Scheinbewegungen und Otolithenfunktion

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Archly Ohr- usw. tteilk, u. Z. Hals- usw. tIeilk., ]~d. 160, S. 388--401 (1951). Aus der Univ.-Hals-Nasen-Ohrenklinik Graz (Vorstand: Prof. Dr. GusTAvHOFV,~). Seheinbewegungen und 0tolithenfunktion. Von ~'~AX KRAUSo (Eingeganyen am 11. September 1951.) Das Innenohr zeigt mit Vorhof, Bogengangsteil und Sehnecke eine klare anatomische Dreiteilung, die sich auch histologisch ebenso ein- deutig darstellt und fast zwingend eine ebensolche dreifache Funktion erwarten li~Bt. W~hrend nun Schnecke und Bogeng~nge mi~ Schall- perzeption und Blickfeldregulation 2 auBerordentlich wichtige Sinnes- funktionen ausfiben (fiber die Funktionen des Bogenaloparates wurde an anderer Stelle ausfiihrlich berichtet), wird dem Vorhofsapparat gewShn- lich eine Gleichgewichtsfunktion zugesprochen. Aus der hervorstechend- sten Besonderheit im Bau der Maculae, der Einlagerung der spezifisch schwereren Otolithen, schlie6t man, dab dieses Organ in erster Linie zur Erkennung yon Lage~nderungen und Progressivbeschleunigungen dienen mfisse, die sich nach einfachen physikalischen Gesetzen an den Otolithen auswirken mfissen. Nun ist diese Leistung des Vorhofapparates, verglichen mit den Funk- tionen der beiden anderen Innenohrabschnitte, merkwfirdig geringffigig und gerade beim ~enschen, der durch seinen aufrechten Gang weitaus am meisten auf ein solches Gleichgewichtsorgan angewiesen sein mfil3te, eigentlich recht unbedeutend. Seine Aufgaben sind zum grSBten Teil dutch andere Mechanismen fibernommen. Auge, kin~sthetischer Muskel- sinn und Kleinhirn spielen ffir das Gleichgewicht eine bedeutendere Rolle als das eigentliche Gleichgewichtsorgan im Innenohr (NEuMA~, F~EM]~L, VEITS U. a.). Das l~Bt sich sehr schSn demonstrieren, wenn man einzelne dieser Faktoren ausschaltet. So verliert ein GroBteil der Menschen bei geschlossenen Augen unter Wasser (bei nicht einmal vollst~ndiger Aus- schaltung des Muskelsinnes) vSllig die Orientierung fiber die Lotrechte (GARTEN); Tabiker mit StSrung des Muskelsinnes zeigen einen welt un- sichereren Gang als Labyrinthlose usw. Tats~chlich ist ja auch durch Auge Und Mnskelsinn die Lage des KSrpers geniigend bestimmt und eigentlich nur in extremen Ausnahmefi~llen und unter besonderen Lebensbedin- gungen gewisser Tierarten eine zus~tzliche Gleichgewichtsfunktion not- wendig (F]ug der VSgel im Nebel, Tiefseefische usw.). Sonst werden ja bei nur zeitweiligem vollkommenen Ausfall des Gesichtssinnes in der Regel auch keine KSrperbewegungen ausgeffihrt.

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Archly Ohr- usw. tteilk, u. Z. Hals- usw. tIeilk., ]~d. 160, S. 388--401 (1951).

Aus der Univ.-Hals-Nasen-Ohrenklinik Graz (Vorstand: Prof. Dr. GusTAv HOFV,~).

Seheinbewegungen und 0tolithenfunktion. Von

~'~AX KRAUSo

(Eingeganyen am 11. September 1951.)

Das Innenohr zeigt mit Vorhof, Bogengangsteil und Sehnecke eine klare anatomische Dreiteilung, die sich auch histologisch ebenso ein- deutig darstellt und fast zwingend eine ebensolche dreifache Funktion erwarten li~Bt. W~hrend nun Schnecke und Bogeng~nge mi~ Schall- perzeption und Blickfeldregulation 2 auBerordentlich wichtige Sinnes- funktionen ausfiben (fiber die Funktionen des Bogenaloparates wurde an anderer Stelle ausfiihrlich berichtet), wird dem Vorhofsapparat gewShn- lich eine Gleichgewichtsfunktion zugesprochen. Aus der hervorstechend- sten Besonderheit im Bau der Maculae, der Einlagerung der spezifisch schwereren Otolithen, schlie6t man, dab dieses Organ in erster Linie zur Erkennung yon Lage~nderungen und Progressivbeschleunigungen dienen mfisse, die sich nach einfachen physikalischen Gesetzen an den Otolithen auswirken mfissen.

Nun ist diese Leistung des Vorhofapparates, verglichen mit den Funk- tionen der beiden anderen Innenohrabschnitte, merkwfirdig geringffigig und gerade beim ~enschen, der durch seinen aufrechten Gang weitaus am meisten auf ein solches Gleichgewichtsorgan angewiesen sein mfil3te, eigentlich recht unbedeutend. Seine Aufgaben sind zum grSBten Teil dutch andere Mechanismen fibernommen. Auge, kin~sthetischer Muskel- sinn und Kleinhirn spielen ffir das Gleichgewicht eine bedeutendere Rolle als das eigentliche Gleichgewichtsorgan im Innenohr (NEuMA~, F~EM]~L, VEITS U. a.). Das l~Bt sich sehr schSn demonstrieren, wenn man einzelne dieser Faktoren ausschaltet. So verliert ein GroBteil der Menschen bei geschlossenen Augen unter Wasser (bei nicht einmal vollst~ndiger Aus- schaltung des Muskelsinnes) vSllig die Orientierung fiber die Lotrechte (GARTEN); Tabiker mit StSrung des Muskelsinnes zeigen einen welt un- sichereren Gang als Labyrinthlose usw. Tats~chlich ist ja auch durch Auge Und Mnskelsinn die Lage des KSrpers geniigend bestimmt und eigentlich nur in extremen Ausnahmefi~llen und unter besonderen Lebensbedin- gungen gewisser Tierarten eine zus~tzliche Gleichgewichtsfunktion not- wendig (F]ug der VSgel im Nebel, Tiefseefische usw.). Sonst werden ja bei nur zeitweiligem vollkommenen Ausfall des Gesichtssinnes in der Regel auch keine KSrperbewegungen ausgeffihrt.

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Der Wert der Wahrnehmung ,,Besehleunigung" muB/iberhaupt an- gezweife]t werden. W~hrend passive Drehbewegungen in der Natur noeh ab und zu vorkommen (solche Bewegungen, die nicht prim/ir intendiert und daher auf alle F~lle sehon durch andere Sinnesfunktionen erfaBt sind), gibt es praktiseh eigentlich keine passiven gerad]inigen Beschleunigungen. In geringem Ausmal~ w~ren sie h6chstens denkb~r dureh StrSmungen in LufC und Wasser; doch were f~r eine Gegenwirkung durch das betreffende Lebewesen weder An]aB noch MSgliehkeit gegeben, so dab die Perzeption soleher seltener Besehleunigungen keinen Sinn haben k6nnte.

Die fibrigen Funktionen, die dem OColithenapparat yon einzelnen Seiten noeh zugesproehen werden, wie Zusammenhang mit H6rfunktion (B~JAMZb'S U. a.), der Empfindung des Rhythmus (G~)TTICH u. a.), vege- tative Einflfisse wie Blutdruekregelung (MIv, S) usw., k6nnen unter keinen Umst/~nden als Hauptaufgaben angesproehen werden, da sie selbst bei tats/~ehliehem Bestehen nieht mit der wesentlichsten teehnisehen Einze]- heir im Bau dieses Organs, den Otolithen selbst, in Zusammenhang ge- bracht werden kSnnen.

Diese anseheinende Bedeutungslosigkeit des Otolithenapparates, der phylogenetisch der/ilteste Teil des Ohres ist, einmal iiberragende Bedeu- tung besessen hat und trotz }ugenseheinlicher Nebens/~ehliehkeit nieht rtiekgebildet, sondern eher vervollkommnet wurde, muB zur Suehe naeh anderen Funktionen anregen, die ihm vielleieht doeh eine grSBere Rolle in der Sinnesphysiologie zuspreehen lassen.

Die Sehwierigkeiten in der Erforsehung dieser Funktionen sind aller- dings noeh weit gr6Ber als beim Bogengangsapparat, da keine so klaren Sensationen gegeben sind, wie beispielsweise bei der Sehallwahrnehmung, und auBerdem die Tatsaehe der weitgehenden Uberdeekung, Vermengung und Kombination mit anderen Empfindungen und Leistungen anderer Organe die Untersuchungen stark behindert. Es bleibt niehts fibrig, als die physikalisehen M6gliehkeiten der I~eaktion naeh dem anatomischen Bau dieses Teilorgans mehr oder weniger reehneriseh-gedanklieh zu er- sehlieBen und dann dureh extreme Versuehsbedingungen deutIiehe Reaktionen zu erzwingen, deren Ergebnis dann wieder rein gedanklieh auf normale, lohysiologisehe Verh/iltnisse reduziert werden muB.

Die weitaus anffallendste Reaktion unter solehen Bedingungen ist zweifellos die Seheindrehung der Umgebung nach 1/ingerer I~otations- priifung, deren siehere Ableitung von den Otolithen und zwar dutch divergierende Ablenkung infolge yon Endolymphstr6mungen an anderer Stelle ausfiihrlieh dargelegt wurde. Wenn die fiberm/igige Reizung des Vorhofapparates zu Seheinbildern fiihrt, so mug zwisehen diesem Organ und dem Auge, ~hnlieh wie beim Bogengangsaloparat, eine funktionelle

A r c h . Ohr~ usw. u. Z. l:t-als- usw. l - re i lk . , B d . 160 . 2 6

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Beziehung bestehen, deren Charakter und Bedeutung unter physio- logisehen Bedingungen zu erschliel~en nunmehr versueht werden soll.

Die Uniersuchung der Scheinbilder maeht die Er5rterung gewisser physiologiseher Besonderheiten des Sehorgans notwendig. Bei der fiber- ragenden Bedeutung des Auges als Sinnesorgan ist es verst~ndlich, dab sieh gewisse technisehe Naehteile, die mit Grundeigenschaften der leben- den Zellen zusammenh~ngen und daher nieht ohne weiteres vermieden werden k5nnen, besonders st5rend gelten maehen mfissen. So ist es aueh nicht verwunder]ieh, dal~ Eimoiehtungen bestehen, die diese Nachteile so weir als mSglich wieder auszugleichen suehen.

Ein solcher Hauptnaehteil ist die Unm5gliehkeit ffir die Netzhaut- zellen, mehr als etwa 10--20 Eindrficke in der Sekunde zu perzipieren (TscH~RMAK U.a.). Kommt es z u einem sehnelleren Reizwechsel~ so kSnnen diese Reize nicht mehr sicher getrennt wahrgenommen wer- den und das Bild ,,verschwimmt", verwiseht sich, eine Tatsaehe, die bekanntlich das Grundprinzip der Kinematographie abgegeben hat. L~l~t man z. B. einen Finger fiber ein bedrucktes Papier gleiten, so kommt es schon bei relativ geringer Geschwindigkeit zu einer vollkommenen Unm5glichkeit der scharfen Erkennung entweder des Fingers oder der Unterlage, je naeh der Fixation des Blickes. Dasselbe mfi~te nun bei jeder Kopf- oder Augenbewegung in noch viel hSherem Mall auftreten, da ja durch d~s Wandern des Kamerabildes fiber die Netzhaut jede Zelle eine viele bunderte ~ale in der Sekunde wechse]nde Beliehtung erfahren mul l Die willkfirliehen Augenbewegungen sind nun immer ruekartig, ,,saeea- diert" (GERTZ) und diese Besonderheit kann nur den Zweck haben, das Verwisehen des Sinneseindruekes zu verhindern. Auch bei anseheinend noeh so gleiehm~l~igen willkfirlichen Augenbewegungen verweilt das Auge immer durch Bruchteile einer Sekunde in einer Einstellungs- richtung, die dann ein klares Netzhautbild gibt, um dann ruekartig zu einer neuen ,,Zwisehenstation" vorzuspringen, bis die Bewegung end- gfiltig abgeschlossen ist.

Dal~ es dureh gleichzeitige kontinuierliche Kopfbewegungen nieht m5glieh ist, diesen Mechanismus zu stSren, ist eine Hauptaufgabe des Bogengangsapparates, der die erfolgte Blickfeldverschiebung sofort auto- matisch dureh entgegengesetzte Augenmuskelimpulse ausgleieht, so dal~ die Form der wi]lkfir]ichen, saceadierten Bliekbewegungen auch w/ihrend der Kopfdrebung immer erhalten bleibt. Die gewo]lte neue Einstellung mul) mit genau den gleiehen Impulsen erreicht werden, wie wenn der Kopf dabei in l~uhe bliebe. Dies wurde an anderer Stel]e ausffihrlich dar- gelegt.

Besonders deutlieh merkt man die ruckartige Form willkiirlicher Augenbewegungen bei VSgeln. Da bei kleinen Tieren die Distanz zwischen

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Blickfeld der n~chsten Umgebung Und Auge viel geringer und bei gleieher Eigengesehwindigkeit die Verschiebung eine viel raschere ist, sind hier z. T. auch Einrichtungen getroffen, um das Verwischen des Bliekfeldes durch eigene Progessivbewegungen mSglichst zu verhindern. Be0baehtet man Hfihner beim Vorw~rtsschreiten, so bemerkt man eigenartige ruck- artige Kopfbewegungen in der Bewegungsriehtung, die rhythmisch yon einem langsamen Zuriiekgehen des Kopfes gefolgt werden. Bei nahem Hintergrund, z. B. Entlangschreiten an einem Zaun oder einer Wand, kann man nun festste]len, dab dieses Zuriickgehen des Kopfes haargenau der Bewegungsgeschwindigkeit des Tieres entspricht, der Kopf glso tat- s~chlich durch eine gewisse Zeit absolut ruhig steht, um dann wieder vorgesehne]lt zu werden. Die gleiehm~A?ige Vorausbewegung des KSrpers wird ftir den Kopf in eine l~uckbewegung umgewandelt, die dem Auge wenigstens ftir gr6Bere Bruchteile einer Sekunde ein abso]ut konstan~es Blickfeld gew~hrleistet.

Diese Korrektureinrichtungen, bei denen der Bogengangsapparat eine wesentliehe Rolle spielt, betreffen nun Mlein das Netzhautbild. Das zentrale Sehfeld ist aber durchaus nieht ein getreues Abbild der Netzhaut, eine einfaehe umgeleitete Wiedergabe, wie man ftirs erste meinen sollte.Dureh einige Beobaehtungenl /il~t sieh dies deutlich veransehauliehen.

Pri~g~ man sieh beim Blick geradeaus eine genau in der 1V[itte des Blickfeldes gelegene Leuehtlinie ein, so bewegt sieh das Naehbild bei Bliekbewegungen unter gesehlossenen Lidern in clef Riehtung der Augen- bewegungen mi~, iiberrasehenderweise aber nieht im gleiehen AusmaB wie die &ugenbewegung selbst. Wan hat bei raschem Bliekwechsel zwisehen rechts und links (bei gesehlossenen Lidern) den Eindruck, an der Leuehtlinie seitlieh ,,vorbeizusehen" ulld tats/~ehlieh ,,spring~", wenn man die Augen in seitlieher Stellung 5finer, die Leuehtlinie geradezu ruekartig noch welter lateral, wieder in die Mitre des jetzt neuen Bliekfeldes. L ~ g t man die Augen unter gesehlossenen Lidern in seitlieher Stellung, so folgt die Leuchthnie nur langsam der neuei~ Augenstellung naeh.

Wi~re die Leuehtlinie eine absolut siehere ?r der Netzhaut- mitre und damit der jeweiligen Augenstellung, so miiBte sie die Augen- bewegungen unter gesehlossenen Lidern genau so mitmaehen, wie bei freier Sicht. Wiirde sie sieh dagegen als Naehbild der Hirnrinde dar: stellen, als Dauermarkierung der beim Geradeausbliek subjektiv erfal3ten Bildmitte, so d/irf~e sie naeh Schlhl3 der Augen gar keine Bewegungen mehr ausftihren, sondern miig~e bis zum ErlSsehen die eingepr~gte Rich- tung ,,geradeaus" beibehalten. Tats~Lehlich abet folgt sie keiner der beiden MSgliehkeiten, sondern einem Mittelweg, d e r n u r damit erkl/~rt werden

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kann, daf~ das Netzhautbild bis zu seinem BewuStwerden in der Hirn- rinde noch eine UmgestMtung erf~hrt. Auf die genauen Bedingungen dieser Umarbeitung des Netzhautbildes einzugehen, w~re eine reizvolle sinnesphysiologische Aufgabe, die jedoch in das Grenzgebiet zwischen Physiologie, Neurologie und Ophthalmologie gehSrt und in diesem Rah- men nicht weiter verfolgt werden kann.

Es ist jedoch an dieser Stelle notwendig, darauf hinzuweisen, dab die Erforschung genauer Einzelheiten des labyrinth/s Nystagmus mit Hilfe yon Leuchtlinien als nieht exakte Methode nur mit Vorbehalten und Einsehr/inkungen mSglich is$. Diese sonst sehr elegante Methode, die insbesondere sehr schSne Selbstbeobaehtungen ermSglicht, wurde in den letzten. Jahren sehr bevorzugt (DITTLEH, FIS0H~, RUETE, WITTMAACK).

Einen weiteren eindeutigen Beweis fiir die Umformung des Netzhaut- brides in der Hirnrinde liefern die Seheinbewegungen nach Alkohol- intoxikation. Ws Scheindrehungen, Doppeltsehen usw. noeh irgend- wie mit reinen Stellungs/~nderungen der Bulbi erkl~rt werden kSnnten, ist dies fiir Versehiebungen und Verzerrungen einzelner Gesiehtsfeld- absehnitte nieh~ mehr mSglich. WILHELm BUSCH hat die wellenfSrmige Verziehung des Bodens und die optisch dadurch ausgelSsten Gleieh- gewichtsstSrungen in geradezu klassiseher Weise geschildert und wird aueh yon GtYTTIC~ in seinem ohrphysiologisehen Werk ausfiihrtich zitiert.

Aueh eine dritte Beobachtung sprieht in ~hnliehem Sinn: Bewegt man bei extremem Reehtsbliek den Kopf langsam nach links,so versehwimmt das Bliekfeld wie bei einer rasehen Drehung oder bei knapp vor den Augen vorbeiziehenden Gegenst/s (Eisenbahndamm). Gleichzeitig aber hat man das leiehte Gefiihl einer Scheindrehung der Umgebung naeh rechts, entgegen der Kopfbewegung. Beim Bliek geradeaus und gleieh- sehne]ler, winkelgleieher Kopfdrehung tritt diese Erscheinung nieht auf, selbst wenn man sieh bemiiht, die Augen dabei mSglichsb unver/indert geradeaus blicken zu lassen, etwa an einem vorgehaltenen Finger vorbei; dann kommt es zwar zu einem Verwisehen der Bliekobjekte, aber nieht zu der Sensation einer angedeuteten Seheindi'ehung. Aueh dieses Ph/ino- men kann nur dureh eine zentrale Umdeutung des Netzhautbildes erklKrt werden, das ja in beiden Versuehen das gleiche sein muB. Vielleicht sind es Einflfisse der Augenmuskelinnervation, die bier eine Rolle spielen kSnnten.

In der Physiologie des Sehorgans werden noeh zahlreiehe Sehein- bewegungen, wit ,,Punktewandern" usw. besehrieben, die in diesem Zusammenhang jedoeh yon geringerem Interesse sind und vielleicht andere DeutungsmSgliehkeiten zulassen.

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In diesem Zusammenhang ist es aueh erw~hnenswert, da[3 das normale Blickfeld dureh extreme seitliehe Augenbewegungen gar nicht so wesent- lich erweitert werden kann, wie man sich leicht iiberzeugen kann. Das scheint an sich aueh gar nicht iiberraschend, da das normale, ruhende Gesiehtsfeld schon gegen 200 ~ also mehr als die Hglfte des Umkreises erfaftt. Durch die Augenbewegungen wird anscheinend im wesentliehen eine Seharfeinstellung, Verdeutliehung einzelner Blickfeldabschnitte er- reicht, w~hrend die Blickfelderweiterung in den l~andbezirken ganz un- bedeutend ist. Dies scheint aueh dafiir zu sprechen, dab das eigentliche, zentrale Bliekfeld haupts~ehlieh dureh die Kopfstellung bestimmt ist und durch die Augenbewegungen ~hnlich wie dutch einen Scheinwerfer abgetastet wird. Auch diese 1Jberlegung w~re ein Argument gegen die Annahme einer absoluten Identit~t yon Netzhautbild und zentralem Bliekfeld.

Wie gesagt kann trotz allen Interesses an diesen Vorgangen an dieser Stelle nur die Feststellung yon Bedeutung sein, daft das Netzhautbild bis zu seinem Bewufitwerden bestimmten Umarbeitungen, Umdeutungen unter- liegt. Die Abhiingigkeit der postrotatorischen Scheindrehungen yon den Oto- lithen beweist, daft dieses Sinneorgsan bei der Blick/eldverarbeitung eine wichtige Rol[e spielt und diese genauer herauszuarbeiten sell nunmehr versueht werden.

Dabei kann ein interessantes Versuehsergebnis entscheidend mit- �9 helfen. Der bekannte AIIBERTsche Spiegelversueh beweist, dal3 sich das Drehgefiihl bei entspreehenden optischen Bedingungen ohne weiteres umkehren l~l~t, bei tats~ehlieher Reehtsdrehung und Blick in den Spiegel also das Gefiihl einer Eigendrehung nach links auftri t t und umgekehrt. Fiihrt man diesen Versuch aber als Dauerdrehung fort, so t r i t t zwar wie iiblich Nausea auf, die erwartete Scheindrehung der Umgebung aber bleibt aus; man empfindet die allerdings umgekehrt erscheinende Drehung immer ihrem tats~tchlichen Ausmal~ und ihrer Geschwindigkeit entsprechend. Fiihrt man die Drehung ohne Spiegel bis zum Entstehen einer heftigen Seheindrehung naeh links dureh, die natiirlieh aueh nach Anhalten der Rotat ion sieh wie gew6hnlieh mit der gleiehen subjektiven Geschwindigkeit fortsetzt, so h6rt diese Scheindrehung bei einem Blick in einen Spiegel schlagartig auf! Der Versuch ftihrt zu 2 wichtigen Er- kenntnissen: 1. Seheindrehungen sind im Gegensatz zu realen Drehungen durch Spiegelwirkung nicht umkdhrbar, 2. ihre Entstehung ist yon einer tats~tchliehen Versehiebung des Netzhautbildes in die gleiche Richtung abh~ngig.

Der erste dieser Sehliisse ist gleiehzeitig ein weiteres Argument dafiir, dal3 Scheindrehungen nieht alleinige Folge rein optisch~phySikaliseher Vorg~nge (z. B. Bildversehiebung durch ~Tystagmus) sein kSnnen, da sie

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ja sonst wie jede andere optische Erscheinung durch Spiegelwirkung seitenverkehrt werden mtiBten.

Aus dem zweiten SchluB 1/il3t sich eine weitere Bestgtigung fiir die an anderer Stelle ausfiihrlich begrtindete Annahme gewinnen, daB aus- schlieBlich StrSmungsvorgiinge in den Vorhofs/~ckchen und nicht die ZentrifugMkraft die guslSsende Reizursache bei der Entstehung der Scheindrehungen bilden: Nur ein richtungsbestimmter Otolithenreiz kann diesen Spiegelversuch erkl~ren und niemals etwa eine Mlgemeine Erregungssteigerung des Vorhofsorgans durch nicht richtungsbestimmte Dauerkrgfte, da die einfache Umkehrung der Bildverschiebung ~uf der Netzhaut dann die Entstehung der Scheindrehung niemals verhindern k6nnte. Von den dabei in Betracht kommenden Dauerkr~ften sind aber nur die Endolymphstr6mungen richtungsbestimmt, w~hrend die Wir- kung der Zentrifugalkraft bei jeder Drehrichtung vSllig gleichartig ist.

Das Moment bildet aul3erdem einen weiteren Beweis fiir die Richtig- keit der Feststellung, dab nur gerichtete Ablenkung der ~aculae und niemals einfacher Druck den ad~quaten Reiz bilden kann, da bei An- nahme einer blogen Druekwirkung die Otolithenorgane beider Seiten im Drehversueh vollkommen symmetriseh gereizt wfirden und das Ergebnis des Spiegelversuchs ungekl~rt bleiben mfiBte.

Die Untersuehung aller Gelegenheiten und Phasen der Schein- drehungen best~ttigt die Feststellung, daB eine Blickfeldverschiebung im Drehungssinn dabei immer vorhanden sein mug. Diese Versehiebung des Netzhautbildes kann auf versehiedene Weise erfolgen: Dureh tats~chliehe Eigendrehung (Seheindrehung w~hrend der Rotation), aber auch dureh gleiehgeriehteten Nystagmus, der ebenfalls eine Bildversehiebung auf der Netzhaut entgegengesetzt der Richtung seiner langsamen Komponente maeht (Seheindrehung naeh der Rotation).

Die sch6nste Best/itigung finder diese Feststellung durch das Ergebnis des erweiterten PV'RKI~JEsehen Versuehs, der an anderer Stelle ausftihrlich dargestellt wurde: Dreht man sich nach 1/ingerer Rechtsdrehung sofort anschliel3end naeh links, so verschwindet sehlagartig jede Scheindrehung. Die Gegendrehung muB allerdings mit einer gewissen Geschwindigkeit erfolgen, damit die reale Bildverschiebung durch diese Gegendrehung die entgegengesetzt arbeitende durch den versti~rkten Nystagmus (rotatorischer 4- postrotatorischer Nystagmus nachlinks) tiberwiegen kann.

Der Nystagmus ist, wie noch einmal betont werden soll, nur eine von verschiedenen M6glichkeiten der Bildverschiebung auf der Netzhaut und damit unter gewissen Bedingungen ein Hilfsfaktor bei der Entstehung von Scheindrehungen, aber durchaus nicht eine immer notwendige Voraussetzung. Wenn die tatsEchliche Bildverschiebung durch die Drehung die durch den Nystagmus bedingte iiberwiegt, kann Schein-

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drehung auch bei Nystagmus entgegengesetzter l~ichtung auftreten (z. B. w~hrend einer Rotation). Der ~ul]erst lose Zusammenhang zwischen Nystagmus und Scheindrehung geht aueh aus dem h~ufigen Vorkommen yon Nystagmus ohne jede Scheindrehung hervor (Fistelsymptom, In- kongruenz bei Calorisierung usw.), woriiber ebenfalls an anderer Stelle ausfiihrlich referiert wurde. Aueh die Tatsache, da{~ die Seheindrehungen nicht das ganze Blickfeld gleiehm~Big erfassen, sondern in den nach der Richtung der Seheindrehung gelegenen Absehnitten wesentlich lebhafter sind, beweist, da[t es sich dabei nieht urn einfaehe optisehe Versehiebungen des Blickfeldes handeln kann, die man vielleicht yore Nystagmus allein ab- leiten kSnnte, sondern um eine zentrale Umarbeitung des Netzhautbildes.

Die Bliekfeldverschiebung ist abet ihrerseits nur eine der Bedingungen fiir das Entstehen der Scheindrehungen. Sie mu[~ dabei vor ahem gleich- m ~ i g vor sich gehen, mit einem Verschwimmen des Netzhautbildes, wie dies nach dem frfiher Gesagten etwa durch Ausschaltung der kompen- satorischen Augenbewegung (des Bogengangsapparates) erfolgen kann: Durch extremen Seitenbliek oder durch physikalische Ausschaltung w~hrend einer Rotation (AufhSren der Endo]ymphstrSmungen durch Kapillarwirkung); vielleicht spielen auch Einfliisse der Augenmuskel- nerven dabei eine Rolle (angedeutete Scheindrehung bei Kopfwendung mit extremem Seitenbliek, nicht aber bei Blick geradeaus).

Der wichtigste Faktor zum Zustandekommen der Scheindrehung ist abet zweifellos der Otolithenapparat, das einzige Organ, das durch Dauer- drehung physikalisch gereizt werden und somit auch die quantitativen Untersehiede der Scheindrehungen erkl~ren kann. Dal3 z. B. die Blut- verteilung im Gehirn dabei nicht mai]gebend sein kann, geht aus der ein- fachen Tatsache hervor, dal~ bei wesentlich grSl~erer Zentrifugalkraft durch die allein eine abnorme Blutverteilung bedingt sein kann, keine Seheindrehung auftritt (Karussell).

Die bisherigen Deduktionen ergeben somit die folgenden wichtigen Schliisse :

1: Scheindrehungen sind nicht ein/ache Verschiebungen des Netzhaat- bildes, sondern das Ergebnis einer bestimmten Um]ormung des zentralen Bliclc/eldes.

2. Der wichtigste Falctor bei ihrem Zustande]commen ist ein i~berm~iffiger Otolithenreizzustand, der durch abnorme Endolymphstr6mungen bedingt und richtungsbestimmt ist.

3. Unerldfflich liar ihr Au/treten, abet durchaus nicht die einzige Be- dingung, ist eine tatsiichliche, gleichmiiffige Verschiebung des Netzhautbildes, die kongruent mit der Richtung des Otolithenreizes eriolgen muff. Sie lcann durch tatsiichliche Kopidrehung oder auch dutch entsprechend gerichteten Nystagmus gegeben sein.

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Der Otoli thenapparat hat also unter i iberm~igen Reizverh~tltnissen einen entscheidenden Einflul~ auf die zentrale Umformung des Blick- feldes, die sich in einer ebenso abnormalen Scheindrehung zu erkennen gibt. Unter physiologischen, im Unterbewul~tsein ablaufenden t~edin- gungen mul~ ihm daher ein ebenso unbewuB~ bleibender, physiologischer Einflu6 auf die endgiiltige Gestaltung des inneren Bliekfeldes zukommen, der sich - - genau so wie die kompensatorisehe Augenbewegung aus dem Nystagmus - - mit Hilfe einer Proport ion geradezu mathematiseh be- rechnen lassen muB : x : normalen Otolithenreiz = Scheindrehung: patho- logischen Dauerstr6mungsreiz. Der l~eizsummation durch die lange Dauer der Drehung entsprich~ die verst~rkte subjektive Gegendrehung, die als Scheindrehung der Umgebung imponiert. Einem normalen Dreh- reiz kann daher nur eine ebenso schnelle Gegendrehung der Umgebung entsprechen. Das aber bedeutet nichts anderes, als da~ der Otolithen- apparat die gesehenen Gegenst~nde bei einer K6rperdrehung fiir das t~ewul~tsein an ihrem tatsgchlichen Platz fixiert und dadurch die Vor- t~uschung einer Drehung der Umgebung verhinderL Durch diese

F i x i e r u n g der Umgebungspunkte im Raum ist dann die tatsgchliche Eigendrehung erst sekund~tr gegeben.

DaG unter physiologischen t~edingungen Str6mungen als Ursache der Otolithenerregungen nicht in Frage kommen k6nnen, wurde in 2 voran- gegangenen Mitteilungen ausffihrlich dargeleg~. Dabei wurde auf die Verwandtschaft der physiologischen ,,Drehremanenz" mit der patho- logischen Str6mungsauswirkung hingewiesen. Unter alien an den Oto- lithen angreifenden Kr~ften sind sich diese beiden in der Einwirkungs- richtung am ~hnlichsten, so dab es ohne weiteres mSglich ist, durch ein- fache quantitative l~eduktion der unter pa~hologischen Verh~tltnissen auftre~enden Reaktionen Schliisse auf die physiologischen Verh~ltnisse zu ziehen und die angese~z~e Proportion durchaus zu Recht besteht.

Was nun fiir Drehbewegungen gil~, mul~ auch ffir Lage~nderungen in entsprechendem Sinn Geltung haben. Das Aufrechtstehen des Blickfeldes ist durchaus keine Selbstverstandlichkeit. Das beweist die C'berlegung, dal~ noch so sichere , ,Erfahrungstatsachen" durch einen entsprechenden pathologischen Reiz auch entgegen dem wachen Bewul~tsein umgeworfen werden k6nnen. Ein Beispiel ist dafiir die alte MAcg-BR~uE~sche Be- obachtung, daG man in der Eisenbahn beim Durehfahren einer iiber- h6hten Kurve das Gefiihl hat, als stehe man selbst gerade, w~hrend die Umgebung nach auf3en hin geneigt erscheint, Aueh bei der Alk0hol- intoxikation kann trotz roll erhaltener Kritikfahigkeit das Schwanken des t~lickfeldes nicht verstandesmg~ig korrigiert werden.

Die Frage des optischen Raumes wnrde hauptsachlich yon Physi- ologen eingehend diskutiert. TSCKEt~MAK spricht sich gegen die Annahme

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einer Labyrinthogenie der VertikMempfindung aus und gegen die Annahme eines labyrinthgren Ursprungs des subjektiven l~aumes iiberhaupt. Ngch seiner Ansicht k6nnen Gravizeptoren die Vertikalempfindung .h6chstens beeinflussen, nieht aber begriinden. Auch Menschen mi~ zerstSrten Laby- rinthen h~ttenraumliche Vorstellungen undpr~zise optische Orientierung.

TSCKE~AK gibt 3 Gruppen yon Theorien fiir die Erkl~rung des optischen Raumes bei ruhendem Auge an, die alle mehr oder weniger gliicklich dieses Phanomen zu deuten suchen: 1. Die Projektionstheorie, 2. die Theorie der sensorischen Lokalzeiehen und 3. die okulomotorischen LokMisationstheorien. Far das bewegte Auge (das in diesem Zusammen- hang Mlein interessieren kann) kiime jedoch eigentlich nur die Theorie yon des Stabilitgt rgumlieher optischer Eindriicke dutch das Wandern des Aufmerksamkeit (H~R~cG) in Frage.

TSClZfERMAKS Argumentationen sind jedoeh uicht ohne weiteres hin- zunehmen. Die Orientierungsm6glichkeit Labyrin~,hloser ist kein gtiltiger Beweis fiir seine Ansicht, denn 1. sind die Labyrinthe, wie er selbst betont, nicht die einzigen Gravizeptoren, da Lage~nderungen auch den kin~tsthetischen ~uskelsinn beeinflussen, und 2. sind bei vielen Sinnes- Teilfunktionen Kompensationsm6gtichkeiten ftir den Fall der Aus- schaltung des ttauptmeehanismus geschaffen; beim Mensehen sind diese vet allem dutch das weitentwickelte Zentralnervensystem gegeben. Nie- mand bezweifelt den binokularen Mechanismus des stereoskopisehen Sehens und wenn Einaugige in {~berschneidung der Linien, perspek- eivischer VerkMnerung, Akkomodation, E rfahrung usw. einen in den meisten F~tllen immerhin brauchbaren Ersatz fiir den verlorengegangenen Haup~raechanismus haben, so gndert das niches an seines Dominanz beim Gesunden. Auch am Gleichgewicht selbst, an dessen Zusammen- hang mit den Labyrinthen niemand zweifelt, ist der Vestibularis nicht allein beteiligt und auch hies sind bei seinem Ausfall Kompensations- m6gliehkeieen gegeben.

Die Vorstellung, dab ein Sinnesorgan eine anderweitig schon gegebene Wahrnehmung nur im Falle eines iibermgl~igen Reizes ins Pathologische zu verzerren haste, ohne dab diesem Organ &uch bei physiologischen Reizverh/*ltnissen ein wesentlicher EinftuB auf dieses andere 8innesorgan zukommen sollte, ist absurd. Ob dabei des inhere Vorseellungsbegriff des dreidimensionalen Raumes ~ngeboren, durch Erfahrung erworben oder irgendwie sinnesfunktionell mitbedingt ist, is{ eine Frage, die schon auf philosophisches Gebiet iiberleieet und mit der Fixierung einer einmal ge- gebenen ganmvorseellung durch die O~olithenwirkung niches zu tun hat.

Die /~tiekfiihrung einer so fundamentalen Einzelheit, wie die Kon- seanz des optischen Raumbildes bei ]~lickbewegungen auf rein psycho- logische Faktoren, wie die Aufmerksamkeit, ist gugerst gewagt und un- wahrscheinlich. Ob man sieh mit gespannter Aufmerksamkeit oder vNlig

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gedankenlos einen neuen Bliekpunkt sucht (z. B. beim Lesen), spielt ffir die Konstanz des AuBenraumes nieht die geringste l~olle. Der labyrinth~re Nystagmus muB durehaus nicht immer mit Scheindrehungen verbunden sein und hier erfolgt die Verschiebung des Netzhautbildes nieht durch die Aufmerksamkeit, sondern geradezu entgegen der Aufmerksamkeit!

Es muB somit an dem entseheidenden Einflu{3 der Otolithenorgane auf die Konstanz des optisehen l~aumbildes festgehalten werden, wie er sieh a us den vorstehenden ~berlegungen und Versuehen folgeriehtig ab- leiten tiiBt, Die Otolithen beziehen ihre T~tigkeit wie jedes andere Sinnes- organ primer auf die Umgebung und in der l%egel wird erst sekund~r aus der Aufrechtstellung und Unbeweglichkeit des optisehen Bildes die eigene KSrperlage- und Bewegung abgeleitet. Der optisehe Weg der Erfassung der eigenen KSrperbewegungen ist tier physiologisehe und wesentlich deutliehere; unter unphysiologisch-experimentellen Bedingungen kann dutch ihn das Drehgeffihl umgekehrt werden (Spiegelversuch), w~hrend die Wirkung des Otolithenapparates sogar bei fibermiiBigem Reizzustand vom Auge fiberdeekt werden kann. Dementspreehend ist anch das Eigen- drehgeffihl bei gesehlossenen Augen nur ein unter normalen VerhMtnissen gar nicht benStigter Hilfsmechanismus.

Man kSnnte daher das Vorho/ssinnesorgan in erster Linie als ein optisches Korrelctionssystem au]/assen, als eine Art Kompa[3einrichtung ]i~r den optischen Vorstellungsraum, einen Regulator/i~r das sub]ektive, zentrale Blick/eld, iihnlich wie die Bogenggnge die Konstanz des ,,gufieren" Blick- /eldes, des Netzhautbildes gewi~hrleisten. Die bisher /ast eiuzig anerlcannte Gleichgewichts/unktion wgre damit lediglieh als Komponente auf dem Wege zu dieser Leistung anzusehen, als Rest]unktion nach unphysiologiseher A us- schaltung des Gesichtssinnes.

Wegen der OberdeekungsmSglichkeit der Otolithenwirkung dureh die viel st~rkeren optischen Reize und infolge der weitgehenden Korrek- tionsmSgliehkeit yon Ausf~llen durch das enorm entwickelte menschliche Zentralnervensystem, vie]leicht aueh wegen der geringen Beachtung, die im VergIeich zu objektiven Zeiehen wie Nystagmus, Fallneigung usw. der genaueren Analyse der subjektiven Besehwerden ffir gewShnlieh ge- schenkt wird, finder man in der Literatur selten ausffihrliche Besehrei- bungen schwererer StSrungen naeh doppelseitigem Ausfall der Otolithen- organe. In diesem Zusammenhang ist aber ein Bericht DA~DYS (zitiert nach GfJTTICH) fiber eine Reihe yon vestibularisgeschiidigten Patienten interessant, bei denen sich das Raumbild subjektiv sti~ndig drehte; die Patienten gewShnten sich allerdings rasch an diesen Zustand.

Ein abschlie]3ender (/berblick fiber die Funktionen des Innenohres, der sich auf,eine Reihe vorhergehender ~itteilungen stiitzt, ergibt ein

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abgerundetes, jedoch in mancher Hinsicht andersartiges Bild, als es die Lehrmeinungen in den letzten Jahrzehnten vertreten haben.

Das Innenohr hat beim Menschen mit seinen 3 Hauptabschnitten im wesenttichen eine Doppelfunktion, ni~mlich Schallperzeption und Blick- feldregulation. Die Schnecke ist das schallanalysierende Teilorgan, das nach einem Schallbildprinzip arbeitet mit charakteristischen Schwin- gungen grSl~erer Abschnitte der Basilarmembran bei jedem Ton. Den Bogeng~ngen mit den Cristae obliegt die Schallrichtungsbestimmung in Form einer unmittelbaren ttSrfunktion. Das Bogengangssystem hat eine zweite Aufgabe zu erffillen, n~mlich durch die kompensatorische Augen- bewegungen die Unabh~ngigkeit des Netzhautbildes yon Kopfbewegun- gen zu gew~hrleisten und damit ein ,,Verschwimmen" des Blickfeldes zu verhindern (die pathologisehe Steigerung dieses ~echanismus ergibt den labyrinth~ren Nystagmus). Die MSglichkeit einer solchen Doppelfunktion des Bogengangsapparates wird gew~hrleistet durch das endolymphatische System, welches den Str5mungsreiz dem Schallreiz grS~enma6ig anpa~t und aul~erdem die fibrigen Teilorgane vor stSrenden StrSmungseinwir- kungen schfitzt. Das Vorhofsorgan mit den beiden Maculae vollffihrt den zweiten Teil der optischen Regulationsfunktion und gew~hrleistet die Konstanz des zentralen Blickfeldes im Raum, aus welcher normalerweise erst sekund~r, wie aus einer Kompa6nadel, die eigene KSrperlage und -Bewegung abgeleitet wird. Als Restfunktion hilft es, diese Lageempfin- dungen auch bei unphysiologischer Ausschaltung des Gesichtssinnes zu vermitteln. (Die pathologische Steigerung dieses Mechanismus ergibt Scheinbewegungen und Nausea.) Die Sinneszellen aller 3 Teilorgane im Innenohr arbeiten nach dem Prinzip yon Bewegungsempf~ngern, werden also durch blo6en Druck nicht adi~quat gereizt.

Der ganze I)roblemenkomplex des zentralen Gesichtsfeldes, seiner Koordination und deren StSrung, der Scheindrehungen, Leuchtlinien usw. ist sieher noch nicht restlos gelSst und damit ist natiirlich auch fiber das Otolithenproblem noeh nicht das letzte Wort gesprochen. Vielleieht sind die vorliegenden Untersuchungen imstande, einen kleinen Beitrag zur Anregung der weiteren Forsehungen zu geben, die doeh gerade auf diesem Spezialgebiet seit Jahren etwas ins Stocken geraten sind.

Zusammenfassung.

Die Erfassungen yon Lage/~nderungen und Progressivbeschleuni- gungen kOnnen als rage und zum Teil sogar fiberflfissige Empfindungen die Existenz des Otolithenapparates nicht begrfinden, Einen Weg zur Kl~rung der Funktion dieses Sinnesorganes weist die Analyse postrotatorischer Scheindrehungen, die von den Otolithen abgeleitet werden mfissen.

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Da das Auge als Kamera an Grundeigensch~ften lebender Zellen ge: bunden ist, mtissen Einrichtungen zum Ausgleich gewisser aus physio- logischen Griinden unvermeidbarer Nachteile bestehen. Die begrenzte M6glichkeit der Erfassung rasch wechselnder Bilder wtirde bei jeder Kopfbewegung zu einem Verschwimmen des Gesichtsfeldes ftihren, wenn nicht der Bogengangsapparat dutch kompensatorische Augenbewegungen die Konstanz des Netzhautbfldes und die MSglichkeit physiologischer, ruckartiger Augenbewegungen auch bei Kopfdrehungen gew~hrleisten wiirde. Das endgiiltige, zentrale Eliclc/eld erweist sich nun bei genauer Unter- suchung als durchaus nicht identisch mit dem nach ein/achen optischen Prinzipien /estgelegten 2Vetzhautbild, sondern stellt das Produkt gewisser Umformungen dar. D~ftir sprechen deutlich Experimente mit:Leucht- linien, Gesichtsfeldschwankungen bei Alkoholintoxikation, angedeutete Scheindrehungen bei langsamer Kopfdrehung init extrem seitlich gestellten Augen, sowie Folgerungen aus der Tatsache der auff~llig geringen Blickfelderweiterung durch die Augenbewegungen, Als eine ~hnliche, unter abnormen VerhEltnissen stattfindende Um- arbeitung mug die postrotatorische Scheindrehung der Umgebung angesehen werden.

W~Lhrend nun Drehungen in normalem AusmaB durch Spiegelwirkung ohne weiteres ulngekehrt werden k6nnen, gilt dies nicht ffir Schein- drehungen, die bei Blick in einen Spiegel nicht etwa ihre Richtung ~ndern, sondern einfach schlagartig aufh6ren. Otolithenreiz Und tatsi~chliche Netz- hautbildverschiebung miissen demnach gleichgerichtet se~n, um gemeinsam eine Scheindrehung entstehen zu lassen. Die Richtigkeit dieser Grund- bedingungen fiir das Auftreten yon Scheindrehungen der Umgebung l~tBt sich dutch verschiedene Experimente und Uberlegungen weiter erh~rten. Gleichm~Bige Verschiebungen des Netzhautbildes kSnnen durch tat- s~Lchliche Drehungen oder auch durch entsprechend gerichteten Nyst~g- mus gegeben sein, Nystagmus ist jedoeh ftir die Scheindrehungen nicht unbedingt notwendig.

Durch Reduktion dieser extrem-experimentellen Ergebnisse aufphysio- logische Bedingungen l~Bt sich erkennen, daft die Hauptau/gabe der Oto- lithenorgane in einer Einordnung des zentralen, endgiiltigen Bliclc[eldes in den Vorstellungsraum zu suchen ist. Aus seiner Aufrechtstellung und Un- beweglichkeit, der 13bereinstimmung mit der realen Umgebung, wird dann normalerweise erst sekundEr, ~hnlich wie von einer KompaBnadel, die eigene L~ge bzw. BeCvegung abgeleitet. Der Wirkungsmechanismus des Vorhoforgans ist demnach Wie bei allen Sinnesorg~nen primer auf die Umwelt gerichtet und seinem Charakter nach im wesentlichen eine opt~sche Regulations]unlction, aus der sich erst sel~undiir eine unterstiitzende Gleichgewichts[unktion ergibt.

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Auf folgende eigene Arbei ten wurde zurfickgegriffen: , , l)ber das Kraftespiel an den Otoli then", Arch. Ohr- usw. Heilk. 169, 377 (1951). - - , ,~ber die schnelle Komponente des lab. Nystagmus" , Arch. Ohr- usw. tIeilk. 157, 485 (1951). - - , ,~ber die physiolog. Grundlagen des lab. Nyst ." , Arch. Ohr- usw. Heilk. 157, 581 (1951). - - , ,~oer die l~eizauslSsg, a. d. Sinnesendstellen im Lab." , Msehr. Ohren- heilk. (im Druck). - - , ,~ber das Erkennen der Schallr iehtung", Arch. Ohr- usw. Heilk. 157, 301 (1950). - - , ,~ber die Bedeutung des endolymph. Systems", Mschr. Ohrenheilk. 85, 167 (1951). - - , ,Gedanken zu einer Schallbildtheorie d. HSrens", Mschr. Ohrenheilk. (ira Druek). - - , ,Uber das Problem der Knochenle i tung" , Acta oto-laryng. (Stockh.) 38, 3 (1950).

Dr. MAx KRAUS, Graz, Univ. Hals-Nasen-Ohren-K]inik.