Schulsozialarbeit Jugendhilfe und Sozialarbeit wirkt · ker darum bemühen, auf den einzelnen...

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Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Beiträge aus Wissenschaft und Praxis Jugendhilfe und Sozialarbeit Schulsozialarbeit wirkt ! Individuelle Förderung

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Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft

Beiträge aus Wissenschaft und Praxis

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Individuelle Förderung

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Impressum

Herausgeber:

Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft – Hauptvorstand

Organisationsbereich Jugendhilfe und Sozialarbeit

Reifenberger Str. 21, 60489 Frankfurt am Main, 069/78973-0

E-Mail: [email protected], www.gew.de

Verantwortlich: Norbert Hocke

Redaktion: Anja Terner, Bernhard Eibeck

Gestaltung: Bettina Hackenspiel

Druck: Druckerei Leutheußer, Coburg

Februar 2011

ISBN 978-3-939470-57-1

Bezugskonditionen:

Die Broschüre erhalten Sie im GEW-Shop:

www.gew-shop.de, E-Mail: [email protected], Fax: 06103-30332-20

Mindestbestellmenge: 5 Stück, Einzelpreis 1,20 Euro, zzgl. Verpackungs- und Versandkosten

Einzelexemplare können Sie anfordern unter: [email protected], Fax: 069/78973-70161

zum Preis von 3,50 Euro pro Exemplar inklusive Verpackungs- und Versandkosten.

Artikelnummer 1387

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Inhalt

Vorwort .................................................................................................................................. 05

Anja TernerEditorial ................................................................................................................................ 07

Bernhard EibeckIndividuelle Förderung: Auftrag der Jugendhilfe ........................................................... 11

Portrait„Wann läuft menschliche Entwicklung intensiver als in der Schulzeit?“ Mo Raudies, portraitiert von Anja Dilk ......................................................................... 15

Anke Spies / Nicole Pötter Individuelle Förderung Bildung, Beratung, Anschlussfähigkeit ........................................................................... 23

Portrait„Vertrauen ist die Basis meiner Arbeit“ Soncan Somji, portraitiert von Anja Dilk ...................................................................... 29

Karsten SpeckIndividuelle Förderung und Sozialpädagogische Professionalität ........................... 35

Eberhard Bolay/Carola FladZur Struktur individueller Förderung durch Schulsozialarbeit Analyse eines Fallbeispiels ............................................................................................... 41

Die Autorinnen und Autoren ............................................................................................ 48

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„Niemanden zurücklassen – Integration durch Schulsozialarbeit“, unter diesemMotto hat die GEW im Jahr 2005 zusammen mit dem KooperationsverbundSchulsozialarbeit einen großen Fachkongress durchgeführt. Die Aufgabe vonSchulsozialarbeit wurde vorrangig darin gesehen, das soziale Lernen und dieGemeinschaft zu fördern.

In der bildungspolitischen Diskussion, insbesondere in der Schulpolitik, aber auchder Erziehungswissenschaft, hat sich die Diskussion weiterentwickelt. „IndividuelleFörderung“ ist in den Fokus gerückt. Pädagoginnen und Pädagogen sollen sich stär-ker darum bemühen, auf den einzelnen Jugendlichen, die Jungen und Mädchen,einzugehen, deren Stärken und Ressourcen zu unterstützen und Lernschwächenauszugleichen. Die „Pädagogik der Vielfalt“ nimmt die Heterogenität der Jugend-lichen in der Unterschiedlichkeit ihrer Lebenslagen als Herausforderung auf. JedemEinzelnen sollen individuelle Lernangebote gemacht und Hilfen angeboten werden.

Die Projektgruppe „Jugendhilfe und Schule“ der GEW hat sich mit „individuellerFörderung“ unter der Fragestellung beschäftigt, welchen Beitrag Schulsozialarbeitdazu leisten kann. Die pädagogische Zuwendung zum einzelnen Jugendlichen darfnicht individualistisch sein. Das würde zu Vereinzelung führen. Weiterhin giltbeides: Die Förderung der Entwicklung junger Menschen zum einen zu eigenstän-digen, zum anderen zu gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten. In diesem Span-nungsfeld steht Schulsozialarbeit, diesem Auftrag müssen sozialpädagogischeFachkräfte an Schulen gerecht werden.

Anja Terner hat namhafte Autorinnen und Autoren gewinnen können, ihre wissen-schaftlichen Arbeiten in kurzen und gut lesbaren Artikeln zusammenzufassen. ZweiPortraits über die konkrete Arbeit geben eindrucksvolle Einblicke in die Praxis.

Die GEW will mit dieser Broschüre einen Anstoß geben für die weitere Profilierungvon Schulsozialarbeit und zur Intensivierung der Zusammenarbeit von Jugendhilfeund Schule.

Norbert HockeLeiter des Organisationsbereichs Jugendhilfe und Sozialarbeitim Geschäftsführenden Vorstand der GEW

Vorwort

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Wenn wir von individueller Förderung im Kontext Schulsozialarbeit sprechen, soscheint die Bezeichnung ungewohnt, gleichwohl, in einer Reflexion des Alltags vonSchulsozialarbeit, gerade die individuelle Zuwendung und somit auch dieFörderung der Schüler/innen zu den wichtigsten Aufgaben gehört.

Individuelle Förderung erfordert nicht nur situationsadäquates Handeln in verschie-denen Situationen, sondern findet meist in Kooperation mit anderen statt. AlsIndividuum in der Schule ernst genommen und gesehen zu werden bedeutet, inder Einzigkeit wertgeschätzt zu sein. Schüler/innen als Individuen näher kennenzu-lernen ist also zunächst als Prozess zu verstehen, der von vielen Faktoren abhängigist: Zeit, Kontaktgelegenheiten, Gesprächsanlässe, das gemeinsame Dazugehörenzur Schulgemeinschaft und autonomes Handeln der Schulsozialarbeit im Schul-geschehen. Denn Schulsozialarbeiter/innen begegnen Schüler/innen an vielfältigenOrten und in verschiedenen Zusammenhängen. Ob es in diesen Momenten zueiner „individuellen Förderung“ kommt, erfordert demnach ein erweitertes Ver-ständnis des Begriffs und eine Klärung des Autonomiespielraums von Schulsozial-arbeit in Schule.

Eine am SGB VIII, §1 ausgerichtete individuelle Förderung durch Schulsozialarbeitsetzt am individuellen, subjektiven Erleben und Handeln von Schülerinnen undSchülern an. Hier gilt es in besonderem Maße, die Balance zwischen Lebensweltund schulischer Erwartung im Sinne der Kinder und Jugendlichen zu wahren undZielsetzungen der individuellen Beratung stets auszuhandeln.

Dies erfordert nicht nur ein hohes Maß an personaler Kompetenz und einen pro-fessionellen „Schulsozialarbeits-Habitus“ (Baier 2011), sondern vor allem eine guteIntegration in die Schulgemeinschaft und das Lehrer/innenkollegium. Um indivi-duelle Ziele von Schülerinnen und Schülern zu erkennen und „anwaltschaftlich“durchzusetzen, bedarf es der Kooperation und Zusammenarbeit mit Lehrkräften,Schulleitungen, Eltern und außerschulischen Partnern.

Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter hören zu, lernen Schülerinnenund Schüler als ihre hauptsächlichen Adressat/innen oft über einen langenZeitraum hinweg kennen, beraten, vermitteln, leiten weiterführende Gespräche einund handeln somit eine Form der individuellen Förderung mit den Schüler/innenaus.

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Editorial

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In der Vorbereitung dieser Broschüre diskutierten wir den Begriff der „Förderung“auch im Zusammenhang mit dem umstrittenen Begriff der „Benachteiligung“, dereine Stigmatisierung hervorrufen kann (Spies/Pötter 2011: 61). Benachteiligung zuvermeiden und zu bearbeiten, meint nicht nur ein Zurückholen aus dem Abseitsins Diesseits (Bojanowski/Ratschinski/Straßer 2005), sondern bleibt vor allem einuneinheitlicher Begriff (vgl. ebd. 12) der in jedem Feld zu bestimmen ist.

Wir nehmen in dieser Broschüre keine allumfassende Beschreibung oder Kritik desBegriffs vor, behalten diese kritische Betrachtung jedoch im Hinterkopf. „Integra-tion“ meint heute vor allem „Inklusion“ in eine Gesellschaft, die nicht zuletztdurch das Schulsystem Individuen exkludiert (zu den Begriffen vgl. Pötter/Spies2011: 25). Gleichwohl man den Begriff Inklusion als „Einschluss“ (Winkler 2010)ebenso kritisch diskutieren könnte, hat die Forderung nach einer inklusiven „Schulefür alle“ (DGB 2009) oberste Priorität.

Nicole Pötter und Anke Spies leiten in das Thema ein und besprechen die indivi-duelle Förderung auf drei Ebenen: Zunächst beschreiben sie Individuelle Förderungund klären, was sie im Kontext Schulsozialarbeit sein kann. Im zweiten Teil intensi-vieren sie ihre Darstellung im Bereich „Beratung“. In einer dritten Ebene setzen sieIndividuelle Förderung in den Kontext des §1 SGB VIII und betrachten diesenAuftrag als Sicherung von Anschlussfähigkeit und Bildung.

In einem ersten Portrait stellt Anja Dilk die Schulsozialarbeiterin Mo Raudies beiihrer Arbeit in einer niedersächsischen Schule vor und zeichnet dabei ein sehr bun-tes Bild der alltäglichen Praxis individueller Förderung.

Im nächsten Beitrag geht es um die Autonomie und um Konsequenzen für diesozialpädagogische Professionalität in Bezug auf individuelle Förderung. KarstenSpeck ordnet den Begriff zunächst im Schulbereich ein und beschreibt ihn als Kon-struktion. Er stellt Verbindungslinien zur Schulsozialarbeit her und verweist auf einbreites Spektrum der Schulsozialarbeit, in der individuelle Förderung stattfindet.

Bernhard Eibeck reflektiert „Individuelle Förderung“ im jugendhilferechtlichenZusammenhang.

Anja Dilk stellt in einem weiteren Portrait den Schulsozialarbeiter Sonjan Somjider IGS Linden in Hannover vor und zeigt u. a. besonders den Zusammenhangmit Migration auf.

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Eberhard Bolay und Carola Flad analysieren mithilfe eines Fallbeispiels dieStruktur individueller Förderung durch Schulsozialarbeit. Dabei betrachten sie dreiFormen von „Beziehungsmomenten“ und drei Fachlichkeitsmerkmale, die dasFörderverständnis konturieren.

Um die Gestaltungsautonomie der Autorinnen und Autoren zu wahren, haben wirdie Texte nicht verändert. Daher berücksichtigen manche Beiträge die weiblicheForm, andere jedoch nicht. Gemeint sind jedoch immer beide Geschlechter.

Anja Terner für die GEW-Projektgruppe Jugendhilfe und Schule

Literatur

Bojanowski, A, Ratschinski, G. Straßer, P. (Hrsg.) (2005) Diesseits vom Abseits - Studien zurBenachteiligtenförderung, Bielefeld

Baier, Florian/Deinet, U. (Hrsg.) (2011) Praxisbuch Schulsozialarbeit. Methoden, Haltungen undHandlungsorientierungen für eine professionelle Praxis, Opladen & Farmington Hills

DGB (2009) Konsequent: Eine gute Schule für alle – Gewerkschaften zur Schule der Zukunft. Broschüre, verfügbar unter: http://www.gew.de/Binaries/Binary55711/DGB_final.pdf

Flad. C./Bolay, E. (2006) Schulsozialarbeit aus der Perspektive von Schülern und Schülerinnen in: Bitzan, M./Bolay, E./Thiersch, H. (Hrsg.) (2006) Die Stimme der Adressaten, Weinheim und München, Seite 159-174

Pötter, N./Segel, G. (Hrsg.) (2009) Profession Schulsozialarbeit. Beiträge zu Qualifikation und Praxis dersozialpädagogischen Arbeit an Schulen, Wiesbaden

Speck, K./Olk, T. (2010) Forschung in der Schulsozialarbeit. Stand und Perspektiven, Weinheim und München

Spies, A./Pötter, N. (2011) Soziale Arbeit an Schulen. Einführung in das Handlungsfeld Schulsozialarbeit,Wiesbaden

Winkler, M. (2010) Bildung und Erziehung - Erinnerung an vergessene Zusammenhänge. In: Gilde Rundbrief, 64. JG. 2010, Heft 2, Hamburg

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Bernhard Eibeck

Individuelle FörderungAuftrag der Jugendhilfe

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Seit fast zehn Jahren, seit dem deutschen PISA-Desaster werden bildungspolitischeStrategien und pädagogische Reformen entwickelt, mit denen die schulischen Leis-tungen verbessert werden können. Aufwertung der frühkindlichen Bildung, Bildungs-pläne für Kindertagesstätten, Sprachtests bei Kindern in Tageseinrichtungen,Bildungsstandards für das schulische Lernen und der Ausbau von Ganztagsschulensind einige der Neuerungen, die in den letzten Jahren – im föderalen Bildungswesenvon Land zu Land unterschiedlich – angegangen wurden. Konsens ist, dass Schülergrup-pen in allen Schulformen heterogen zusammengesetzt sind. Unter dem Motto„Niemanden zurücklassen“ hat deshalb die individuelle Förderung, besonders vonbildungsbenachteiligten und leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern anBedeutung gewonnen. Ob das im Rhythmus und in der Struktur des schulischenLernens gelingt, hängt meist davon ab, ob zusätzliches Personal bereitgestellt wird. Inseltenen Fällen – und in der Regel auf Klassen mit behinderten und nicht behinder-ten Kindern beschränkt – gibt es zwei Lehrkräfte pro Klasse, von denen sich einedann verstärkt einzelnen Schülerinnen und Schülern zuwenden kann und sie indivi-duell unterstützt. Zumeist wird „individuelle Förderung“ im außerunterrichtlichenBereich angeboten. Lehrkräfte, vor allem aber Erzieher/innen und Sozial-pädagog/innen helfen Kindern und Jugendlichen am Nachmittag beim Lernen. Esgibt Arbeitsgemeinschaften zur Vertiefung des Lernstoffs und Einzelberatung, vorallem und überwiegend aber Angebote der Unterstützung bei den Hausaufgaben.

Wenn individuelle Förderung Aufgabe der Schulsozialarbeit ist, wird sie konzeptio-nell im Kontext der Jugendhilfe entwickelt. Individuelle Förderung hat in derJugendhilfe ihren Ausgangspunkt im Recht eines jeden jungen Menschen „aufFörderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen undgemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.“ Mit diesem Satz beginnt § 1 des Kinder- undJugendhilfegesetzes, das bundesgesetzlich als Sozialgesetzbuch VIII das Dreiecks-verhältnis von Kind – Eltern – Staat regelt. Nach diesem ersten Satz, der den An-spruch des Kindes und Jugendlichen regelt, werden im zweiten Absatz die Elternangesprochen: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Elternund die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“ Im dritten Absatz von § 1 geht esschließlich um die Ziele und Aufgaben der Jugendhilfe. Die Jugendhilfe soll zur Ver-wirklichung des Rechts auf Förderung insbesondere

1. junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördernund dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen,

2. Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten undunterstützen,

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3. Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen, 4. dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und

ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zuerhalten oder zu schaffen“.

Diese Aufgaben gelten für die gesamte Jugendhilfe, für alle Angebote undDienstleistungen. Auch wenn in den einzelnen Teilen – der Jugendarbeit und Jugend-sozialarbeit, dem erzieherischen Kinder- und Jugendschutz, in Tageseinrichtungen,den Hilfen zur Erziehung und in der Eingliederungshilfe – Schwerpunkte gesetztwerden, so sind alle den vier grundlegenden Zielen und Aufgaben verpflichtet.

Insgesamt kann man mit Münder sagen, dass Art. 1 eine „sozialpädagogische Leit-bildfunktion“ hat. Die Formulierung beinhalte das Bild einer zugleich autonomenund sozial eingebundenen Persönlichkeit. Junge Menschen würden in ihren Lebens-lagen akzeptiert. Die sozialpädagogische Arbeit setze dort an, wo Menschen sich be-finden, vorhandene Erfahrungen und Fähigkeiten würden nicht diskriminiert, son-dern positiv verstärkt.Auch wenn in § 1, Absatz 1 expressis verbis nur von dem Recht auf Förderunggesprochen wird, kann man davon ausgehen, dass die Förderung junger Menschen inihrer Individualität gemeint ist. Es geht um „jeden jungen Menschen“, um „seine“Entwicklung und um eine „eigenverantwortliche“ Persönlichkeit. Die „Subjektivitätim Erziehungsprozess“, so Wiesner , sei „Leitmotiv für das gesamte Gesetz“.Verfassungsrechtlich, so Wiesner, habe das Recht auf Erziehung seine Grundlage imGrundgesetz, Art 2, Abs. 1: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Per-sönlichkeit, ...“. Diese Norm schütze nicht nur das allgemeine Persönlichkeitsrecht(„Person-Sein“), sondern für Kinder und Jugendliche auch das „Person-Werden“.

Individuelle Förderung als Angebot der Schulsozialarbeit steht noch stärker als andereAngebote, wie z. B. der Freizeitgestaltung oder der kulturellen Bildung im Span-nungsfeld mit den originären Aufgaben der Schule. Klaus Schäfer findet dafür in seinemBeitrag zum Frankfurt SGB VIII-Kommentar die Formel der „eigenständigenDienstleistung der Jugendhilfe am Ort der Schule . Wiesner mahnt, in diesemZusammenhang auch die verfassungsrechtliche Ausgangslage zu beachten. Danachsei Schule eine „pflichtige gesellschaftlich institutionelle Bildungseinrichtung“ .Daraus sei abzuleiten, dass Schule so ausgestattet sein müsse, dass sie ihren Erziehungs-und Bildungsauftrag erfüllen kann. Wenn sich herausstelle, dass immer mehr Kinderund Jugendliche auf Unterstützung beim Lernen angewiesen sind, sei davon auszuge-hen, dass die Schule ihren Erziehungsauftrag neu ausrichten müsse.

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Individuelle Förderung im Verständnis der Jugendhilfe bedeutet nicht, Kinder undJugendliche in pädagogischer Einzelförderung dabei zu unterstützen, den schulischenAnforderungen gerecht zu werden, ihnen also quasi in Einzelunterricht Nachhilfe zugeben. Das würde bedeuten, die aus dem Unterricht resultierenden, an dieSchülergruppe gerichteten Anforderungen individualisiert zu vermitteln. Schulsozial-arbeit sieht die jeweils individuellen Förderbedarfe des Jugendlichen im Hinblick aufdessen eigenständige Entwicklung. Daraus resultiert ein breites Repertoire an Ange-boten. Auch die Unterstützung bei der Bewältigung der schulischen Anforderungenkann dabei eine Rolle spielen.

Vielfach wird Schulsozialarbeit auf den Bereich der Jugendsozialarbeit konzentriert.Dabei bezieht man sich auf SGB VIII, § 13, in dem es heißt: „Jungen Menschen, diezum Ausgleich sozialer Benachteiligungen oder zur Überwindung individuellerBeeinträchtigungen in erhöhtem Maße auf Unterstützung angewiesen sind, sollen imRahmen der Jugendhilfe sozialpädagogische Hilfen angeboten werden, die ihre schuli-sche und berufliche Ausbildung, Eingliederung in die Arbeitswelt und ihre soziale Inte-gration fördern.“Für Wiesner dient der Begriff der Jugendsozialarbeit als „Sammelbegriff für verschie-dene Aufgabenfelder, deren wichtigste die Jugendberufshilfe und die Schulsozial-arbeit darstellen“ .

Die Begrenzung und Schwerpunktsetzung der Aufgaben auf Jugendsozialarbeit gehteinher mit dem Selbstverständnis der Verbände, die die wichtigsten Akteure im Feldder Schulsozialarbeit sind. So haben z. B. die Arbeiterwohlfahrt und der Inter-nationale Bund ihre Wurzeln in der Hinwendung zu Menschen, die ausgegrenzt sind,benachteiligt werden oder in Armut leben. Auch die kirchlichen Wohlfahrtsverbändesehen sich den Randgruppen der Gesellschaft besonders verpflichtet und betonen dieAufgabe der Schulsozialarbeit im Rahmen der Jugendsozialarbeit. Der Koopera-tionsverbund Schulsozialarbeit hat sich der alleinigen Schwerpunktsetzung auf dieJugendsozialarbeit nicht angeschlossen. In seinem im Jahr 2005 herausgegebenen„Berufsbild und Anforderungsprofil“ nennen die Autorinnen und Autoren nebender Jugendsozialarbeit als Bezugspunkte der Schulsozialarbeit im SGB VIII dieJugendarbeit, den erzieherischen Kinder- und Jugendschutz und die Beratung. Ausheutiger Sicht – und besonders im Bereich der Ganztagsschulen relevant – wird mandarüber hinaus die Jugendkulturarbeit und die Gesundheitsförderung als weitere Auf-gabenfelder hinzunehmen. Zum Thema individuelle Förderung formuliert der KooperationsverbundSchulsozialarbeit: „Für Schulsozialarbeiter/innen ist die Einzelfallhilfe eine zentrale

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pädagogische Aufgabe im Bemühen, Benachteiligungen abzubauen, Stigmati-sierungen entgegenzuwirken und präventive individuelle Hilfestellungen zu leisten.Sie entwickeln in einem individuellen Förderprozess mit Schüler/innen differenzierteUnterstützungsinstrumentarien, um passgenaue, zielgerichtete Hilfen anbieten zukönnen. Sie beziehen sozialpädagogische Ansätze wie Familienarbeit, soziale Grup-penarbeit oder Sozialraumorientierung ein. Die Zusammenarbeit mit den Lehr-kräften ist wegen des häufigen Zusammenhangs der Einzelfallhilfen mit schulbezo-genen Leistungen, Problemsituationen oder Konflikten unerlässlich.“

Diese Passage im „Berufsbild“ kann leicht missverstanden werden, als ginge es nurum Hilfsangebote für Kinder und Jugendliche, die ihr Lernen und Leben alleinenicht zufriedenstellend gestalten können. Wenn man sich die Philosophie der Vielfaltund Mehrdimensionalität von Bildungsorten und Lernwelten zu eigen macht, wirdman daraus den Schluss ziehen, dass auch Schulsozialarbeit aufgefordert ist, daran inder Weise mitzuwirken, dass sie allen Kindern und Jugendlichen Angebote macht, diefür ihre individuelle Entwicklung förderlich sind.

Schule als neben der Familie wichtigstem Ort für das Lernen und Leben braucht eineSchulsozialarbeit, die jedem Kind und jedem Jugendlichen Türen zu neuen Lern-räumen öffnet, Brücken über schwierige Strecken im Leben baut und Lernwege fürdas Leben aufzeigt.

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1) Münder, Meysen, Trenczek (Hrsg.): Frankfurter Kommentar SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, 6.Auflage, Baden-Baden 2009, Seite 65f (Zu §1, Rn 8 - 10)

2) Reinhard Wiesner: SGB VIII- Kinder- und Jugendhilfe. Kommentar, 3. Auflage, München 2006, Seite21 (§1, Rn 3)

3) Münder, a.a.O., Seite 164 (§13, Rn 3)4) Münder, a.a.O., Seite 164 (§13, Rn 3) 5) Wiesner, a.a.O., Seite 217 (§13, Rn 1)6) Kooperationsverbund Schulsozialarbeit: Berufsbild und Anforderungsprofil der Schulsozialarbeit,

Frankfurt am Main, 2. korrigierte Auflage, November 20077) Kooperationsverbund Schulsozialarbeit, a.a.O., Seite 78) siehe dazu 12. Kinder- und Jugendbericht 2005

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Leise klopft es. Aufgelöst stehen zweiMädchen vor der Tür. „Frau Raudies,wir müssen Sie bitte dringend spre-chen.“ Die Brünette hat ihren Arm umdie Freundin gelegt, die vor Weinenkaum zu verstehen ist. „Ich geh nichtnach Hause. Das mach ich nicht. Aufkeinen Fall.“ Mo Raudies lächeltfreundlich und bittet die Schülerinnenin ihr Büro. „Na, was ist denn los?“Und das Mädchen erzählt. Von derAngst vor dem Vater. Von den Kon-flikten in der Familie. Von der Lebens-situation zu Haus, die sich gerade uner-träglich zuspitzt.

Raudies hört zu, nickt, fragt nach.Reicht ein Glas Wasser. Sie weiß: Hiergeht es erstmal um Akuthilfe. Das Kindschützen. Ihm Zuflucht bieten undSicherheit, damit es zur Ruhe kommt.Später wird sie, vielleicht über einenlängeren Zeitraum, mit den Eltern insGespräch kommen, um zu klären: Wasist da los? Wie lässt sich die familiäreSchieflage wieder ins Lot bringen?Welche Lösung können alle gemeinsamzum Wohl des Kindes finden?

„Sie könnte erstmal mit zu uns kom-men“, sagt die Freundin. „Mal sehen“,erwidert Raudies. „Ihr wisst, dass dasnicht so einfach geht. Ich muss das erst-mal mit dem Jugendamt abklären undauch deine Mutter informieren. Solangekannst du hier bleiben.“ Die 46-jährigegeht zur Tür und schließt ab. Sicher istsicher. Schließlich ist Mo RaudiesAnwältin der Schüler: Als Schulsozial-arbeiterin.

Der Weg von Hannover ins 3000-Einwohner-Städtchen Loccum führtdurch das Grün saftiger Wiesen undWäldchen, vorbei an roten Backstein-häusern mit blühenden Geranien aufden Fensterbänken. An den Bushalte-stellen entlang der Landstraße dösenWartende in der Morgendämmerung.Plakate werben für das Schützenfest imNachbarort am kommenden Samstag,auf dem Marktplatz laden die Liefe-ranten ihre Waren aus. Ein Postboteradelt vorüber. Vis à vis der Haupt- undRealschule Loccum im Westen derOrtschaft schaufeln die Bagger dasErdreich auf. Der Sportplatz wird ausge-

„Wann läuft menschliche Entwicklung intensiver als in derSchulzeit?“ – Mo Raudies, Haupt- und Realschule Loccum,Schulsozialarbeiterin

Portraitiert von Anja Dilk

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baut, ein neues Schulgebäude entsteht.Die niedersächsische Idylle lässt kaumahnen, dass es manchmal auch hier hef-tige Konflikte gibt.

Mo Raudies bleibt dieser wenig sichtbareTeil der ländlichen Realität nicht verbor-gen. Natürlich, Extremfälle wie an die-sem sonnigen Morgen sind dieAusnahme im Alltag der Schulsozial-arbeiterin. Eher stehen Angst vor Schul-wechsel, schlechten Noten, Sitzen-bleiben, aber auch zerbrechende Ehenund Konflikte in den Familien imVordergrund. Wenn Schüler nicht wei-terwissen, wenn es mal kracht zwischenKlassenkameraden, wenn es Problememit einem Lehrer gibt oder die Sorgenzu Hause Kinder verfolgen bis in dieSchulwelt, ist Mo Raudies da. Sie istZuflucht und erste Gesprächspartnerin,Konfliktberaterin und Begleitung aufder Suche nach neuen Lösungswegen.Sie vermittelt an Hilfs- und Beratungs-stellen außerhalb der Schule, vomJugendamt bis Allgemeinem SozialenDienst (ASD), ein dichtes Netzwerk inder Region, mit dem Mo Raudiesbestens verwoben ist.

Viele Schüler kommen erstmal mit denkleinen Sorgen. Zoff mit einem Mit-schüler. Probleme mit einem Lehrer.Lernschwierigkeiten. Manchmal ein-fach, weil sie traurig sind, dass die Omagestorben ist. „Es ist gut, wenn dieSchüler erstmal mit Alltagssorgen zu

mir kommen“, sagt Raudies. „So lernensie mich kennen und mir vertrauen.“Sie weiß, dass die Lehrer manchmalabwinken. „Ach komm, das Problemkannst du alleine lösen“. Raudies:„Aber das ist falsch. Mit Problemenumgehen können und müssen Kindergenauso lernen wie Mathe, Deutschoder Physik.“ Doch weil „Problemelösen“ nicht als Schulfach auf demStundenplan steht, zieht Mo Raudieszu Schuljahresbeginn durch die fünftenKlassen und erzählt den Kids, was sieeigentlich macht. „Wisst Ihr, wofür eineSchulsozialarbeiterin da ist?“ Am An-fang kommt meist Kopfschütteln. UndRaudies erklärt, dass sie die Expertin fürschwierige Situationen ist. Dass sieKindern helfen kann, eigene Problemeoder Probleme mit anderen zu lösen.Dass sich die Schüler an sie wendenkönnen, wenn sie glauben, Klassenka-meraden quälen Sorgen. „Inzwischen hatsich meine Arbeit herumgesprochen.“

Meist wagen sich die Kids erstmal lieberzu zweit in das gemütliche Sozial-arbeitszimmer im Erdgeschoss. Wer inder ersten Pause klopft, bekommt einenTerminzettel für denselben Vormittag.Es sei denn, akute Fälle schießen quer.95 Prozent der Schüler kommen auseigenem Antrieb, nur selten lädt Raudieszum Gespräch, zum Beispiel wenn Ver-änderungen im Verhalten eines KindesLehrern oder Eltern Sorgen bereiten.Manche Schüler kommen unter einem

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Vorwand. „Hallo Frau Raudies, wirwollten nur mal sehen, was sie somachen“. Erst im Laufe des Gesprächsstellt sich heraus, dass ihnen tatsächlichetwas auf der Seele liegt.

Das Telefon klingelt. Das Jugendamt.Der zuständige Mitarbeiter wartet nochauf einen Kollegen, dann wird er sichauf den Weg machen. Um sich abzusi-chern, müssen die Jugendamtsexpertenin solchen Fällen immer zu zweit kom-men. Das Mädchen soll lieber nicht zurFreundin, sondern erstmal in dieObhutsstelle, einer Herberge vom ASD.„In Ordnung, ich checke, ob da ein Platzfrei ist und informiere unsere Schul-leitung.“ Fünf Minuten später ist alleserledigt. Der Direktor weiß Bescheid.Die Obhutstelle hat ein Bett frei. Jetztheißt es nur noch die Mutter anrufen.Raudies: „Für die Eltern ist das fastimmer ein Schock. Aber auch ein wirk-sames Ausrufezeichen, damit sie sicheingestehen: Bei uns läuft etwas schief.“Die Sozialarbeiterin amtet tief durchund greift zum Hörer.

Wer die Frau mit den strahlenden grü-nen Augen beobachtet, kann es nichtübersehen: Sie liebt ihren Job. Sie ver-steht, anderen das Gefühl zu geben, beimir bist du aufgehoben, mir kannst duvertrauen. Hellwach und aufmerksam,ruhig und überlegt, doch fröhlichlachend, wann immer es geht. Schnellentscheidet sie, knüpft Kontakte, findet

strukturiert Lösungen. Das muss sieauch, denn Routine ist so etwas wie einFremdkörper in ihrem Alltag. „Oft weißich morgens noch nicht, was mich imLaufe des Vormittags erwartet.“ Schülerkommen mit persönlichen Problemen,Lehrer sprechen sie auf eine Schieflagein der Klasse an, Eltern klingeln durch.

Neben akuten Fällen stehen dutzend-fach Termine an. Eine Sitzung inKonflikttraining, die schon lang verein-barte Hospitation in einer Klasse,Praktikumsbegleitung oder Berufsbe-ratung für die älteren Kids. Raudies bil-det Streitschlichter aus und organisiertdie monatliche Polizeisprechstunde. Sieist Ansprechpartnerin im ArbeitskreisSchule-Polizei, pflegt den Kontakt undsorgt dafür, dass schon mal einStreifenwagen vorbeifährt, wenn sie wiekürzlich erfahren hat, dass nach derSchule Schüler von anderen in dieZange genommen werden sollen. „Dasentschärft zumindest die Akutsitua-tion“. Bei allen Sprüngen zwischen denWelten steht eines immer ganz oben:Die individuelle Förderung, die Ent-wicklung des einzelnen Kindes.

Menschliche Entwicklungsprozesse ha-ben Mo Raudies schon immer beson-ders interessiert. Wie werden Menschenzu dem, was sie sind? Wie wachsenFähigkeiten? Wie verändern sie sich?Wie funktioniert zwischenmenschlicheKommunikation in diesem Prozess?

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Seit ihrem Abitur fragt sich die jungeFrau: Wie kann ich dieses Interesse mitmeiner anderen Leidenschaft verbinden,der Kunst? Schon als junges Mädchenhatte sie gemalt und gebastelt ohneEnde, „nichts war vor mir sicher“.Raudies studierte Kunsttherapie an derAnthroposophischen FachhochschuleOttersberg, schrieb ihre Diplomarbeitüber Frauen in der Bildhauerei.Nebenher machte sie Fortbildungen.Systemische Beratung und Familien-therapie, Fundraising, Projektmanage-ment. Raudies arbeitete als freieKünstlerin und Mitgründerin derKulturinitiative Lichthaus Bremen,machte Öffentlichkeitsarbeit, eineAusbildung zur Mediatorin und packtein einem kleinen Kulturverein mit an.„Es gab viele bunte Stränge, die aber anirgendeiner Stelle immer zusammenge-hörten und sich bereichert haben.“

Auf die Idee, an einer Schule zu arbei-ten, kommt Mo Raudies durch ihreKinder. Als ihr Sohn gleich nach derEinschulung von älteren Schülernbedroht und attackiert wird, ist Raudiesentsetzt: „Da muss doch was gesche-hen.“ Sie bietet dem Direktor an, sichselbst für Gewaltprävention an derSchule einzusetzen. Doch der winkt ab.„Es gibt hier kein Gewaltproblem.“Dann entdeckt die engagierte Thera-peutin das Programm „Gewaltpräven-tion in Schulen“ der LandesregierungNiedersachsen, einem Teilprojekt der

Initiative „Stärkung der Hauptschulen“.Zwei Tage später bewirbt sie sich an derHaupt- und Realschule Loccum. Undwird genommen. Raudies lacht. „DieAufgabe hat mich fasziniert. Dennwann läuft menschliche Entwicklungintensiver als in der Schulzeit, wo dieKinder als kleine Jungs oder Mädchenreinkommen und als junge Männeroder Frauen rausgehen?“

Seit neun Jahren empfängt Mo Raudiesnun Schüler in ihrem Büro in der HRSLoccum. Aber was heißt hier Büro?Eher eine Mischung zwischen Rück-zugslandschaft, Diskussionsraum undfreier Denkwerkstatt, in der die Schüleraußerhalb des schulisches Korsetts mit-einander ins Gespräch kommen odersich bei Raudies Rat holen können. Inder Sitzecke sind blaue Stühle zumKreis gestellt, auf dem Flipchart stehendie Gesprächsregeln. Zuhören, ausredenlassen, die wahre Sichtweise sagen, kei-ne Beleidigungen. Aus einer meterho-hen Papprolle haben Schüler eine ArtWunschbaum gebastelt und Blätter anden Stamm gepinnt. „Ein gutesVerhältnis zu meinen Eltern“, „GuteNoten, langes Leben“, „Einen gutenBeruf, eine vernünftige Familie, vieleTiere, gute Freunde“. Auf einemTischchen Kekse, Kerzen und ein klei-ner gelber Smiley-Ball. Wenn Gruppenzusammensitzen, gilt: wer ihn in denHänden hält, darf sprechen.

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Wenn Raudies sich hier mit Schülernzusammensetzt, erzählt sie erstmal vonsich selbst. Zum Beispiel von ihrerArbeit. Zum Beispiel von ihrenGrundregeln: Absolute Vertraulichkeit.„Ich gehe nach unserem Gespräch nichtzum Telefon und erzähle Deiner Mutterdavon.“ Die Schüler sind die Chefs.„Du entscheidest, was du erzählenwillst, welche Lösung du wählst und wielange du mich brauchst.“ Gemeinsamüberlegen sie: Woran hakt es? Immernimmt Raudies dabei die Gesamt-situation in den Blick, oder, wie sie esformuliert: das System, in das derEinzelne eingebunden ist – die Fami-lienkonstellation vor allem, auch dieSchule. Danach heißt es, konkreteLösungen zu suchen. „Schließlich wol-len wir nicht Probleme wälzen, sondernZiele definieren und einen Lösungswegerarbeiten“, sagt Raudies. „Ich sagenicht, wie dieser Weg auszusehen hat.Ich bin eher kompetente Beraterin,Begleiterin.“

Zum Beispiel bei Lernproblemen, dievor allem ab Klasse 6 im Bewusstseinder Schüler an Bedeutung gewinnen.Gerne holen sich Kids erstmal beiRaudies Rat, bevor sie zum Klassen-lehrer gehen. Zum Beispiel bei Kummermit dem ersten Freund oder der erstenFreundin. Zum Beispiel, wenn KindernSorgen der Mitschüler auffallen. „In der6. Klasse beobachten die Schüler auf-merksamer das Klima in der Klasse und

merken schnell, wenn etwas nichtstimmt.“

Wie vor einer Weile in der Jahr-gangsstufe sieben. Zwei Mädchen klag-ten: „Wir fühlen uns nicht mehr wohl inder Klasse.“ Als Raudies nachhakte, inwelchen Situationen dieses Gefühl auf-tauchte, kam die Ursache ans Tages-licht: Die Konflikte zwischen Jungenund Mädchen in der Klasse nahmen zu.Angefangen hatte es mit einem Streit,Beleidigungen und körperlichen At-tacken zwischen zwei Kindern. „DiesesEreignis überschattete das Klassenklimanachhaltig.“ Raudies arrangierte für dieganze Klasse ein Sozialtraining imnahegelegenen Jugendzentrum. Ingetrennten und gemeinsamen Rundendiskutierten Kinder, Lehrerin undSchulsozialarbeiterin: Wie lösen JungenKonflikte? Wie Mädchen? Was findenwir gut aneinander, was stört uns?Raudies: „Das hat enorm geholfen, sichgegenseitig zu verstehen.“

Oft reicht es schon, die Konfliktparteienan einen Tisch zu holen und den wech-selseitigen Austausch professionellmediatorisch zu begleiten – punktge-nau, nach klaren Gesprächsregeln, abge-schlossen mit einem Einigungsvertrag.„Wenn sich die Schüler dabei verstan-den fühlen, sagen sie meist danach zumir: Dann hätten wir uns ja gar nichtstreiten müssen.“ Manchmal lassen sichProbleme schnell überwinden, andere

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brauchen eine längere Begleitung, beider manchmal auch die Eltern hinzuge-holt werden. Knapp vierzig Kinderbegleitet Raudies intensiv: im „indivi-duellen Case Management“. Sie übtKonflikte zu lösen. Trainiert im Rollen-spiel, sich besser durchzusetzen. Gibtden Kids Informationen, Kontaktstellenund Methoden an die Hand, um ihreProbleme selbst zu knacken.

Ab der achten Klasse wollten sie dasohnehin. Es ist das Alter, in dem einigeSchulsozialarbeit als „Psychokram“abtun. Haben wir nicht nötig. Doch beiMo Raudies klopfen sie trotzdem an:„Ich brauche dringend einen Prak-tikumsplatz. Können Sie mir helfen?“Sie kann. Im Einzelgespräch überlegt siemit den Jugendlichen: Wo liegen deineStärken? Was kannst du dir vorstellen,welche Ziele hast du für dein Leben?Wo bremsen vielleicht die Erwartungender Eltern? Manchmal begleitet Raudieseinen Schüler in den Betrieb. Alle zweiJahre organisiert sie einen Berufspar-cours mit Firmen der Region. An etwa16 Stationen können Schüler kleine,praktische Aufgaben aus dem Arbeits-alltag der Ausbildungsberufe lösen unddabei die Firmen kennenlernen. DieAcht- und Neuntklässler informiert sieüber die Berufsschule. Überlegt mit denKlassenlehrern, wer vorzeitig abzuge-hen droht, schulmüde ist oder nichtmehr mitkommt. Welche beruflichenPerspektiven können wir diesen Kin-

dern eröffnen? Wie sie individuell nochmehr fördern? Auf Anmeldung setzt siesich mit Berufsberaterin und Schülerzusammen und erarbeitet nächsteSchritte.

Es klingelt. Zweite große Pause. Wie anden meisten Tagen geht Mo Raudies insLehrerzimmer. Was liegt an? Wo istBedarf? Gerade weil die Schulsozial-arbeiterin eine Sonderrolle hat, ist derAustausch enorm wichtig. Während dieLehrer beispielsweise verpflichtet sind,Eltern zu informieren, wenn ihr Kindnicht nach Hause kommen will, bleibtdas Raudies selbst überlassen. Genausowenig muss sie weitererzählen, was dieKinder ihr anvertrauen, auch wenn essich Eltern und Lehrer noch so sehrwünschen. Immer wieder fragen diePädagogen nach: Was hat der Schülerdenn erzählt? Wenn Raudies entschie-den den Kopf schüttelt, erntet siemanchmal Unverständnis. „DochSchweigepflicht ist ein zentrales Hand-werkszeug“, sagt Raudies. Voraus-setzung dafür, dass die Kinder die 46-jährige als erwachsene Vertraute ernstnehmen. Sie muss damit leben, dass sievon manchen Lehrern als Konkurrenzerlebt wird: Wieso gehen die Kinder zudir und kommen nicht zu mir?

Deshalb pflegt Raudies um so sorgfälti-ger ein gutes Verhältnis zu den Päda-gogen. Nimmt an den Schulkonfe-renzen teil, sitzt mit Schülern, Lehrern

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und Eltern im Schulvorstand, besuchtden Unterricht, wenn Lehrer sie anspre-chen: Schau doch mal, bei mir hakt was.„Meine Sicht auf die Schüler ist anders:Während die Lehrer nach Leistungschauen, suche ich nach ihren Ressour-cen.“ Wie sehr der schulische Alltagvom diesem Blick aus einer anderenPerspektive profitieren kann, zeigt sichschon in kleinen Dingen. Als sichRaufereien und Sachbeschädigungen inden kleinen Pausen ballten, entschieddie Schule gemeinsam mit der Sozial-arbeiterin, diese Pausen abzuschaffen.Stattdessen gibt es jetzt Doppelstundenund eine große Pause mehr. Als sich ineiner Klasse permanent Konflikte ent-fachten, kam Raudies auf die Idee, denPapierkorb umzustellen – er stand sounglücklich an einer Engstelle, dass dieSchüler fast automatisch aneinander-rauschten, wenn sie vorbei wollten. Alssich eine Schülerin plötzlich rasant ver-schlechterte und in der Klasse zu störenbegann, fiel der Sozialarbeiterin beimUnterrichtsbesuch auf: Die Schülerinsieht schlecht, sie braucht schlicht eineBrille. Das war bis dahin niemandemaufgefallen.

Trotz ihrer Sonderrolle bleibt dieSozialarbeiterin stets „Teil des Systems“,viel enger verzahnt mit dem Schulalltagals die externen Schulpsychologen oderBerufsberater. Gleichzeitig ist sieSchnittstelle nach außen, zu außerschu-lischen Beratern und Hilfsstellen der

Jugendhilfe und anderer Träger unddem Netz von zwölf Kollegen in derRegion, mit denen sie eng zusammenar-beitet. Kein Wunder, dass sie alle Händevoll zu tun hat. Drei Tage von neun bisdrei, an einem Tag bis zwei Uhr – dasreicht an allen Ecken nicht für eineSchule mit gut 400 Schülern. „DieKinder brauchen individuelle Zuwen-dung, das merke ich jeden Tag an denvielen Anfragen.“ Und sie merkt, wiesehr die Kids davon profitieren. Wennsie es schaffen, Probleme irgendwannalleine zu lösen. Wenn sie neueOrdnung in ihr Leben gebracht undihre Persönlichkeit weiter entwickelthaben. Wenn sie Wertschätzung für dieMitschüler als selbstverständlich unddie individuellen Unterschiede alsBereicherung erleben. Wenn sie sichgegenseitig helfen und ihren Berufsweggefunden haben.

Mittagszeit. Das Mädchen und ihreFreundin in Mo Raudies Büro schau-keln in der Sitzhängematte. Die Mutterhat sich auf den Weg gemacht. DieMitarbeiter vom Jugendamt werdenbald da sein. Raudies reicht den Kin-dern noch ein Glas Wasser. „Gleichsprechen wir erstmal mit deiner Mutter,dann kommst du übers Wochenendezur Ruhe und danach überlegen wir allegemeinsam, wie wir für Dich und DeineFamilie die Situation so verbessernkönnen, dass es dir gut geht und dudich wohl fühlst.“

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Schule und Schulsozialarbeit haben beide die Aufgabe der Erziehung und Bildungvon Kindern und Jugendlichen im schulpflichtigen Alter, allerdings setzen sie unter-schiedliche Mittel und Methoden ein und erfüllen unterschiedliche Funktionen imBildungssystem (vgl. Spies/Pötter 2011). Schulsozialarbeit versucht, diese Ziele überdie „Förderung des Sozialen Lernens“, über „Individuelle Orientierung und Hilfe“oder durch die Verbesserung der „Bildungsbedingungen“ zu erreichen. Damit sinddie drei Arbeitsbereiche der Schulsozialarbeit beschrieben, die in neun Auf-gabenfeldern umgesetzt werden (vgl. ebenda). Die Individuelle Förderung ist innerhalbdes Arbeitsbereichs „Bildungsbedingungen“ ein eigenes Aufgabenfeld der Schul-sozialarbeit. Gleichzeitig hat die Individuelle Förderung Schnittmengen zu denBeratungsleistungen, die im Arbeitsbereich der „Individuellen Orientierung undHilfe“ angesiedelt sind. Sie ist zugleich eine der komplexesten Aufgaben der Schul-sozialarbeit, da sie in unterschiedlichen Kontexten relevant ist und mit unterschied-lichsten Mitteln erreicht werden kann. Diese Einführung geht zunächst vom speziellen Fall des Arbeitsfeldes der Indivi-duellen Förderung aus, dann erweitert sie den Rahmen und nimmt Beratungskontextemit in den Blick, um schließlich in einem dritten Schritt zu erläutern, welche Rolledie individuelle Förderung für die Sicherung von Anschlussfähigkeit und denBildungsauftrag von Schulsozialarbeit spielt.

Ebene 1:Das Aufgabenfeld Individuelle Förderung

Eine Individuelle Förderung von Kindern und Jugendlichen kann sowohl auf derEbene der Einzel- als auch der Gruppenarbeit erfolgen. Dementsprechend ist sie inmehreren Aufgabenfeldern und Arbeitsbereichen der Schulsozialarbeit enthalten: Sieist Bestandteil der Arbeitsfelder Offene Angebote für Kinder und Jugendliche undSozialpädagogische Gruppenarbeit, da in diesen Kontexten soziales Lernen gefördertwird und individuelle Entwicklungsverläufe gestützt werden. Außerdem ist sieGegenstand und Ziel von Sozialpädagogischer Beratung im Einzelfall und jener in derBerufsorientierung, die beide die Aufgabe haben, individuelle Orientierung und Hilfeanzubieten. Darüber hinaus ist Individuelle Förderung ebenso in der Kooperation mitEltern wie auch in den Schulbezogenen Hilfen stets Prämisse von Schulsozialarbeit undsomit ein Gestaltungskriterium von Bildungsbedingungen.

Aber Individuelle Förderung geht auch über das, was diese Angebote zu leisten vermö-gen hinaus: Wenn in einzelnen Fällen biografische Entwicklungen und Auf-

Nicole Pötter / Anke Spies

Individuelle Förderung Bildung, Beratung,Anschlussfähigkeit

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schichtungen zu einem umfassenderen individuellen Förderbedarf führen, ist Schul-sozialarbeit gefordert, unter Einbeziehung der o. g. Tätigkeitsbereiche und unter Hin-zuziehung außerschulischer Möglichkeiten der sozialpädagogischen Unterstützunggemeinsam mit den betroffenen Schülerinnen und Schülern ein Unter-stützungssetting zu suchen, das „passgenaue, zielgerichtete Hilfen“ anbietet(Kooperationsverbund Schulsozialarbeit 2007, 37). Als Grundlage dafür sollte Schul-sozialarbeit auf „differenzierte Unterstützungsinstrumentarien“ (ebd.) zurückgreifen.In der Praxis sind dies vor allem die Momente, wo Schulsozialarbeit – unabhängigvon ihrer Trägerschaft – i. d. R. nunmehr sehr eng mit der örtlichen Jugendhilfekooperieren muss, denn hier kann es sich sowohl um Kindeswohlgefährdung als auchum Hilfe zur Erziehung nach §§ 27-36 des SGB VIII handeln.

Hier hat die Krisenhilfe der Schulsozialarbeit, die über die o. g. Beratungskontexteund den Vermittlungsprozess hinausgeht, ihre fachlichen, sachlichen und auch insti-tutionellen Grenzen und benötigt das entsprechende Verweisungswissen im metho-dischen Handeln der Einzelfallhilfe (vgl. Müller 1997). In solchen Interventions-kontexten fungiert Schulsozialarbeit als Schnittstelle zur öffentlichen Jugendhilfe, derenZugangsschwellen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen gesenkt werden.

In der Praxis tauschen sich die sozialpädagogischen Fachkräfte der Schulsozialarbeitund der Jugendhilfe i.d.R. zu Verfahrensweisen und Einschätzungen von Einzel-fällen aus, werden Fallverläufe in kollegialen Beratungssettings besprochen undLehrerkollegien in ihren Einschätzungen einzelner Schüler und Schülerinnen beratenund ggf. auch in die Fallanalysen mit einbezogen. Im günstigsten Fall hat dieJugendhilfe der Kommune eine einheitliche Vorgehensstruktur, wie sie z. B. die StadtNürnberg mit einem eigenen Fachdienst und einer Koordinationsstelle hat, dieKooperationen von Jugendhilfe und Schule institutionalisiert. Andernorts ist dieVermittlungspraxis zur Jugendhilfe durch deren sichere Erreichbarkeit im Bedarfsfallsowie durch konstante strukturelle Rahmungen, wie z. B. regelmäßige Bezirkstreffenunter Einbeziehung weiterer Einrichtungen der Jugendhilfe, gesichert (z.B. die nie-dersächsische Stadt Delmenhorst). Eine systematische Förderstruktur für denEinzelfall hat durch die methodisch fundierte Vernetzung mit dem Gemeinwesen alskooperative Verbindung von Schulsozialarbeit und kommunaler Jugendhilfe zurFolge, dass alle Beteiligten sich für den Einzelfall mit-verantwortlich und gegenseitiggestützt fühlen, wodurch letztlich Intervention und Hilfe auf klaren Absprachen auf-bauen können. Die Schnittstellenfunktion der Schulsozialarbeit verknüpft also imArbeitsfeld der Individuellen Förderung den außerschulischen Hilfekontext mit denBildungsbedingungen im schulischen Zusammenhang.

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Ebene 2:Individuelle Förderung im Rahmen von Beratung

Wenn ein Schüler oder eine Schülerin Angebote der sozialpädagogische Beratung imschulischen Kontext wahrnimmt, schulbezogene Hilfe (z. B. nach dem Modell derBildungshilfeplanung, vgl. Leonhardt 2005) erhält oder Dritte (Eltern, Lehrer etc.)auf individuelle Probleme aufmerksam machen und die sozialpädagogische Fachkraftzu Kontaktaufnahme und Hilfsangebot bewegen, so wird damit zugleich eineIndividuelle Förderung angeregt und unterstützt. Grundsätzlich sollte die Schul-sozialarbeit zunächst das Gespräch mit den betroffenen Schülern suchen und seinbzw. ihr Einverständnis einholen, um für ihn oder sie aktiv werden zu dürfen. Wennder Schüler oder die Schülerin mit dem Hilfsangebot einverstanden ist, wirdzunächst eine Anamnese gemacht und die Problemdefinition gemeinsam mit demBetroffenen festgelegt. Auf dieser Basis entscheiden wiederum beide gemeinsam, wel-che Maßnahmen ergriffen oder welche Angebote hilfreich sein könnten und wie wei-ter vorgegangen wird. Die individuelle Förderung erfordert somit methodischeKompetenzen, wie beispielsweise die Grundlagen des „Diagnostischen Fallver-stehens“ (vgl. Heiner/Schrapper 2004, 208) und der Einzelfallhilfe (vgl. Müller 1997).Die Schulsozialarbeit muss sehr genau abwägen, wann (und wie) ein Beratungs-prozess in die Weitervermittlung führt oder aber (vorläufig) abgeschlossen werdenkann. Dafür ist es notwendig, über sichere Kenntnisse der Jugendberatung zu verfü-gen (vgl. dazu ausführlich z. B. Reutlinger 2004) – allerdings ohne diese ersetzen zuwollen. Ebenso muss sie über Grundkenntnisse der Sucht- und Drogenberatungsowie der Migrationsberatung verfügen, sich im Kontext von Beratung für Opfer von(sexueller) Gewalt auskennen und methodenplural und genderreflektiert agierenkönnen.

Außerdem kann sich Schulsozialarbeit mit ihren Angeboten an Eltern richten undihnen als Optimum im Sinne der Erziehungskooperation Hilfe anbieten oder zur Er-ziehungsberatung vermitteln. Hinsichtlich der gemeinsamen Beratung (vgl. Spies/Pötter2011) mit Lehrkräften müssen Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter mitden Maximen und Modellen kollegialer Beratung und ihrer Moderation vertrautsein. Und – last but not least – muss sich sozialpädagogische Beratung in schulischenZusammenhängen sowohl von schulpsychologischer Beratung abgrenzen als auchmit ihr und ihren Möglichkeiten zusammenarbeiten, damit Klärungsprozesse imSinne der betroffenen Schüler und Schülerinnen zur Verbesserung von deren Lern-situation und Positionierung innerhalb der Bildungsinstitution stattfinden können.

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Ebene 3:Sicherung von Anschlussfähigkeit und Bildung

Individuelle Förderung durch Schulsozialarbeit bietet unterstützende Hilfen bei derbiografischen Lebensbewältigung und den damit verbundenen Bewältigungs-anforderungen (vgl. Böhnisch 1997, 36 ff.). Sie orientiert sich an einer normalisieren-den und entlastenden Problemlösungshilfe sowie der präventiven Belastungs-reduktion. Ratsuchende werden durch den Einsatz kommunikativer Mittel darinunterstützt, in Bezug auf ein Lebensproblem oder spezifische Lebensschwierigkeiteneinen Zugewinn an Wissen, Orientierung, Lösungs- und Handlungsfähigkeit zu errei-chen, der dazu führt, mit diesem oder künftigen Problemen besser umgehen undleben zu können.

Insofern trägt Individuelle Förderung zur Gewährleistung des Förderauftrags bei, wie erim § 1 des SGB VIII formuliert ist: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderungseiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemein-schaftsfähigen Persönlichkeit“ (SGB VIII § 1(1)). Im Sinne der „Einmischungs-strategie“ (Mielenz 1984) hat die Jugendhilfe die Pflicht und die Verantwortung sichin alle gesellschaftlichen und sozialen Bereiche, die das Leben von Kindern undJugendlichen nachhaltig beeinflussen und ihre Entwicklung zu einer eigenverantwort-lichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit behindern oder zu behindern dro-hen, einzumischen. Somit erschließt sich der grundsätzliche Auftrag für jeglicheFormen Sozialer Arbeit an Schulen zunächst aus dem Recht junger Menschen, inihrer Persönlichkeitsentwicklung von der Jugendhilfe unterstützt und gefördert zuwerden (§ 1 SGB VIII). Für Soziale Arbeit an Schule muss also immer gelten, dass siefür förderliche Entwicklungsbedingungen zu sorgen, bestehende Benachteiligungenabzubauen und drohende zu vermeiden sowie insgesamt zur Reduktion von sozialerUngleichheit beizutragen hat.

Die Individuelle Förderung ist eines von neun Arbeitsfeldern, mit denen die SozialeArbeit dieses Ziel verfolgt. Im Kontext Schule hat sie besondere Rahmenbedingungenzu berücksichtigen, eine spezifische Lebensphase zu begleiten und die (Selbst)-Bildungzu fördern. Aus Sicht der Schulsozialarbeit stehen die Kinder und Jugendlichen dabeinicht in erster Linie in ihrer Rolle als Schülerinnen und Schüler im Zentrum, sondernin ihren vielen verschiedenen Rollen, ihren Lebenswelten, mit ihren individuellenRessourcen, Entwicklungsbedarfen und subjektiven Bedürfnissen. Da es um dieSicherstellung und Unterstützung der Anschlussfähigkeit zwischen dem Erziehungs-und Bildungssystem und der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen geht, bleibendie Schule und die Schüler-Rolle dennoch der Hauptbezugspunkt in der Arbeit.

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Für viele Kinder und Jugendliche ist die Schule der erste Ort, an dem sie die unter-schiedlichen Webstrukturen der lebensweltlichen und der strukturellen Lebens-bedingungen „am eigenen Leib“ erfahren. Wie ihre Mütter und Väter, ihre Lehrer-innen und Lehrer oder auch ihre Mitschülerinnen und Mitschüler mit diesen unter-schiedlichen Anforderungen umgehen, wie sie die daraus entstehenden Dilemmatalösen oder das Ineinandergreifen bestimmter kultureller Ressourcen mit den vorhan-denen gesellschaftlichen Strukturen nutzen, prägt ihre weiteren Erfahrungen undkann sowohl einen Rückzug in das ihnen bekannte und vertraute Umfeld als aucheine Offenheit und Neugier bzw. eine bewusste Auseinandersetzung mit den gesell-schaftlichen Widersprüchen verstärken. Den Erfolg von Schulsozialarbeit wird manu. a. daran messen, inwieweit sie in der Lage ist, Neugier, Interesse und Risiko-bereitschaft zu befördern und lernvermeidenden Verhaltensweisen entgegenzuwir-ken. Insofern kann Schulsozialarbeit zwar nicht der Garant für Chancengleichheitsein, aber sie kann mit den Mitteln der Sozialen Arbeit maßgeblich dazu beitragen,dass Exklusionsrisiken minimiert und Inklusionschancen gewahrt werden, und zwarunter ständigem Rückbezug auf die lebensweltlichen Bedingungen und Ressourcen,in denen die Kinder und Jugendlichen aufwachsen (vgl. Konzept der Anschluss-fähigkeit; Pötter 2004). Für deren Bildungsbeteiligung sind die Strukturen (z. B. derzeitlichen und konzeptionellen Ausrichtung von Schulformaten) so anzupassen, dassKinder und Jugendliche aus bestimmten lebensweltlichen Kontexten überhaupt dieChance erhalten, Angebote und Unterstützung des Bildungs- und Erziehungssystemswahrzunehmen. Die Probleme müssen nicht immer und schon gar nicht automatischdurch eine Unterstützung der einzelnen Kinder und Jugendlichen bei der An- undEinpassung in die bestehenden strukturellen Vorgaben des Systems gelöst werden.Dies ist ein zentraler Gedanke des Konzepts der „Anschlussfähigkeit”, da er davonausgeht, dass strukturelle Verwerfungen auch strukturell – und nicht individuell –gelöst werden sollten. Für die Individuelle Förderung heißt das, die Grenzen desHandelns auf der individuellen Ebene zu erkennen und gegebenenfalls auf anderenEbenen zu agieren (z. B. Gruppe, Gemeinwesen, Schulorganisation).

FazitAus der Perspektive der Kinder und Jugendlichen ist Schulsozialarbeit unweigerlichin den speziellen Bildungskontext Schule eingebunden und kann dabei als hilfreicheStütze der eigenen Bildungsbiografie oder als grundsätzlich ausgleichenderGegenpol zum schulpädagogisch konnotierten Handeln wahrgenommen werden.Ihre Konzeptionen sind stets so anzulegen und umzusetzen, dass sie nicht zurunrechtmäßigen Verlängerung der institutionellen Macht oder zur Verschärfung von

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sozialer Kontrolle wird, auch und gerade wenn sie als Teil des Erziehungs- undBildungssystems und nicht als Gegensatz zur Schule gedacht wird.

Schulsozialarbeit bietet Kindern und Jugendlichen, die in der Schule von negativenFolgen schulischer Selektion bedroht sind oder diese bereits zu spüren bekommen,u. a. individuell förderliche Hilfen an. Sie hilft ihnen bei der Bearbeitung vonSelektionserfahrungen und hinterfragt die Gründe für Selektion. Sie versucht vorallem die Blockaden, die durch strukturelle Anforderungen der Schule und lebens-weltlichen Lebensanforderungen der Kinder und Jugendlichen entstehen, zu erken-nen und dazu beizutragen, dass diese Blockaden verringert oder beseitigt werden.Damit trägt sie zu gelingenden Bildungsprozessen bei.

Literatur

Böhnisch, Lothar (1997): Sozialpädagogik der Lebensalter. Eine Einführung. Juventa Verlag: Weinheim und München

Heiner, Maja/Schrapper, Christian (2004): Diagnostisches Fallverstehen in der Sozialen Arbeit. Ein Rahmenkonzept. In: Schrapper, Christian (Hrsg.): Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehenin der Jugendhilfe. Anforderungen, Konzepte, Perspektiven, Weinheim: Juventa Verlag, S. 201-221

Kooperationsverbund Schulsozialarbeit (2007): Berufsbild und Anforderungsprofil der Schulsozialarbeit. In: Pötter, Nicole/Segel, Gerhard (Hrsg.) (2009): Profession Schulsozialarbeit. Beiträge zu Qualifikationund Praxis der sozialpädagogischen Arbeit an Schulen. VS Verlag, S. 33-46.

Leonhardt, Ulrike (2005): „Individuelle Bildungsplaung” und „Fallverstehen” als Profil vonGanztagsschulen. In: Spies, Anke/Stecklina, Gerd (Hrsg.): Die Ganztagsschule – Herausforderung anSchule und Jugendhilfe. Band 1: Dimensionen und Reichweiten des Entwicklungsbedarfs. KlinkhardtVerlag: Bad Heilbrunn, S. 86-103.

Mielenz, Ingrid (1984): Aufgaben der Jugendhilfe bei Jugendarbeitslosigkeit und Berufsnot jungerMenschen – Praxisbeispiele zur Einmischungsstrategie. Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (AGJ): Bonn.

Müller, Burkhard (1997): Sozialpädagogisches Können. Ein Lehrbuch zur multiperspektivischen Fallarbeit.3. Auflage, Lambertus Verlag: Freiburg im Breisgau.

Pötter, Nicole (2004): Bedeutungen von Erwerbsarbeit für sozial benachteiligte Jugendliche.Dissertationsschrift: Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie.

Reutlinger, Christian (2004): Beratung für Jugendliche. In: Nestmann, Frank/Engel, Frank/Sickendiek, Ursel (Hrsg.): Das Handbuch der Beratung. Band 1: Disziplinen und Zugänge. dgvt Verlag: Tübingen, S. 270-278.

Spies, Anke/Pötter, Nicole (2011) Soziale Arbeit an Schulen – Einführung in die Schulsozialarbeit.Wiesbaden, VS Verlag

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Serkan* steckt gerade ziemlich tief drin.Sicher, beim Fußballturnier auf demSportfest hat er verdammt hart zuge-langt. Aber wenn ihn Typen so ange-hen, kann sich der 14-jährige einfachnicht bremsen. Dann fühlt er sich pro-voziert, in die Ecke gedrängt. Und trittnach. Nun sitzt Serkan bei SoncanSomji in der Sprechstunde und erzählt.Von der roten Karte, die er zu Rechtbekommen habe. Von der Ansage desLehrers, dass er deshalb nicht beimKlassenausflug dabei sein dürfe, son-dern dem Hausmeister bei der Arbeithelfen soll. Serkan spricht leise, dieAugen abgewandt, wie einer, der nachder Hitze des Gefechts auf sich selbstzurückgeworfen ist. Der sich klein fühltund doch quälend unverstanden vonden Lehrern, die ihn wie so oft auf demKieker haben. „Drei Strafen – das istdoch ungerecht.“

Soncan Somji lächelt ruhig. DerSchulsozialarbeiter weiß, wie sich derJunge mit der scharfkantigen Gelfrisurjetzt fühlt. Er kennt seine Geschichtehier im ethnisch gemischten Kiez, in

dem der türkischstämmige Achtklässlerjahrelang Probleme „auf seine Weise“gelöst hat. Mit steilen Machosprüchenund schneller Faust. Somji ist vertrautmit dem Viertel, der Kultur, derSprache, denn auch seine Eltern kom-men aus der Türkei. „Soncan ist einervon uns“, heißt es an der IGS Linden.„Die gemeinsame Sprache ist derSchlüssel, um zu diesen Kindern Ver-trauen aufzubauen. Und Vertrauen ist dieBasis meiner Arbeit“, sagt Somji undschaut Serkan aufmunternd in dieAugen. „Was hältst du davon, ich schlagedem Lehrer vor: Wenn Du dich in dennächsten Tagen tadellos benimmst,dann darfst du mit auf den Klassen-ausflug? Die Sozialstunde mit demHausmeister holst Du später nach.“Serkan presst die Lippen zusammen,nickt und schlägt ein.

Montagmorgen, Integrierte Gesamt-schule (IGS) Hannover-Linden. DerWind treibt durch die sonnendurchflu-teten Baumkronen am Lindener Berg.Vor dem Hauptgebäude hält der Bus,eine Traube von Schülern eilt Richtung

„Vertrauen ist die Basis meiner Arbeit“ Soncan Somji, IGS Hannover Linden, Schulsozialarbeiter

Portraitiert von Anja Dilk

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Eingang. Andere nehmen ein schnellesSonnenbad auf den Bänken davor. ImErdgeschoss, gleich hinter Lehrer-zimmer, Sekretariat und Besprechungs-raum, empfängt SchulsozialarbeiterSoncan Somji seine Schützlinge mon-tags zum Vier-Augen-Gespräch. WennSchüler nicht mehr weiterwissen, dieLehrer Konflikte nicht im Unterrichts-alltag lösen können oder die Sorgen zuHause Kinder verfolgen bis in dieSchule, springt Soncan Somji ein. Er isthier als Honorarkraft, eingebunden inein Schulsozialarbeitsteam mit Festan-stellungen, vor allem zuständig für dieSchüler mit Migrationshintergrund. Erist Vertrauensperson, Freund, Vermitt-ler, Sparringspartner. Einer, der sie ernstnimmt, gemeinsam mit ihnen nachLösungen sucht oder einfach nur zu-hört, wenn es im langen Alltag derGanztagsschule hakt und klemmt. EineScharnierfunktion, denn die Schule imhannoverschen Stadtteil Linden istmehr Lebenswelt als Lehranstalt. Diemeisten Schüler sind von 8 bis 16 Uhrhier. Fast jeder Zweite hat einen Migra-tionshintergrund. Es ist ein alterArbeiterstadtteil, die soziale Mischungändert sich, doch nach wie vor sindArbeitslosigkeit, Armut und ethnischeKonflikte an der Tagesordnung.

Soncan Somji ist guter Dinge an diesemsonnigen Sommertag. Das wöchentli-che Treffen mit Serkan trägt ersteFrüchte. Er ist ruhiger geworden, sucht

nach anderen Lösungen, wenn es malkracht. Es war ein weiter, manchmalmühsamer Weg. Der 14-jährige, der an-fangs entsetzt dachte, er werde von derLehrerin „zu einem Psycho-Typ ge-schickt“, hat Vertrauen gefasst. Es hilftihm, bei Somji seine Probleme loswer-den zu können. Probleme mit denLehrern, mit Klassenkameraden, die„keinen Respekt vor mir haben“, mitKids auf dem Schulhof, die ihm dummkommen. Mit dem Deutsch-TürkenSomji, jugendlich, offen, dennoch klarund fordernd, fällt ihm das Gesprächauch leichter als mit seinen Eltern. ZumBeispiel über den Streit mit zwei neuenSchülern, die er hasste bis aufs Blut.„Früher hätte Serkan versucht, seinProblem selbst zu lösen – mit Gewalt“,sagt Somji. „Jetzt haben wir gemeinsamüberlegt: Woher kommt dieser Hass?Wie können sich die Kontrahenten ausdem Weg gehen? Wo sich annähern,zum Beispiel in einer Basketball-AG?“Und um regelmäßig Dampf abzulassen,beginnt Serkan nach den Ferien mitBodybuilding.

Natürlich, es braucht Zeit, um so einVertrauensverhältnis aufzubauen. Wieso oft ist einer der drei Schüler, die heu-te Morgen mit Somji einen Einzelter-min hatten, nicht erschienen. „Manchedenken, es sei etwas Schlimmes, wennsie zu mir geschickt werden“. Der 35-jährige lacht. „Aber ich arbeite nur mitKids zusammen, die freiwillig kom-

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men.“ Deshalb ist das erste Treffenimmer ein lockerer Austausch, in demer die Schüler reden lässt. Was machstDu gern in Deiner Freizeit? Wie geht’sDeiner Familie? Die Botschaft: Mir istwichtig, was Dir wichtig ist. Ich habeZeit für Dich. Manchmal schlendertSomji mit einem Schüler zum Frei-zeitbereich im Erdgeschoss, spielt einePartie Billard, Tischtennis, Backgam-mon oder hört Musik. „Die Schüler sol-len mich nicht nur als Repräsentantender Institution Schule sehen, sondernvor allem als einen von ihnen, derihnen hilft, selbst einen Ausweg auseiner schwierigen Situation zu finden.“

Wie bei Oktay*, dem großen, kräftigenJungen mit dem roten Igelschnitt ausder 7F. Entspannt lässt sich der 13-jähri-ge in den Stuhl sinken. „Hallo Soncan.“Seit Anfang des Jahres besucht Oktayeinmal die Woche in der Unterrichtszeitden Sozialarbeiter. Er hat den Stress mitden Mitschülern nicht mehr ausgehal-ten. Unablässig piesakten sie ihn wegenseiner üppigen Figur. In den Pausenstand er alleine da, bei Gruppenarbeitenfand er keinen Partner, auf seinemHandy sammelten sich gemeine SMS.„Ich habe nur noch gebrüllt und zurückbeleidigt.“ Wie wohltuend waren da dieGespräche mit Soncan Somji. Endlichwollte einer etwas von seinem Lebenwissen, von seinen Stärken. SeinemSpiel in der Rugby-Mannschaft, seinemEngagement bei der freiwilligen

Feuerwehr, seiner Sanitäterausbildung,seiner Leidenschaft fürs Angeln. „Ichwar erstaunt, dass es jemanden an derSchule gibt, mit dem ich darüber sogarauf Türkisch sprechen kann.“ Obwohlseine Eltern nur Türkisch sprechen,kann Oktay besser Deutsch. DurchSomji hat er sich in seiner zweitenMuttersprache verbessert.

Vor allem aber hat Oktay gelernt, dasser auf das Mobbing seiner Mitschülerauch anders reagieren kann. Was näm-lich würde eigentlich passieren, wennOktay die verbalen Attaken ignorierteoder Konflikten auswiche? Was geschä-he, wenn er sich bei AusfälligkeitenHilfe vom Klassenlehrer holte? „Ichhabe es ausprobiert – und war beein-druckt.“ Die Aggressionen der Mit-schüler legten sich. Endlich nahm auchdie Lehrerin die Sorgen des Jungenernst und sprach mit den Mobbern.Heute fühlt sich Oktay wieder wohl inder Klasse. Seinen Plan zu wechseln, hater aufgegeben.

Es sind Erfolge wie diese, die SoncanSomji stolz machen. Er weiß, wie schweres sein kann als Jugendlicher zu beste-hen. Gerade für jene, die zwischen denKulturen pendeln. Er selbst einReisender zwischen den Welten.Geboren und aufgewachsen als Sohnanatolischer Gastarbeiter in Hannover.Irgendwann hatte der Vater die Nasevoll von seinem Job bei VW. Die Eltern

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packten ihre drei jüngsten Kinder undgingen zurück in die Türkei. Da warSomji, der jüngste, neun Jahre alt. Rich-tig heimisch ist er in der fernen Welt derEltern nie geworden. Wo war dieFreiheit, die er von Deutschland kann-te? Schule ohne Uniform, lockererUnterricht, kicken bis in die Abend-stunden auf tollen Bolzplätzen – in derTürkei der 80-er Jahre undenkbar. „Dashabe ich als Zwang empfunden.“ Mit 15kehrt Soncan Somij nach Hannoverzurück, zu den älteren Schwestern, diein Deutschland geblieben sind. Beginntnach der 10. Klasse eine Lehre alsIndustriemechaniker bei der DeutschenBahn und kehrt doch wieder zu denEltern in die Türkei zurück, um dort dasAbitur zu machen und Journalistik zustudieren. „Anderen Menschen etwasvermitteln“, sie neugierig machen, dasreizt ihn. Er hätte auch Lehrer werdenkönnen. Aber Schülern Noten geben?Nein. „Der Zwang zur Bewertung verän-dert die Beziehung zu den Kindern undich hätte immer Angst gehabt, unge-recht zu sein.“

Nur: Mit Journalismus Geld verdienen?Eine harte Nuss, die Soncan Somji nachseiner erneuten Rückkehr in die Bun-desrepublik nicht knacken kann. SeineSchwester bringt ihn auf eine Idee:„Warum wirst Du nicht Sozialarbeiter?“Somji lacht. „Die Idee hat mich sofortbegeistert. Ich arbeite gerne mit Jugend-lichen, kann ihre Probleme nachvollzie-

hen, gerade die der Migranten.“ Somjimacht Nägel mit Köpfen, studiertSozialarbeit, engagiert sich in Einzel-fallhilfe und Freizeitpädägogik. 2005hat er das Diplom in der Tasche. Einen„leidenschaftlichen Schulsozialarbei-ter“, nennt sich Somji heute. Einer, derauch freiwillig mal in der Schule vorbei-schaut, selbst wenn er keinen Diensthat. Dem es wichtig ist, Kontakt zu hal-ten, Interesse zu zeigen, präsent zu sein.

Entspannt schlendert er durch das Schul-gebäude, zeigt Freizeiträume, Kicker,Cafeteria, den Fußballplatzbereich. ZweiJungs mit Kargoboots schlendern vor-bei. „Hey Soncan.“ Somji lächelt. „Hey,wir sehen uns beim Fußball.“ Die Jungsnicken. Der 35-jährige liebt denabwechslungsreichen Arbeitstag. Er bil-det Streitschlichter aus, um mit ihnen inRollenspielen Konflikte zu handeln,Lösungen zu finden, in Verträgen zubesiegeln. Er leitet eine Fußball- undeine Jungen-AG.

Doch das Wichtigste ist für SoncanSomji die individuelle Förderung in derEinzelberatung. Welche unentdecktenRessourcen haben Schüler wie Oktayoder Serkan? Wo kann er ihre Stärkenherauskitzeln, um ihnen mehr Selbst-bewusstsein und Vertrauen zu ihrenFähigkeiten zu geben? „Diese Schülererfahren in der Schule oft: Du kannstnichts. Du bist schlecht. Ich zeige ihnen:Schaut, das könnt ihr, darauf könnt ihr

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stolz sein.“ Natürlich gelingt das nichtimmer. Manche Schüler machen katego-risch dicht: „Die Lehrer mögen michnicht, weil ich schwarze Haare habe.“Leider, sagt Somji, gebe es tatsächlichVorurteile bei einigen Pädagogen, auchwenn sie es sich nicht eingestehen woll-ten. Oder Unkenntnis. Wie bei jenerLehrerin, die Serkan stets energisch zudisziplinieren versuchte, wenn er seineWut bekam. In solchen Fällen ist SomjiVermittler, der rät: Lass erst malabdampfen. Später ist er vielleicht zu-gänglicher.

Regelmäßig trifft sich Somji mitLehrern zum Austausch. Wie läufts, wohakt es, wie bewährt sich der Schüler imUnterricht, was steht in seiner Familiean? Nicht alle Pädagogen suchen frei-lich seinen Rat, einige bleiben lieber fürsich. „Ich wünsche mir mehr Akzeptanzund Wertschätzung für unsere Arbeit“,sagt Somji. „Gemeinsam können wirviel mehr für die Kinder bewegen.“ Aufwelcher Seite er steht, ist für SoncanSomji klar: „Ich verstehe mich alsAnwalt der Schüler“ Und die Schülerkönnen sich sicher sein: Ihr Anwalt hältdicht. Was sie ihm erzählen, bleibtunter vier Augen, wenn sie es wollen.Auch gegenüber den Eltern.

Erfolgreiche Förderung gelingt nur ineinem möglichst eng verzahnten Mit-einander von Eltern, Lehrer und Schul-sozialarbeitern. Elternarbeit steht für

Somji deshalb ganz oben. Ein mühsa-mes Geschäft. Seit Somji und eineKollegin aus der Sozialarbeit vor zweiJahren monatliche Elternabende einge-führt haben, schauen mehr Eltern mitMigrationshintergrund mal in der Schulevorbei. Informationen in fünf Sprachen,interessante Referate zu Themen wieBerufswahl oder Drogenmissbrauch –das überzeugte zumindest einige. Doches bleibt ein zähes Ringen. Somji seufzt.„Viele Eltern mit Migrationshintergrundhaben das Gefühl, dass ihre Kinderbenachteiligt werden. Wir versuchen Siezu ermutigen mitzuarbeiten.“

Also lädt er die Eltern zum Einzel-gespräch in die Schule ein oder besuchtsie zu Hause. Fungiert als Übersetzerund Mittler in Gesprächen zwischenEltern und Lehrern. Immer wieder ver-zweifelt Somji dabei an den Wider-sprüchen der Kulturen. Da ist einerseitsdas Wissen darüber, dass die türkischenEltern ein anderes Rollenverständnisvon Männern und Frauen haben als diedeutschen Kollegen. Da ist andererseitsseine Entrüstung, wenn türkischstämmi-ge Eltern ihren Töchtern verbieten, anSchwimmunterricht oder Klassenfahr-ten teilzunehmen. Somji: „Eltern ha-ben kein Recht, ihre Kinder auszuschlie-ßen. Sie stehlen ihnen wertvolle Chan-cen in der Entwicklung.“

Um so engagierter regt er bei seinenSchülern die kritische Auseinander-

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setzung mit kulturellen Werten an. Ist esin Ordnung, dass nur die Schwesternauf die jüngeren Geschwister aufpassenmüssen? Dass Jungs länger ausgehendürfen? Als er vor einigen Monaten miteinigen Jugendlichen den Film„Yasemin“ anschaute, ein Lehrstücküber kulturelle Gräben, Zwangsheirat,Ehrenmord, schlugen die Wogen hoch.„Krass, der kann doch nicht seine eige-ne Tochter umbringen“, erregte sich eintürkischer Junge. Somji lacht: „Vorherhatte dieser Junge nie darüber nachge-dacht, jetzt hat er es kapiert. Das tut un-heimlich gut.“

Genauso gut tun positive Rück-meldungen von Lehrern: Seitdem derSchüler bei dir ist, konzentriert er sichbesser im Unterricht, ist motiviertergeworden und ausgeglichener. Genausogut tun ermutigende Aussagen vonSchülern: Ich fühle mich jetzt wohlerhier an der Schule. Genauso gut tut eszu beobachten, wie sehr Schüler davonprofitieren, sich endlich mal alles vonder Seele quatschen zu können. „Schuleist heute längst nicht nur Lernort, son-dern auch Lebenswelt“, sagt Somji.„Wenn ich auch nur einen kleinen Bei-trag dazu leiste, dass die Schüler ihrenAbschluss schaffen und auf das Lebenvorbereitet sind, habe ich mein Zielerreicht - mehr Chancengerechtigkeitschaffen.“

Es ist drei Uhr. In der Pausenhalle sindStuhlreihen für eine Theateraufführungaufgebaut. Margaritenkübel säumen dieBühne. Zwei Mädels in buntenKostümen hopsen vorbei. SoncanSomji eilt zu seinem nächsten Termin.Nach den Einzelfallberatungen, demStreitschlichtertreffen und einem El-terngespräch hat er noch die Fußball-AG vor sich. Immer ist die Zeit knapp.Neben Honorarkraft Somji gibt es dreifestangestellte Sozialpädagogen, einigearbeiten Teilzeit. Verdammt wenig für1400 Kids. Wie so oft wird an der Prä-vention gespart. Weil der Schulleitungkeine weiteren Stellen genehmigt wur-den, engagierte sie Soncan Somji aufHonorarbasis. Immerhin, denn Schul-sozialarbeiter mit Migrationshinter-grund sind eine Rarität. „Dabei brau-chen doch gerade diese Kids Unter-stützung.“ Damit sie irgendwann aufeigenen Füßen stehen. Wie Oktay. Mitihm trifft sich Soncan Somji jetzt nurnoch alle zwei Wochen. Bald wird der13-jährige stabil genug sein, alleine sei-nen Weg zu gehen und der Welt dadraußen zu zeigen: Ich habe etwas zubieten und ich werde etwas darausmachen.

*Name auf Wunsch des Schülers geändert.

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1. „Individuelle Förderung“ im Verständnis sozialer Arbeit

Der Begriff „Förderung“ wird im pädagogischen Bereich – obwohl in einschlägigenLexika nur äußerst selten enthalten – bislang vor allem in der Sonder-, Behinderten-und Integrationspädagogik sowie der Ganztagsschuldebatte genutzt. Er zielt in derSonder-, Behinderten- und Integrationspädagogik auf die Unterstützung vonMenschen mit Lern- bzw. Entwicklungshandicaps ab. Ausschlaggebend für die großeResonanz und nicht selten wenig reflektierte Verwendung des Begriffspaares „indivi-duelle Förderung“ in der deutschen Ganztagsschuldebatte dürfte hingegen sein, dassGanztagsschulen die (PISA-)Kompetenzen von Schüler/innen fördern sollen undsich durch den längeren Schulaufenthalt der Schüler/innen, die anvisierte Rhythmi-sierung des Schulalltags und die angestrebte Kooperation mit außerschulischenPartnern besondere Chancen für eine individuelle Förderung von Kindern undJugendlichen versprochen werden. Auffällig ist jedoch, dass die Debatten zur indivi-duellen Förderung im Pädagogischen zumeist ohne eine klare begriffliche Konturvon individueller Förderung und ohne entsprechende Abgrenzung geführt werden.Aufgrund des fehlenden bzw. sehr weiten Begriffsverständnisses lässt sich so fast jedespädagogische Handeln inner- und außerhalb des Unterrichts als individuelleFörderung bezeichnen. Das Individuelle und das Spezifische von Förderung verliertallerdings an Gehalt, wenn alles pädagogische Handeln als individuelle Förderungdeklariert werden kann. Was meint individuelle Förderung also, wenn die Förderungoffensichtlich individuell erfolgen soll und Förderung mehr meint als alltäglichespädagogisches Handeln? Hier hilft ein Blick auf den individuellen Förderbedarf.

Bei genauerer Betrachtung ist ein individueller Förderbedarf keine feststehendeGröße, sondern eine Konstruktion. Ein individueller Förderbedarf im Schulbereichlässt sich vor allem dort konstruieren, wo einzelne Kinder und Jugendliche besondereSchwächen oder Stärken gegenüber den übrigen jungen Menschen aufweisen und füreine gelingende Bewältigung ihrer (Lern-)Anforderungen, Lebensführung undEntwicklungsaufgaben einer Unterstützung bedürfen. Grundlegend ist dabei eineDifferenz zwischen individuellen Kompetenzen und Potenzialen einerseits und schu-lischen Normalitätserwartungen andererseits.

Es könnte naheliegen, sich bei der Bestimmung des Förderbedarfes auf eine testge-stützte Diagnostik individueller Leistungsdefizite bei den Schülerinnen und Schülersowie eine individuelle Förderung der entsprechenden kognitiven Kompetenzen zukonzentrieren. Dies würde jedoch dazu führen, Stärken und Begabungen vonSchülerinnen und Schülern, besonders im außerunterrichtlichen Bereich, zu negieren

Karsten Speck

Individuelle Förderung und Sozialpädagogische Professionalität

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sowie individuelle Defizitzuschreibungen zu fördern. Im sozialpädagogischenBereich wird hingegen ein breites Bildungsverständnis präferiert, dass über formale,nonformale und informelle Settings eine kognitive, emotionale, soziale und motori-sche Weiterentwicklung von Kindern und Jugendlichen beinhaltet und deren gesam-te Lebenslage im Blick hat (vgl. die Beiträge in Deinet/Reutlinger 2004, BMBF 2004,BMBF 2002 und 2005, Bundesjugendkuratoriums 2001).

Ein individueller, sozialpädagogischer Förderbedarf entsteht im Schulbereich vor die-sem Hintergrund besonders dann, wenn Bildungsprozesse in Schulen stark standar-disiert, Kinder und Jugendliche nur in ihrer Schüler-/Unterrichtsrolle wahrgenom-men werden und im pädagogischen Handeln auf die (wachsende) Heterogenität derSchülerinnen und Schüler wenig Rücksicht genommen wird. Oder anders formuliert:Eine individuelle Förderung ist immer dann erforderlich, wenn im alltäglichenLehrerhandeln keine Binnendifferenzierung stattfindet, eine Fokussierung auf kogni-tive Schulleistungen erfolgt und der Selektionsauftrag von Schule denIntegrationsauftrag verdrängt. Im ungünstigsten Falle werden mit individuellenFörderangeboten der Schulsozialarbeit so strukturelle und selbst erzeugte Mängel imBildungssystem und Lehrerhandeln ausgelagert, Schülerinnen und Schüler als förder-bedürftig stigmatisiert und entsprechende Veränderungen im System Schule und imLehrerhandeln erschwert (vgl. Winkler 2009).

Dies ist nun allerdings kein Plädoyer gegen die Schulsozialarbeit oder gegen eineindividuelle Förderung im Rahmen von Schulsozialarbeit. So machenUntersuchungen darauf aufmerksam, dass eine individuelle Förderung in Schulendurch einen akuten Handlungsdruck, fehlende Zeit- und Personalressourcen, unzu-reichende Fachkompetenzen sowie konzeptionelle Mängel erschwert werden (vgl.Beher u. a. 2005). Hier bieten sich durchaus Ansatzpunkte für die Schulsozialarbeit.

2.Verbindungslinien von Schulsozialarbeit und individueller Förderung

Darauf aufbauend stellt sich nun die Frage nach den konkreten Verbindungslinienvon Schulsozialarbeit und individueller Förderung. Eine einfache Antwort hierauf istaufgrund der bislang seltenen Verwendung des Begriffspaares „individuelle För-derung“ in der Sozialen Arbeit im Allgemeinen und in der Schulsozialarbeit imBesonderen nicht zu erwarten. Für eine Verdeutlichung von Verbindungslinien zwi-schen Schulsozialarbeit und individueller Förderung erscheint insofern zunächst eineKlärung darüber erforderlich, was unter Schulsozialarbeit zu verstehen ist und welche

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Ziele in diesem Arbeitsfeld angestrebt werden. Die Meinungen hierüber gehen aus-einander (vgl. Speck 2009). Vereinfacht formuliert, kann unter Schulsozialarbeit einAngebot der Jugendhilfe verstanden werden, bei dem sozialpädagogische Fachkräftein Anlehnung an den § 1 SGB VIII/KJHG kontinuierlich am Ort Schule tätig sindund mit Lehrkräften auf einer verbindlich vereinbarten und gleichberechtigten Basiszusammenarbeiten, um:

a) junge Menschen in ihrer individuellen, sozialen, schulischen undberuflichen Entwicklung zu fördern,

b) dazu beizutragen, Bildungsbenachteiligungen zu vermeiden undabzubauen,

c) Erziehungsberechtigte und Lehrer/innen bei der Erziehung unddem erzieherischen Kinder- und Jugendschutz zu beraten und zuunterstützen sowie

d) zu einer schülerfreundlichen Umwelt beizutragen (vgl. Bolay 2004,Speck 2009).

Kinder und Jugendliche haben dabei einen Anspruch auf eine Förderung ihrerPersönlichkeit (§ 1 SGB VIII, vgl. auch die Schulgesetze). Konkret geht es darum, mitHilfe von Schulsozialarbeit Kinder und Jugendliche am Ort Schule in ihrer Identitäts-und Persönlichkeitsentwicklung zu begleiten, in ihrer schulischen und außerschuli-schen Lebensbewältigung zu unterstützen sowie in ihren sozialen Kompetenzen zufördern (vgl. Böhnisch 1997). Zur Erreichung dieser pädagogischen Ziele werden inder Schulsozialarbeit im Regelfall folgende sozialpädagogischen Angebote bereitge-stellt:

1. die Beratung und Begleitung von einzelnen Schüler/innen, 2. die sozialpädagogische Gruppenarbeit, 3. die Zusammenarbeit mit und Beratung der Lehrer/innen und

Erziehungsberechtigten, 4. offene Gesprächs-, Kontakt- und Freizeitangebote, 5. die Mitwirkung in Unterrichtsprojekten und in schulischen Gremien

sowie 6. die Kooperation und Vernetzung mit dem Gemeinwesen (vgl. GEW

2003, Kooperationsverbund 2006).

Die skizzierten Ziele und Angebote verweisen bereits auf Verbindungslinien zwischender schulsozialarbeiterischen Tätigkeit und der individuellen Förderung hin. BeideTätigkeiten zielen – trotz mancher Differenzen und unterschiedlicher Schwerpunkt-setzungen – auf:

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1. einen Rechtsanspruch auf Förderung der eigenen Persönlichkeit 2. die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen, 3. das schulische Setting, 4. einen konkreten Unterstützungsbedarf von Einzelnen bzw.

Gruppen sowie 5. ein darauf abgestimmtes pädagogisches Handeln ab.

3. Konsequenzen für die sozialpädagogische Professionalität in der Schulsozialarbeit

Aus der Begriffs-, Ziel- und Angebotsklärung von Schulsozialarbeit lässt sich einerweitertes und ein enges Verständnis von individueller Förderung in derSchulsozialarbeit mit Konsequenzen für die sozialpädagogische Professionalität inder Schulsozialarbeit ableiten. Bei einem erweiterten, integrierten Verständnis haben Schulsozialarbeiterinnen undSchulsozialarbeiter die grundlegende Aufgabe, bei all ihren sozialpädagogischenAngeboten eine individuelle Förderung von Kindern und Jugendlichen zu gewährlei-sten, um deren Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung, die schulische und außer-schulische Lebensbewältigung sowie soziale Kompetenzen zu unterstützen.Individuelle Förderung ist in diesem Verständnis eine Querschnittsaufgabe undSchulsozialarbeit per se eine individuelle Förderung, da die Unterstützungsangebotebedarfsbezogen vorgehalten werden, kompensatorisch zum schulischen Regel-angebot fungieren und oftmals direkt oder zumindest vermittelt auf einzelneSchülerinnen und Schüler ausgerichtet sind. So zielen beispielsweise Beratungen voneinzelnen Schüler/innen auf individuelle Hilfen bei der Lebensbewältigung, sozial-pädagogische Gruppenangebote auf die Förderung sozialer Kompetenzen und dieZusammenarbeit mit LehrerInnen und Erziehungsberechtigten zumindest moderie-rend auf eine Förderung der Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung von einzel-nen Kindern und Jugendlichen ab. Als problematisch beim weiten Verständnis vonindividueller Förderung erweist sich, dass Schulsozialarbeit und individuelle För-derung gleichgesetzt und begrifflich-konzeptionelle Differenzen aufgehoben werden.

In einem engen, angebotsbezogenen Verständnis von individueller Förderung werden hinge-gen nur solche Angebote der Schulsozialarbeit gewertet, die auf der Basis entspre-chender Fallanalysen zu einer gezielten Planung, Durchführung und Evaluation vonUnterstützungsangeboten für einzelne Kinder und Jugendliche führen. Beispielehierfür sind eine im Krisenfall durchgeführte Individualberatung, soziale

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Kompetenztrainings, erlebnispädagogische Maßnahmen oder Lernangebote. Solchegezielten Förderangebote werden in der Praxis besonders dann unterbreitet, wenn dieschulische der außerschulischen Lebensbewältigung von einzelnen Kindern undJugendlichen erschwert ist oder ein Bedarf hinsichtlich der sozialen Kompetenzenkonstatiert bzw. geäußert wird. Dies kann bei mangelnder Sensibilität für dieInteressen und Belastungen von Kindern und Jugendlichen – wie oben erläutert –allerdings auch zu einer Stigmatisierung (z. B. Abbau von Verhaltensauffälligkeiten,Trainingsraum) sowie einer Vernachlässigung struktureller Mängeln imBildungssystem und im Lehrerhandeln führen.

Im Interesse einer modernen Jugendhilfe ist wichtig, dass sich die Schul-sozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter nicht auf die „Bearbeitung schwierigerSchülerinnen und Schülern“ reduzieren lassen oder allein auf die Verringerung vonSchwierigkeiten, Problemen und Defiziten zu fokussieren. Erforderlich ist vielmehrim Sinne eines autonomen, sozialpädagogischen Handelns

a) einen Anregungsbedarf bei allen Kindern und Jugendlichen wahrzu-nehmen (z. B. Interessen, Stärken, Begabungen),

b) die gesamte Lebenssituation und die Wahrnehmung der Kinder undJugendlichen zu berücksichtigen (z. B. außerschulische Situation,fehlende Anerkennung),

c) geeignete Unterstützungsangebote und Kooperationspartner zuermitteln (z. B. Drogenberatung, Familientherapie),

d) Ausgrenzungen und Stigmatisierungen durch sozialpädagogischeAngebote zu vermeiden (z. B. Kontrollinstanz oderVerhaltenstherapeuten),

e) in erster Linie den persönlichen Eigenwert für die Adressaten imBlick zu haben (z. B. keine unreflektierte Unterordnungen undAnpassung) und

f) gegebenenfalls auf schulinterne Veränderungen hinzuwirken (z. B. Sichtweise auf Schülerinnen und Schüler, systeminterneProblembearbeitung).

Für eine gelingende individuelle Förderung in der Schulsozialarbeit erscheint esdaher wichtig, ein eigenes, sozialpädagogisch begründetes Förderverständnis unterBerücksichtigung der Lebenslagen und Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichenzu entwickeln, in der Praxis eine multiperspektivische und biographisch angelegteDiagnostik und Fallarbeit durchzuführen sowie eine klare Aufgabenklärung undKooperation zwischen Lehrer/innen und Schulsozialarbeiter/innen anzustreben.

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Literatur

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Böhnisch, L. (1997): Sozialpädagogik der Lebensalter. Eine Einführung. Weinheim/MünchenBolay, E. (2004): Überlegungen zu einer lebensweltorientierten Schulsozialarbeit; in: Grunwald,

K./Thiersch, H. (Hrsg.), Praxis Lebensweltorientierter Sozialer Arbeit. Handlungszugänge undMethoden in unterschiedlichen Arbeitsfeldern, Weinheim/München, S. 147-162

Bundesjugendkuratorium (BJK)/Sachverständigenkommission des Elften Kinder- und Jugendberichtes undArbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (AGJ) (2002): Bildung ist mehr als Schule. Leipziger Thesen zuraktuellen bildungspolitischen Debatte. Gemeinsame Erklärung des Bundesjugendkuratoriums, derSachverständigenkommission des Elften Kinder- und Jugendberichtes und der Arbeitsgemeinschaft fürJugendhilfe. Bonn, Berlin und Leipzig

Bundesjugendkuratoriums (2001): Zukunftsfähigkeit sichern! Für ein neues Verhältnis von Bildung undJugendhilfe. Eine Streitschrift des Bundesjugendkuratoriums. Berlin

Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (Hrsg.) (2004): Konzeptionelle Grundlagen füreinen Nationalen Bildungsbericht – Non-formale und informelle Bildung im Kindes- und Jugendalter,Bildungsreform Bd. 6, 2. Aufl. Berlin

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hrsg.) (2005): Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder-und Jugendhilfe in Deutschland, Bonn

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hrsg.) (2002): Elfter Kinder- undJugendbericht – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- undJugendhilfe in Deutschland, Bonn

Deinet, U./Reutlinger, C. (2004): ”Aneignung” als Bildungskonzept der Sozialpädagogik. Beiträge zurPädagogik des Kindes- und Jugendalters in Zeiten entgrenzter Lernorte. Wiesbaden

Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) (2003): Diskussionspapier der GEW. Profil undPerspektiven der Schulsozialarbeit. Beschluss des Hauptvorstandes am 14./15. November 2003, o.O.

Kooperationsverbund Schulsozialarbeit (Hrsg.) (2006): Berufsbild und Anforderungsprofil derSchulsozialarbeit. Frankfurt am Main

Speck, K. (2009): Schulsozialarbeit. Eine Einführung. München/Basel

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Pädagogische Angebote können nur dann wirksam werden, wenn sie von den jewei-ligen Adressat/innen auch angenommen werden können (Bauer 2008). Daher richtenwir die Aufmerksamkeit zunächst auf ein Fallbeispiel, an dem sich die biografischenAneignungs- und Nutzungsmuster von Schulsozialarbeit durch Schülerinnen undSchüler prägnant verdeutlichen lassen (ausführlich: Flad/Bolay 2006). Danach erläu-tern wir Merkmale von Fachlichkeit, in denen sich die spezifische sozialpädagogischeFörderlogik von Schulsozialarbeit konturiert, und dafür notwendige Rahmen-bedingungen.

1. Aneignungs- und Nutzungsmuster von Schulsozialarbeit in biografischer Perspektive

Gen besucht die sechste Klasse einer Hauptschule in einer großen Industriestadt undist inzwischen fünfzehn Jahre alt. Seit zweieinhalb Jahren lebt er dauerhaft inDeutschland, zuvor wohnte er in der Dominikanischen Republik, war jedoch immerwieder mehrere Monate zu Besuch in Weißstadt und besuchte dann intensiv dasJugendhaus. Nach seiner Einbürgerung musste er sechs Monate lang eine internatio-nale Sprachschule besuchen, um deutsch zu lernen. Das könne er jetzt „gescheit“, wieer versichert. Die Eltern sind geschieden, der Vater lebt „in Amerika“. Den Schul-sozialarbeiter kennt er schon seit Längerem aus dem Jugendhaus, das sein zweitesZuhause geworden ist. „Ich bin fast jeden Tag da“, insbesondere freitags, wenn„Studio“ ist und Rapmusik „recorded“ wird. Gen fühlt, denkt und agiert im jugend-kulturellen Selbstbild des Rappers. Rapper sind Sprachtalente, die einerseits beson-ders gut sprechen können und andererseits durch eine originelle Gebrauchsweise derSprache, durch ein Unterwerfen der formalen Grammatik unter die Gesetzmäßig-keiten des treibenden Beats Anerkennung finden. Wenn Gen zu verstehen gibt „mankann sagen, wir sind Rapper“ dann bekommt diese Selbstaussage eine spezielle Note:Ausgerechnet Sprachvirtuosität als sein zentrales Ausdrucksmedium und Identitäts-kern wird in der Schule negiert und als Defizit markiert; seine Sprachkenntnisse rei-chen nicht aus, um auf der Schule mithalten zu können, weshalb er „früher immerdie Schule geschwänzt [hat], weil ich hatte immer Schiss. Wenn ich keine Hausauf-

2)

1)

Eberhard Bolay, Carola Flad

Zur Struktur individueller Förderung durchSchulsozialarbeit – Analyse eines Fallbeispiels

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1) Die empirische Basis zu diesen Überlegungen entstammt zwei Forschungsprojekten zurImplementierung von Schulsozialarbeit (Bolay/Flad/Gutbrod 2003; Bolay/Flad/Gutbrod 2004).

2) In dieser Kommune ist die Schulsozialarbeit bei einem sozialräumlich zuständigen freien Trägerangesiedelt und so umgesetzt, dass die Fachkräfte in der Funktion als SchulsozialarbeiterInnen mit 50 Prozent in der Schule arbeiten und mit weiteren 50 Prozent in einem zweiten Jugendhilfebereichinnerhalb des Stadtteils (z. B. offene Jugendarbeit; mobile Jugendarbeit; Hilfen zur Erziehung).

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gaben verstanden habe oder so, bin ich nicht in die Schule gegangen, weil ich hatteSchiss, dass die Lehrer mir was sagen.“

Gen fühlt sich für seine Mutter verantwortlich. „Wenn irgendetwas los ist, eineFreizeit, wo ich mitfahren kann, wie die jetzt in den Pfingstferien, da gehe ich fast niemit, weil meine Mum ist dann hier alleine zwei Wochen lang. (...) Ich weiß nicht, ichbin hier eigentlich, um auf meine Mum aufzupassen. (...) Ich lasse sie nicht zweiWochen alleine. Ich weiß nicht. Kein Vertrauen“. Seine Pläne für die Zukunft sindebenfalls durch die Beziehung zur Mutter beeinflusst. Er möchte Automechanikerwerden und begründet dies so: „Das gefällt mir. Ich kenn mich gut aus. Ich repariereimmer das Auto von meiner Mum. Weil, als ich klein war, hatte mein Vater halt soein Automechanik-Ding. Und da habe ich immer mitgemacht und er hat mir halt vielerklärt. Aber mein Vater und meine Mum sind geschieden. Von daher… Jetzt mussich auf sie aufpassen.“ Autos zu reparieren ist gewissermaßen ein familiäres Moment;indem Gen in die Fußstapfen des abwesenden Vaters tritt, knüpft er an seine Ver-gangenheit an, an einen positiven Moment der Vater-Sohn-Beziehung und verbindetsie mit dem gegenwärtigen Bemühen, sich sorgsam um seine Mutter zu kümmern.Der Berufswunsch Automechaniker steht nach Gens Erfahrungen in Verbindung mitder intakten Familie. Im Kontext seiner Familie nimmt Gen nun eine Alternativrollezum Kindsein ein, er entwirft sich selbst als „männlichen Beschützer” der Mutter.

Gen charakterisiert den Schulsozialarbeiter, Tobias Herder, als den „einzigen größe-ren Menschen, dem ich vertraue. Ich nenn ihn immer Onkel“. Über diese metapho-rische Bezeichnung integriert er den Sozialarbeiter in den familiären Nahkontext.Was Tobias Herder für die Rolle des „Onkels“ qualifiziert – also eines erwachsenenGegenübers, das ihm in „natürlicher” Weise zugeneigt ist –, bildet sich in dreiBeziehungsmomenten ab:

„Tobi“ erweist sich als verlässlicher Handlungspartner: Gen nimmt seine man-gelnden Deutschkenntnisse zum Anlass, sich von Tobias Herder helfen zu las-sen: „Er hat sich tagelang mit mir hingesetzt, weil ich musste das Hip-Hop-Referat mit eigenen Wörtern schreiben (…). Und dann hat er mir immergeholfen und erklärt, wie was ist. Ist eine glatte Eins dabei rausgekommen.“Auffallend an der Darstellung des gemeinsamen Lernens ist die Betonung „erhat sich tagelang mit mir hingesetzt.“ Die Aussage orientiert sich nicht anRealzeit, sie ist symbolisch zu verstehen und betont die Unnachgiebigkeitund Konsequenz, mit der beide das Ziel verfolgt haben, einen guten Aufsatzzu schreiben. Das Hip-Hop-Referat ist subjektiv empfunden zum gemeinsa-

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men Projekt geworden, in dem der Schulsozialarbeiter Gen sein Sprachwissenverfügbar machte.

Tobias Herder handelt stellvertretend: Gen möchte Automechaniker werden.Auf die Frage, ob er sich darüber mit dem Schulsozialarbeiter austauschenwürde, antwortet er: „Schon. Fast jeden Tag. Weil der ist der Einzige, der mirdabei hilft, … der sich halt extra Zeit lässt.“ Auch in dieser Passage zeigt sicheine als außergewöhnlich beschriebene Zuwendung: Tobias Herder unter-stützt Gen dabei, sein berufliches Ziel zu erreichen. Er begleitet dieses„Projekt“ verantwortungsvoll, organisiert für ihn den Wechsel von derHauptschule in eine Klasse des Berufsvorbereitungsjahrs, arrangiert dabeistellvertretend für die Mutter die Aufnahme an der neuen Schule.

Der Sozialarbeiter ist für Gen in einer dauerhaften Struktur präsent: ImUnterschied zu seinem leiblichen Vater erfährt Gen durch den Schulsozial-arbeiter kontinuierliche und auch kritische Zuwendung, er ist in einer verläss-lichen, professionellen Struktur präsent. „Er ist schon ein paar Jahre im Jugend-haus. Er arbeitet im Jugendhaus, sein ganzes Leben, kann man sagen.“ Mitdieser Festschreibung begründet Gen den stabilen und dauerhaften Charakterder Unterstützung. Er interpretiert seine Beziehung zu Herder auf der Basiseines Beziehungsangebots, das im professionellen Kontext des Jugendhausesgründet und in die Schule hinein erweitert ist.

Zusammenfassend wird an diesem Fallbeispiel folgendes kenntlich:Seit vier Jahren, d. h. beinahe ein Drittel seines Lebens, erfährt Gen durch TobiasHerder eine zwar intensive jedoch unspektakuläre biografiebegleitende Unter-stützung: „Es ist anders jetzt. Ich bin inzwischen anders.“ In der Beziehung zu TobiasHerder normalisiert sich seine Rolle als Jugendlicher. Er ist nicht mehr der Rapper,der als Provokateur, Schlägertyp und per Schulboykott auffällt und auch nicht nurder 15-jährige, der emotional die alleinige Verantwortung gegenüber der Mutter trägt.Er ist Heranwachsender, der altersgerecht behandelt werden und eine Entwicklungs–perspektive von der Gegenwartsorientierung in eine mögliche Zukunft finden will.

Das Jugendhilfeangebot wird Schüler/innen/Jugendlichen in einer Struktur präsentund geläufig, die im professionellen Kontext, in dem es erfolgt, die authentischenMomente einer „natürlichen” im Gegensatz zu einer funktionalen Beziehung als aus-schlaggebend hervorhebt. Schulsozialarbeit ist für die Schülerinnen und Schüler stetsmehr als eine Reihe von mehr oder weniger attraktiven Angeboten.

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Schließlich belegt die Analyse des Fallbeispiels, dass jugendliche Nutzer/innenSchulsozialarbeit als eine weitere Beziehungsoption auffassen, die sie neu und andersim Kontext ihrer schulischen Erfahrungen als spezifische Generationenbeziehungverarbeiten. Die Jugendlichen erleben ihren Bezug zu den Jugendhilfefachkräften alsDifferenz zu den in der Schule angebotenen Beziehungsmustern: sei es zwischenLehrkraft und Schülerin oder Schüler (als „intergenerationale Generationen-beziehung“), sei es unter Mitschülerinnen und Mitschülern (als „intragenerationaleGenerationenbeziehung“) (vgl. Lüscher/Liegle 2003, 172).Evident wird der unmittelbare Gebrauchswert von Schulsozialarbeit in der Stabi-lisierung des Jugendlichen in seiner Rolle als Schüler und in der Qualifizierung sei-nes Umgangs mit den Verhaltens- und Strukturanforderungen der Schule. Aus GensSicht scheint das Angebot des Schulsozialarbeiters direkt auf ihn zugeschnitten zusein, er kann es in entscheidenden Fragen in Anspruch nehmen. Dadurch, sowiedurch die langfristige Präsenz der Fachkraft, erlangt es für den Jugendlichen biogra-fische Relevanz.

2. Orientierung der Förderlogik von Schulsozialarbeit am Fokus des biografischen Lernens

Die Analyse des Fallbeispiels verweist auf eine spezifische Förderlogik im Rahmenvon Schulsozialarbeit. „Fördern” entfaltet sich hier weder im Rahmen eines spezifi-schen Arrangements (z. B. als Förderunterricht) noch als spezialisierte Hilfe (etwa imKontext fokussierter Beratung), sondern offen, lebensweltnah und prozesshaft in denAlltag der Jugendlichen eingelassen (Bolay 2004), sowie in hohem Maße durch sieselbst mitgesteuert (Koproduktion). Förderung im Kontext von Schulsozialarbeit lässtsich deshalb zutreffend als an biografischem Lernen orientiert charakterisieren. DreiFachlichkeitsmerkmale, die dieses Förderverständnis konturieren, wollen wir nun her-vorheben:

Jugendkulturelle Sensibilität der FachkräfteDie von uns befragten Jugendlichen schildern den Kontakt zu den Jugendhilfe-fachkräften als Kontakt, der auf Regeln der Jugendkultur basiert. „Der redet halt mituns so wie unter uns Jugendlichen, dass es besser passt.“ Sie interpretieren diesesInteraktions- und Kommunikationsmuster als professionelle Kompetenz, verwech-seln die Fachkräfte also keinesfalls mit Gleichaltrigen. „Die behandeln uns wie soFreunde, nicht wie Schüler oder wie kleine Kinder, weil sie jetzt älter sind. Mit denenkann man einfach besser reden.“ Die vermittelte Anerkennung von Lebensreife und

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-kompetenz, die sich in dieser Erfahrung verbalisiert, ist Ausdruck einerBeziehungsgestaltung, die auf Aushandlung beruht.„Eigentlich studiert er die Jugendlichen den ganzen Tag. (...) Der ist mit Jugendlichenhalt immer zusammen. Und dann weiß er, was gut ist, und wie man mit denenredet.“ Die Jugendlichen verstehen es als Spezifikum der Schulsozialarbeiter/innen,sich gezielt Wissen über Jugendliche anzueignen und dieses Wissen sprach- und sinn-verstehend in ihrem Angebot zu verwerten. Jugendkulturelles Wissen der Fachkräftewird von den Schülerinnen und Schülern in zweierlei Hinsicht als elementar aufge-fasst. Einmal wirkt es in die Angebote hinein und weist sie als an den Jugendlichenorientierte Angebote aus. Zum anderen schlägt es sich im fachlichen Habitus derFachkräfte nieder und authentisiert sie als relevante Bezugspersonen. Damit im Zu-sammenhang steht eine weitere Bedeutungskomponente in den Erlebensweisen derJugendlichen, die sich allerdings nicht ausschließlich aus der Erfahrung einer jugend-kulturellen Nähe erklärt. Anders als Lehrkräfte müssen sie den Altersunterschiednicht als Rechtfertigung für eine hierarchische Beziehung werten. Die jugendkulturellanschlussfähige Handlungsweise der Fachkräfte bildet für die Heranwachsendenoffenbar eine Orientierungsmöglichkeit, um sie sich als „andere Erwachsene“ (Wolf2002) sinnstiftend in ihrem Erfahrungshorizont anzueignen.

Generationenbeziehung als LernangebotDurch die Jugendhilfefachkräfte wird den Jugendlichen ein spezifisches Wissen zurVerfügung gestellt, das sie als vorteilhaften Vorsprung interpretieren, den es zu nut-zen gilt. „Wir lernen ja auch aus unseren Fehlern irgendwie. Und sie machen uns dashalt verständlich.“ Schülerinnen und Schüler lernen, ihr eigenes Verhalten zu reflek-tieren und fassen dies als Bildungsmoment auf. Beiläufig, nicht vorstrukturiert undimmer wieder ergeben sich solche Lerngelegenheiten. Dabei unterstellen sie implizit,dass die Erfahrungswelten zwischen Jugendlichen und Fachkräften nicht allzu weitvoneinander entfernt seien, „wir sind wie Freundinnen.“ Den Unterschied zu Gleich-altrigen erkennt sie dennoch: „Sie sind halt erfahrener. Wahrscheinlich haben dieauch mal Erfahrungen gesammelt, und ja, das können die dann an uns weiterleiten.“Schulsozialarbeit ermöglicht mit situationsbezogener Handlungskompetenz spezifi-sche Bildungsprozesse, die sich unterscheiden von formalen schulischen Bildungs-arrangements. Sie inszeniert in ihrer Projektarbeit Prozesse der nonformalen Bildungund eröffnet vor allem auch ein Terrain für informelle Bildungsprozesse, insofern diesozialpädagogischen Fachkräfte Schülerinnen und Schülern Gelegenheiten verschaf-fen, alltagsbezogene Erfahrungen an und mit ihnen abzuarbeiten (vgl. Streblow2003). Die empirischen Befunde unserer Untersuchungen legen nahe, dass Schul-sozialarbeiter/innen für diese Aufgabe aus Sicht der Jugendlichen dann bestens in

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Frage kommen, wenn sie nicht auf formalistische Muster der Kommunikation undInteraktion zurückgreifen. Sie werden zu heimlichen Vorbildern im solidarischenHandeln, im Argumentieren und Vertreten eigener Positionen.

Zeiterfahrung von Stabilität und VerlässlichkeitDie fachliche Strukturlogik, die auf Seiten der Professionellen die Ausrichtung desAngebots steuert und die eigene Berufsrolle bestimmt, ist für die Schülerinnen undSchüler nicht von Belang. Gens Aussagen zeigen eine andere Perspektive, nämlich dieeines grenzenlos verfügbaren Schulsozialarbeiters. Diese Perspektivendifferenz lässtsich jedoch dechiffrieren als den eigenen Bedürfnissen angemessene Auswahl auseiner Optionenvielfalt an spezifischen Formen der Unterstützung und personalenBegleitung. Am Faktor „Zeit” zeigt sich, dass das fachlich-konzeptionelle Kalkül unddas Nutzungskalkül der Jugendlichen durchaus auseinandertreten können: Aus derPerspektive der jugendlichen Nutzer/innen spielen Zeiterfahrungen eine wesentlicheRolle in der Aneignung des Jugendhilfeangebots. Im Kontrast zum zeitlich struktu-rierten schulischen Alltag, in den sich die Schülerinnen und Schüler einpassen müs-sen, erleben sie in den Angeboten der Schulsozialarbeit die Potenzialität einer flexi-bel-bedarfsbezogenen Zeitstruktur, die sie entlang ihrer Bedürfnisse weitgehendselbst steuern können. Dadurch fühlen sie sich durch die Jugendhilfefachkräfte ernstgenommen. Im Fallbeispiel Gen wurde die Bedeutung von Zeit und die damit kon-notierte besondere Zuwendung, die er erfahren hat, schon deutlich. Diese Erlebnisqualität scheinbar nicht reglementierter Zeitquanten bildet ein typi-sches Muster in den Aussagen der Jugendlichen: „man kann jederzeit zu ihnengehen“; „die sind immer bereit, mit dir zu reden, dafür sind sie da“; „wenn ichProbleme habe, rufe ich sie sogar auf dem Handy an“ etc. Zeit ist schließlich auch einKriterium, an dem sie die Qualität des Jugendhilfeangebots bewerten: „Das schlimmstewäre, wenn ein Schüler reinkommt und er sagt: ‚keine Zeit’.“Auch dieses Merkmal von Fachlichkeit verweist auf die Zugänglichkeit des Angebots.Schülerinnen und Schüler erleben die sozialpädagogischen Fachkräfte an der Schuleals stabile und verlässliche Erwachsene außerhalb von präformierten und zum Teilbelasteten pädagogischen Bezügen in Unterricht und auch Familie.

3. Rahmenbedingungen für eine sozialpädagogische Förderpraxis an Schulen

Vier Rahmenbedingungen zur Entfaltung einer sozialpädagogischen Förderpraxis anSchulen lassen sich schlussfolgern: Erstens ein niederschwellig erreichbares, stabiles

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und für die Schülerinnen und Schüler kalkulierbares Angebot, das sensibel ist fürunterschiedliche Bedürfnisse und Interessen von Jugendlichen, sich ihnen aktivzuwendet und sie zum experimentierenden Erweitern ihrer Handlungsmöglichkeitenanimiert. Beziehungshandeln erfordert zweitens eine langfristige und entsprechendkalkulierbare Präsenz der Fachkräfte in der Schule, um einen biografischenGebrauchswert nach sich zu ziehen. Drittens haben Jugendhilfekräfte an der Schuleeinen spezifischen Handlungsauftrag, spezifische Handlungsmöglichkeiten und einspezifisches fachliches Repertoire, das von dem der Schule systematisch unterschie-den ist. Diese Differenzerfahrung ermöglicht erweiterte Sozialisations- undBildungsprozesse der Jugendlichen im Handlungskontext von Schulsozialarbeit, diesich auch förderlich auf den Umgang der Jugendlichen mit den schulischenHandlungsimperativen auswirken. Viertens erweist sich das aus dem Blickwinkel derjugendlichen Nutzer/innen eingeforderte Berufsprofil der Fachkräfte als inkompati-bel mit einem manageriellen, einem beraterisch-therapeutischen oder einem institutio-nell-normierenden Handlungsverständnis. Am ehesten scheint ein reflexiv-partizipato-rischer Professionstypus angemessen zu sein, dem es um eine „‚Egalität’ der Wissens-und Erfahrungsdomänen sowohl der Professionellen als auch der Adressat/innen in derkonkreten Handlungssituation“ geht (Kunstreich/Lindenberg 2002: 358).

Literatur

Bauer, P. 2008: Die Aneignungsperspektive in der Wirkungsforschung zur Schulsozialarbeit. In: Zeitschriftfür Sozialpädagogik 6. H. 4. S. 419-441

Bolay, E. 2004: Überlegungen zu einer lebensweltorientierten Schulsozialarbeit; in: Grunwald, K./Thiersch,H. (Hg.), Praxis Lebensweltorientierter Sozialer Arbeit. Handlungszugänge und Methoden in unter-schiedlichen Arbeitsfeldern, Weinheim/München, S. 147-162

Bolay, E./Flad, C./Gutbrod, H. 2003: Sozialraumverankerte Schulsozialarbeit, herausgegeben vomLandeswohlfahrtsverband Württemberg-Hohenzollern. Stuttgart.[download: http://tobias-lib.ub.uni-tuebingen.de/volltexte/2005/1785/]

Bolay, E./Flad, C./Gutbrod, H. (2004): Jugendsozialarbeit an Hauptschulen und im Berufsvorberei-tungsjahr in Baden-Württemberg, herausgegeben vom Sozialministerium Baden-Württemberg.Tübingen/Stuttgart. [download: http://tobias-lib.ub.uni-tuebingen.de/volltexte/2005/1784/]

Flad, C./Bolay, E. 2006: Schulsozialarbeit aus der Perspektive von Schülerinnen und Schülern; in: Bitzan,M./Bolay, E./Thiersch, H. (Hg.): Die Stimme der Adressaten. Empirische Forschung über Erfahrungenvon Mädchen und Jungen mit der Jugendhilfe, Weinheim/München, S. 159-174

Kunstreich, T./Lindenberg, M. 2002: Die Tantalus-Situation – Soziale Arbeit mit Ausgegrenzten; in: Thole,W. (Hg.), Grundriss Soziale Arbeit, Opladen, S. 349-366

Lüscher, K./Liegle, L. 2003: Generationenbeziehungen in Familie und Gesellschaft. KonstanzStreblow, C. 2003: „Ich war den ganzen Tag in der Schulstation“. Wildes Lernen in einem

Schulsozialarbeitsprojekt mit schulmüden Jugendlichen; in: Sozial Extra, 27. Jg., H. 2/3, S. 21-26Wolf, B. 2002: „Andere“ Erwachsene, in: Arnold, H./Schille, H.-J. (Hg.): Praxishandbuch Drogen und

Drogenprävention. Handlungsfelder - Handlungskonzepte - Praxisschritte Weinheim/München, S. 219-234

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Dr. Eberhard Bolay, Dipl.-Päd., ist Akademischer Oberrat am Institut fürErziehungswissenschaft der Universität Tübingen. Leiter der ForschungsgruppeJugendhilfe und Schule.

Anja Dilk, freie Journalistin aus Berlin

Bernhard Eibeck, Diplompädagoge, Referent für Jugendhilfe und Sozialarbeit beimHauptvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Frankfurt am Main

Dr. Carola Flad, Dipl.-Päd., ist seit 2000 Mitglied der ForschungsgruppeJugendhilfe und Schule am Institut für Erziehungswissenschaft der UniversitätTübingen und als Jugendhilfeplanerin für die Stadt Stuttgart tätig.

Norbert Hocke, seit 1986 Leiter des Vorstandbereichs Jugendhilfe und Sozialarbeitbeim Hauptvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Berlin

Dr. Nicole Pötter ist derzeit Koordinatorin der Berufsbildungsforschungsinitiativedes Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Sie ist seit 2005 Mitglieddes Kooperationsverbunds Schulsozialarbeit.

Dr. Karsten Speck ist Professor für Erziehungswissenschaft am Institut fürPädagogik an der Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg

Dr. Anke Spies ist Professorin für Erziehungswissenschaft am Institut fürPädagogik an der Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg

Anja Terner, MA (Social Work), seit 2001 Schulsozialarbeiterin, Lehrbeauftragte ander FH Hannover, promoviert derzeit im Bereich Schulsozialarbeit

Die Autorinnen und Autoren

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Antrag auf Mitgliedschaft in der GEW Bitte in Druckschrift ausfüllen

Frau / HerrNachname (Titel)

Vorname

Straße, Nr.

Postleitzahl, Ort

Telefon / E-Mail

Geburtsdatum Nationalität

gewünschtes Eintrittsdatum

bisher gewerkschaftlich organisiert bei von/bis (Monat/Jahr)

Name/Ort der Bank

Kontonummer Bankleitzahl

Ort, Datum

GEW-KV/-OV Dienststelle

Tarifbereich Beschäftigungsverhältnis

Fachgruppe Kassierstelle

Mitgliedsbeitrag € Beschäftigungsverhältnis

Unterschrift

Ihr Mitgliedsbeitrag:

• BeamtInnen zahlen 0,75 Prozent der Besoldungsgruppe und -stufe, nach der siebesoldet werden.

• Angestellte zahlen 0,7 Prozent der Entgeltgruppe und -stufe, nach der vergütet wird.• Der Mindestbeitrag beträgt immer 0,6 Prozent der untersten Stufe der

Entgeltgruppe 1 des TVöD.• Arbeitslose zahlen ein Drittel des Mindestbeitrages.• Studierende zahlen einen Festbetrag von 2,50 Euro.• Mitglieder im Referendariat oder Praktikum zahlen einen Festbetrag von 4 Euro.• Mitglieder im Ruhestand zahlen 0,66 Prozent ihrer Ruhestandsbezüge.

Weitere Informationen sind der Beitragsordnung zu entnehmen.Jedes Mitglied der GEW ist verpflichtet, den satzungsgemäßen Beitrag zu entrichten.Der Austritt ist mit einer Frist von drei Monaten schriftlich dem Landesverband zu erklären und nur zum Ende eines Kalendervierteljahres möglich.

Beschäftigungsverhältnis:

❍ Honorarkraft❍ angestellt❍ beurlaubt ohne Bezüge❍ beamtet❍ teilzeitbeschäftigt mit ____Std./Woche❍ teilzeitbeschäftigt mit ____Prozent❍ in Rente/ pensioniert❍ im Studium❍ Altersteilzeit❍ in Elternzeit❍ befristet bis______❍ Referendariat/Berufspraktikum❍ arbeitslos❍ Sonstiges______________

Berufsbezeichnung (für Studierende: Berufsziel) Fachgruppe

Diensteintritt / Berufsanfang

Tarif- / Besoldungsgebiet

Tarif- / Besoldungsgruppe Stufe seit

Bruttoeinkommen € monatlich (falls nicht öffentlicher Dienst)

Betrieb / Dienststelle / Schule

Träger des Betriebs / der Dienststelle / der Schule

Straße, Nr. des Betriebs / der Dienststelle / der Schule

Postleitzahl, Ort des Betriebs / der Dienststelle / der Schule

Persönliches Berufliches

Mit meiner Unterschrift auf diesem Antrag ermächtige ich die GEW zugleich widerruflich, den von mir zu leistenden Mitgliedsbeitragvierteljährlich von meinem Konto abzubuchen.

Bitte senden Sie den ausgefüllten Antrag an den für Sie zustän-digen Landesverband der GEW bzw. an den Hauptvorstand. DieAnschrif?ten finden Sie auf der nächsten Seite.

Vielen DankIhre GEW

Die uns von Ihnen angegebenen personenbezogenen Daten sind nurzur Erfüllung unserer satzungsgemäßen Aufgaben auf Datenträgerngespeichert und entsprechend den Bestimmungen desBundesdatenschutzgesetzes geschützt.

wird von der GEW ausgefüllt

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Ihr Kontakt zur GEW

GEW Baden-WürttembergSilcherstraße 770176 StuttgartTelefon: 0711/21030-0Telefax: 0711/[email protected]

GEW BayernSchwanthalerstraße 6480336 MünchenTelefon: 089/544081-0Telefax: 089/[email protected]

GEW BerlinAhornstraße 510787 BerlinTelefon: 030/219993-0Telefax: 030/[email protected]

GEW BrandenburgAlleestraße 6a14469 PotsdamTelefon: 0331/27184-0Telefax: 0331/[email protected]

GEW BremenBahnhofsplatz 22-2828195 BremenTelefon: 0421/33764-0Telefax: 0421/[email protected]

GEW HamburgRothenbaumchaussee 15 20148 HamburgTelefon: 040/414633-0Telefax: 040/[email protected]

GEW HessenZimmerweg 1260325 Frankfurt am MainTelefon: 069/971293-0Telefax: 069/[email protected]

GEW Mecklenburg-VorpommernLübecker Straße 265a19059 SchwerinTelefon: 0385/485270Telefax: 0385/[email protected]

GEW NiedersachsenBerliner Allee 1630175 HannoverTelefon: 0511/33804-0Telefax: 0511/[email protected]

GEW Nordrhein-WestfalenNünningstraße 1145141 EssenTelefon: 0201/294030-1Telefax: 0201/[email protected]

GEW Rheinland-PfalzNeubrunnenstraße 855116 MainzTelefon: 06131/28988-0Telefax: 06131/[email protected]

GEW SaarlandMainzer Straße 8466121 SaarbrückenTelefon: 0681/66830-0Telefax: 0681/[email protected]

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GEW Sachsen-AnhaltMarkgrafenstraße 639114 MagdeburgTelefon: 0391/73554-0Telefax: 0391/[email protected]

GEW Schleswig-HolsteinLegienstraße 22-2424103 KielTelefon: 0431/5195-1550Telefax: 0431/[email protected]

GEW ThüringenHeinrich-Mann--Straße 22 99096 ErfurtTelefon: 0361/59095-0Telefax: 0361/[email protected]

Gewerkschaft Erziehung undWissenschaftHauptvorstandReifenberger Straße 2160489 Frankfurt am MainTelefon: 069/78973-0Telefax: 069/[email protected]

GEW-Hauptvorstand,ParlamentarischesVerbindungsbüro BerlinWallstraße 65, 10179 BerlinTelefon: 030/235014-0Telefax: 030/[email protected]

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