Sandsturm kontra Wassersturm: Physik im Alltag

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Der Größenbereich von Sand ist 0,02 mm bis 2 mm. Bei ei- ner mittleren Größe der Sandkörner von 0,2 mm können pro gleich großem Wassertropfen etwa hundert Sandkörner mitgerissen werden, bei den kleinsten mit Durchmessern um 0,02 mm sind es schon 10000. Wenn der Wind also quer zu seiner Richtung (er weht im Allgemeinen parallel zum Boden) eine gewisse Kraft auf eine Fläche ausübt (Sog über Bernoulli-Effekt), dann kann er wesentlich mehr Sand- körner mitreißen als Wassertropfen. Damit scheint die Eingangsfrage geklärt, warum es Sand- stürme, aber keine Wasserstürme gibt. Ist das wirklich so? Eine Energiebetrachtung scheint auf einen Widerspruch zu führen. Um einen Wassertropfen mit Radius r zu bilden, be- darf es einer bestimmten Energie. Wie viele Sandkörner mit demselben Radius könnte man mit dieser Energie um eine Strecke h anheben? Es ergibt sich: Energie zur Bildung eines Wassertropfens (A: Oberfläche): E WT = σ · A = 4πσr 2 , Energie zur Anhebung eines Sandkorns: E SK = mgh = 4 3 πρghr 3 . (4) Dann ist Anzahl der Sandkörner, die mit EWT angehoben werden können: Dies ist ein auf den ersten Blick ein ähnliches Ergebnis wie das der Kraftbetrachtung,jedoch mit einem entscheidenden Unterschied: Ein Faktor r im Nenner wird durch h ersetzt, N ' SK wird gegenüber N SK aus (1) um den Faktor r/h kleiner. Für vernünftige Werte von h 10 m ergibt sich (5) Von unserer schönen Erklärung über die Kraftbetrachtung bleibt somit scheinbar nichts übrig: Bei der Energiebe- trachtung würden viel weniger Sandkörner als Wassertrop- fen mitgerissen. Welche Betrachtung ist richtig? Zunächst scheint die Energiebetrachtung plausibler, denn zum Mitreißen eines Sandkorns muss der Wind in der Tat eine gewisse Arbeit verrichten. Trotzdem ist sie physi- kalisch falsch, und es ist lehrreich zu sehen warum. N r h r ' · , . · , SK für mm und m für = = = = 4 10 02 10 4 10 0 3 2 02 10 mm und m h = { N E E r ghr g hr = ' / SK WT SK W s W s = = = 2 3 4 3 3 π π σ ρ σ ρ 2 1 ( ) 3 d hr SK 2 . D ie qualitative Erklärung dieser Frage liegt in der Ober- flächenspannung. Sie erfordert für das Herauslösen ei- nes Wassertropfens eine gewisse Kraft und ebenso eine be- stimmte Arbeit, die bei einem Sandkorn nicht auftreten. Die- sen Grundgedanken betrachten wir jetzt quantitativ unter den Aspekten von Kraft und Energie. Um einen Wassertropfen mit dem Radius r zu bilden, be- darf es einer bestimmten Kraft. Wie viele Sandkörner mit demselben Radius können mit dieser Kraft hochgehoben werden? Wir vergleichen beide Kräfte: Kraft zur Bildung eines Wassertropfens (WT): F WT = σ W · U = 2π σ W r, Kraft zur Anhebung eines Sandkorns (SK): F SK = m · g = ρ s V · g = 4 3 πρ s r 3 g. (1) Dann ist die Anzahl der Sandkörner, die mit F WT angehoben werden können: Für eine quantitative Abschätzung können wir folgende Werte annehmen: Oberflächenspannung des Wassers σ W = 70 mN/m, Dichte von Sand (Quarz) ρ S = ρ SiO 2 2,65 gr/cm 3 und g = 9,81 m/s 2 . Die Betrachtung der Einheiten zeigt, dass σ W /ρ s g das Quadrat einer Länge ist. Es ist sinnvoll, diese Länge explizit einzuführen: (2) Der Index GK weist darauf hin, dass diese Länge etwas mit dem Vergleich von Gravitations- und Kapillarkraft zu tun hat. Damit wird aus (1) (3) N d r r SK = = 15 2 10000 0 02 100 , , mm SK für mm für mm r = { } 02 , . d g GK = σ ρ W s mm / 16 , . N F F r rg rg = SK WT SK W s W s W = = = 2 6 4 4 3 3 2 π π σ ρ σ ρ σ ρ / 1,5 s g r . 2 Physik im Alltag Sandsturm kontra Wassersturm A NDREAS MÜLLER Leichtes Pusten wirbelt Sand auf, aber keine Wassertropfen, und in der Wüste gibt es Sandstürme, aber auf dem Meer trägt auch ein Sturm nur vergleichsweise wenig Wasser. Woran liegt das, wo doch Sand sogar ein höheres spezifisches Gewicht hat als Wasser? 178 | Phys. Unserer Zeit | 4/2006 (37) © 2006 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim DOI: 10.1002/piuz.200501099

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Der Größenbereich von Sand ist 0,02 mm bis 2 mm. Bei ei-ner mittleren Größe der Sandkörner von 0,2 mm könnenpro gleich großem Wassertropfen etwa hundert Sandkörnermitgerissen werden, bei den kleinsten mit Durchmessernum 0,02 mm sind es schon 10 000. Wenn der Wind alsoquer zu seiner Richtung (er weht im Allgemeinen parallelzum Boden) eine gewisse Kraft auf eine Fläche ausübt (Sogüber Bernoulli-Effekt), dann kann er wesentlich mehr Sand-körner mitreißen als Wassertropfen.

Damit scheint die Eingangsfrage geklärt,warum es Sand-stürme, aber keine Wasserstürme gibt. Ist das wirklich so?Eine Energiebetrachtung scheint auf einen Widerspruch zuführen. Um einen Wassertropfen mit Radius r zu bilden,be-darf es einer bestimmten Energie. Wie viele Sandkörner mitdemselben Radius könnte man mit dieser Energie um eineStrecke h anheben? Es ergibt sich:

Energie zur Bildung eines Wassertropfens (A: Oberfläche):EWT = σ · A = 4πσr2,

Energie zur Anhebung eines Sandkorns:ESK = mgh = 43 πρghr3. (4)

Dann ist Anzahl der Sandkörner, die mit EWT angehobenwerden können:

Dies ist ein auf den ersten Blick ein ähnliches Ergebnis wiedas der Kraftbetrachtung, jedoch mit einem entscheidendenUnterschied: Ein Faktor r im Nenner wird durch h ersetzt,N 'SK wird gegenüber NSK aus (1) um den Faktor r/h kleiner.Für vernünftige Werte von h ≈ 10 m ergibt sich

(5)

Von unserer schönen Erklärung über die Kraftbetrachtungbleibt somit scheinbar nichts übrig: Bei der Energiebe-trachtung würden viel weniger Sandkörner als Wassertrop-fen mitgerissen. Welche Betrachtung ist richtig?

Zunächst scheint die Energiebetrachtung plausibler,denn zum Mitreißen eines Sandkorns muss der Wind in derTat eine gewisse Arbeit verrichten. Trotzdem ist sie physi-kalisch falsch, und es ist lehrreich zu sehen warum.

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Die qualitative Erklärung dieser Frage liegt in der Ober-flächenspannung. Sie erfordert für das Herauslösen ei-

nes Wassertropfens eine gewisse Kraft und ebenso eine be-stimmte Arbeit,die bei einem Sandkorn nicht auftreten. Die-sen Grundgedanken betrachten wir jetzt quantitativ unterden Aspekten von Kraft und Energie.

Um einen Wassertropfen mit dem Radius r zu bilden,be-darf es einer bestimmten Kraft. Wie viele Sandkörner mitdemselben Radius können mit dieser Kraft hochgehobenwerden? Wir vergleichen beide Kräfte:

Kraft zur Bildung eines Wassertropfens (WT):FWT = σW · U = 2π σW r,

Kraft zur Anhebung eines Sandkorns (SK):FSK = m · g = ρs V · g = 43 πρs r3 g. (1)

Dann ist die Anzahl der Sandkörner,die mit FWT angehobenwerden können:

Für eine quantitative Abschätzung können wir folgendeWerte annehmen: Oberflächenspannung des Wassers σW =70 mN/m,Dichte von Sand (Quarz) ρS = ρSiO2

≈ 2,65 gr/cm3

und g = 9,81 m/s2.Die Betrachtung der Einheiten zeigt, dass σW/ρsg das

Quadrat einer Länge ist. Es ist sinnvoll, diese Länge expliziteinzuführen:

(2)

Der Index GK weist darauf hin, dass diese Länge etwas mitdem Vergleich von Gravitations- und Kapillarkraft zu tunhat. Damit wird aus (1)

(3)Nd

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Physik im Alltag

Sandsturm kontra WassersturmANDREAS MÜLLER

Leichtes Pusten wirbelt Sand auf, aber keine Wassertropfen,und in der Wüste gibt es Sandstürme, aber auf dem Meerträgt auch ein Sturm nur vergleichsweise wenig Wasser. Woran liegt das, wo doch Sand sogar ein höheres spezifischesGewicht hat als Wasser?

178 | Phys. Unserer Zeit | 4/2006 (37) © 2006 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

DOI: 10.1002/piuz.200501099

S A N D S T U R M | PH YS I K I M A L LTAG

Die Energiebetrachtung bedeutet,dass ein Sandkorn ge-nau durch die Energie angehoben werden kann, die zumHerauslösen eines Wassertropfens nötig ist. Das ist abernicht richtig, denn sobald das Sandkorn fliegt, kann derWind zusätzlich Arbeit an ihm verrichten. Die Energiebe-trachtung ist also nicht vollständig und betrifft nur dieSchicht unmittelbar in Bodenhöhe. Eine vollständige Ener-giebetrachtung müsste also die im Geschwindigkeitsprofildes Windes am fliegenden Sandkorn geleistete Arbeitberücksichtigen. Das ist ein schwieriges Stück Kontinuums-mechanik, das wir hier nicht leisten wollen. Nach der Ent-kräftung der Überlegung zur Energie gibt es auch keinenGrund mehr,der gegen die Kraftbetrachtung spricht. Damitist unser Ausgangsproblem gelöst.

Dieses Beispiel zeigt auch, dass mathematisch korrektnoch lange nicht physikalisch richtig bedeutet: Es kann sein,dass eine Rechnung richtig, der Gedanke dahinter aberfalsch ist und man so schlussendlich ein falsches Ergebniserhält. Die mathematische Exaktheit beim Rechnen hat et-was sehr Verführerisches, denn man könnte meinen, damitdas Wesentliche geleistet zu haben. Aber von den beidenFragen „Ist eine Rechnung richtig?“ und „Was bedeutet ei-ne Rechnung?“ steht die Zweite am Anfang und am Endeder Ersten.

Zusammenfassung Sandstürme ereignen sich oft, „Wasserstürme“ hingegen sogut wie nie. Eine Abschätzung zeigt, dass man beim Heraus-lösen eines Wassertropfens beispielsweise aus dem Meer einesehr große Kraft benötigt und sehr viel Arbeit verrichten muss.Das scheint die Erklärung zu sein. Führt man eine entspre-chende Energiebetrachtung durch, so könnte es durchausWasserstürme geben. Diese Überlegung ist zwar mathema-tisch richtig, aber unvollständig.

StichworteSandstürme, Oberflächenspannung.

Der AutorAndreas Müller hat am MPI für Kernphysik inHeidelberg in theoretischer Physik pomoviert,anschließend Habilitation für Didaktik der Physik ander Universität Gießen. Seit 1999 Professor an derUniversität Koblenz-Landau, Campus Landau mitden Arbeitsgebieten: Alltagsphysik, psychologischeGrundlagen des Physiklernens und Lehrerbildung.

Anschrift Prof. Dr. Andreas Müller, Abt. Physik/FachbereichNaturwissenschaften, Universität LandauFortstraße 7, 76829 Landau. [email protected]

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Sandstürme gibt es häufig, „Wasserstürme“ fast nie.