Samstag, 17. November 2018, 15:54 Uhr Die ... · dieser Welt, die sich dem verweigern, sondern die...

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Samstag, 17. November 2018, 15:54 Uhr ~15 Minuten Lesezeit Die Menschenrechtsindustrie Die sogenannten Werte des Westens sind pure Heuchelei. Exklusivabdruck aus „Die Menschenrechtsindustrie im humanitären Angriffskrieg“. von Jochen Mitschka, Rainer Roth Foto: itakdalee/Shutterstock.com Wer glaubt, es gäbe inzwischen allgemein anerkannte, universale und weltweit geltende Menschenrechte, der irrt gewaltig. Und es sind nicht die bösen Diktatoren dieser Welt, die sich dem verweigern, sondern die mächtigsten Länder der Welt. In seinem Buch „Menschenrechtsdiskurse in China und den USA“ (1) beschreibt Frédéric Krumbein die Einschränkungen und Unterschiede in der Auslegung von Menschenrechten in den beiden wichtigsten Staaten der Welt. Ein Interview.

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Samstag, 17. November 2018, 15:54 Uhr~15 Minuten Lesezeit

DieMenschenrechtsindustrieDie sogenannten Werte des Westens sind pure Heuchelei. Exklusivabdruck aus „DieMenschenrechtsindustrie im humanitären Angriffskrieg“.

von Jochen Mitschka, Rainer Roth Foto: itakdalee/Shutterstock.com

Wer glaubt, es gäbe inzwischen allgemein anerkannte,universale und weltweit geltende Menschenrechte, derirrt gewaltig. Und es sind nicht die bösen Diktatorendieser Welt, die sich dem verweigern, sondern diemächtigsten Länder der Welt. In seinem Buch„Menschenrechtsdiskurse in China und den USA“ (1)beschreibt Frédéric Krumbein die Einschränkungenund Unterschiede in der Auslegung vonMenschenrechten in den beiden wichtigsten Staatender Welt. Ein Interview.

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Während also die USA immer noch nicht die Zeit überwundenhaben, da Eigentum in Form von Sklaven als Menschenrechtdefiniert war, verharrt China auf den unteren Stufen derMaslow‘schen Bedürfnishierarchie, der zufolge dasHauptaugenmerk der Deckung der physiologischen undSicherheitsbedürfnisse gilt. Vermutlich werden in der chinesischenBevölkerung bald Individualbedürfnisse in den Vordergrund rückenund, mit dem Erwerb von Eigentum, der Schutz desselben.

Im Interview mit Rubikon-Beiratsmitglied Prof. Rainer Roth(https://www.rubikon.news/autoren/rainer-roth) versuche ichherauszukristallisieren, wie sich die Wahrheit der Geschichte der„Menschenrechte“ in der heutigen Politik widerspiegelt,insbesondere jener Mächte, die einst solche grundlegenden Rechteproklamierten.

Jochen Mitschka: Herr Roth, ich beschäftige mich mit Geschichte,um daraus Lehren für die Gegenwart zu ziehen. Leider muss ichaber feststellen, dass die Geschichte, die uns in der Schule, inUniversitäten und den Medien vermittelt wird, oft ein entstelltesBild der Vergangenheit darstellt, im besten Fall das Bild aus derSicht des besitzenden Establishments. Ihr Buch „Sklaverei als

Die Vereinigten Staaten von Amerika, die sich gern durch„Menschenrechtsberichte“ als Richter über andere Länder erheben,definieren die politischen und bürgerlichen Rechte ihrer Verfassungals Menschenrechte. Und nach wie vor ist das Recht auf Eigentumdas oberste aller Menschenrechte. Derweil priorisiert China diesozialen sowie die kollektiven Menschenrechte auf Grundsicherungund Entwicklung.

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Menschenrecht — Über die bürgerlichen Revolutionen in England,den USA und Frankreich“ (2) korrigiert in vielen Fällen das Bildder Vergangenheit, das uns über die Sklaverei vermittelt wird. Mitfolgenden Fragen möchte ich Ihre Meinung dazu einholen,inwiefern nach Ihrer Ansicht Parallelen oder Erkenntnisse überderzeitige politische Auseinandersetzungen zu ziehen sind. Alsich kurz nach der Jahrtausendwende im Rahmen meiner Arbeit alsUnternehmensberater nach Bangladesch reiste, um Partner füreine deutsche Firma zu suchen, traf ich bei einem der möglichenKooperationspartner auf eine schier endlose Schlange voneinfachen Leuten vor der Firmentür. Auf die Frage, was es damitauf sich hätte, antwortete man mir, dass die Menschen ihreArbeitsfähigkeit demonstrieren wollten und einen Job auf einerGroßbaustelle im Ausland suchten. Wenn ich solche Stellenvermitteln könnte, so wurde mir versprochen, würde man mir500 Dollar pro Kopf zahlen. Es waren freiwillige, anspruchsloseArbeitssklaven, die zu Billigstkonditionen bereit waren, zehnStunden und mehr am Tag zu arbeiten, die bereit waren, sich fürdrei Jahre zu verpflichten, im Ausland zu arbeiten, ihren Flugselbst zu bezahlen und das Gehalt des ersten Jahres für dieVermittlungsgebühr zu opfern. Ich war damals schockiert. Nunschreiben Sie in Ihrem Buch: „Zu Beginn stellten hauptsächlichweiße Vertragsarbeiter (indentured servants) die Arbeitskräfteauf den Plantagen von Barbados. Vermittler versteigerten siemeistbietend an die Pflanzer. Sie kosteten etwa zwölf Pfund undkonnten bei Nichtgefallen weiterverkauft werden. Es waren vorallem arme Leute aus England, Irland und Schottland, entwurzelteFarmer oder Pächter und unterbeschäftigte Arbeiter, die sichvertraglich (indentured) verpflichteten, eine gewisse Zeit fürihren Käufer zu arbeiten. Sie hatten die Kosten der Überfahrt undVermittlung sowie die Kosten ihrer Unterbringung, Kleidung undVerpflegung abzuarbeiten. Die Vertragszeit betrug drei bis zehnJahre, auf Barbados im Durchschnitt 6,75 Jahre (Meissner 2008,27)“ Sind das nicht vergleichbare Situationen?

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Rainer Roth: Die Schuldsklaverei ist bis heute nicht beseitigt. Siewird, wenn ich das richtig sehe, millionenfach vor allem in denarabischen Emiraten angewandt. Die ArbeiterInnen stammen ausPakistan, Indien, den Philippinen uns so weiter. Die Ölförderung undÖlverarbeitung in den Emiraten hängt von Schuldsklaven ab. Vondaher leben die Nationen der Menschenrechte heute ebenfalls nochvon einer „modernen“ Form der Sklaverei.

Es gibt ein Buch von Kevin Bales über die moderne Sklaverei. Ihrewichtigste Form ist die Schuldsklaverei, die die offene Sklavereiabgelöst hat. Sie ist hauptsächlich in Indien verbreitet, einem Land,in dem sich Bauern häufig verschulden und dann ihre Schulden übereine befristete Schuldsklaverei abarbeiten müssen.

In Ihrem Buch wiederholen Sie immer wieder, dass die Sklavereikeineswegs durch den Kapitalismus abgeschafft wurde, sondernvielmehr das Rückgrat für seinen Erfolg war. Wurden die Sklavenbeziehungsweise ihre Nachkommen irgendwann einmal dafürentschädigt, dass jene unglaubliche Kapitalakkumulation durchsie ermöglicht worden war?

Nein, zu keinem Zeitpunkt. Da sie Eigentum der Sklavenhalterwaren, waren nur diese entschädigungsberechtigt für den Verlustihres Eigentums. So ist es ja in der französischenMenschenrechtserklärung vereinbart. Auch Großbritannien hielt esso. 40 Prozent der Einnahmen eines staatlichen Jahreshaushalts, 20Millionen Pfund, wurden für die Entschädigung der Sklavenhalteraufgebracht. Die Sklaven mussten nach der Proklamation ihrerFreilassung im Jahre 1834 ihre „Freiheit“ mit vier weiteren Jahrennahezu unentgeltlicher Arbeit für ihre ehemaligen Sklavenhalterabarbeiten.

Anders war es in den Südstaaten der USA. Dort wurden dieSklavenhalter nicht mit Geld entschädigt. Das war im Grunde einBruch der amerikanischen Verfassung, die keine entschädigungslose

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Enteignung zuließ. Die Entschädigung bestand jedoch darin, dassdie Sklavenhalter am Ende die Verfügungsgewalt über ihreehemaligen Sklaven behalten und sie einem konsequenten Systemder Rassentrennung unterwerfen konnten, das von den Nordstaatenakzeptiert wurde.

Es stimmt jedoch nicht ganz, dass der Kapitalismus die Sklavereiabgeschafft hat. Er hat die offene Sklaverei weitgehend beseitigt,weil sie nicht den Anforderungen des Industriekapitals an flexibleArbeitskräfte entsprach. Er hat jedoch die versteckte Sklaverei nichtabgeschafft: einerseits die Schuldsklaverei, andererseits dieLohnsklaverei. Laut John Locke ist es eine Form der Knechtschaft,wenn jemand seine Arbeitskraft als Ware verkauft. Die damitverbundene Abhängigkeit von einem Käufer und darüber hinaus dieAbhängigkeit von Märkten, die ein Eigenleben führen, ist eineindirekte, eine versteckte Sklaverei.

Herr Roth, Sie schreiben von einem Krieg zur Verbreitung desChristentums und führen aus: „Indianer und schwarze Afrikanerfür Kinder zu halten, die durch vernunftbegabte Europäer auf dieStufe des Menschen emporgehoben werden, nahm denStandpunkt der Aufklärung vorweg. Die christliche Missionierungebenso wie die säkulare Aufklärung verstand sich als eine ArtEntwicklungshilfe für (geistig und kulturell) unterentwickelteVölker.“ Für mich hört sich das sehr ähnlich an wie gewisseReden, die Politiker heute halten, um den „unterdrücktenVölkern“ Freiheit und Demokratie zu bringen. Und so wie damalssterben dabei eben Millionen. Mache ich dabei einenGedankenfehler?

Nein. Bis heute gibt es sogenannte Entwicklungsländer, die nachAnsicht der entwickelten Länder des Westens an die Zivilisationherangeführt werden müssen. Das Menschenrecht aufPrivateigentum und die dem entsprechenden politischenVertretungsorgane, die nur einer Minderheit der Bevölkerung die

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politische Herrschaft verschaffen, sollen auf der ganzen Welteingeführt werden. Alle Länder, die sich dem widersetzen, sindunzivilisierte Schurkenstaaten und müssen durch ökonomischeAbhängigkeit, korrupte Regierungen und/oder militärischeInterventionen abhängig gehalten werden.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die Menschenrechtserklärung,die Unabhängigkeitserklärung und die Bundesverfassung vonSklavenhaltern aus Virginia entworfen wurden. Wurden damalsdie „Menschenrechte“ anders definiert als heute?

Nein. Bis heute ist das Eigentum, besser das Privateigentum, daswichtigste Menschenrecht. So sahen es schon John Locke und auchRousseau. Heute wird das meist in den Hintergrund geschoben.

Da Sklavenhaltung in Sklavenplantagen, die Tabak, Zuckerrohr,Baumwolle und so weiter anbauen, Grundlage der Ökonomie derenglischen Kolonien war, ist es logisch, dass Sklavenhalter auch ander Spitze der amerikanischen, antikolonialistischen Revolutionstanden und auch lange Zeit die Präsidenten der USA stellten. Dieamerikanische Verfassung war die rechtliche Form, die sich dergrößte Sklavenhalterstaat der modernen Geschichte gab. DieBefreiung von der Sklaverei war ein Verfassungsbruch.

Im Übrigen war John Locke, der Vater der englischenMenschenrechte und der Inspirator der amerikanischen Verfassung,Aktionär einer Sklavenhandelsgesellschaft und über Jahre Sekretärder englischen Sklavenhalterkolonie Carolina. Die französischeMenschenrechtserklärung wurde von den zahlreichen Vertreternder Sklavenhalter und -händler, die im französischen Parlamentsaßen, mit verabschiedet.

In Ihrem Buch liest man, dass nach Verabschiedung der„Verfassung der Freiheit“ in den USA die Unfreiheit der Sklavenum rund 560 Prozent anstieg. Andererseits … passiert heute nicht

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genau das Gleiche, wenn man sich zum Beispiel die „Bomben fürFreiheit“ gegen den Irak oder gegen Libyen anschaut, begründetmit Menschenrechten, und dann die Folgen betrachtet?

Die Expansion der Sklaverei in den USA war eine Folge derindustriellen Revolution in England, die ihren Kern in derBaumwollindustrie hatte. Hier verband sich die direkte Sklaverei derUSA mit der indirekten Sklaverei der britischen Arbeiterklasse. ImIrak und in Libyen ging es der „westlichen Wertegemeinschaft“darum, kapitalistische Länder, die eine relative Unabhängigkeitgegenüber den früheren Kolonialmächten erkämpft hatten, zuruinieren und sie zu unterwerfen.

John Locke, der von Wikipedia als „Vordenker der Aufklärung“und als „Vater des Liberalismus“ bezeichnet wird, erhält in IhremBuch das zusätzliche Attribut „Menschenrechtler“. Mit seinenThesen legitimierte er im Prinzip die ewige Sklaverei. Ist es Zufalloder liegt es an diesem Geist der „Aufklärung“, dass heutebesonders von „Liberalen“ Kriege für Freiheit, Menschenrechteund Demokratie gefordert werden?

Locke wird als „Vater der Menschenrechte“ bezeichnet, als derErste, der sie formulierte. Die englische Revolution, deren Ideologeer war, führte nach ihrem Sieg 1649 und schließlich 1688 mitwenigen Unterbrechungen Kriege zur Eroberung von Kolonien wieIrland, Jamaika, Indien oder Afrika, aber auch Kriege gegen dieKonkurrenten Niederlande und Frankreich, um das Menschenrechtauf Vermehrung des Privateigentums auszuüben. EinMenschenrecht für Iren, Kariben, Inder und so weiter auf Eigentumwurde nicht anerkannt. Eroberungskrieg war ein Menschenrecht.

Das englische Menschenrecht auf Eigentum stand gegen dasfranzösische Menschenrecht auf Eigentum. Die Grundlage derbürgerlichen Gesellschaft ist das private Individuum und seinEgoismus. Der Egoismus hat regionale und nationale Formen. Im

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Kampf der nationalen Menschenrechte auf Eigentum setzt sich dasstärkste Land mithilfe von Kriegen durch. Und das war ebenEngland, bis es durch die USA abgelöst wurde.

Locke hatte das Recht, Sklaven zu besitzen, als Menschenrechtbezeichnet. Der Schutz des Privateigentums war für Locke daswichtigste Menschenrecht. Wie sehen Sie die heutigenVerfassungen einerseits und die tatsächlichen Verhältnisseandererseits im Vergleich zum 17. Jahrhundert?

Die heutigen Verfassungen sehen ihren Ursprung in denVerfassungen und Rechten der Revolutionen von England,Frankreich und den USA und in ihren allgemeinen Formeln wieFreiheit, Demokratie, Rechtsstaat und so fort. Die Kontinuität zeigtsich darin, dass bis heute nur ein Menschenrecht auf Entschädigungder ehemaligen Sklavenhalter anerkannt wird, während man jedeForm von Entschädigung der ehemals Versklavten ablehnt, obwohlSklaverei seit Kurzem als Verbrechen gegen die Menschheit gilt. DasGleiche gilt für die Kolonialverbrechen, die bis heute ungesühntsind.

Allerdings haben sich die Dinge mit dem Fortschritt derProduktivkräfte und mit dem Widerstand der Sklaven, derLohnabhängigen, der Bauern und dem Aufkommen der nationalenBefreiungsbewegungen geändert. Das waren die treibenden Kräfte,warum neue Formen für alte Abhängigkeiten gefunden werdenmussten.

Sklaven konnten in England und den Kolonien einigeJahrhunderte lang willkürlich getötet werden, im schlimmstenFall gab es eine Geldstrafe. Ist es übertrieben zu sagen, dass daswillkürliche Töten von Menschen mit Drohnen — aufgrund vonSchatten oder anderen Vermutungen — sowie die Bombardierungvon Ländern mit Millionen von Todesopfern die Fortsetzungdieses Denkens sind?

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Laut Locke gab es ein Recht auf Leben als grundlegendesMenschenrecht. Das bezog sich jedoch nur auf das Leben derbürgerlichen Geschäftsleute im Verhältnis zur Willkürabsolutistischer Herrscher. Sklaven hatten ebenso wenig ein Rechtauf Leben wie die Armutsbevölkerung Englands, die EinwohnerIrlands oder Indiens, die zu Hunderttausenden an Hunger starben,weil ihre ökonomische Entwicklung unterdrückt und ihre Ökonomieauf die Bedürfnisse Englands zugeschnitten wurde.

Das Menschenrecht auf Leben hat nie eingeschlossen, dass keineMenschenleben aufs Spiel gesetzt werden sollen, umEroberungskriege zu führen. Das gilt bis heute. Und mit denwachsenden, gewaltigen Zerstörungskräften der Waffensystemekönnen immer mehr Menschen straflos vom Leben in den Todbefördert werden.

Das Verstümmeln und Foltern von Sklaven auch durch Christenwar noch bis ins letzte Jahrhundert durchaus Praxis. Sehen Siezum Beispiel die Tatsache, dass die USA in jedem Krieg – vonKorea über Vietnam bis Irak – immer wieder Folter als üblichePraxis einsetzen, als Hinweis darauf, dass der Geist der Sklavereilängst noch nicht überwunden ist?

Folter hat ihren Ausgangspunkt nicht im Terrorismus gegenSklaven. Sie war auch ein Mittel der religiösen Unterwerfung und istbis heute ein Mittel der Kriegführung. Andererseits: Ist nicht auchder Hunger, zu dem Eroberungskriege wie in Syrien und anderswoMillionen Menschen verurteilen, eine Form der Folter?

Die Tötung von Sklaven war auch später nur strafbar, wenn dieTötung vorsätzlich erfolgte. Man ging aber zunächst davon aus,dass eine solche Absicht nicht vorlag, solange der Gegenbeweisnicht erbracht wurde. Sehen Sie hier Verbindungen zu denTötungen von Menschen durch die Polizeiorgane und der Tötungvon Zivilisten in Angriffskriegen zum Beispiel der USA?

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Die zahlreichen straflosen Morde von Polizisten an Schwarzen inden USA sind eine Fortsetzung der früheren straflosen Lynchmordemit anderen Mitteln.

In der Geschichte wird ja der US-Bürgerkrieg immer wieder als„erster Menschenrechtskrieg“ bezeichnet, weil es angeblich umdie Abschaffung der Sklaverei ging. In Ihrem Buch lesen wir nun,dass erste Menschenrechtserklärungen von Sklavenhalternerstellt worden waren. Was hatte der Bürgerkrieg nun wirklichmit Menschenrechten zu tun, und war tatsächlich das Recht aufSklavenhaltung als Menschenrecht definiert worden?

Im Bürgerkrieg ging es vor allem darum, die Einheit der USA zubewahren. Die Südstaaten hatten einen unabhängigenSklavenhalterstaat gegründet und beriefen sich dabei auf dieamerikanische Verfassung. Das war nicht im Interesse des Kapitalsin den Nordstaaten, das einen möglichst großen nationalen Marktfür seine Expansion benötigte.

Lincoln proklamierte die Sklavenbefreiung — ähnlich wie diefranzösischen Jakobiner — als Kriegsmaßnahme, um die Südstaatenzu schwächen. Es ging dabei nicht um Menschenrechte. Das zeigtesich auch nach dem Sieg der Nordstaaten, als die Rassentrennungauch von den Staaten des Nordens toleriert wurde. Was hatte diehundertjährige Apartheid in den USA mit Menschenrechten zu tun?Nichts!

Herr Roth, in Ihrem Buch beschreiben Sie im Prinzip auf 700Seiten, wie sich die Vorstellung von Menschenrechten im Laufeder Jahrhunderte veränderte und das Recht auf Sklaverei überJahrhunderte als Menschenrecht betrachtet wurde. Heute habenwir die Erklärung der universalen Menschenrechte, die aber auchnur teilweise von den Mächtigen der Welt anerkannt werden.Während die USA das Recht auf Freiheit, Demokratie undMeinungsfreiheit in den Vordergrund stellen, und dafür auch

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Kriege führen, betont China in erster Linie das Grundrecht aufErfüllung der elementaren Bedürfnisse des Menschen wieNahrung, Krankenfürsorge, Kleidung, Wohnung. Was sehen Sie alsnächsten Schritt der Entwicklung von Menschenrechten?

Unter dem Eindruck der nationalen Befreiungsbewegungen und desSieges der damals sozialistischen Sowjetunion über den Hitler-Faschismus wurden in der Allgemeinen Menschenrechtserklärungsoziale Menschenrechte formuliert wie unter anderem das Rechtauf Arbeit, das Recht auf einen fairen, ausreichenden Lohn fürFamilien, das Recht auf Bildung.

Diese proklamierten Menschenrechte werden jedoch nichtumgesetzt. Das ist auch gar nicht möglich, weil das wichtigsteMenschenrecht, das auf Privateigentum und Kapitalverwertung, esnicht zulässt. Beschäftigt wird nur jemand, an dessen Arbeit einanderer verdienen kann. Das schließt ein Recht auf Arbeit für alleaus. Eingestellt werden Kräfte, die möglichst billig sind, sodassLöhne gezahlt werden, die unterhalb des Existenzminimums liegen.Für die Unterhaltskosten der Familien der Arbeitskräfte fühlt sichdas Kapital nicht zuständig. Soziale Menschenrechte stehen imWiderspruch zu den Grundlagen der kapitalistischen Wirtschaft.

Herr Roth, Sie beschreiben, wie Liberalismus und Sklavereieinträchtige Zwillinge in der Geschichte waren. Ist die Förderungvon Kriegen durch Liberalismus die Fortsetzung dieserGeschichte?

Der Liberalismus tritt nicht etwa für die universale Freiheit ein,sondern für die größtmöglichen Abhängigkeiten von Arbeitskräften,die sich als Ware auf Märkten verkaufen müssen. Von daher trat derLiberalismus nicht nur für die Aufrechterhaltung der Sklaverei ein,sondern auch für Gewerkschaftsverbote, Streikverbote und soweiter. Die englische Revolution wie auch die französische fasstenGewerkschaften und Streiks als Verstöße gegen das Menschenrecht

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auf Privateigentum auf. Liberale waren von Anfang an auch fürKriege, um die eigene ökonomische Position zu stärken. Sie warenund sind Vertreter des Imperialismus.

Auf 700 Seiten widerlegen Sie die Geschichtssicht Liberaler, dieihre Vergangenheit offensichtlich nicht aufarbeiten wollen. Wassind wohl die Gründe, warum es keine klare Anerkennung derFehler der Vergangenheit gibt? Vielleicht um keine Zweifel an derheutigen Politik zuzulassen, die auf dem sogenannten Neo-Liberalismus basiert?

Richtig. Die Verfälschung der eigenen Geschichte, die auf einemterroristischen Vorgehen gegen das eigene Volk und andere Völkerberuht, ist notwendig, um an die Anfänge der bürgerlichenRevolution anknüpfen zu können. Sklaverei wird heute allgemein alsVerstoß gegen die Menschenrechte dargestellt, obwohl sie doch dieVerwirklichung des Menschenrechts auf Eigentum darstellte. Deregoistische Mensch ist die Grundlage der Menschenrechte.

Das zeigt sich vielleicht am deutlichsten in der millionenfachenVersklavung von Afrikanern. Obwohl es ununterbrochen behauptetwird, waren die Menschenrechte auch zu keinem Zeitpunktuniversal. Die juristische, fast religiöse Verklärung des individuellenEgoismus von Geschäftsleuten muss, wenn sie aufrechterhaltenwerden soll, von Raub, Mord, Unterdrückung, Sklaverei undUnfreiheit gereinigt werden, damit der Egoismus des Profits alsunbefleckte Empfängnis erscheint.

Sie schreiben über den Bürgerkrieg der USA: „Der Bürgerkriegentwickelte sich auch nicht aus dem Widerspruch zwischen derFreiheit für weiße Männer und der Unfreiheit für Schwarze,sondern aus dem Widerspruch zwischen denen, die die Sklavereiausdehnen und denen, die die Ausdehnung der Sklavereiverhindern wollten. Beide Parteien standen zu Beginn desBürgerkriegs auf dem Boden der Sklaverei. (…) Hätten die

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Konföderierten die Waffen niedergelegt, wäre die Sklavereiweiterhin mit Lincolns Zustimmung ein Menschenrechtgeblieben.“ Wenn ich das lese, scheint mir der Bürgerkrieg derUSA der erste von vielen Kriegen des Landes, bei demMenschenrechte vorgeschoben wurden, um handfeste Interessendes Kapitals durchzusetzen. Oder sehe ich das falsch?

Ob es der erste war, müsste untersucht werden. Die Sklavenwurden nicht im Namen der Menschenrechte befreit, sondern umdie Sklavenhalter der Südstaaten militärisch und ökonomisch zutreffen. Die Schwarzen haben sich ihre Freiheit auch teilweise selbsterkämpft. Sie leisteten einen bedeutenden Beitrag für dieAbschaffung der Sklaverei. Es ging im Bürgerkrieg nicht umMenschenrechte. Lincoln war ebenso wie vorher Jefferson derMeinung, dass die Schwarzen nicht in den USA zusammen mit denWeißen leben sollten, sondern dass man eine neue Heimat für siefinden sollte, zum Beispiel in Afrika oder in der Karibik.

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Quellen und Anmerkungen:

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(1) Frédéric Krumbein: Menschenrechtsdiskurse in China und denUSA, Springer 2013.(2) Das Buch „Über die bürgerlichen Revolutionen in England, denUSA und Frankreich“, 2. Auflage vom Februar 2017, ist für 15 Eurounter [email protected] zu bestellen.

Jochen Mitschka, Jahrgang 1952, war unter anderemUnternehmensberater mit eigenem Unternehmen inSüdostasien und einem kurzen Einsatz im Rahmen einerUNO-Maßnahme in Vietnam. Nebenbei verfasste er unterPseudonymen Bücher über Politik und Gesellschaft derRegion. Er kam 2009 zurück nach Deutschland, um bis zuseinem Ruhestand im August 2017 als angestellterProjektkoordinator und -manager für eine führendeSoftwarefirma zu arbeiten. Seit seinem Ruhestand imJahr 2017 schreibt er Artikel unter eigenem Namen fürverschiedene alternative Internetseiten, übersetztBücher (Dirty War on Syria, MH17) und schreibt Büchermit dem Schwerpunkt Außenpolitik. 2018 erschienen„Die Menschenrechtsindustrie im humanitärenAngriffskrieg“; „Schattenkriege des Imperiums — DerKrieg gegen den Iran“, und in der gleichen Reihe „DieZukunft Palästinas“; die E-Books „Israel 2018“ und „FinisGermania oder Deutschlands Demokratie ist verloren“.

Rainer Roth, Jahrgang 1944, war Professor fürSozialwissenschaften an der Fachhochschule Frankfurt.

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Außerdem bis 2008 Autor und Herausgeber des„Leitfaden ALG II/Sozialhilfe von A-Z“. Er ist Vorsitzendervon Klartext e.V. (http://www.klartext-info.de/) undarbeitet in bundesweiten Kampagnen für eine deutlicheErhöhung der Regelsätze und des Mindestlohns. Zuletzterschien von ihm „Sklaverei als Menschenrecht. Überdie bürgerlichen Revolutionen in England, den USAund Frankreich (http://www.klartext-info.de/buecher/Menschenrecht_Sklaverei_umschlag_inhalt_einleitung.pdf)“.

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