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Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle SUST Service suisse d’enquête de sécurité SESE Servizio svizzero d’inchiesta d’inchiesta di sicurezza SISI Swiss Transportation Safety investigation Board STSB Bereich Bahnen und Schiffe Monbijoustrasse 51A, 3003 Bern Tel.: +41 58 462 54 30, Fax +41 58 463 00 76 [email protected] www.sust.admin.ch Schlussbericht der Schweizerischen Sicherheits- untersuchungsstelle SUST über die Entgleisung einer Rangier- fahrt vom Mittwoch, 18. September 2013 in Zürich Vorbahnhof (ZH) Reg.-Nr.: 2013091801

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Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle SUST Service suisse d’enquête de sécurité SESE Servizio svizzero d’inchiesta d’inchiesta di sicurezza SISI Swiss Transportation Safety investigation Board STSB Bereich Bahnen und Schiffe

Monbijoustrasse 51A, 3003 Bern Tel.: +41 58 462 54 30, Fax +41 58 463 00 76 [email protected] www.sust.admin.ch

Schlussbericht

der Schweizerischen Sicherheits-

untersuchungsstelle SUST

über die Entgleisung einer Rangier-

fahrt vom Mittwoch, 18. September 2013 in Zürich Vorbahnhof (ZH) Reg.-Nr.: 2013091801

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Allgemeine Hinweise zu diesem Bericht

Dieser Bericht wurde ausschliesslich zum Zweck der Verhütung von Unfällen und schweren Vorfällen beim Betrieb von Eisenbahnen, Seilbahnen und Schiffen erstellt. Gemäss Artikel 15 des Eisenbahngesetzes (EBG, SR 742.101) sind Schuld und Haftung nicht Gegenstand der Untersuchung.

Es ist daher auch nicht Zweck dieses Berichts, Schuld- und Haftungsfragen zu klären.

0 Zusammenfassung 0.1 Kurzdarstellung

Am Mittwoch, 18. September 2013, um ca. 12:45 Uhr, entgleiste in Zürich Vorbahn-hof bei einer geschobenen Rangierbewegung von der Gleisgruppe O nach der A-Gruppe auf der doppelten Kreuzungsweiche (DKW) 307 die Lok Re 421 371-6 mit allen vier Achsen. Die Rangierbewegung bestand aus der Lok mit sechs Wagen. Es wurde niemand verletzt.

0.2 Untersuchung

Die Meldung traf um 13:05 Uhr ein. Die Untersuchung wurde am gleichen Tag durch die damalige Schweizerische Unfalluntersuchungsstelle SUST eingeleitet.

Am 19. sowie am 30. September 2013 wurde die entgleiste Lok im Reparaturcenter der SBB in Zürich-Altstetten über der Gleisgrube durch die SUST untersucht. Nach dieser Untersuchung wurde die Lok für die Reparatur in das Industriewerk Bel-linzona (IW Bel) überführt.

0.3 Ursachen

Die Entgleisung ist darauf zurückzuführen, dass beim Befahren der DKW 307 das erste Rad der Lok Re 421 371-6 auf die Schiene aufgeklettert ist und in der Folge alle Achsen der Lok entgleist sind. Das Aufklettern des Rads bei der DKW 307 ist auf ein Zusammenwirken folgender ungünstiger Faktoren zurückzuführen: Die nicht korrekte Vorspannung der Tiefzuganlenkung, die einseitige Seiten-

kräfte an den Drehgestellen verursachte. Der Geometriefehler an den Spurkränzen der Räder (1/3 rechts und 5/7 links)

der Lok Re 421 371-6. Die wegen nicht funktionsfähiger Spurkranzschmieranlage trockenen Spur-

kränze. Die nicht korrekt anliegende Weichenzunge LR (Seite Bern) sowie ein verschlis-

senes Zungenprofil RL (Seite Zürich) bei der DKW 307 und die kurz vor den Weichenzungen angebrachten, lockeren Rippenplatten.

0.4 Sicherheitsempfehlung

Keine.

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1 Festgestellte Tatsachen 1.1 Vorgeschichte

Am Mittwoch, 18. September 2013, nach Ankunft des EC-Zuges 196 in Zürich PB, wurde die Lok Re 421 371-6 mit den sechs angehängten Wagen vom Gleis A13 ins Gleis O5 zurückgestellt. Dort wurden die Wagen von der Lok umfahren und wieder zusammengekuppelt. Anschliessend wurde eine Rangierbremsprobe durchgeführt. Die Komposition stand dann auf dem Gleis O5 für eine geschobene Rangierfahrt nach der A-Gruppe bereit. Sie war für den Zug 195 nach München vorgesehen. Die Rangierfahrten wurden durch einen Rangierleiter begleitet.

1.2 Ablauf des Ereignisses

Der Rangierleiter befand sich bei der Wegfahrt auf dem ersten Wagen (W1) Rich-tung Bahnhof. Als die Rangierfahrstrasse eingestellt war, gab er dem Lokführer den Befehl „Zug 195 rückwärts“ und schaltete die Verbindungskontrolle ein. Der Lokführer fuhr rückwärts vom Gleis O5 in Richtung der A-Gruppe los. Die sechs geschobenen Wagen passierten die DKW 307 problemlos. Als die Lok Re 421 371-6 über die DKW 307 fuhr, bemerkte der Lokführer, dass sie plötzlich stark rumpelte. In der Folge entgleiste die Lok mit allen vier Achsen. Die Lokomotive kam 38 m nach der DKW 307 auf der Höhe des Dienstgebäudes Langstrasse zum Stillstand.

Abbildung 1: Gleisanlage Zürich Vorbahnhof (Quelle: SBB Infrastruktur; Ergänzungen SUST). Der rote Pfeil stellt die Fahrrichtung dar.

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Abbildung 2: Entgleiste Lok, blauer Pfeil in Fahrtrichtung der Rangierbewegung (Quelle: SUST). 1.3 Personenschäden

Keine

1.4 Sachschaden an der Infrastruktur

Die Holzschwellen wurden zwischen der DKW 307 und der Endposition der Lok be-schädigt. Ein Zwergsignal wurde ebenfalls beschädigt.

1.5 Sachschäden am Rollmaterial

Lok Re 421 371-6 An der entgleisten Lok entstanden folgende Entgleisungsschäden: Der Schienenräumer, der Getriebekasten sowie die Sanderrohre wurden beschä-digt. Das Bremsgestänge wurde verbogen.

1.6 Beteiligte Personen 1.6.1 Bahnpersonal

1.6.1.1 Lokführer SBB

Jahrgang 1954; BAV-Ausweis vorhanden.

1.6.1.2 Rangierleiter SBB

Jahrgang 1965; BAV-Ausweis vorhanden. 1.7 Schienenfahrzeuge

Lokomotive Eigentümer: SBB Cargo, vermietet an SBB Personenverkehr

Lok: Re 421 371-6

Letzter P2-Unterhalt: 08.08.2013

Letzte Revision R2: 10.06.2013

km seit letzter R2: 43 249

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Wagen

Eigentümer: SBB Personenverkehr

2 Wagen 1. Klasse (Apm 61)

1 Restaurantwagen (WRm)

3 Wagen 2. Klasse (Bpm 61)

Alle Wagen waren an der Hauptluftleitung angeschlossen.

1.8 Feststellungen an den Schienenfahrzeugen 1.8.1 Lok Re 421 371-6

Die visuelle Kontrolle durch die SUST an der entgleisten Lok Re 421 371-6 ergab Folgendes: Die Lok war mit allen vier Achsen entgleist. An der ersten Achse, in Fahrtrichtung, wurde am Rand der Bandage bei der

Entgleisung ein Span von einer Länge von ca. 40 cm abgetrennt. Die Lok war mit runden Puffern ausgerüstet. Die Puffer waren korrekt ge-

schmiert. Die Schraubenkupplung zwischen der Lok und dem ersten Wagen (Apm 61) war

korrekt gespannt.

1.8.2 Angehängte Wagen Die Pufferpaare des direkt vor der Lok gekuppelten Wagens (W6) Apm 61 85 1090 216-5 waren einseitig mit Kunststoffplatten ausgerüstet. Sie waren korrekt ge-schmiert. Die visuelle Kontrolle des Wagens Apm 61 85 1090 216-5 durch die SUST ergab keine Beanstandungen. Die übrigen Wagen wurden von der SUST nicht untersucht.

1.9 Wetter, Schienenzustand

Tag / bewölkt / Schienen trocken / Temperatur ca. 17° C.

1.10 Bahnsicherungssysteme 1.10.1 Doppelte Kreuzungsweiche DKW 307

Die DKW 307 (Anlage 2, Abbildungen 2–3) wurde im Jahr 2003 eingebaut. Auf drei Holzschwellen vor der Weichenzunge der DKW 307 waren die Schrauben der Rip-penplatte locker. Die Schrauben liessen sich von Hand herausschrauben (Anlage 3, Abbildung 5). Im Bereich der DKW 307 war keine Schraubenlochsanierungsaktion1 (SLS) durchgeführt worden. Eine laterale Verschiebung (ca. 1 cm) der Rippenplatte war auf der zweiten Holzschwelle vor der Weichenzunge sichtbar. Die Weichen-zunge lag nicht korrekt an der Stockschiene (Anlage 2, Abbildung 3) an. Im Juli 2012 waren zwei provisorische Spurhalter kurz vor der Weichenzunge 307 (D3) eingebaut worden (Anlage 3, Abbildung 4). Ein metallischer Span, der offensichtlich zur ersten Achse der Lok gehörte, wurde ca. 4 m nach der Weichenzunge auf der rechten Seite in Fahrrichtung gefunden.

1 Wiederherstellung eines festen Sitzes der Schwellenschrauben im Holz (Insert und hart-Resine).

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1.10.1.1 Periodische Kontrollen 1.10.1.1.1 Gleisgeometrie

Die letzte periodische Weichenkontrolle (Geometrie) wurde am 15. Juli 2013 durch-geführt und protokolliert. Bei dieser Kontrolle war die Durchgangsweite D3 (Anlage 4) leicht oberhalb der To-leranz (62 mm statt 60 mm) und die Leitweite L2 unterhalb der Toleranz (1389 mm statt 1391 mm).

1.10.1.1.2 Funktions- und Sicherheitskontrolle

Die letzte periodische Weichenkontrolle (Weichenantrieb und Verriegelung) wurde am 4. September 2013 durchgeführt und protokolliert. Bei der Sichtkontrolle der Zungenspitzen wurde festgestellt, dass die Weichenzun-gen „LL und RL“2 nicht korrekt an den Stockschienen anlagen. Im Prüfprotokoll wurde kein Auftrag mit Frist eingegeben, sondern die folgende Notiz „Klaffmass LL und RL pressen“ unter Bemerkung eingetragen. Die Kontrolle der Gleisgeometrie der DKW 307 wurde vom Team Fahrbahn und die Funktions- und Sicherheitskontrolle vom Team Sicherungsanlagen von SBB Infra-struktur durchgeführt.

1.10.1.2 Vermessung nach dem Unfall

Die DKW 307 wurde im Beisein der SUST durch die SBB statisch vermessen. Die Durchgangweite D3 wies einen Wert von 65 mm statt 60 mm auf. Die DKW 307 wurde als nicht entgleisungssicher beurteilt.

1.10.2 Sicherungssysteme Infrastruktur

Der Bahnhof Zürich Vorbahnhof ist mit einer Sicherungsanlage des Typs SIMIS-C mit gesicherten Rangierfahrstrassen und Zwergsignalen ausgerüstet. Das Stellwerkprotokoll (Notbedienungen) wurde ausgedruckt und der SUST zur Verfügung gestellt. Daraus geht hervor, dass nach der Einstellung der Fahrstrasse keine Notbedienung ausgelöst worden war.

1.10.3 Sicherungssysteme Fahrzeuge

Nicht relevant. 1.11 Fahrdatenschreiber

Die Lok ist mit einer elektronischen Geschwindigkeitsmessanlage „Hasler Teloc 2510“ ausgerüstet. Die Fahrdaten werden elektronisch aufgezeichnet. Sie wurden durch die Verkehrsunternehmung ausgelesen und durch die SUST ausgewertet. Die Auswertung der Fahrdaten ergab, dass der Lokführer mit einer Geschwindig-keit von 28 km/h gefahren war und sich somit an die vorgeschriebene Rangierge-schwindigkeit von maximal 30 km/h für diesen Gleisabschnitt gehalten hat.

2 „LL und RL“: Bezeichnung der Zunge auf dem Prüfprotokoll (Links-Links und Rechts-Links)

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1.12 Resultate aus den besonderen Untersuchungen 1.12.1 Lokuntersuchung im SBB-Reparaturcenter Zürich Altstetten

Bei dieser Untersuchung wurden folgende Tatsachen festgestellt:

Die Radsätze der Drehgehstelle (DG) 1 und 2 wiesen einen anormalen Spur-kranzverschleiss auf (Anlage 5, Abbildungen 6–7).

Die Spurkränze aller Räder waren trocken. Der Spurkranzschmierfettbehälter war noch fast voll. Bei einer manuellen Betätigung des elektropneumatischen Ventils zur Spur-

kranschmierung wurde kein Fett an den Spurkranz gespritzt. Jedoch konnte un-ter dem Lokkasten bei einem Luftschlauch vor dem Verteiler ein Luftverlust ent-deckt werden.

Wenn die Lok auf einem geraden Gleisabschnitt steht, stehen die Drehgestelle 1 und 2 leicht quer zu den Schienen.

Einige Reibungsdämpfer (Kunststoffscheiben) an den Achsbüchsen waren de-fekt.

1.12.2 Lokuntersuchung in der IW Bel

1.12.2.1 Letzte Drehgestellrevision

Am 10. Juni 2013 wurde an der Lok in der IW Bel eine Revision R2 durchgeführt. Es wurden revidierte Drehgestelle mit neu bandagierten Radsätzen eingebaut.

1.12.2.2 Radsätze

Nach verhältnismässig wenig Fahrleistung (43 249 km) weisen die Spurkränze der Räder 1 und 3 rechts sowie 5 und 7 links starken Materialverschleiss auf. Obwohl die gemessenen qR-Masse3 alle in Ordnung sind, waren trotzdem Materialaufschür-fungen im Bereich der Spurkranzkuppe sichtbar (Anlage 5, Abbildungen 6–7). Die Anlaufkräfte Rad-Schiene sind im Normalfall bei diesen Lokomotiven dank der Querkupplung zwischen den Drehgestellen relativ gering. Im geraden Gleis berüh-ren die Spurkränze die Schienenflanke praktisch nicht.

1.12.2.3 Tiefzuganlenkung

1.12.2.3.1 Funktionsbeschreibung

Bei den Loks der Baureihen Re 420, 421 und 430 werden die Zug- und Bremskräfte von den Drehgestellen auf den Kasten mittels tiefliegender, ausschliesslich auf Zug beanspruchter Stangen übertragen. Diese Stangen werden unterhalb der Fahrmo-toren derart angelenkt, dass die Zugkraft theoretisch genau auf der Schienenober-kante angreift und somit keine Entlastung der vorlaufenden Achsen der Drehgestelle verursachen kann. Am Kasten wird die Zugkraft über ein vorgespanntes Gummiele-ment der Tiefzugstange übernommen. Die dadurch entstehende Federung in Längsrichtung erzwingt die genannte Beanspruchung der Stangen auf Zug und dämpft die Drehmomentstösse der Fahrmotoren beim Auf- bzw. Abschalten und bei Gleisunregelmässigkeiten. Diese Tiefzuganlenkung bewirkt ferner, dass sich das Drehgestell um einen ideellen Drehpunkt bewegt; es ist daher kein Drehzapfen vor-handen.

3 qR-Mass: Stirnflanken-Quermass, Merkmal für die Neigung der Spurkranzstirn.

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1.12.2.3.2 Feststellungen

Die Tiefzuganlenkung hat für die zentrische Führung der Drehgestelle eine überaus wichtige Funktion. Die Vorspannung der Gummielemente muss äusserst präzise durchgeführt werden. Das Montieren der Tiefzugstangen gehört zur Routinearbeit in der IW Bel und wird, mit wenigen Ausnahmen, immer von den gleichen Personen ausgeführt.

1.12.2.3.3 Prozess für die Einstellung der Tiefzuganlenkung

Für die Einstellung der Tiefzuganlenkung gibt es diverse, einander widersprechende Arbeitsanweisungen. Eine durch SBB-Cargo erarbeitete Weisung (Technische Spezifikation G-20-TSP-30066.d) schreibt für das Vorspannen der Zugstangen einen Wert von 20 +/- 3 mm vor. Die für IW Bel gültige Vorschrift schreibt hingegen einen Wert von 20 +/- 0.3 mm vor, also eine 10-mal kleinere Toleranz. Dieser sehr genaue Wert wird aber in der Praxis nie erreicht, wird das Mass doch nur mit einem einfachen Messstab (Meter) mit 1-mm-Skala gemessen. Zudem ist dieses enge Mass auf der Originalzeichnung SLM nur von Hand einge-tragen. Eine Umfrage bei den entsprechenden Mitarbeitern der IW Bel hat Einstellmasse von 20 bis 21 mm ergeben. Die enge Toleranz von 20 +/- 0.3 mm war dem Monta-gepersonal nicht bekannt. Im Weiteren steht auf der Checkliste (Protocollo di verifica) nur das Mass 20 mm ohne einen Toleranzwert. Das eingestellte Mass wird in der Checkliste von den Mit-arbeitern nicht eingetragen.

1.12.2.4 Spurkranzschmierung

Das bei den Lokomotiven der Baureihen Re 420, 421 und 430 verwendete Spur-kranzschmierfett Tramlub F234 Mod 2 ist ein erprobtes Schmierfett, das bei allen älteren Triebfahrzeugen der SBB verwendet wird. Die entgleiste Lok hatte bei der Entgleisung nachweislich trockene Spurkranzflan-ken. Der Fettbehälter wurde anlässlich der P2-Instandhaltung vom 8. August 2013 aufgefüllt; der Auszug aus dem SBB-SAP-System bestätigt das. Die Lok hat seit dem P2 vom 8. August 2013 bis zur Entgleisung 19 155 km zurückgelegt. Der Be-hälter war bei der Entgleisung noch fast voll. Es wurde eine ausgerissene Luft-schlauchverbindung beim Verteiler der Spurkranzschmierungsanlage im Lokunter-bau vorgefunden.

2 Analyse

2.1 Technische Aspekte 2.1.1 Lok Re 421 371-6

2.1.1.1 Radsätze

Die defekten Reibungsdämpfer (Kunststoffscheibe) an den Achsbüchsen sind eine Folge der Entgleisung.

Obwohl die qR-Masse alle in Ordnung waren, wiesen die Spurkränze der Räder 1 und 3 rechts sowie 5 und 7 links bei einer Laufleistung von ca. 43 000 km schon einen anormalen Materialverschleiss auf.

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2.1.1.2 Tiefzuganlenkung, Spurkranzverschleiss

Das nicht korrekte Vorspannen der Tiefzugvorrichtung kann möglicherweise das Phänomen der seitlich verschobenen Drehgestelle verursacht haben. Diese Theorie lässt sich nicht mit absoluter Sicherheit bestätigen. Seitlich verschobene Drehgestelle verursachen starke einseitige Seitenkräfte zwi-schen Spurkranz und Schienenflanke. Die kurz nach einer R2-Revision mit geringer Laufleistung von ca. 43 000 km fest-gestellten Materialaufschürfungen im Bereich der Spurkranzkuppe an den Rädern 1 und 3 rechts sowie 5 und 7 links können durch die seitlich verschobenen Drehge-stelle erklärt werden.

2.1.1.3 Spurkranzschmierung

Der Inhalt des Fettbehälters der Spurkranzschmierung sollte normalerweise für eine Laufleistung von ca. 20 000 km reichen; was der Kilometerleistung zwischen zwei P2-Instandhaltungsstufen entspricht. Weil die Lok nach der Nachfüllung des Fettbehälters 19 155 km zurückgelegt hatte, hätte dieser fast leer sein müssen. Da er bei der Entgleisung noch fast voll war, dürfte die Anlage nach der P2-Instandhaltungsstufe vom 8. August 2013 nur über wenige km funktioniert haben, nämlich bis zum Defekt des Luftschlauchs. Eine schlecht oder nicht funktionierende Spurkranzschmieranlage darf nicht zu einer Entgleisung führen. Hingegen hat ein gut geschmierter Spurkranz einen tieferen Reibungskoeffizient zwischen Spurkranz und Schienenflanke zur Folge. Ein erhöh-ter Reibungskoeffizient kann das Aufklettern eines Rades auf die Schiene in Kurven oder im Weichenbereich begünstigen.

2.1.1.4 Prozess für die Einstellung der Tiefzuganlenkung

Für die Einstellung der Tiefzuganlenkung sind den Mitarbeitern zwei verschiedene Dokumente (Weisung SBB Cargo und Vorschrift IW Bel) bekannt. In diesen Doku-menten weichen die Toleranzen für das Vorspannen der Zugstangen erheblich vor-einander ab. Wie eine Anfrage bei der IW Bel ergab, wird, mit wenigen Ausnahmen, die Einstel-lung der Tiefzuganlenkung bei diesem Loktyp normalerweise von den gleichen Mit-arbeitern ausgeführt. Auf der Checkliste (Protocollo di verifica) steht nur das Mass 20 mm ohne einen Toleranzwert. Da nach der Einstellung der Tiefzuganlenkung das Mass in der Checkliste von den Mitarbeitern nicht eingetragen werden kann, ist es nicht möglich nachzuweisen, ob bei der Revision R2 die Vorspannung der Tiefzuganlenkung kor-rekt eingestellt worden ist, bevor die Lok die IW Bel verlassen hat. In diesem Pro-zess weist die Qualitätskontrolle eine Lücke auf.

2.1.2 Doppelte Kreuzungsweiche 307

2.1.2.1 Provisorische Spurhalterung, Unterhaltsarbeiten

Da die Befestigung der Rippenplatten ungenügend war und um eine genaue Spur-weite zu garantieren, wurden im Juli 2012 zwei provisorische Spurhalterungen an-gebracht (Anlage 3, Abbildung 4). Wenn die Schrauben in den Holzschwellen nicht mehr richtig festgezogen werden können, wird normalerweise eine Schraubenlochsanierungsaktion durchgeführt. Zwischen dem Einbau der provisorischen Spurhalterungen im Juli 2012 und der Ent-gleisung am 18. September 2013 waren ca. 14 Monaten vergangen. Die SUST beurteilt diese 14 Monate als lange genug für die Planung einer Schrau-benlochsanierungsaktion. Eine solche Aktion wurde jedoch nicht durchgeführt.

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2.1.2.2 Periodische Kontrolle der doppelten Kreuzungsweiche 307

2.1.2.2.1 Gleisgeometrie:

Bei der Vermessung im Juli 2013 wies die DKW 307 eine leichte Überschreitung der Durchgangsweitetoleranz D3 auf (Anlage 4). Wenn die gefundenen Werte bei der Vermessung einer Weiche ausserhalb der To-leranz liegen, werden diese bei der Erfassung vor Ort im EDV-System als rote Zah-len angezeigt. In einem solchen Fall werden im Prüfprotokoll entsprechende Mass-nahmen festgehalten. Da die Durchgangsweite für die Entgleisungssicherheit nicht kritisch ist, wurden bei der Kontrolle vom Juli 2013 keine sofortigen Überwachungsmassnahmen angeord-net.

2.1.2.2.2 Funktion und Sicherheitskontrolle

Bei der Kontrolle vom 4. September 2013 lagen die Weichenzungen LL und RL nicht korrekt an den Stockschienen an. Im Prüfprotokoll wurden die zwei Zungenspitzen als „nicht ok“ angegeben. Trotz dieser Kontrolle wurde keine sofortige Massnahme angeordnet.

2.1.2.3 Einfluss einer schwachen Verbindung zwischen Rippenplatte und Schwelle

Da kurz vor der Weichenzunge der DKW 307 die Schrauben der Rippenplatte locker waren, war die Verbindung zwischen Rippenplatte und Schwellen in diesem Bereich nicht gewährleistet. Die Durchfahrt einer Achse in der Kurve oder auf der Weiche generiert an der äusse-ren Schiene dynamische Querkräfte. Diese Querkräfte führen auf einem Abschnitt mit lockeren Schienenbefestigungen zu einer rapiden Veränderung der Gleisgeo-metrie, was wiederum zu momentan erhöhten bogenäusseren Querkräften führen kann, die das Aufklettern eines Rades begünstigen.

2.1.2.4 Einfluss eines verschlissenen Profils der Zunge

Durch ein verschlissenes Zungenprofil ist der Winkel desselben nicht mehr steil genug. Für den darauf abwälzenden Spurkranz kann während der Überfahrt das Aufklettern der Spurkranzflanke über einen längeren Bereich unzulässig erleichtert werden. Dadurch kann das Rad soweit aufklettern, bis der Spurkranz an der Schienenoberkante angelangt ist und das Rad dort abzurollen beginnt. Zu diesem Zeitpunkt ist die Spurführung des Radsatzes nicht mehr gewährleistet. Äussere Kräfte lassen den Radsatz je nach Höhe und Richtung auf dem Schienenkopf wei-terrollen, in den Spurkranz zurückfallen oder auf die Aussenseite fallen. In letzte-rem Fall ist die Entgleisung vollzogen, der Radsatz fährt neben der Schiene auf den Schwellen und im Schotter.

3 Schlussfolgerungen 3.1 Befunde

Für die Einstellung der Tiefzuganlenkung stehen den Mitarbeitern zwei verschie-

dene Dokumente zur Verfügung, bei denen die Toleranz für das Vorspannen der Zugstangen erheblich abweicht.

Nach der Einstellung der Tiefzuganlenkung bei den Fahrzeugen der Lok-Baurei-hen 420, 421 und 430 werden die eingestellten Masse nicht protokolliert. Daher weist der Qualitätskontrollprozess eine Lücke auf.

Die zentrische Führung der Drehgestelle der Lok Re 421 371-6 war nicht in Ord-nung.

Obwohl die qR-Masse alle in Ordnung waren, wiesen die Spurkränze der Räder schon starken Materialverschleiss (1/3 rechts und 5/7 links) auf.

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Die Spurkränze aller Räder waren trocken. Die Spurkranzschmieranlage war nicht funktionsfähig. Die Zunge LR (Seite Bern) der DKW 307 lag nicht korrekt an der Stockschiene

an. Die Zunge RL (Seite Zürich) hatte ein verschlissenes Zungenprofil. Im Juli 2012 wurde vor der DKW 307 eine provisorische Spurhalterung eingebaut,

jedoch keine Schraubenlochsanierung durchgeführt. Die DKW 307 wurde im Juli 2013 als „nicht konform“ erkannt, es wurden jedoch

keine sofortigen Überwachungsmassnahmen angeordnet. Obwohl die Funktionskontrolle vom 4. September 2013 an den Weichenzungen-

spitzen LL und RL Handlungsbedarf aufzeigte, wurden keine sofortigen Korrek-turmassnahmen angeordnet.

Die maximale Rangiergeschwindigkeit von 30 km/h wurde nicht überschritten.

3.2 Ursachen

Die Entgleisung ist darauf zurückzuführen, dass beim Befahren der DKW 307 das erste Rad der Lok Re 421 371-6 auf die Schiene aufgeklettert ist und in der Folge alle Achsen der Lok entgleist sind. Das Aufklettern des Rads bei der DKW 307 ist auf ein Zusammenwirken folgender ungünstiger Faktoren zurückzuführen: Die nicht korrekte Vorspannung der Tiefzuganlenkung, die einseitige Seiten-

kräfte an den Drehgestellen verursachte. Der Geometriefehler an den Spurkränzen der Räder (1/3 rechts und 5/7 links)

bei der Lok Re 421 371-6. Die wegen nicht funktionsfähiger Spurkranzschmieranlage trockenen Spur-

kränze. Die nicht korrekt anliegende Weichenzunge LR (Seite Bern) sowie ein verschlis-

senes Zungenprofil RL (Seite Zürich) bei der DKW 307 und die kurz vor den Weichenzungen angebrachten, lockeren Rippenplatten.

3.3 Risikoabschätzung

Wird eine Weiche als nicht entgleisungssicher beurteilt und werden keine So-fortmassnahmen getroffen, besteht ein grosses Entgleisungsrisiko.

Die DKW 307 befindet sich im Bereich der Einengung der Langstrassenbrü-cke. Entgleisungen in diesem sensiblen Bereich führen zu grossen betriebli-chen Einschränkungen.

4 Sicherheitsempfehlung 4.1. Sicherheitsdefizit

Keines.

4.2. Getroffene Massnahmen

Infrastruktur: Die DKW 307 wurde nach dem Unfall in einen ordnungsgemässen Zustand ge-

bracht.

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Lok Re 421 371-6 Die Drehgestelle der Lok Re 421 371-6 wurden in der IW Bel repariert. Die Arbeitsanweisungen für die Einstellung der Tiefzuganlenkung auf dem Loktyp

der Baureihen 420, 421 und 430 wurden vereinheitlicht. Die bei der Revision ein-gestellten Masse werden protokolliert.

4.3. Sicherheitsempfehlung

Keine.

Der Untersuchungsdienst der SUST Bern, 10. Februar 2015 „Dieser Schlussbericht wurde von der Kommission der Schweizerischen Sicherheitsunter-suchungsstelle (SUST) genehmigt (Art. 10 lit. h der Verordnung über die Sicherheitsun-tersuchung von Zwischenfällen im Verkehrswesen vom 17. Dezember 2014). Bern, 12. März 2015

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Anlage 1

Fahrdaten Lok Re 421 371-6

(Quelle: SBB).

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Anlage 2

Aufkletterspuren

Abbildung 2: Zunge DKW 307

(Quelle: SUST).

Abbildung 3: Zoom der Abbildung 2 (Quelle: SUST).

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Anlage 3

Abbildung 4: Provisorische Spurhalter in Form einen gelben Stange (Quelle: SUST).

Abbildung 5: Lockere Schrauben und Rippenplatte (Quelle: SUST).

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Anlage 4 Weichenvermessungsprotokoll

Quelle: SBB Infrastruktur; Ergänzungen SUST

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Anlage 5

Lok Re 421 371-6: Verschleiss am Spurkranz

Abbildung 6–7: Materialschürfung am Spurkranz (Quelle: SUST).