Scada für kleinste Teilchen in größter Maschine - etz.de · Power Factory von Digsilent [‚]....

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FERTIGUNGS- & MASCHINENAUTOMATION 24 www.etz.de 12/2013 Scada für kleinste Teilchen in größter Maschine In der größten Maschine der Welt im Cern werden kleinste Teilchen zur Kollision gebracht, um die Entstehung des Weltalls zu erforschen. Erst im letzten Jahr wur- den die Higgs-Boson-Teilchen nachgewiesen, für deren Vorhersage Peter Higgs nun den Physik-Nobelpreis erhalten hat. An die im Cern eingesetzte Technologie werden aufgrund der extremen wissenschaftlichen Programme hohe Anforderun- gen gestellt. Die Redaktion war vor Ort und hat sich vor allem für das eingesetzte Scada-System interessiert. Text: Ronald Heinze P eter Higgs und François Englert haben den Physik- Nobelpreis für ihre Arbeiten der Teilchenphysik erhalten. Der jetzt 84-jährige P. Higgs hatte die Existenz eines Parti- kels, das allen anderen Teilchen Masse verleiht, bereits in den 1960er-Jahren vorhergesagt. Das sogenannte „Gottesteil- chen“, das Higgs-Boson, wurde in 2012 an der europäischen Großforschungseinrichtung Cern in Meyrin im Kanton Genf in der Schweiz nachgewiesen. Das Akronym Cern leitet sich vom französischen Namen des Rats ab, der mit der Gründung der Organisation beauf- tragt war, dem Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire. Die offiziellen Namen des Cern sind European Organization for Nuclear Research im Englischen beziehungsweise Organi- sation Européenne pour la Recherche Nucléaire im Französi- schen. Das Jahresbudget beläuft sich auf ungefähr 1 Mrd. €. Derzeit hat das Cern 20 sich beteiligende Mitgliedstaaten. Mit seinen etwa 2 300 Mitarbeitern – Physiker, Ingenieure, Techniker und Administration – ist das Cern das weltgrößte Forschungszentrum auf dem Gebiet der Teilchenphysik [1]. Beweise für die Urknall-Theorie An der 1954 gegründeten Europäischen Organisation für Kernforschung wird physikalische Grundlagenforschung betrieben. Mithilfe großer Teilchenbeschleuniger wird der Aufbau der Materie erforscht. „Ziel ist es, die Grenze des Wissens zu verschieben“, betont Philippe Gayet, Group Leader of Control Group im Cern. „Es sollen die ersten Momente des Universums nach dem Big Bang verstanden 01 „LHCb“ – hier wird die Kollision der Teilchen in 100 m Tiefe „vermessen“

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FERTIGUNGS- & MASCHINENAUTOMATION

24 www.etz.de 12/2013

Scada für kleinste Teilchen in größter MaschineIn der größten Maschine der Welt im Cern werden kleinste Teilchen zur Kollision

gebracht, um die Entstehung des Weltalls zu erforschen. Erst im letzten Jahr wur-

den die Higgs-Boson-Teilchen nachgewiesen, für deren Vorhersage Peter Higgs

nun den Physik-Nobelpreis erhalten hat. An die im Cern eingesetzte Technologie

werden aufgrund der extremen wissenschaftlichen Programme hohe Anforderun-

gen gestellt. Die Redaktion war vor Ort und hat sich vor allem für das eingesetzte

Scada-System interessiert.

Text: Ronald Heinze

Peter Higgs und François Englert haben den Physik- Nobelpreis für ihre Arbeiten der Teilchenphysik erhalten.

Der jetzt 84-jährige P. Higgs hatte die Existenz eines Parti-kels, das allen anderen Teilchen Masse verleiht, bereits in den 1960er-Jahren vorhergesagt. Das sogenannte „Gottesteil-chen“, das Higgs-Boson, wurde in 2012 an der europä ischen Großforschungseinrichtung Cern in Meyrin im Kanton Genf in der Schweiz nachgewiesen.

Das Akronym Cern leitet sich vom französischen Namen des Rats ab, der mit der Gründung der Organisation beauf-tragt war, dem Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire. Die o�ziellen Namen des Cern sind European Organization for Nuclear Research im Englischen beziehungsweise Organi-sation Européenne pour la Recherche Nucléaire im Französi-

schen. Das Jahresbudget beläuft sich auf ungefähr 1 Mrd. €. Derzeit hat das Cern 20 sich beteiligende Mitgliedstaaten. Mit seinen etwa 2 300 Mitarbeitern – Physiker, Ingenieure, Techniker und Administration – ist das Cern das weltgrößte Forschungszentrum auf dem Gebiet der Teilchenphysik [1].

Beweise für die Urknall-Theorie

An der 1954 gegründeten Europäischen Organisation für Kernforschung wird physikalische Grundlagenforschung betrieben. Mithilfe großer Teilchenbeschleuniger wird der Aufbau der Materie erforscht. „Ziel ist es, die Grenze des Wissens zu verschieben“, betont Philippe Gayet, Group Leader of Control Group im Cern. „Es sollen die ersten Momente des Universums nach dem Big Bang verstanden

01 „LHCb“ – hier wird

die Kollision der Teilchen

in 100 m Tiefe „vermessen“

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werden.“ Der ursprüngliche Zustand der Materie wird er-forscht. Noch wenig erklärt sind ebenso die Materie-Anti-materie-Asymmetrie sowie die dunkle Materie.

Am Cern werden der Aufbau der Materie und die funda-mentalen Wechselwirkungen zwischen den Elementarteil-chen erforscht, also die grundlegende Frage, woraus das Universum besteht und wie es funktioniert. Mit großen Teilchenbeschleunigern werden Teilchen auf nahezu Licht-geschwindigkeit beschleunigt und zur Kollision gebracht. Mit einer Vielzahl unterschiedlicher Teilchendetektoren werden sodann die Flugbahnen der bei den Kollisionen ent-standenen Teilchen rekonstruiert, woraus sich wiederum Rückschlüsse auf die Eigenschaften der kollidierten sowie der neu entstandenen Teilchen ziehen lassen. Dies ist mit einem enormen technischen Aufwand für die Herstellung und den Betrieb der Anlagen sowie mit extremen Anforde-rungen an die Rechnerleistung zwecks Datenauswertung verbunden [1].

Die Cern-Beschleunigeranlage besteht aus mehreren kreisförmigen Teilchenbeschleunigern. Der größte ist der Large Hadron Collider (LHC) mit 27 km Umfang, der sich in 100 m Tiefe be#ndet. Im ersten Durchlauf wurden zwei Protonen mit 7 TeV zwecks Kollision ins Rennen geschickt (Bild ). Die hier installierte Tieftemperaturtechnik enthält 50 % des weltweit vorhandenen $üssigen Heliums – etwa 150 t. Allein einen Monat dauert es, um die Temperatur im LHC-Sektor mithilfe von 150 Kühlanlagen von 300 K auf 1,9 K herunter zu kühlen. 1 800 supraleitende Magnete sorgen dafür, dass die Teilchen genau auf Kollisionskurs blei-ben (Bild ).

Die installierte Leistung der Anlage beträgt laut P. Gayet 300 MW: „Wenn die Anlage läuft, erreicht der Jahresver-brauch 1,26 TWh, was etwa 1/6 des Energieverbrauchs der Stadt Genf/Schweiz ausmacht.“ Allein der Beschleuniger LHC benötigt davon 0,639 TWh. Gespeist wird die Energie von dem französischen Energieversorger EDF.

Derzeit läuft die Anlage nicht. Aufgrund eines Montage-fehlers in einer elektrischen Verbindungsstelle kam es zu einer Explosion und momentan wird die gesamte Anlage noch mal überprüft. „Ab April 2015 geht es planmäßig wei-ter“, setzt P. Gayet fort.

„Um die Forschung und Entwicklung voranzubringen, werden erfolgreich ö&entlich-private Partnerschaften einge-gangen“, ergänzt Alberto Di Meglio vom Cern Openlab CTO O�ce. Mit der einzigartigen Anlage können die Tech-nologien an ihre Grenzen getrieben werden (Bild ). Dies ist vor allem in den teilweise extremen Anforderungen des wis-senschaftlichen Programms im Cern begründet. Zu den tech-nologischen Herausforderungen zählen laut A. Di Meglio unter anderem Online Trigger und DAQ, O'ine- Simulation und Processing, Datenbankarchitekturen, Datenanalyse so-wie Netzwerke und Connectivity. Wenn die Anlage läuft, wird sie in Bezug auf die Datenspeicherung und -analyse etwa ein Prozent der weltweiten Internetkommunikation verursachen. Allein die Datenaufzeichnung für das Alice-Experiment würde eine DVD in einer Sekunde befüllen.

Die ersten Erfahrungen mit industriellen Scada-Systemen am Cern wurden bereits 1994 gesammelt – damals noch mit Factorylink. Vorher setzte man auf selbst entwickelte Sys-

teme. „Die Auswahl der Technologien für das LHC-Expe-riment begann 1996“, betont Manuel Gonzalez Berges, Ingenieur am Cern. Es wurden verschiedene industrielle Produkte und Standards evaluiert, zum Beispiel Scada, Middleware, Feldbusse und SPS. „Für Scada-Systeme haben wir eine aufwendige Marktuntersuchung mit einer sehr lan-gen Kriterienliste realisiert“, so M. G. Berges. Diese fand zwischen 1997 und 1999 statt und der Aufwand betrug mehr als Zehn-Mann-Jahre.

02 Modell eines supraleitenden Magneten

03 Kontrollraum im Cern

04 Win CC OA im Einsatz

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Ein System für alle Anforderungen

Die Entscheidung nach der Cern-Ausschreibung #el laut M. G. Berges im Jahr 2000 für das System PVSS von ETM [2], welches heute unter dem Namen Simatic Win CC Open Architecture bekannt ist [3]. Als Gründe führt der Automatisierungsspezialist die Skalierbarkeit auch für große, verteilte Systeme, die O&enheit, die Multiplattformfähigkeit sowie auch die Partnerschaft mit dem Hersteller an (Bild ).

Für die Prozessanbindung werden unter anderem OPC UA/DA und Treiber für S7 und Modbus genutzt. Mit der Integration des Systems in die Anlage sind 800 aktive Ent-wickler beschäftigt. Für die unterschiedlichen Applikationen im Cern kommen eine Vielzahl von Win-CC-OA-Systemen zum Einsatz, zum Beispiel für die Experimente Alice 100 Systeme, für Atlas 130, für CMS 90, für LHCb 160 und für die Beschleunigeranlage 120. Dazu kommen noch Systeme für eine Reihe von kleineren Anlagen. Insgesamt werden 600 Systeme mit mehr als 45 Mio. Datenpunktelementen genutzt, die auf Linux- und Windows-Systemen laufen. „Aktuell wird an der nächsten Generation der Archivierung, dem Web User Interface und der Softwareverteilung gear-beitet“, schließt M. G. Berges an.

Neu eingeführt wird Win CC OA nun als eines der letz-ten Projekte auch für das elektrische Netz. Die Entwicklung hierfür startete im September 2012. Seit September 2013 sind die wesentlichen Scada-Funktionalitäten umgesetzt (Bild ). Mit dem Scada-System werden allein hier laut Jean-Charles Tournier, Ingenieur im Cern und verantwort-lich für das elektrische Netz, mehr als 215 000 Tags und 20 000 Geräte bedient. Eine wichtige Voraussetzung auf

Engineering-Ebene war die Migration der Daten und Ein-stellungen von den Linux-basierten Scatex-Servern. Viele Module von Win CC OA lassen sich wiederverwenden.

„Wir haben nun ein homogenes Scada-System für die Tieftemperaturtechnologie, Klimatisierung und Ventilation, Gasversorgung und vieles mehr“, berichtet J.-C. Tournier. Nur für das Energiemanagement gibt es das separate System Power Factory von Digsilent [4]. Den Input aus dem Feld für das Energiemanagement liefert ebenfalls Win CC OA. Und auch die Ergebnisse werden im Scada-System visualisiert. Im Januar 2014 wird dann noch das *ema Redundanz in An-gri& genommen. Zukünftig wird weiterhin die IP-Kommu-nikation in den Unterstationen in das Scada-System migriert.

Fazit

Win CC OA ist heute ein De-facto-Standard im Cern. Die o&ene Architektur ermöglicht die Integration für unter-schiedliche Anwendungsgebiete. „Win CC OA erfüllt alle funktionalen Anforderungen und bietet darüber hinaus wei-tere Vorteile, wie Homogenität, Initialkosten und Wartung“, schließt J.-C. Tournier ab. (hz)

Literatur

[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Cern, abgerufen in 11/2013

[2] ETM Professional Control GmbH, Eisenstadt/Österreich:

www.etm.at

[3] Win CC Open Architecture: www.automation.siemens.com/

mcms/human-machine-interface/de/visualisierungssoftware/

simatic-wincc-open-architecture/

[4] Digsilent GmbH, Gomaringen: www.digsilent.de

04 Die Architektur des neuen Scada-Systems

Win CC OAMain Server Win CC OA

RedundantServer

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Power FactoryRedundant

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Power FactoryMain Server Win CC OA

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Win CC OAMain Server

Cern Control Center Disaster Recovery Center

Cern Infrastructure

Central Logging Central AlarmsOracle DBIE

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