme gerade ich zur Ehre, das tun zu dürfen? Eine sterile Akademikerin, die derPädagogik, insbesondere in Sachen Sexualität, sehr fremd gegenübersteht. Ich bin eine erst kürzlichzugezogene Bremerin. Einer Einladung in dieses Rathaus konnte ich einfach nicht widerstehen. Undich bin Historikerin, was heisst, daß ich Fernliegendes untersuche. Mein Leben hat mich dazuausgebildet, nicht nur Vergangenes, sondern auch Gegenwärtiges aus der Distanz zu beäugen. Wennich zu etwas tauge, dann sollte ich über ProFamilia etwas sagen, was nur durch eingeübten Abstand,also durch die Historikerin sichtbar werden kann.

Da wird die Wahl zur Qual. Vieles hat sich in den letzten 25 Jahren verändert. Daß der Sinnvon "Lust", "Moral", ja "Vaterschaft" 1968 auf das heute Erlebte kaum mehr paßt, das wissen auchDer Spiegel und Der Stern. Das sind Themen, die ProFamilia tangieren. Es gibt aberVeränderungen, die ProFamilia im Kern treffen und das Selbstverständnis von ProFamiliaumstülpen sollten. Ein grundlegender Wechsel im Sinn und im Vollzug der Schwangerschaft, das istso eine grundsätzliche Veränderung. Frau ist dabei, jenen Körper zu verlieren, der im damaligenSinne schwanger werden konnte. Und das ist Gelehrten, Verfassungsrichtern, ja selbst Frauenweitgehend entgangen. Schwangerschafts-Beratung, also das wofür ProFamilia Pionierdienstegeleistet hat, wird durch das Karlsruher Urteil vom Sommer 1993 in ein Mandat, einen Auftrag zurVerwandlung des weiblichen Körpererlebnisses umgemünzt. Gegründet wurde ProFamilia alsoffenes Ohr für ratsuchende Frauen. Von nun an soll ProFamilia finanziert werden, um schwangerenFrauen -- genauer: Frauen, die mit einem positiven Schwangerschaftstest behaftet sind, dasBewusstsein aufzuschwätzen, sie seien der eine Teil einer somatischen Zweiheit. Ich habe mirgesagt: "Wenn Du schon eine Festrede hältst, dann wage Dich an dieses Thema."

1 Vortrag zum 25. Jubiläum von Pro-Familia im Bremer Rathaus am 18. Februar 1994

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In der Bundesrepublik ist neuerlich etwas zustande gekommen, was sich "ein Leben" nennt."Leben" ist es, was jetzt von Frauen ausgetragen werden soll, auch wenn es der Verfassungsrichtrgelegentlich noch "Kind" nennt. Seit Mai 1975 schon verpflichtet das Grundgesetz den Staat,einzelne "menschliche Leben" zu schützen. Auf diese Entscheidung stützt sich das Urteil vom28.Mai 1993, in dem "einem Leben" vom Verfassungsrichter "Lebensrecht" und "Menschenwürde"zugeschrieben wird. Selbst gegenüber der sogenannten "Mutter" nimmt der Staat die Schutzpflichtfür das sogenannte "ungeborene menschliche Leben" wahr. Das Verfassungsgericht hat es so durchseine Interpretation des 1. Absatzes im 1. Artikel des Grundgesetzes unternommen, den "Menschen"zu "einem Leben" zu machen. Das Grundgesetz für empirische Menschen wurde zum Grundgesetzfür menschliche Leben. Diese Verwandlung des Rechtssubjekts geht über das Fassungsvermögeneines juristisch ungebildeten Laien. Denn nicht "Leben" sondern "Menschen" waren doch Subjekteder Verfassung von 1949. Wohl wird im 2. Artikel "jedem" das Recht auf Leben versichert: aber"jedem" der ebengenannten Menschen und sicherlich nicht "jedem ungeborenen Leben". Und genaudas tut der mir vorliegende Text.

Gleich wie diese semantischen Verschiebung von "Mensch" zu "Leben" erklärt wird, sie gehtder schwangeren Frau an ihren Leib. Aus einer Frau in Guter Hoffnung wird eine "Dritte", die ineiner Konfliktsituation zwischen dem Staat einerseits und einem "ungeborenen Leben" andererseitssteht. An die Stelle des bedeutungsschwangeren Wortes "Schwangerschaft" tritt in diesemspekulativen Rechtsverständnis der systemanalytisch eingefärbte Begriff der "dynamischenZweiheit". Dieser Ersatz von dem Menschen zu einem Leben geschieht vor unseren Augen undmacht uns zu Zeuginnen einer Biologisierung des Rechtes, die sich unter dem Frauenherzen abspielt.

Dieses Ereignis kann für die Historikerin vielfach zum Thema einer Untersuchung gemachtwerden: die Rechtshistorikerin wird sich mit der damit verbundenen Begriffs-Rekonstellationbefassen. Die Frauenrechtlerin mit der Schamlosigkeit dieser Reduktion des Frauenleibes auf eineÖko-Nische, in dem ein Etwas ausgetragen wird. Der Ideengeschichtler wird diese Biologisierungdes Rechtssubjekts mit analogen Episoden anderer historischer Epochen vergleichen. Ich bin eineHistorikerin des Körpers. Mein Forschungsfeld ist die epochenspezifische Wandlung leibhafterWahrnehmung. Ich untersuche, welche Wandlung im Körpererlebnis von Richtern, Frauen undBeraterinnen, welches neue sinnliche a-priori diese Umdeutung von "jedem" "Menschen" zu "einemLeben" erklärbar macht.

Warum wähle ich nun gerade dieses Thema zum Jubiläum von Pro Familia? Ich wähle es, weildie Epoche der Verwandlung des Menschen zu einem Leben mit der Geschichte von ProFamiliazusammenfällt und die Bedeutung dieser Verwandlung in der umfangreichen kritischen Literaturzum Karlsruher Urteil übersehen worden ist. Die Kritik hat die Frauen gegenüber herablassendeSprache des Urteils beanstandet; die Experten-Gläubigkeit und die Wirklichkeits-Ferne der Richter;die sozialpolitischen Folgen der Entscheidung und wie einzelne Frauen je anders betroffen sind, dieaus der ehemaligen DDR und die aus der BRD, Akademikerinnen und Sozialhilfeempfängerinnen.Beanstandet wurde ferner, daß dieses Urteil einerseits vorgibt, dem Willen zum Abbruch einerSchwangerschaft den Rang einer achtenswerten Gewissensentscheidung zuzusprechen, andererseitsaber die Frau durch ihre Entscheidung grundsätzlich für schuldig erklärt wird und noch dazu die ihraufgezwungene Beraterin dazu verpflichtet ist, ihr diese Schuld einzureiben. Drei von den sieben

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Richtern wandten sich gegen die qualifizierte Mehrheit und bezichtigten den Text des Urteils derHeuchelei. Aber das Entscheidende, nämlich jene Verwandlung des Rechtssubjektes "Mensch" zueinem "Leben", die durch dieses Urteil im Grundgesetz verankert wird, ist bisher ganz übersehenworden.

Ebenso übersehen wurden die ideologischen Folgen des Mandates an den Gesetzgeber. DasUrteil ist so angelegt, daß die nun obligatorische Beratung dieser neuen biologistischenWeltanschauung bei schwangeren Frauen Gültigkeit verschaffen soll. Sowohl die 17 Leitsätze wieauch die umfangreiche Urteilsbegründung geben dem Laien zwei Eindrücke: Der erste Eindruck ist,daß die Richter nicht umhin konnten, die Unwirksamkeit gesetzlicher Zwangsmittel in dieser Sacheanzuerkennen. Der Zweite: daß die Richter entschlossen sind, trotz ihrer Hilflosigkeit vor weiblicherWillkür -- Frauen handeln hier, wie wir wissen, nach ihrem eigenen Kopf und Herzen -- durchBeratung die Widerspenstige doch zu zähmen. Analog zur Schulpflicht von Kindern wird nun dieBeratungspflicht von Frauen im Recht verankert. In der Durchsetzung dieses zwangspädagogischenUnternehmens soll sich Pro-Familia wohl im zweiten Viertel Jahrhundert seiner Existenz einsetzenlassen. Dagegen protestiere ich. Und, ich protestiere nicht aus der Ecke der pro choice Fraktion.Noch als eine deutsche Staatsbürgerin, die auf ihre Menschenwürde pocht und sich deshalb weigert,mitzuquietschen: "auch ich bin ein Leben!" Ich protestiere als Frau, die bei ihrem Körper, d.h beiSinnen bleiben will. Und als Historikerin setze ich die Geschichte des Leibes, des Fleisches, desKörper-Erlebnisses zu diesem Protest ein.

Ich wundere mich über und ich protestiere deshalb gegen dreierlei:(A) Ich protestiere gegen die in der Sprache der sieben Richter reflektierte Entkörperung. Auch den

Herren, die nicht dem Urteil zustimmen, fließt "Das ungeborene Leben" als substantivesRechtssubjekt aus der Feder. Die Biologisierung des Verfassungssubjektes ist alsoeinstimmig. Das verdient Beachtung.

(B) Ich protestiere zweitens gegen die im Schweigen zur Sache reflektierte Bereitschaft vonBürgern, auch von Frauen, die Biologisierung des Grundgesetzes ohne jedes Muckenhinzunehmen. Denn der Ersatz von "Mensch" durch "ein Leben" ist nicht unschuldigeSynonymik. Hier wird das Grunderlebnis des "Du", nämlich: "Mensch" durch dasHirngespinst "ein Leben" ersetzt. Mit Berufung auf wissenschaftliche "Tatsachen", die vomRichter selbst nicht überprüfbar sind, wird hier die Existenz des leibhaftigen Menschen aufdie wissenschaftsgläubige Hinnahme eines Labortestes begründet. Das steht im Text: "derStaat sieht sich vor die Aufgabe gestellt, Leben zu schützen, von dessen Vorhandensein ernichts weiss."2

(C) Und drittens: Ich protestiere gegen den Mangel an kritischer Aufmerksamkeit in unseremeigenen Rahmen der ProFamilia dagegen, was durch den Einsatz von Beratung von nun animpliziert werden soll: die Umdefinition des schwangeren Zustandes der Frau zu einersomatischen "Zweiheit", deren Faktizität, deren Tatsächlichkeit von einem chemischenReaktions-Bericht oder vom Ultraschallbildschirm abgelesen werden muss. Es kommt mirdas Grausen an, wenn ich daran denke, daß eine Mehrheit der Zuhörer in diesem Saal sich

2 Urteil vom 28.Mai 1993, abgedr. in: Europäische Grundrechte Zeitschrift 20, H.9-10 (Juni 1993), S.246.

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vielleicht damit abgefunden hat, daß ein Phantom, nämlich ein substantives Leben dasSubjekt unseres Rechtes sein kann.

Ich will auf diese drei Zusammenhänge nun genauer eingehen, in denen das pseudobiologischeIdeologem "ein Leben" sein Unwesen treibt.

A. DIE HERSTELLUNG DES "LEBENS" DURCH DIE "NORMATIV ORIENTIERENDE"INSTANZ

"Leben" wird derzeit als ein Substantiv verwendet, dem durch rituelle Sprechakte der Anscheinhinreichender Konkretheit verliehen worden ist. So konnte es als Synonym für "Mensch"hypostasiert, also personifiziert werden. In diesem Sprechritual wird der konkrete, sinndichte,ehrwürdige "Mensch" zu einem Etwas reduziert, dessen Existenz mit nacktem Auge undunbewaffneten Sinnen nicht verifiziert werden kann. Das Urteil sanktioniert diese Sprechweise.Durch seine Wortwahl wird das Verständnis von dem, was "Rechtssubjekt" ist, zutiefst betroffen."Ein Leben" kann nicht vor mir stehen. Es kann nicht ein Erlebnis der Bürgerin sein, die bei Sinnenist. Es ist etwas, dessen Existenz der Richter auf seine biologisch-laienhafte Interpretation einesLaborbefundes gründet. Die Existenz eines Rechtssubjektes wird so zum Resultat einerExpertenmeinung, die unabhängig ist von jeder sinnlichen, körperlichen Erfahrung.

"Ein Leben" als Substantiv und Synonym für "Mensch" war wohl in der unmittelbarenNachkriegszeit schon Gang und Gebe - ich denke an den Ami-Militärjargon: "Saving an americanlife". Aber in diesem Satz ist "ein Leben" noch ein legitimes Synonym für "einen Soldaten". "DasLeben" für die Bezeichnung eines Menschen wird seit zwei Jahrtausenden nur auf den Einenbezogen, der im Johannes-Evangelium Martha gegenüber sagt: "Ich bin das Leben". Das Leben imSubstantiv bezog sich nie auf ein anderes als dieses eine Subjekt. Das ist Glaubensinhalt und beziehtsich wohl nicht auf etwas Biologisches. Die Gottesgelehrten wissen darüber zu sprechen. Wenneiner sagen würde "Auch ich bin ein Leben!" so vorstöße er gegen das deutsche Sprachgefühl. DasWort, wenn so verwendet wie im Urteil, dient also der Diagnose durch einen "Dritten", nie derWahrnehmung von mir oder dir.

Selbst in der um 1800 entstandenen Lebens-wissenschaft, der Biologie, hat das Wort nach1840 keinen fachlichen Stellenwert. Es kommt in der developmental biology, die, wie man weiss,ehedem Embryologie hiess, nicht vor. Nur in der Podiumsdiskussion gelingt es dem Biologen, sichwichtig zu machen, indem er sich als Experte über "Leben" stilisiert. In der heutigen Biologie wirdvon Strukturen und Funktionen gesprochen, nicht von "einem Leben". Das Wort kommt über dasPop-Wissen des Fernsehens in den Diskurs.3 Durch ihre Wortwahl "ein Leben" erweisen sich unsereVerfassungsrichter noch abhängiger von Podium und Mode als Akademiker es heute meist sind. IhreSprech- und Denkweise wäre den Väter und Müttern des Grundgesetzes grundfremd gewesen.

3 ”Ein Leben" steht jetzt im Schulbuch für den Singular von population, Bevölkerung. "Ein Leben" steht imGesetzestext für die grammatikalisch geschlechtsneutrale Form von "Mensch".

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Wie konnte es zu dieser einstimmigen Anfälligkeit unter den sieben Vertretern des "GesundenMenschenverstandes" kommen? Ich stelle die Frage nicht als Juristin, als Sprachwissenschaftlerinoder als Psychiater. Ich stelle die Frage als Historikerin des Körpererlebnisses. Wie konnte es zudieser Interpretation in jener Instanz kommen, die beauftragt ist, dem Grundgesetz einen jeweils inder Gegenwart nachvollziehbaren SINN zu geben? In der Ausübung dieser Mission spricht hier dasGremium von Richtern einer wissenschaftlichen Tatsache ohne Hand und Fuß, ohne Kopf oderSchwanz "Menschenwürde" zu. Gerade an einem Zeitpunkt, an dem in Deutschland die volleMenschlichkeit von sichtbaren, greifbaren Einwanderern, Krüppeln und Sterbenden auf dem Spielesteht, fordern unsere Verfassungsrichter die Anerkennung der Ebenbürtigkeit des Ungeborenen, jades Zygoten. Wie konnte es zu einer solchen unsinnlich Entgleisung kommen?

Mir scheint die Möglichkeit des nahtlosen Übergangs von "jedem" (und) "Menschen" zu "einemLeben" dadurch bedingt zu sein, daß es, quer durch die Gesellschaft, im Laufe dieser letztenJahrzehnte zu einer vormals undenkbare Entkörperung des Erlebens gekommen ist. Die entkörperteWahrnehmung des eigenen Organismus ist eine Grundcharakteristik unserer Epoche. So konnteauch für Juristen das Körpererlebnis aus einer unmittelbaren, sinnlichen Wahrnehmung zu eineminstrumentell ablesbaren Faktum werden. "Wie geht es Ihnen heute?" habe ich vor kurzem einengefragt. Und als Antwort gab er mir: "Das kann ich Ihnen erst morgen sagen, wenn mir das Laborüber das Wachstum meines Krebses berichten wird." Wem es so "geht", wer nur weiss, wie er sichselbst "fühlt", wenn er seine aus technischen Verfahren abgelesenen Parameter kennt - für den kannauch das Faktum "Mensch" zum Resultat eines Laborergebnis werden. Nur aus diesem Verlust anKörper-echo in Lust und Moral kann ich es mir erklären, wie dieses Gremium die Biologisierung desGrundrechtes nach 45 Jahren seiner Gültigkeit mit solcher Selbstverständlichkeit betreiben konnte.Soll diese Einsicht bei mir Ekel erregen? Empörung? Mitleid oder Amüsement?

B. DIE SYMBOLISCH ENTKÖRPERTE FRAU

An einen Altherrenklub zu denken, der sich mit einem Grundgesetz befaßt, dessen Subjekteungeborene Leben sind, würde der Komik nicht entbehren, wenn ihr Richterspruch nur auf dashinausliefe, was das abweichende Urteil des Richters Mahrenholz als "das frustrierte Ausweichenvor einem frustrierenden Mißerfolg der Indikationenlösung" bezeichnete. Urteile dieser Art aberhaben, neben zivil- und strafrechtlichen, auch symbolische Folgen: sie kristallisieren Sprechweisen,die ihrerseits wieder das Wirklichkeitserlebnis prägen. Das ist besonders in diesem Falle bedeutend:denn die Urteilsbegründung betont, daß es den Richtern auf die "normative Orientierung" vonFrauen mehr ankommt als auf ihre strafrechtlich erzwungene Sozialkontrolle, die seit Jahren dieJustiz frustriert. Der Schutzanspruch des ungeborenen Lebens soll im allgemeinen Bewußtsein durchdie Symbolkraft des Urteils "erhalten und belebt" werden.4 Das Gericht gibt dem Urteil die Funktiondes social engineerings, zu dem Symbolik und Beratung eingesetzt werden, um der Verwandlung desMenschen zu "einem Leben" Geltung zu verschaffen.

4 Leitsätze des Gerichts, Nr.10.

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Zur Motivierung des Urteils nehme ich hier keine Stellung. Wenn ich mich als Historikerin mitder Symbolmacht dieses Urteils befasse, dann tu ichs nicht, um seine Wirkung auf die Erhaltungoder Beendigung, sondern um seine Funktion in der Herstellung von "Leben" zu ermessen. Deshalbsteht für mich dieses auf den ersten Blick scheinbar konservative Urteil im Dienst eines Bruches mitder Tradition. Aus dem Menschen im Recht und dem Immunsystem in der Wissenschaft wird einmodernes Idol synthetisiert: "Ein Leben", das es weder in der heutigen Biologie noch im Recht bisgestern gab. Durch die richterlichen Sprechakte wird die Reduktion der Schwangerschaft aufReproduktion von "Leben" erst zu Wirklichkeit, ja zu einer Selbstverständlichkeit.

Frauen wurden schwanger. Ob sie es waren, das konnten sie vermuten, wenn bei derfleischlichen Vermischung ein Schauer sie erfaßt hatte. Manche meinten, es könnte bei ihnen so weitsein, wenn das Blut weg blieb. Wissen konnte es, monatelang, weder die Frau noch der Arzt. Frauenwußten es bei der ersten Regung der Frucht. Und bis ins 19.Jahrhundert hinein war die sozialeEinstufung der Frau als Schwangere einzig durch die Aussage der Frau über ihren Zustand bedingt.

Wenn Frauen schwanger waren, dann hatten sie nicht, sondern dann erwarteten sie ein Kind.Wenn das Kind dann kam - und eigentlich erst dann - blieb kein Zweifel mehr an derSchwangerschaft. Denn dem Schauer, der Stockung und dem Rumoren im Bauch konnten auchMolen, Abgänge oder Gerinsel folgen, wodurch sich ihr Zustand als ein "Fehlgehen" und nicht alsSchwangerschaft erwiesen hätte. "Nicht alles, was aus den Geburtsteilen einer Frau hervorkommt,ist ein Mensch", wusste auch der Gerichtsmediziner noch im 18. Jahrhundert.5 Das Ungeborene wardie Grundmetapher für das noch Unsichtbare, Verborgene und Unsichere, und blieb es bis vorkurzem, genau gesagt für die meisten Frauen bis vor 15 Jahren.

Aus meinen Studien weiß ich, daß auch noch vor fünfzig Jahren nur bücherwurmige Damen anihren Fötus denken konnten. Für jedermann war das Kommende ein Kind. Und nicht nur fürjedermann, auch für den Anatomen. Ich habe die Gesamtheit der Druckgraphik untersucht, in derAnatomen und Gynäkologen vor 1800 das Resultat von Zergliederungen dargestellt haben. Undursprünglich konnte ich es fast nicht glauben, daß der erste Anatom, der ausdrücklich dievorkindliche Form des Embryos - grosser Kopf, gekrümmter Rücken, Stümmelärmchen - zeichnenließ, ein Zeitgenosse Goethes war. Davor wurde auch in der wissenschaftlichen Illustration auf denungeborenen Menschen nur durch ein Symbol verwiesen. Er wurde als geburtsfertiges Kindlein oderals kleiner Erwachsener dargestellt -- und wohl auch vom Anatomen so "gesehen".6

Heute ist das anders. Frauen haben meist einen Test hinter sich, lang vor sie sich schwangerfühlen. Sie wissen, vor sie was spüren. Der Fötus ist zu einer öffentlichen Sache geworden. Frauenkennen ihn aus der Illustrierten und deshalb erkennen sie ihn in der Echolotung des eigenen Bauches.Sie haben gelernt, sich als uterines Umfeld einer sich zum "Kind" hin entwickelnden Gestalt zuerleben. Es hat mich tief getroffen, als mir eine Freundin in Hamburg erzählt hat, daß zunehmendFrauen ihren abgetriebenen "Fötus" in der Schale "sehen", wenn ihnen, auf ihre Bitte hin, das 5 Barbara Duden. Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Vom Missbrauch des Begriffs Leben. Hamburg1991, S.114.6 Barbara Duden. Anatomie der guten Hoffnung. Studien zur graphischen Darstellung des Ungeborenen bis1799. Stuttgart (im Druck).

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abgetriebene Blutgerinsel gezeigt wird. So wie beim krebskranken Richter, so ist auch bei derschwangeren Frau die Fähigkeit zum Erlebnis des Körpers zugunsten einer immer intensiverenhermeneutischen Haltung gewichen.

Frauen, die schon durch die intensive Medikalisierung der Schwangerschaft zugynäkologischen Patientinnen geworden sind, sind jene Frauen, die die Richter ansprechen. Unddiesen Frauen soll nun durch "Beratung" weiter geholfen werden, sich noch um einen Schritt mehrzu entkörpern. Der immer noch irgendwie als Kind denkbare "Fötus" soll von ihnen als einentkörpertes "Leben" erkannt werden.

Die Richter zweifeln zurecht an ihrer Macht über die "Entscheidung" der schwangeren Frauen.Mit oder ohne Kriminalisierung hat das Recht nie bestimmt, wie Frauen in dieser Sache handeln.Aber das Publikum ebenso wie die Richter übersehen, daß das Gerede von einem neuen "Leben" imBauch unfehlbar den Menschen entkörpert und so entwürdigt. Richter, die einer befruchteten EizelleMenschenwürde zuschreiben können, könnten sie ja auch einem Hirntoten, dessen Herz nochschlägt, absprechen.

C. DIE KRISE DER "BERATUNG"

Und diese unfehlbare Wirklichkeitsschöpfung durch verpflichtende Sprechakte über "Leben"wird wohl bald durch flächendeckende Beratungsgelegenheiten instrumentiert werden. Ob imEinzelfall der Intention des Richters gedient wird, ob sie umgangen oder gar konterkariert wird, stehtwiederum hier nicht zur Debatte. Mutige Kolleginnen in ProFamilia sind schon darin erfahren, diestaatliche finanzierte Beratung in eine Aufklärung über den Fötus-Fetischismus zu verkehren.

Ob Frauen durch die Beraterin "zum Austragen" gedrängt werden oder ob sie durch geschickteBeraterinnen zu einem eigenen Entschluß befähigt werden, ist eine Sache. Eine ganz andere ist derEinsatz von Beratern zur Biologisierung des Rechtsverständnisses und zur Entkörperung der Frau.Dagegen protestiere ich. Denn gerade heute könnten schwangere Frauen, die das Urteil zu Agentendieser gesellschaftsweiten Biologisierung machen will, die wichtigsten Stimmen im Protest gegen siesein.

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3.7

Im Herbst 1992 wurde in der Erlanger Universitätsklinik an einer sterbenden Frau festgestellt,

daß sie schwanger ist. Die Ärzte benutzten ihren Körper zur Weiterentwicklung des Föten. Selbst

liebe, oft klardenkende Freundinnen waren nicht willig, dieses Experiment schlechthin zu

verurteilen. Das "Baby" lähmte ihre Urteilskraft. Mir scheint das "Erlanger Baby" ein

Geschichtszeichen. Ein Zeichen nicht deshalb, weil ein Fötus von der Leiche einer Frau ernährt

wird, sondern weil es für mich zum Mahnmal an die Ohnmacht in einer entkörperten Gesellschaft

wurde. Noch vor dem Ende des Experiments hatte ich in Klagenfurt Gelegenheit, meine Haltung zu

klären.

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3.7 Vom Protest angesichts der juridischen Gleichstellung des Menschen mit"einem Leben" zur sprachlosen Ohnmacht vor dem "Erlanger Baby."1

Ute Winkler hat mich eingeladen, über den 'Erlanger Vorfall' zu sprechen: die Frucht, die seit 7

Wochen schon in einer hirntoten Frau erhalten wird. Ich will zunächst meine Haltung klären: ich

spreche ausdrücklich nicht als Expertin. Ich fühle mich nicht "zuständig", eine Position zu beziehen:

weder eine juristische, noch eine ethische, noch auch eine frauenpolitische. Gerade weil ich nicht aus

einer vorgegebenen, sozial verorteten Position spreche, will ich und muß ich meine Haltung klar zum

Ausdruck bringen. Ich will drei Dinge tun: von der Hilflosigkeit der Historikerin, von der

Bedeutungs-Macht dieses Experimentes für die Umdefinition der Frau und drittens von ihm als

zeitgeschichtlichem Zeichen sprechen.

Unsere Untersuchung erfordert eine Haltung von radikaler Macht- und Hilflosigkeit. Die Bio-

Techniker in Erlangen haben gehandelt und je länger ich darüber nachdenke, umsomehr weis ich,

wie ohnmächtig wir alle vor der Entscheidung von Experten im Machtbereich einer Profession

stehen. Vom Paragraphen 218 bis zum Rentenrecht der geschiedenen Frau wird kaum mehr als

purer Anschein sozialer Mitbestimmung bei einer Entscheidung erhalten. Im Expertenbereich der

Neurologie, Gynäkologie oder der Biotechnik ist Zustimmung nach Kenntnisnahme einer

professionellen Entscheidung (informed consent) ritualisierte Augenwischerei. Wir konnten grad

verfolgen, wie die Eltern der "hirntoten" Frau durch dieses Ritual öffentlich gedemütigt wurden.

Was als politische Ermächtigung der Frauen dargestellt wird, ist ja nur zu oft die Bemäntelung

neuer Ohnmacht vor professionellen Entscheidungen.

Meine Ohnmacht vor dem "Erlanger Fall" speist sich aus drei Einsichten:

- ich habe Sympathie für die junge Frau, für die ich garnichts tun kann.

- ich bin ohnmächtig auch ihren kommenden Schicksalsgenossinnen gegenüber. Es ist schwer

vorstellbar, daß sich ein solcher Fall nicht in absehbarer Zeit wiederholen wird. "Als Frau",

"unter Frauen" kann ich da nichts tun. Ich sehe wohl, daß hier ein wichtiges "Frauenthema"

zur Sprache kommt, aber die Forderung nach "Mit-sprache", also z.B. nach einer

1 ZUM FALL ERLANGEN. Vortrag am Institut für Erziehungswissenschaften in Klagenfurt, 27.November1992.

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Barbara Duden: Ohnmacht vor dem "Erlanger Baby" 153

paritätischen Besetzung der Ethik-kommissionen durch Frauen, wie sie die Erlanger

Frauenbeauftragten wünscht, halte ich für scheußlich.2

- ich bin auch dem entstehenden Golem gegenüber ohnmächtig. Ich kann für so ein Wesen so

wenig tun wie für jemanden, der in Stammheim im Hochsicherheitstrakt sitzt.

Ich spreche also aus einer Haltung der Hilf-und der Machtlosigkeit heraus - dieser Frau,

anderen Frauen und der technogenen Kreatur gegenüber; ich suche nach einer Haltung, in der ich

fragen kann, was wahr ist und was weise wäre. Weisheit meine ich hier im Sinn des lateinischen

prudentia, der Lebensweisheit, die erlaubt herauszufinden, was richtig ist und gut sein könnte.

Ich will bei meinem Leisten bleiben. Ich weis allerhand von der Geschichte des Ungeborenen.

Seit Jahren habe ich mich mit der Geschichte des Schwangerschaftserlebnisses von Frauen befaßt.

Derzeit sitze ich an einer Studie über anatomische Zeichnungen des Ungeborenen zwischen dem 16.

und 18. Jahrhundert und stelle mir die Frage, warum man bis an das Ende des 18. Jahrhunderts

außerstande war, das Ungeborene je als eine prähumane Form wahrzunehmen. Warum das

Ungeborene bis in den Beginn des 19.Jahrhunderts niemals als Embryo oder Foetus abgebildet

wurde. Warum es, wenn überhaupt, als hockendes Kerlchen, als winziges Knochenmännlein, als

rundlicher Putto von den Anatomen dargestellt wurde. Bis in das 19.Jahrhundert hinein war

Schwangerschaft eine Sozialkategorie, durch deren Zuschreibung das Erlebnis der ersten Regung

einer Frau ihr einen besonderen Status verlieh. Was sie barg, war ein nondum ein "Nochnicht", das

man sich nur als kommendes Kind vorstellen konnte.

Ich will also von meiner dreifachen Distanz sprechen. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit

befähigt mich zu einer distanzierten Beschreibung dessen, was in Erlangen vor sich geht. Distanz

kann herzensbetäubend sein und der Fluchthilfe dienen. Das ist die Distanznahme und der Abstand

von der Sinnlichkeit, die man braucht, um in der Ethik-Kommission mitzusprechen. Ich spreche von

einer anderen Distanz: der Verankerung in Geschichte, aus deren "Sehepunkt" die Intensivstation in

Erlangen, ebenso wie der Sitzungsraum der Ethik-Komission in einem "Nirgendwo" zu liegen

kommen. Die Frauen des 18. Jahrhunderts, über die ich etwas weis, helfen mir und anderen Frauen

in unserer Machtlosigkeit bei Sinnen zu bleiben.

2 Die Frauenbeauftrage: "Es kann nicht angehen, dass von Frauen unkommentiert die Horrorvision einesweiblichen Leichnams als Brutmaschine Realität wird." Sie forderte, dass die Ethik-Kommission zu 50%mit Frauen bestückt werde, eine Forderung, die dem Einbezug von Frauen in die KZ-Verwaltung gleichkommt.

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Die historische Einsicht sagt mir auch, daß es kein zurück gibt. Gerade weil ich Historikerin

bin, muß ich auf jedes gesellschaftliche "zurück" verzichten, denn ich weis, wie körperliche

Haltungen und leibhaftige Erlebnisse im Lauf der Geschichte unwiederbringlich verblassen und

verschwinden.

Zuletzt: ich weiß, wie weit draußen ich zu diesem Fall stehe: Ich denke, fühle und argumentiere

als eine Frau, die das Heute im Spiegel des 18. Jahrhunderts wahrnimmt. Die Suche nach

historischer Konsistenz macht die Historikerin zur Außenseiterin unter Expertinnen, also Leuten,

deren Spezialwissen ihnen Macht zum Eingreifen gibt. Wenn Psychologinnen in den Medien die

potentiellen psychologischen Folgen für die Frucht erörtern, wenn Krankenschwestern die Belastung

der Kolleginnen ins Feld führen, oder eine mir liebe Freundin vom "Lebenswillen" des Kindes

spricht und Mitgefühl fürs "Baby" ihre Haltung prägt, erlebe ich, wie weit draußen ich bin. Jedes

erwägende Teilnehmen an einem solchen Gespräch erscheint mir als Bestandteil des breiten Rituals

der Veralltäglichung von technisch-induzierter Monstrosität.3

Ich sehe, wie Unglaubliches alltäglich wird. Ich bin Zeugin davon, wie das Für und Wider von

Eingriffen besprochen wird, die ihrem Wesen nach keine historische Präzedenz haben. Der alte

Wortsinn von "Mutter", "Kind", "Schwangerschaft" und "Wahrnehmung" wird bis zur

Unkenntlichkeit ausgehöhlt und der Wortlaut hängt fortan ein sentimentales Mäntelchen um das

"uterine Umfeld", das neue "Immunsystem" und die Rückkoppelung ihres "Regulationsprozesses".

Wahrnehmung wird zur persönlichen Registrierung dieser wissenschaftlichen Tatsachen.

Ich spreche nicht strategisch, also im Hinblick auf mögliche politische Organisation, die sich

auf diesen Fall aufbauen ließe. Ich will niemanden überzeugen und auf meinen Standpunkt bringen.

Du bist so einer scheußlichen Sache gegenüber, wenn Du es nüchtern ansiehst, ziemlich allein. Ich

sehe im Fall Erlangen keine Möglichkeit, zu einem organisierten "wir" zu kommen, keine

Möglichkeit "als Frauen" so zu sprechen, daß wir nicht in ein grundsätzlich frauenverachtendes

Programm hineingezogen zu werden.

Nun, wenn ich so durch Ohnmacht disqualifiziert bin, warum habe ich dann Ute Winklers

Einladung angenommen? Es liegt auf der Hand, daß wir hier ein neuartiges Menschenexperiment

vor uns haben. Die Ärzte haben, um die "Ethik-kommission" zu umgehen, die Sache als

"Behandlungsversuch mit unsicherem Ausgang" deklariert. Das ist eine Behauptung, die sich von

jeder größeren medizinischen Intervention machen läßt: "Eingriff mit qualifizierten Chancen". Wir

haben uns seit zwei Jahrzehnten daran gewöhnt, von ärztlichen Dienstleistungen nach den

3 An anderer Stelle habe ich mich dagegen gewandt, durch öffentliche Sprechakte die "Fragwürdigkeit"einer Sache herzustellen, siehe GID...

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Barbara Duden: Ohnmacht vor dem "Erlanger Baby" 155

Spielregeln des Lottos zu sprechen, nämlich als Lose. Das wird auch endlich von der Medizinkritik

betont. Was wir aber darüber vergessen ist, daß der Ausgang jeder Behandlung durch seine

Meldung als "Fall" zu einem Experiment beiträgt. Wir haben uns daran gewöhnt, daß jeder Fall

immer auch schon Versuchs-Station für Menschenexperimente ist. Ganz beiläufig kann also hier ein

biotechnischer Erstversuch, ein Durchbruch, zum "Behandlungsversuch mit unsicherem Ausgang"

stilisiert werden.

Nicht die Verwendung des Patienten zum Experiment ist neu, sondern ganz spezifisch die

Verwendung einer Frau als Gewebekultur, als Nährboden. Was bisher nur ungeheure

Sprachregelung war, wird hier in die Praxis umgesetzt: die weltweite Veröffentlichung des

Frauenkörpers; sein Einsatz als "uterine Umgebung"; seine "Nutzung" als "Feld für foetales

Wachstum"4 für einen "Foetus", der als Versorgungsobjekt in der Verantwortung der Ärzteschaft

juristisch anerkannt wird. Die Schwangerschaft wird zu einem biotechnischen Problem, die Frau

wird durch Reduktion auf eine Gewebekultur entkörpert, der Frauenleib wird als, im gegenwärtigen

Stadium der Technik noch notwendiges, hydroponischen Substrat verwaltet und verwendet, um für

die Herstellung eines kontrollierten, überwachten, normierten, mit Nährflüssigkeit berieselten

sogenannten Menschenlebens soziale Verantwortung zu übernehmen.

So könnte das auch ein effekthaschender Journalist sagen; das hindert mich aber nicht daran,

hier auszusprechen wie ich als Schwangerschaftshistorikerin versuche, mir meinen Reim auf "DIE

ZEIT" und die "Frankfurter Rundschau" zu machen. Wenn ich Geschichte schreibe, muß ich immer

zwei Fragen stellen: Was ist da gewesen, und wie? Was also hat es in seiner Zeit bedeutet? Diese

Frage stelle ich nun beim Aufschlagen der Zeitung an meinem Arbeitstisch in Bezug auf den

Erlanger Fall. Was ist die symbolische Bedeutung dieses Vorgangs? Das heißt für mich: aus der

Verankerung meiner Persönlichkeit in der abendländischen Geschichte muß ich den Standpunkt

finden, um über "Erlangen" als Zeichen zu sprechen. Nicht als ein Zeichen für Zukunft, sondern als

Zeichen für vieles, das heute trivial geworden ist.

Ich versuche zu verstehen, was dem Herzen geschieht, wenn die Geburt aus einer Leiche

geschehen soll, die dem Tod als hydroponisches Substrat entzogen worden ist. Was geschieht

unserer Orientierung symbolisch, wenn der Lebensbeginn aus der toten Natur, also aus einer am

Ableben gehinderten Matrize technisch hervorgebracht werden soll. Denn "Natur" wurde nach der

Geburt genannt, natura a nascitura dicitur; "Natur" war schöpferisch, so wie die Gebärmutter, die

lateinisch matrix hieß. Was geschieht, wenn diese im Sterben technisch gelähmte Frau in einer

mediengesättigten Gesellschaft und in einer erregten Debatte zur Instanz wird? Und zur Instanz

4 Behandelnder Arzt Scheele: "Wir alle haben, um in dieses Leben zu kommen, recht rücksichtslos dieLeiber unserer Mütter gebraucht.”

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wofür? Für etwas nie Dagewesenes: die Abwägung zwischen dem "Recht" auf "Leben" und dem

"Recht" zu sterben. An der Debatte um Erlangen wird ersichtlich, wie tief der wissenschaftlich-

technische Allmachtswahn den Gesprächstoff sättigt: da Sterben zu etwas geworden ist, wozu ich

"berechtigt" werden muß.