Script - Historischer berblick · ~ 900 der flandrische Mönch Hucbald erwähnt mehrstimmigen...

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hfkm-Regensburg–Stimmkunde / Script WS 08/09 Prof. Christian Schmidt 1 Historischer Überblick 1. Frühzeit Stimmkunde = Musikgeschichte Einsatz der Stimme warum – wann – wie? um Entfernungen zu überwinden als Erkennungsruf Je mehr sich die Menschen zu Stämmen und zu Völkern zusammenfanden, desto mehr verlor der Ruf über die Weite an Bedeutung. Gesang als Kommunikation mit und Beschwörung der Umwelt Gesang zur Arbeit Gesang zur Arbeit gehörte sicher zu den frühesten Formen der Musik - rhythmisches Anfeuern - Koordination der Bewegung z.B. «ho ruck» zum Heben oder Ziehen schwerer Lasten Gesangbegleitung (Arbeitslieder) Gesang und Magie Dem Gesang werden magische Kräfte zugeschrieben (Wer singen konnte, war ein Zauberer, der böse Geister, Dämonen, wilde Tiere, ja den Tod besänftig- te) Hirten singen und spielen Flöte, beleben die einsame Landschaft, halten Tiere in Bann magische Kräfte -> Kirchenmusik Anlass: Stammesfeste, Geisterbeschwörungen, Zauberheilungen Mittel: Stampfen, Schlagen, Klatschen, gleichmäßiger, dauernd wiederholter Rhythmus, eintöniger Gesang Worte ohne Sinn in Silben zerteilt nur wenige ständig wiederholte Töne Je eintöniger die Tonfolgen, desto vielfältiger der Rhythmus. Viele Wechsel und Gegenrhythmen Begleitet durch Schlaginstrumente RUF - LAUT SPRACHE GESANG begleitet Arbeit, Festlichkeiten, Tanz ruft zu Krieg und Schlachten Ausdruck von Trauer, Leid und Gebet Medium des Erkennens Austausch von Informationen

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    Historischer Überblick

    1. Frühzeit

    Stimmkunde = Musikgeschichte Einsatz der Stimme warum – wann – wie? • um Entfernungen zu überwinden • als Erkennungsruf

    Je mehr sich die Menschen zu Stämmen und zu Völkern zusammenfanden, desto mehr verlor der Ruf über die Weite an Bedeutung.

    Gesang als Kommunikation mit und Beschwörung der Umwelt Gesang zur Arbeit

    Gesang zur Arbeit gehörte sicher zu den frühesten Formen der Musik

    - rhythmisches Anfeuern - Koordination der Bewegung

    z.B. «ho ruck» zum Heben oder Ziehen schwerer Lasten Gesangbegleitung (Arbeitslieder)

    Gesang und Magie

    Dem Gesang werden magische Kräfte zugeschrieben (Wer singen konnte, war ein Zauberer, der böse Geister, Dämonen, wilde Tiere, ja den Tod besänftig-te)

    Hirten singen und spielen Flöte, beleben die einsame Landschaft, halten Tiere in Bann

    magische Kräfte -> Kirchenmusik

    Anlass: Stammesfeste, Geisterbeschwörungen, Zauberheilungen Mittel: Stampfen, Schlagen, Klatschen, gleichmäßiger, dauernd wiederholter Rhythmus, eintöniger Gesang

    � Worte ohne Sinn in Silben zerteilt � nur wenige ständig wiederholte Töne � Je eintöniger die Tonfolgen, desto vielfältiger der Rhythmus. � Viele Wechsel und Gegenrhythmen � Begleitet durch Schlaginstrumente

    RUF - LAUT

    SPRACHE GESANG

    begleitet Arbeit, Festlichkeiten, Tanz ruft zu Krieg und Schlachten

    Ausdruck von Trauer, Leid und Gebet

    Medium des Erkennens Austausch von Informationen

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    2. Frühe Hochkulturen (Exkurs): Orient und Asien Anatolien: ca. 6700 v. Chr. Auf Wandmalereien sind wohl erste Musikaufführungen dargestellt Sumerer: ca. 3000 v. Chr. Abbildung eines Priesters mit Lyra China: ca. 2500 v. Chr. pentatonische Ahnenlieder Indien: Vielfalt von Tonarten und Ausübungsformen. Ständiger unspürbarer Wechsel von einer Tonart und von einem Rhythmus in den anderen. Mehrere Stimmen spielten und sangen nebeneinander. Früheste Art heterophonen Musizierens (mit westlichen Einflüssen ver-mischt, bis heute bei den aus Indien nach Europa gelangten Zigeunerstämmen erhalten auch in den Gesängen der spanischen Flamencos)

    Mittelmeerrraum Ägypten: Wandmalereien zeigen Musikanten mit Instrumenten, sowie einen Vorsänger, der einem singenden Chor Melodiebewegungen in der Luft vorzeichnet Wandmalereien in Theben aus der Zeit um 1500 v. Chr. zeigen musizierende Mädchen Zahllose Abbildungen von Harfen verschiedenster Bauart mit bis zu 16 Saiten Auch Flöten, Trompeten, Pauken und die ägyptische Laute, die Nabla, sind dargestellt. Musik war nicht auf religiöse Dienste beschränkt, sondern fester Bestandteil vornehmer Feiern Judäa: Ägyptische Einflüsse auf die Musik der Juden. Siegesgesang nach dem Untergang des pharaonischen Heeres im Roten Meer, Psalmen Davids, das Hohelied Salomons, Klagelieder Jeremia Sprache erlangt erstmals eigene Bedeutung. Dass die Psalmen gesungen wurden, beweisen die begleitenden Instrumente (Miriams Pauke, Davids Nabla), und Vortragsanweisungen, etwa: «Vorzusingen nach der Hindin, die früh gejagt wird.» (Angabe der Wahl der Tonfolge eines bekannten Liedes anstelle von Noten) Griechenland: Starke asiatische und ägyptisch-arabische Einflüsse Grundbestandteil des Musizierens war auch hier der Glaube an die hypnotische, überna-türliche Kraft der Musik

    Einzelne Töne, Tonfolgen, Rhythmen waren in ihrer Bedeutung verwoben mit dem Lauf der Planeten, mit Naturelementen und mit geheimnisvollen Kräften der Erde. Götter wurden mit bestimmten Tonar-ten und Instrumenten verehrt und galten oft als deren Erfinder.

    Sängertradition seit der Zeit der mykenischen Königsgeschlechter um 2000 v. Chr. Während Homer in seiner Ilias noch singende und tanzende Fürsten und Helden beschreibt, fällt schon in der Odyssee nach der Eroberung Trojas 1198 v. Chr. die Aufgabe des Dichter-Sängers den dafür be-zahlten Aöden, fahrenden Sängern und Dichtern, zu. Mit der Wandlung der Musik vom Privileg der Fürsten zum Volksgut entstanden aus der Tradition der adligen Feste und Leichenfeiern mit Musik volkstümliche Wettspiele. Mit ihnen begründete sich die Zahl berühmter griechischer Sänger, deren Namen geschichtlich belegbar sind.

    Bis zur Zeit des Euripides, als mehrere den Gesang begleitende Instrumente eingeführt wurden, blieb die griechische Musik reine Vokalmusik. Der Gesang war einstimmig, Harfe oder Aulos (Flöte) unterstützen die Melodie

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    Sparta stellte Jugenderziehung und Militärordnung ganz unter den Einfluss der Musik Im Verlauf des 6. Jh. v. Chr. gewannen Festspiele immer mehr an Bedeutung. (Rhapso-den, Kitharöden, Auleten und Chöre) Berühmter Sängers der griechischen Antike: Pindar von Theben (522—448 v. Chr.) Zu Beginn des 6. Jh. schuf Arion von Lesbos aus den Lobgesängen zu Ehren des Dionysos die ersten Dithyramben (strophenlose Chorgesänge) Die Schauspieler waren zugleich ausgebildete Sänger. Dem Chor, der die von Tanz- und Darstellungsbewegungen begleiteten Eingangs- und Schlusschöre, und in den Mittelteilen den Satyrtanz und die ausschweifende Komödie ausführte, fiel stets die Rolle des Kommentators, des Publikums und des warnenden Ge-wissens zu (-> Oratorium). Unter Sophokles (496—406 v. Chr.) begann die Entwicklung zum Virtuosentum, die in der Zeit des Euripides (um 480—407 v. Chr.) ihren Höhepunkt erreichte und nach dem Peloponnesischen Krieg (431—404 v. Chr.) langsam zur Banalisierung und zum Verfall der griechischen Musikkultur führte. Um die zweite Hälfte des 5. Jh. Entstehung des «jüngeren Dithyrambus» freien Musikfolge ohne Strophen, in der persönlichem Ausdruck, Stil und Ausführungs-form immer größere Bedeutung zugemessen wurden. Schon die leidenschaftlichen, von mehreren Instrumenten begleiteten Soloszenen des Euripides forderten großes musikali-sches Können von den Solisten, bei denen, ebenso wie bei den Chorsängern, bald die Laien den ausgebildeten Virtuosen weichen mussten. Es entstehen virtuose Soli mit Koloraturen in hohen Stimmlagen Sänger und Tänzer schließen sich zu Gilden zusammen. Auch in der Entwicklung zum Virtuosentum und selbst bei den von mehreren Instrumen-ten begleiteten Aufführungen des Euripides blieb die griechische und später auch die rö-mische Musikausführung immer einstimmig. Die Instrumente begleiteten gleichstimmig oder im Wechsel mit der Stimme. Mit der Verflachung der Musik wandelten sich die Mu-sikaufführungen mehr und mehr zu Massendarbietungen. So wird von einem Fest unter Ptolemäus Philadelphus in Alexandrien mit dreihundert Kitharöden und weiteren dreihun-dert Musikern (->„Fischerchöre“) berichtet. Rom Diese Massenaufführungen fanden auch bei den Römern, von denen außer Fest- und Ge-sellschaftsliedern zur Tibia kaum eigenständige Musik überliefert ist, besonderen An-klang. Im Unterschied zur griechischen Musiktradition vertonten die Dichter ihre Stücke nicht selbst, sondern ließen sie von Berufsmusikern komponieren.

    Wird schon zu Cäsars Zeiten von einem Fest mit 12 900 Sängern und Musikern berichtet, klagt Horaz etwa 13. v.Chr. über die zu großen Theater, deretwegen die Tibia durch zu laute Instrumente ersetzt würde, so entfalteten sich die Musikdarbietungen unter den Kaisern und vor allem zur Zeit Neros zu eitlem Pomp und lärmender Prunksucht. Von den Tragödien führte man nur noch Bravourszenen auf. Virtuosen wurden dafür in Virtuosenschulen ausgebildet, und laut Quintilian vergötterte und verwöhnte man die Sänger ebenso wie später im 17. Jh. die Kastraten und Primadonnen.

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    3. Kirchenmusik bis Ende des 16. Jh.

    3.1. Entwicklung der Einstimmigkeit Auswirkungen auf die Stimme

    Entwicklung des Christlichen Kirchengesangs zunächst in den östlichen Ländern Einflüsse: Orientalisch-hellenistisch / jüdischer Tempelgesang Die zunächst einfachen, geradlinigen Melodien wurden mit der Zeit nach islamischer Art immer mehr verziert und ausgeschmückt (-> Hallelujamelismen) 356 n.Chr.: Ambrosius bringt als Statthalter von Oberitalien die vom heiligen Basilius von Kapodozien für den christlich-morgenländischen Kirchengesang festgehaltenen Regeln nach Mailand. Dieser Ambrosianische Gesang bestand weitgehend aus bekannten, zum Teil volkstümlichen Hymnen und Psalmen, die in den neu gegründeten Ambrosianischen Gesangschulen der Lombardei gelehrt wurden. gegen Ende des 4. Jh./Rom: syrisch und jüdisch beeinflusste kirchliche Liturgie mit Responsorien, Wechselgesängen zwischen Vorsänger und Chor, und Antiphonen, Hallelu-jas und Hymnen. Gesangsausbildung um 200 n.Chr.: Ausbildung der priesterlichen Vorsänger durch den Kirchengesanglehrer Origines Etwa zur gleichen Zeit bezeichnete der römische Arzt Galenus die Knorpel des Kehlkop-fes, dessen Raum er wie die Griechen als Mundstück einer Pfeife - der Luftröhre - ansah und Glottis nannte. Die Bedeutung der Stimmlippen erkannte er allerdings nicht. Papst Sylvester (314-335) gründet eine erste Gesangschule in Rom von Papst Hilarius (~315-367) erweitert ab 600 n.Chr.: Papst Gregor widmet sich der Schola Cantorum (Unterbringung und Ausbildung musika-lisch begabter Waisenknaben) Vierjährige Ausbildung in

    • den Regeln der kirchengesanglichen Tagesarbeit • Gesang (gesunde Stimmführung, schöner Klang, Intervallsingen) • Mündliche Überlieferung der Melodien und technischen Anweisungen • Keine Notenschrift und keine schriftliche Gesanganleitungen

    Gefordert sind:

    • Verzicht auf reiche Verziehrungen (wie im Ambrosianischen Gesang üblich) • Keine Improvisationen • niemals ungleich laut oder schnell zu singen • nicht aus dem Chor solistisch hervorzutreten

    Besonders vom Vorsänger, der die Responsorien anführte, wurde hohes gesangliches Können gefordert.

    Bezeichnung die Töne nach dem lateinischen Alphabet. Durch aufwärts o-der abwärts laufende Haken und Striche wurde eine steigende oder fallen-de Melodie angezeigt.

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    Die Neumenschrift um 750 n.Chr. Entwicklung der Neumenschrift (Neume von griech. Neumos=Wink/ Zei-chen) in enger Verbindung mit den Dirigierbewegungen der anleitenden Vorsänger

    Keine Musiknotation in unserem Sinne, eher Vortragszeichen Verdeutlichung Beziehung der Töne und Silben untereinander Interpretationsanleitungen rhetorische, d.h. textbezogene inhaltliche Angaben und Erinnerungen Melodien und Text waren den Sängern auswendig bekannt (Voraussetzung für die Aufnahme in eine Choralschola) Da der Einsatz der Neumenschrift nur nach jahrelangem Training und weitgehendem Auswen-diglernen der Musikfolgen möglich war, zogen die ausgebildeten römischen Priestersänger auch vielfach als Lehrer in andere Länder und gründeten dort neue Sängerschulen.

    Pflege des Gesangs in den meisten Klöstern

    Es wird angenommen, dass schon im 9. und im 10. Jh. die römischen Sänger über einen voll-ständigen Apparat von Ziermitteln verfügten, wie sie die moderne Gesangtechnik verwendet, und einen hohen Grad der Kunstfertigkeit zeigen, etwa Tonformeln, die es mit den kühnsten Koloraturen der italienischen Schule in ihrer goldenen Zeit aufnehmen könnten. Aus Briefen des Vatikans an Pippin und an Karl den Großen geht hervor, dass so ausgebildete Sänger die Kunst der Verzierung, der «crispatio, trepidatio, reverberatio, vinnulae und voces tremulae», beherrschten.

    Bis zum Ausgang des 11. Jh. war der Gregorianische Gesang mit nur wenigen Ausnah-men in den christlich-westlichen Ländern eingeführt Die Notenschrift um 1050 entwickelt sich die Notenschrift mit den auf vier Linien in Terzabständen ge-ordneten Tonhöhen- und Tonlängenzeichen mit vorangestellten Schlüsselbuchstaben. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Mönch Guido von Arezzo (Solmisationslehre)

    Mit Entstehung der Notenschrift fällt eine der ursprünglichen Aufgaben der Gesangslehrer weg Auch die ersten Anweisungen zum Legatosingen stammen von Guido von Arezzo: «Die Stim-men müssen verschmelzen, ein Ton muss fließend in den anderen übergehen und darf nicht neu angesetzt werden.» Jedes Kloster besaß nun eine Kopie des Gregorianischen Antiphonars. Nach kurzer Unterwei-sung konnten Sänger die neue Notenschrift selbst entziffern. Die kunstvoll komplexe Aus-druckskraft der Neumen beginnt zu verblassen. So war doch die Notwendigkeit, den gregoria-nischen Gesang auf dem Pergament festzuhalten schon ein erster Schritt weg vom ursprüngli-chen Kern. Bis zum Ende des 14. Jh. Umstellung der abendländischen Gesangbücher auf die neue Tonschrift

    3.2. Entwicklung der Mehrstimmigkeit ~850 in Irland zum erstenmal zweistimmiger Gesang erwähnt ~ 900 der flandrische Mönch Hucbald erwähnt mehrstimmigen Sätzen und verschiedene Stimmlagen: Tenor (Träger des Cantus firmus), Altus (höher), Sopranus (der höchs-te), Baß (Basis, Grundlage) 10. Jahrhundert Neue Instrumente gelangen nach Europa

    (aus Arabien die Handpauke und die Trompete, Trommel, Laute, Gitarre, außerdem Dudel-sack, Fiedel, Glockenspiel, Hackbrett, Horn und Monochord. Die seit dem 8. Jh. aus Byzanz eingeführte Windorgel verdrängte allmählich die in den Klös-tern übliche Wasserorgel)

    Die neuen Möglichkeiten der instrumentalen Begleitung begünstigten die vielstimmige Komposition.

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    Geistliche Musik ab 1100 Kathedrale Notre-Dame in Paris: Ars antiqua mit ersten mehrstimmigen Sätzen in auf-gelockertem Kontrapunkt («punctus contra punctum», «Note gegen Note») Hauptmeister: Leoninus und Perotinus, etwa 1250—1300 ~1300 Verlegung des Papstsitzes von Rom nach Avignon, 1305, Entwicklung der französischen vielstimmigen Kirchenmusik (Guillaume de Machaut, 1364 erste vierstimmige Messe).

    Machaut greift außerdem mit seinen selbst gedichteten und vertonten Liedern die Tradition der frühen griechischen Dichter-Sänger-Komponisten auf.

    15. Jh. Entwicklung der Vielstimmigkeit auch in den Niederlanden und in Deutschland.

    Guillaume Dufay (+ 1474) kanonartige Fugen und Messen, im Cantus firmus volksliedhafte Weisen, zum Beispiel das beliebte provenzalische „L'homme armé“ Jakob Obrecht um 1470 in Utrecht in den Niederlanden, John Dunstable in England, Heinrich Isaac und Heinrich Finck in Deutschland

    im 16. Jh. Josquin des Prez und Jakob Arcadelt in Burgund, Gondimel und Carpantrass in Frank-reich, Agricola und Praetorius in Deutschland Entwicklung der Vielstimmigkeit -> Texte in der Musik mit ihren oft nur anein-ander gereihten Silben immer unverständlicher und verloren mehr und mehr (religiöse) Bedeutung und Zusammenhang Im Zuge der Gegenreformation strebte die katholische Kirche daher ab 1555 und vor allem durch die Beschlüsse des dritten Tridentinischen Konzils (1562—1563) eine Absage an die Vielstimmigkeit und die Rückkehr zum Gregoriani-schen Gesang an Dennoch gelang es Orlando di Lasso 1557—1594 in München, die Vielstimmigkeit in der Kirche auf würdige Weise zu neuer Blüte zu bringen.

    Der um 1532 in Mons geborene Musiker, der als Chorknabe mit seiner herrlichen Stimme schon im Alter von sechs Jahren den Vizekönig von Sizilien so sehr bezauberte, dass dieser ihn mit Erlaubnis der Eltern nach Sizilien und Mailand mitnahm, wurde 1553 Kapellmeister am Lateran in Rom und folgte nach Reisen durch Frankreich und England 1556 einem Ruf des Herzogs Albrecht V. von Bayern nach München. Hier komponierte er seine Bußpsalmen, die neben den Motetten und Madrigalen seinen Ruhm begründeten.

    Ebenso verstand es Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525 —1594) in Rom, mit der ein-fachen Strenge und sicheren Textverständlichkeit seiner A-cappella-Gesänge und -Messen, vor allem seiner berühmten Marcellus-Messe, den Widerstand des Klerus zu ü-berwinden und die Vielstimmigkeit zu einem neuen Höhepunkt zu führen Bewegung vom Gregorianischen Gesang zur Vielstimmigkeit -> Aufschwung des volks-tümlichen Liedes (Suche nach Einfachheit) Römische Vagantensänger lehnen sich gegen den Zwang der strengen kirchlichen Musik und erfreuen ihr einfaches Publikum mit fröhlichen Liedern

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    4. Höfische Musik Entwicklung Rittertum -> Wunsch zu persönlicher Mitteilung/Darstellung ab 1096 beeinflusst durch poetische/musikalische Einflüsse nach den Kreuzzügen in den Orient Südfrankreich: Troubadours, Dichter und Sänger (in einer Person wie zur Zeit der Griechen) schaffen ihre Kriegs- und Liebeslieder zur Begleitung von Fiedel oder Harfe

    Wilhelm IX. von Aquitanien (1086-1127), Bernart de Ventadour (1145-1195), Raimbaut de Vaqueiras (um 1207)

    Nordfrankreich: Trouveres Richard Löwenherz (1157—1199), Thibaut de Champagne (1253) Der Text gewinnt an Bedeutung (Thema: es wurde ehrfurchtsvoll die Hohe Frowe – die adelige Angebetete - besungen oder die Natur im Wandel der Jahreszeiten) In Deutschland entstand (stark beeinflusst von Frankreich, jedoch lyrischer) der Minne-sang

    Die berühmteste Gruppe französischer Troubadours und deutscher Minnesänger versammelte sich auf Friedrich Barbarossas Geheiß 1184 zum Sängerwettbewerb in Mainz. Heinrich von Morungen, Wolfram von Eschenbach (Parsifal-Epos) und Walther von der Vogel-weide waren die berühmtesten Wettstreiter. Ein zweiter Sängerwettbewerb fand 1207 auf der Wartburg unter Heinrich VI. statt.

    Die Blütezeit des Minnesangs ging um 1220 zu Ende

    Meister wie Neidhart von Reuenthal, Johannes Hadlaub in Zürich, der Salzburger Mönch Her-mann (Joseph, lieber Joseph mein), Hugo von Montfort sowie Oswald von Wolkenstein führen die Tradition bis ins 15. Jh. fort.

    5. Die Städte Zweite Hälfte des 12. Jh.: Die Kunst gelangt von den Burgen und Schlössern in die neu entstehenden Städte

    Jongleure und Minstrels (Sänger und Jongleure zugleich) folgen den Trouveres Minstrels schlossen sich mit der Zeit zu Sängervereinigungen zusammen Durchführung von Wett- und Preisveranstaltungen (z.B. in Arras, Adam de la Halle, Haupt-meister der Sängergilde schreibt sein Singspiel Robin et Marion, einen Vorläufer der späteren Oper)

    Vom 13. Jh. an wurde der Minnesang der Ritter von den bürgerlichen Meistersingern übernommen

    Vom 14. Jh. eigene Schulen in Mainz, Augsburg, Nürnberg, Straßburg, München und anderen Städten -> neue Form des Liedes nach strengen Regeln (oft nach Bibeltexten) Als größte Sprach- und Liedschöpfer gelten Hans Sachs (1494—1576) und Martin Luther Tradition der Meistersinger stirbt gegen Ende des 16. Jh. wegen ihrer allzu starren Regeln aus

    15. und im 16. Jh. bürgerliches Lied als Hausmusik mit einfacher Instrumenten-begleitung (Lochhamer Liederbuch, 1452—1460) Deutsche Liedkomponisten wie Isaac, Finck, Hofhaimer, Senfl (1490—1542) schreiben unter dem Einfluss der niederländischen Schule erste polyphone Liedwerke für Chor In England entstanden zur Zeit Elisabeths I. unter dem Einfluss der niederländischen und der italienischen Musik mehrstimmige chorische Madrigale, zum Beispiel von Thomas Tal-lis, William Byrd, Thomas Morley

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    Betrachtung: Entwicklung von Stimmtheorie und Gesangskunst Mit der Entwicklung der Musik erhöhen sich die Anforderungen an die Fähigkeiten der Sänger Erste gedruckte Anweisungen für den Kirchengesang entstanden

    Im 13. Jh. erwähnt G. da Garlandaia die «vox pectoris et vox capitis» (Brust-, Kopfstimme) Hieronymus von Moravia schreibt: «Die verschiedenen Singstimmen sollen im Kirchengesang nicht vermischt werden, weder die Brust- mit der Kopfstimme noch die Kehl- mit der Kopf-stimme. Meistens sind tiefe Stimmen, also Bässe, Bruststimmen, hohe Stimmen Kopfstimmen, die dazwischen liegenden Stimmen Kehlstimmen.

    ~1500 Gründung der ersten Gesangschule in Neapel

    möglicherweise durch den Musiktheoretiker und Komponisten Tinctoris, dessen 1484 veröf-fentlichte Schrift De inventione et usu musicae bereits die berühmtesten Figuralsänger auf-zählte und nach Stimmgattungen ordnete. Weitere Schulen folgten in Rom (1541) und im üb-rigen Italien

    Wissenschaftlicher Studien im 16. Jh. Ausgehend von Leonardo da Vinci‘s Zeichnungen des Kehlkopfes und durch seine experimentellen Versuche (er erwähnt jedoch die Bedeutung der Stimmlippen nicht Versac 1543 (italienischen Anatomen) erste Andeutungen über die Bedeutung der Stimmlippen

    Er spricht von der «Ritze, die von dem Fortsatz der Aryknorpel vermittels einer fetten Memb-ran im Innern des Kehlkopfes als Glottis» und bezeichnet diese als «vornehmliche Erzeugerin der Stimme»

    Fabricius de Aquapendente erwähnt wenig später zwei Bänder im Kehlkopf mit dazwischen liegender, die Stimme erzeugender Ritze, die er ebenfalls, wie bis heute üblich, Glottis nennt 1562 veröffentlichte der neapolitanische Arzt Camillo Maffei seinen Discorso della voce, in dem zum erstenmal die Lehre des Gesangs mit ihren physiologischen Voraussetzungen behandelt wird.

    Er geht ein auf Körperhaltung, Atemführung und Tongebung ein, empfiehlt die Kontrolle von Zungenlage und Mundöffnung vor dem Spiegel, die Überprüfung des Stimmklanges mit Hilfe des Echos und gibt Koloraturübungen an.

    Bis zur Mitte des 16. Jh. wurden ausschließlich Knaben- und Männerstimmen für den Kirchengesang eingesetzt („Mulier tacet in ecclesia“). Knabenstimmen oder männliche Falsettisten ersetzten die fehlenden Frauenstimmen. Die Knabenstimmen hatten den Nachteil, dass sie vor Vollendung der Ausbildung mutierten. Die Falsettisten erreichten nie die volle Höhe der Sopranstimmen und missfielen, obwohl gerade aus spanischen Schulen echte Virtuosen hervorgingen, durch ihren leblosen Stimmklang

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    6. Oper 6.1. Die Entstehung der Oper Als Widerspruch zu der Anonymität der polyphonen Musikwerke, in denen die Ein-zelstimme nur als Teil eines Ganzen erschien und der Text festen liturgischen Gesetzen folgte, erwachte im Italien des ausgehenden 16. Jh. der Wunsch, den Menschen, das menschliche Schicksal und damit die menschliche Stimme in den Vordergrund zu stellen. Gleichzeitig im 16. Jh. auch in der Musik Neubelebung griechischer Vorbilder und Motive

    Florenz 1590: um den Aristokraten Giovanni Bardi findet sich ein Kreis von Dichtern, Philoso-phen und Musikern zusammen, die die Sprache nicht mehr der Musik unterordnen, sondern nach dem Vorbild des griechischen Sänger-Dichters, der seine leidenschaftlich charakteri-sierten Heldenrollen selbst sang, neu beleben wollten.

    1598 präsentierte diese Gruppe in kleinem Kreis die Legende von Daphnis und Chloe nach Texten des Poeten Ottavio Rinuccini und nach der Musik von Giulio Caccini und Jacopo Peri (1561-1633).

    1600 wurde aus Anlass der Vermählung Heinrichs IV. von Frankreich mit Maria di Medici die erste erhaltene Oper Euridice (Opera in musica), wiederum von Caccini und Peri kompo-niert, dargeboten. Darin brillierte in einer Folge von Ariosi mit einfacher Instrumentenbeglei-tung und leidenschaftlichen Rezitativen zum ersten mal eine Sängerin, die Sopranistin Vitto-ria Archile.

    Monodie (solistischer Gesangsvortrag mit instrumentaler harmonischer Begleitung) ge-winnt rasch in ganz Italien Boden. Die Entstehung der Oper hat Einfluss auf die Qualität der Sänger

    „Discorso“ von Pietro de la Valle (1640): „Fremd war ihnen die Kunst des piano oder forte Singens, fremd das allmähliche Anschwellen oder anmutige Abnehmen des Tones. (. ..) Man hatte wenigstens in Rom noch keine Kenntnis davon, bis der Herr Emilio del Cavalieri in seinen letzten Jahren die gute Schule von Florenz hier einführte (...), so hören wir jetzt in weit anmutigerer Weise Künstler singen (. . .).»

    Die Komponisten stellen oftmals ihren Werken Bemerkungen über die richtige Art des gesanglichen Vortrages voran Die Sänger, die nun solistisch ihr Können entfalten durften, wurden in den bereits beste-henden und neu gegründeten Schulen zu einer Virtuosität ausgebildet, die das Publikum zu Wellen der Begeisterung hinriss.

    In Rom entbrannte schon um 1623 ein erbitterter Streit um den Vorrang zweier Primadonnen, der Kastrat Vittorio Lordo wurde gefeiert, die auch in den Kirchen dargebotene Gesangskunst zog das Publikum an. 1606 wurde in Rom auf einem «Thespiskarren» die erste Oper aufge-führt.

    Claudio Monteverdi (1567—1643) setzt ab 1613 als Kapellmeister von San Mar-co den neuen Stil, zunächst gegen den Widerstand von Puristen durch.

    Der bisher noch steife Stile rappresentativo überzeugte nun durch die Verwendung neuer Harmonien und Rhythmen und durch neue Farben in der Orchesterbegleitung, in der Geigen mit Tremolo und Pizzicato eingesetzt wurden, und durch erste rein orchestrale Stücke wie die Kampfszene in Tancredi. Auch seine Madrigale gelten als bis heute einzigartig

    Aus den Ariosi Monteverdis entwickelte Pietro Francesco Cavalli (1602—1676) die leidenschaftlichere, kurz gefasste Arie, die wiederum der Neapolitaner Pietro Alessandro Scarlatti (1660—1725) zur Da-capo-Arie erweiterte, deren An-fangsteil er zum Schluss mit Kadenzen und Verzierungen wiederholte.

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    die neue Form der „Opera in musica“ erobert in knapp hundert Jahren ganz Italien und anschließend Europa

    Die 16 Theater Venedigs hatten bis 1700 bei einer Zahl von150000 Einwohnern bereits 350 Opern-Aufführungen gespielt auch in Florenz, Rom, Bologna, Neapel, Turin, Verona und Mailand entstanden Opernhäuser, in denen die zahlreichen neuen Kompositionen aufgeführt wurden Bis zu 685 Opern wurden im 17. Jh. komponiert, von denen 1662—1680 hundert aufgeführt wurden. Nicola Porpora, der berühmte Kastratenlehrer und Komponist, schrieb allein 53 Opern

    Schnelle Ausweitung der zunächst auf private höfische Kreise beschränkten Auf-führungen auf ein breites Publikum

    Geschäftstüchtige Unternehmer stellten feste oder wandernde Truppen zusammen, die in prächtigsten Dekorationen berühmter zeitgenössischer Architekten und Maler und in überrei-chen barock-antiken Kostümen die neuesten Werke wiedergaben.

    Könige des Genres waren die Sänger

    Glaubwürdige Darstellung der vielfältig schillernden Charaktere der neu-en Bühnenhelden und ihres Schicksals Im Rezitativ: Möglichkeit des freien Ausdrucks (Rubatis, Schluchzer, heftige Aus-brüche, langgezogene Lamenti) In der Da-capo-Arie: frei eingefügten Verzierungen und Kadenzen (uneinge-schränkte Möglichkeiten zur Entfaltung der Virtuosität) Die berühmtesten Sänger wurden zu verwöhnten Publikumsidolen

    Im Laufe des 16. Jh. Umwandlung der Gesangschulen größtenteils in Konservatorien (in denen vor allem arme oder verwaiste Knaben ausgebildet werden) Die meisten altitalienischen Gesangpädagogen waren gemäß der Tradition aus der Zeit des Kirchengesangs Kirchenkapellmeister, ja oftmals selbst Sänger und Komponisten.

    Gesanganleitungen von Caccini, Cavalieri und Durante Lodovico Zacconi (1555 —1627, Tenor und Gesangpädagoge ) Unterrichtswerk: „Prattica di musica utile et necessaria (...) si anco al cantore“ Piero Francesco Tosi (1647—1732, Kastrat ) erstmals Grundsätze des Belcantos festgehalten in „Opinioni de cantori antichi e moderni“ (Bologna 1723) Giambattista Mancini (1774 Wien) “Pensieri, e riflessioni practiche sopra il canto figurato”

    Alle wichtigen Grundsätze des Belcantos sind in den Schriften von Caccini, Tosi und Man-cini enthalten Virtuosität der Sänger basierte um die zweite Hälfte des 17. Jh. auf

    schier unerschöpflichem Atem sorgfältig geführtem Legato einwandfreier Vokalisation Stimmausgleich in allen Lagen Beweglichkeit der Stimme im Bezug auf Dynamik und Geläufigkeit

    Die rasante Verbreitung der Oper war eng verknüpft mit der besonderen Gesangskunst der Kastraten

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    6.2. Die Zeit der Kastraten

    Zum erstenmal wirkte 1562 im päpstlichen Chor der spanische Kastrat Francisco Soto mit. Erst als 1599 jedoch zwei italienische Kastraten, Pier Paolo Folignato und Girolamo Rossini, in die Sixtinische Kapelle aufgenommen wurden, sahen die spanischen Falsettisten ihre bisherige Vorherrschaft bedroht.

    • Die Kastratenstimme behielt Umfang, Timbre und leichte Beweglichkeit der Knaben-

    stimme, die verstärkt wurden durch die kraftvollere Lungen- und Atemtätigkeit des ausgewachsenen Mannes. Zeitgenossen wie de Brosses schrieben, dass ihr Timbre klar und durchdringend sei wie das eines Chorknaben, aber sehr viel mächtiger. Wur-den die Kastraten zunächst als Interpreten der polyphonen Messen, Motetten und Madrigale in den Kirchenchören eingesetzt, so sollte sich ihre volle Virtuosität doch erst im Gebiet der neuentstehenden barocken Oper im 17. Jh. voll entfalten.

    • Sie hatte oftmals den gesamten Umfang der heutigen Sopran- und Kontra-Alt-Lage • Erwachsene Kastraten besaßen aufgrund ihrer besonderen Physiognomie (Zeitgenos-

    sen schildern sie meist als sehr groß, schlank, aber mit überdimensionalem Brustkas-ten) natürlicherweise weit größere, kräftigere Stimmorgane als Sopranistinnen und verfügten daher über viel größere Schattierungsmöglichkeiten und Klangfarben in al-len Lagen

    Zeitgenössische Berichte über den Kastraten Farinelli schwärmten von der fast unfassbaren Kapazität seiner Lunge: «chromatische Skala aufwärts und abwärts mit Trillern auf jedem Ton und eingeflochtenen Koloraturen, alles in einem Atem … technisch völlig frauenhafte Koloratur in Passagen und Trillern».

    • Verbreitung der neuen Kunst des Belcanto in ganz Europa durch italienische Gesang-

    meister (wie schon zur Zeit des Gregorianischen Gesangs) • Tosi, Bernacchi, Mancini lehren in England, Deutschland und Österreich • Italienische Sängertruppen gastierten mit ihren Aufführungen v. a. in England. • Übersetzungen der ital. Gesanganweisungen verbreiten die neu festgelegte Gesangs-

    kunst.

    Michael Praetorius (1571-1621) berichtet in Deutschland vom «Unterricht nach italienischer Manier» Johann Friedrich Agricola (1720—1774) übersetzt 1757 in Berlin Tosis Gesangschule als „An-leitung zur Singkunst“

    6.3. Der Triumphzug der Oper im 17/18. Jahrhundert Spanien Italienischer Einfluss auf das Musikleben Spaniens erreichte Höhepunkt im 17. Jh.:

    1629: entsteht für König Philipp IV. die erste Oper „La selva sin amor“ Ab 1698: in Madrid regelmäßige „Fiesta de opera“ 1629: Domenico Scarlatti erklärt Spanien zu seiner Wahlheimat nach 1637: der Kastrat Farinelli übernimmt als Vertrauter des schwermütigen Königs Philipp V. die Organisation des Musiklebens in Madrid

    Deutschland 1627 Heinrich Schütz schreibt die Oper Dafne NEU: selbständige Stimmführung für Chor, Einzelgesang und Instrumente. 1678 Gründung der ersten deutschen Oper in Hamburg

    durch den Komponisten Reinhard Keiser mit Hilfe der Bürgerschaft

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    Georg Friedrich Händel (1685 —1759) 1696 bereits als elfjähriger Knabe bei einem Aufenthalt in Berlin gefördert durch den Ka-pellmeister Buononcini und den Violinisten Ariosti, Begeisterung für zeitgenössische Ita-lienische und Französische Musik

    Hinwendung zur Opera seria 1704 an der jungen Hamburger Oper 1706—1709 in Italien nach 1710 in London

    Übernimmt die Tradition der italienischen Oper und führt diese weiter. Die Möglichkeit, menschliche Schicksale zu lebendigen Bildern zu gestalten, regte seine musikalische Phantasie an währenddessen in Deutschland Heinrich Schütz (1585-1672) Seine Oratorien bilden mit der durch Gesang und Instrumentation hervorgehobenen Ges-talt Jesu die Überleitung zu Bachs Passionen Die religiöse Musik erlebt eine Hochblüte in den Werken von Johann Sebastian Bach (1685 - 1750) Kantaten- und Passionswerk (Sopran- und Altsoli werden von Knabenstimmen gesungen) W. A. Mozart (1756-1791) schreibt Anfang 1773 die Motette „Exultate, jubilate“ für den Kastraten Venanzio Rauzzini (UA 17. Januar 1773 in der Mailänder Theatinerkirche) und in England Henry Purcell (1659—1695) Opern („The Fairy Queen“, nach Dramen von William Shakespeare, „Dido und Aeneas“) G. F. Händel (1685-1759) 1719 Gründung der Royal Academy of Music in London, neunjährige Glanzzeit der italie-nischen Oper, dort uraufgeführte Opern Opern z.B.: Radamisto, Giulio Cesare, Rodelinda 1728 Beggar's Opera von Gay und Pepusch

    • Parodie auf albernes Gehabe der Kastraten und Zänkereien der Primadonnen • lockt das der konventionellen Oper überdrüssige Publikum in Scharen an

    Händel kämpft mehrere Jahre vergeblich gegen das erlahmende Interesse des englischen Opernpublikums

    1741 Aufführung des Messias Gilt als Sieg des Oratoriums über die italienische Oper und in Frankreich von Anbeginn eher ablehnende Haltung gegenüber der italienischen Oper und dem affek-tierten Gebaren der Kastratensänger man zieht die ernsten, höfischen Opern Lully‘s und Rameau‘s vor

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    6.4. Dekadenz der italienischen Oper • überzüchtetes Virtuosentum der Italiener - Verzierungssucht • Überfrachtung mit Manierismen und emotionalen Schematismen • Musik als Mittel zum Zweck vokalartistischer Selbstdarstellung • Bedeutungslosigkeit ja Missachtung des gesungenen Textes

    Seit 1700 Forderungen nach bedeutungsvollen Texten nach Einheit der Person des Dichters und Komponisten

    6.5. Die Reform der Oper Christoph Willibald Gluck (1714—1787) beendet die Vorherrschaft der Sänger, führt als erster eine neue Form der Oper ein.

    • Beherrscht mehrere Streichinstrumente, Klavier und Gesang • betrachtet Gesang aber als Grundlage seines musikalischen Schaffens • Lehrjahre bei Caldara in Wien und Sammartini in Mailand • Reihe von konventionellen Opernkompositionen für italienische Städte

    1762 Orpheus: Ruhige Melodieführung ohne Verzierungen in den Arien Charakterisierung der Persönlichkeit im orchestral begleiteten Rezitativ 1767 Alceste: Noch dichtere textliche Vorlage, Wirkungsvolle Chorszenen und, dem Geschmack der Franzosen folgend, Ballett. Im Orchester farbige Instrumentation (neben Streichern vielfach Bläser) Arie nicht mehr Ausdruck der Kehlfertigkeit, vielmehr Wiedergabe der Empfindung einer lebendigen Gestalt

    W. A. Mozart (1756-1791)

    fasst die gesamten bisherigen Stilmittel der Italiener zusammen in Kombination mit den Errungenschaften Glucks, den überlieferten O-pernformen der Opera seria (Titus), der Opera buffa (Figaro, Cosi fan tut-te, Don Giovanni) sowie dem aus dem französischen Vaudeville entstan-denen Singspiel (Die Entführung aus dem Serail) gestaltet er die neuen Grundformen der (deutschen) Oper

    Einfluss der neuen Opernform auf die Gesangskunst und Stimmtechnik

    • Immer größer werdende Orchester -> größere Lautstärke • Erhöhung des Stimmtones (Kammerton a) -> höhere Spannung im Stimmorgan • Stärkere Ausdrucksakzente (gefordert durch die nun romantische Handlung, inne-

    re Spannung Affektenlehre) Rezitative nun mit Orchesterbegleitung

    • Durch vielfältige Instrumentierung kein beliebiges Transponieren möglich • Tenöre und Sopranistinnen (ersetzen gegen Ende des Jahrhunderts allmählich die

    Kastraten) haben nicht denselben Stimmumfang und dieselbe Tessitur

    Im Gegensatz zu barocker Verzierungskunst gewinnt die Lautstärke an Bedeutung -> neue Helden, Heldensopran der Kastraten wird zum Tenorhelden/Heldentenor der Neuzeit

    • Duprez, erregte am 17. April 1837 als erster Tenor der Welt mit einem "do di petto" (ho-

    hes C in der Bruststimme) den glühenden Neid seiner Kollegen • Neben heldischen Tenören gibt es aber auch Sänger mit leichter geführter, aber stark

    vibrierender Stimme (ital. Voce di capra, Ziegenstimme) für die extrem hohen Lagen in den Partien von Bellini und Donizetti mit einer Mischung aus Falsett und Kopfstimme

    • Gefragt sind die hohen, leicht über das Orchester hinweg tragenden Töne, welche die tie-fen, dramatischen Stimmen nicht bewältigen konnten

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    Beginn der Einteilung in Stimmlagen: Weiblich: Sopran (romantische Heldinnen) - Alt (Zofe, Mutter, Dienerin), später Mezzo Männlich: Tenor - Bass, später Bariton Stimmfächer: Lyrisch – Dramatisch – Koloratur – Held – Buffo – Soubrette etc.

    Zunächst noch wechseln viele berühmte Sänger/innen zwischen den Fächern hin und her und singen alle Partien des lyrischen und des dramatischen Fachs sowie des Koloratur- und des Mezzosopranfachs: Lilli Lehmann (1848 -1929) 128 Partien z.B. Königin der Nacht, alle drei Brünnhilden, Norma, Violetta und Carmen

    6.6. Oper im 19. Jahrhundert Gioacchino Rossini (1792-1868) Zahlreiche Opern („Der Barbier von Sevilla“) Aber auch geistliche Werke („Petite messe solennelle“) und Chorwerke Seine Orchestrierung war für damalige Zeiten gewaltig.

    Sie setzte der Karriere seiner Gattin, der Sopranistin Isabella Colbran, für die er 1815-1823 alle Opern schrieb, ein verfrühtes Ende. Dem Beispiel der Kastraten folgend, sang sie in tiefer Lage, vor allem für dramatische Akzente, mit voller Bruststimme und verlor dadurch zuse-hends an Höhe

    Auch an die Tenorstimmen stellte Rossini neue Anforderungen

    In seinen Neapolitaner Opern hohe c, cis, ja sogar d, die mit leichter, beweglicher Kopfstimme gesungen wurden In Paris: Dem Geschmack der Franzosen folgend, strebte er eine einfachere, unverzierte, da-für dramatische Gesanglinie an, die über das große Orchester hinweg tragen musste

    zweite Hälfte des 19. Jh. steht im Zeichen eines immer Höhertreibens der Stimme immer größere Anforderungen an dramatische Ausdruckskraft und Ausdauer Hatten Bellini und Donizetti bereits die hohen Lagen bevorzugt, so forderte Giuseppe Verdi den Stimmen in der Höhe zusätzlich größtes Volumen ab Einige bedeutende europäische Opern-Komponisten des 19. Jahrhunderts Italien: Giuseppe Verdi (1813-1901), Ruggiero Leoncavallo (1857 - 1919), Giaccomo Puccini (1858 - 1924), Pietro Mascagni (1863 - 1945) Frankreich: Charles Gounod (1818 - 1893), Georges Bizet (1838 - 1875), Camille Saint-Saens (1835 - 1921), Julies Massenet (1842 - 1912) Russland: Mikail Glinka (1804 - 1857), Alexander Borodin (1833 - 1887), Modest Mus-sorgski (1839 - 1881) und Peter Iljitsch Tschaikowski (1840 - 1893) Tschechoslowakei: Leos Janacek (1854 - 1928), Anton Dvorak (1841 - 1904), Bedrik Smetana (1824 - 1884) Norwegen: Edvard Grieg (1843 - 1907) Richard Wagner (1813 —1883) die Opern Richard Wagners verlangen nochmals eine weitreichende (oft fehlgeleitete) Anpassung der gesanglichen Technik. Ungleich den Opern Verdis strapazierten Wagners Werke die Sänger weniger durch ihre hohe Lage als durch die geforderte Ausdauer, durch Partien, in denen der Sänger oft bis zu einer halben Stunde ohne Unterbrechung zu singen hatte. Aufteilung auch in nationale Stimmfächer (z.B.:Deutscher Heldentenor)

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    Zahlreich sind die Geschichten von Sängern, die sich mit den Partien Wagners ihre Stimme ruiniert haben sollen. Dass Wagner selbst ein Belcantoideal für die Interpretation seiner Werke vorschwebte, beweist seine Begeisterung, als er 1881 in Rom Mattia Battistini als Wolfram im Teatro Argentino hörte. Er erklärt, so habe er sich die Interpretation der Rolle erträumt.

    Mit den rasant wachsenden Anforderungen an die Stimme kann die Wissenschaft der Stimmphysiologie kaum Schritt halten:

    • Flut von Irrlehren, mit denen man die Probleme zu bewältigen suchte. • Auch Positives entstand, so die Sprachschule des Sprechpädagogen Julius Hey,

    der eine Zeitlang an der Wagnerschen Musikakademie in München lehrte und die bis heute gültigste Sprechlehre für die deutsche Sprache geschaffen hat.

    Manuel Garcia (1805-1906)

    • Letzter großer Lehrer des Belcantostils • Erfinder des Kehlkopfspiegels: Sichtbarmachung der physiologischen Vorgänge

    beim Singen • Gesangspädagogisches Wirken: prominente Schüler (Julius Stockhausen, Johan-

    nes Meschaert, Salvatore und Mathilde Marchesi)

    Die Anforderungen an die Sängerstimmen steigern sich in der Fol-ge erneut große stimmliche Belastungen in zeitgenössischen Werken

    • wie zum Beispiel von Richard Strauss, der ermüdete Sänger mit der Losung «hier muss eben Blut flie-ßen» aufmunterte

    • oder in der Ära der atonalen Musik und des teilweisen Sprechgesangs (unsangliche Melodieführung) • seit dem Zweiten Weltkrieg müssen die Sänger einzelne Partien oft in mehreren Sprachen beherrschen

    Im 20. Jh. deswegen Rückbesinnung auf die Ideale des Belcanto Gleichzeitig in der zweiten Hälfte des Jh. deutliche Fortschritte in der Stimmforschung, die die Methoden der Ausbildung und Ergeb-nisse der gesanglichen Entwicklung messbar machen und sich so zum zuverlässigen Begleiter der Gesangspädagogik entwickeln. Auch die Entwicklung der Musikwissenschaft mit ihren praktischen Folgen der histori-schen Aufführungspraxis hat starken Einfluss auf die Wiederbelebung alter Gesangstech-niken.

    Die zur Zeit des Verdischen Verismus und in der Musik von Wagner und Strauss verpönten Verzierungen sind dank der Wiederaufnahme zahlreicher Werke Monteverdis, aber auch Doni-zettis und Bellinis, zu neuen Ehren gelangt und erweisen sich wie zu alten Zeiten als wunder-bares Mittel zum Training elastischer und gesunder Stimmführung

    Da nach den bahnbrechenden Kompositionen von Igor Strawinsky und wesentlichen Ge-sangwerken, zum Beispiel von Hans Pfitzner, Paul Hindemith, Bela Bartok, Zoltán Kodály, Benjamin Britten und Boris Blacher, auch heutige Komponisten wie Werner Egk, Gottfried von Einem, Luigi Dallapiccola, Leonard Bernstein, Hans Werner Henze und Aribert Rei-mann die Gegebenheiten der menschlichen Stimme in ihren Gesangwerken berücksichti-gen, anderseits auch Werke wie die Opern von Meyerbeer, Wagner und Strauss meist nicht mehr mit überanstrengter Stimme forciert, sondern mit klug disponierender Technik in großen Legatobögen gesungen werden, sind für eine gesunde Weiterentwicklung der menschlichen Gesangstimme gute Voraussetzungen gegeben.

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    Entwicklung hin zum Kunstlied (Sololied, Mehrstimmige Gesänge) • Während der ersten Hochblüte der Oper und der damit verbundenen starken solisti-

    schen Ausprägung der Vokalmusik und der Huldigung des Individuums in der Arie, gerät die Tradition mehrstimmiger weltlicher Gesänge in den Hintergrund.

    • Im Oratorium jedoch entwickelt sich die mehrstimmige Vokalmusik weiter. Hier ist weiterhin Platz für Kompositionen, in denen ein „Stimmorchester“, d.h. Sänger in der anonymeren Menge eines Chores gemeinsamen musikalischen Ausdruck suchen oder aber sich in einer musikalischen Aussage verbinden.

    • Vor allem in den Oratorien J.S. Bachs verbinden sich auf kunstvolle Weise Volksge-sang (Choral), anspruchsvoller Chorgesang (Turbachören oder ausschmückenden Eingangs- und Schlusschöre) und Elemente der Oper in den Rezitativen (berichtender Evangelist, wörtliche Rede von Jesus und anderen am Gesehen beteiligten Personen) und betrachtender Arie (durchaus Freiraum zu persönlicher solistischer Entfaltung als Vertiefung der Emotion oder religiösen Aussage).

    • Wieder ist es Mozart der in seinen Opern die beteiligten Solisten immer wieder in vielstimmigen und musikalisch komplexen Ensembles zusammenfasst und da-mit ein ganz neues Element des vokalen Musizierens kreiert.

    • Gleichzeitig entsteht mit der beginnenden Aufklärung und der damit verbundenen wachsenden Bildung und Emanzipation des Bürgertums (also einer breiteren ge-bildeten Mittelschicht) eine Form der in der Einzelstimme solistisch besetzten voka-len Kammermusik, vergleichbar etwa der Form des Streichquartettes (als dessen „Erfinder Joseph Haydn gilt). Kein Theater und Orchester war nötig (höfische Prunk-entfaltung). Die musikalische Szene verlegt sich in den Salon der gebildeten Kreise

    • Im geselligen Kreise widmen sich vielseitig gebildete Dilettanten (durchaus als Qualität zu verstehen) der gemeinsamen und nicht für eine zahlende und allein kon-sumierende Zuhörerschaft bestimmte Musikausübung. Jeder leistet seinen Beitrag zu diesen eher kleinen privaten kulturellen Zusammenkünften.

    7. Lied Entwicklung im 18. Jh. gleichzeitig mit der deutschen Oper Haydns und Mozarts

    Der Begriff Lied (v. althochdt.: liod Gesungenes) bezeichnet ein gesungenes Musik-stück, das aus mehreren gleich gebauten gereimten Strophen oder einer auskomponier-ten variierenden Melodie für jede Strophe besteht. Das Lied stellt die ursprünglichste und schlichteste Form der Lyrik dar. Im Lied findet das menschliche Gefühl in seinen Stim-mungen und Beziehungen eine reine und intensive Ausdrucksmöglichkeit (Quelle: wiki-pedia)

    Als Kunstlied wird eine Gattung des Liedes bezeichnet, die sich Ende des 16. Jahrhun-derts entwickelte und sich durch eine Lieddichtung mit, im Gegensatz zum Volkslied, be-kannten Verfassern auszeichnet. Das Kunstlied wurde stark beeinflusst durch das huma-nistische Bildungsgut, insbesondere dessen Kunstlyrik. Im 17. Jahrhundert entwickelte sich die Variante des Generalbaßliedes, das sich an Monodie und Opernarie orientierte.

    Der gesellschaftliche Wandel hin vom Feudalsystem hin zum gebildeten Bürgertum (Aufklä-rung) begünstigt die Entwicklung der Liedform. Auch die Rolle des Künstlers wandelt sich vom musikalischen Dienstboten hin zum selbstbewusst auftretend und unabhängig agierenden In-dividuum.

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    7.1. Deutsches Kunstlied / „Lied“ (Bez. international) Urheber, Textdichter und Komponist klar bestimmbar (i. d. R. über einen Verlag veröf-fentlicht). Das Kunstlied im Gegensatz zum Volkslied besser greifbar, dokumentierbar und als Gattung fassbarer, bedingt durch die notenschriftliche Überlieferung und die höfische, kirchliche oder bürgerliche Kultivierung im Konzertleben. In anderen Sprachen wird das Kunstlied oft mit dem deutschen Lehnwort "Lied" bezeichnet. Schon in den Opern Mozarts kündigt sich in der „neuen Einfachheit“ und der Entschla-ckung des überladenen Kompositionsstils die neue liedhafte Form an. So finden sich eine Reihe von Solonummern aus seinen Opern in den Bänden mit seinen Liedern wieder. Im Gegensatz zur Oper trägt das Kunstlied kammermusikalische Züge, nicht die pla-kative Exaltiertheit der Oper ist gefragt, sondern das „innere Schauspiel der Emotio-nen“ findet in dieser beschränkteren Form kongenialen Ausdruck. Textvorlage in der Opernarie: • Eher wenig Text • zahlreiche Wiederholungen • Text dient meist als „Tonsilbenvorrat“ • Arie als Darstellungsfläche für vorherrschende

    Grundstimmung • prachtvoll bis eitle Entfaltung der Musik und

    der Virtuosität des Interpreten

    Textvorlage im Lied: • Ausgewählte Dichtung oder in ihrer Einfachheit

    bestechende Volksdichtung (traditionell Über-liefertes)

    • Textvorlage wird oft nur einmal vertont jedoch durchaus refrainartige oder bewusst bestärkende Wiederholungen üblich

    • Interpret immer absolut im Dienst des Werkes • Verantwortung als Medium, das sich Komposi-

    tion und Komponisten verpflichtet fühlt und sein „Instrument“ und seine musikalische Per-sönlichkeit so wahrhaft wie möglich zur Verfü-gung stellt

    • Immer stärkere Trennung von Komponist und Interpret

    Neue Forderungen an die Interpreten Sänger und Begleiter in der weiteren Entwicklung als durchaus gleichberechtigte Partner:

    • Künstler im Dienste des Werks • Wahrhaftigkeit des Ausdrucks • Beschränkung der Ausdrucksmittel als Bereicherung • Auch kleinste Nuancen der (Mutter-)Sprache finden Ausdruck • Weg von der Belebung und Intensivierung durch Verzierung • hin zur absoluten inneren Beseeltheit der Stimmgebung

    Hauptvertreter (im 19. Jh): Franz Schubert, Robert Schumann, Johannes Brahms und Hugo Wolf im 19. Jh. Auch in anderen Ländern etabliert sich diese Form im Verlauf vor allem der zweiten Hälf-te des 19. Jh. und entwickelt im Zusammenspiel mit den nationalen Schulen ganz lan-desspezifische Ausprägungen Gegen Ende des 19. Jh. Erweiterung zum Orchesterlied Hauptvertreter in Deutschland: Richard Strauss und Gustav Mahler

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    7.2. Kunstlied, Mehrstimmige Gesänge, weltliche Chormusik „Gemeinsame Betrachtung“ Michael Haydn (1737-1806) Zahlreiche Vokalquartette, für solistisch besetzte Männerstimmen (TTBB) gedacht (die Textvorlagen stammen oft von befreundeten Dichtern) in der kompositorischen Struktur Streichquartetten sehr ähnlich Anlässlich musikalischer Zusammenkünfte im Freundeskreis (M. Haydn und 3 befreunde-te Kapläne) W. A. Mozart (1756 – 1791) Duette, Terzette („Bandelterzett“), Quartette, Kanons Gemeinsames zwangloses Musizieren im Freundeskreis Franz Schubert (1797-1828) Als Schüler Salieris schreibt Schubert als Kompositionsaufgaben noch als Jugendlicher eine Reihe von interessanten Terzetten für Männerstimmen nach Texten bekannter Dich-ter der Zeit (oft Friedrich Schiller, Quelle waren die beliebten Almanache und Sammel-bände) Im Laufe der Jahre erweitert er diese Form zu kunstvollen „Mehrstimmigen Gesängen“ die in der Qualität durchaus seinen Kunstliedern gleichen (hohe Literatur als Vorlage). Viele der Werke sind a cappella, werden von ausgebildeten Sängern der Zeit als solistisch besetzte Vokalquartette anlässlich zahlreicher Schubertiaden aufgeführt (Texte auch aus dem dichterisch etablierten aber auch „nur“ ambitionierten Freundeskreis) Gegen Ende seines Lebens schreibt er außerdem ein Reihe von „Mehrstimmigen Gesän-gen“ mit Klavier- und auch Instrumentalbegleitung (Streicher, Hörner) die auch in größe-rem Rahmen („Abendunterhaltungen der Gesellschaft der Musikfreunde“) zur Aufführung kommen und in der Presse auf teils begeisterte Aufnahme stoßen. Diese Werke zählen in dieser Zeit zu seinen am meisten aufgeführten Kompositionen Gilt gleichzeitig als der Erfinder und Vollender des Deutschen Kunstliedes. Über 700 Lie-der, darunter die berühmten Zyklen „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“. Mit der Fortsetzung der Entwicklung des Bürgertums entstehen in Deutschland auch die ersten „weltlichen“ Chorvereinigungen. Diesen musikalischen Zusammenschlüssen gebil-deter und engagierter Bürger kommt durchaus auch gesellschaftspolitische Bedeutung zu. Noch zu Zeiten Metternichs waren in Wien größere Versammlungen und Zusammen-künfte jeder Art verboten. Die Komponisten fördern ihre Bekanntheit durch zahlreiche mehrstimmige Chorkompositionen. Robert Schumann (1810 – 1856) Neben seinen Kunstliedern in denen das Klavier eine immer wichtigere Rolle übernimmt entsteht eine Reihe von Vokalkompositionen. Gemischte Chöre, ein Requiem und unter anderem mehrere Liederzyklen für Männerstimmen a cappella (nach bekannten zeitge-nössischen romantischen Dichtern), teils noch ganz in der Tradition Michael Haydns, teils schon für chorische Besetzung Felix Mendelssohn Bartholdy (1809 – 1847) In jungen Jahren vereinzelt, später mehrere Zyklen mit Mehrstimmigen Gesängen (Text-vorlagen oft Goethe, Eichendorff, Heine) Wiederentdeckung und Aufführung Bachscher Passionen (Beginn der musikalischen Tradi-tionspflege und historischen Musikwissenschaft). Eigene Kantaten, Psalmen und Oratorien (Paulus, Elias, Christus Fragm.), zahlreiche Kunstlieder, Lieder ohne Worte, Balladen für Chor („Walpurgisnacht“ nach Goethe)

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    Im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wenden die Komponisten sich immer mehr den wachsenden Klangkörpern der Chöre zu. Für Sängerfeste entstehen meist ein-fache Kompositionen, die von 1000 Sängern gesungen werden. Die Chorbewegung fä-chert sich in Deutschland auf und entwickelt die Form des Laienmusizierens mit dem In-strument, das alle von Geburt an haben. Sowohl auf dem Feld der Kirchenmusik als auch der weltlichen Musik entstehen vielfältige Kompositionen für alle Ansprüche des Chorsin-gens. Johannes Brahms (1833-1897) • Zahlreiche Lieder u. Chorkompositionen auch mit Orchester (Altrhapsodie op.53,

    Schicksalslied op.54). • Ausgeprägte Rückbesinnung auf die Form des Renaissance-Madrigals in vielen Chor-

    liedern. • Daneben mehrstimmige, fast symphonisch anmutende Kompositionen für großen ge-

    mischten Chor. • Motetten, Brahmsrequiem. • Neubelebung solistisch besetzter „Mehrstimmiger Gesänge“ in den „Liebesliederwal-

    zern“. • Als Vorlage für viele Lieder dient immer häufiger das Deutsche Volkslied. • Das Klavier dient immer mehr der Erzeugung auch orchestraler Klangfarben. Hugo Wolf (1860-1903) • Glühender Bewunderer Brahms‘. Das Lied steht im Zentrum seines Schaffens. • Das Klavier entwickelt sich immer mehr zum gleichberechtigten Partner mit

    teils eigenem Charakter. Klavier weit davon entfernt, die Singstimme zu Stützen, vielmehr in Richtung. Im-pressionismus gehende Farben, die das musikalische Geschehen des Liedes genial ko-lorieren und kommentieren.

    • Die Singstimme ist als Melodie oft absolut von der Klavierbegleitung abhängig. • „Italienisches Liederbuch“, Spanisches Liederbuch“, Lieder nach Texten von Mörike,

    Goethe, Eichendorff, Heine, Michelangelo. • Spätromantische „Sechs geistliche Lieder“ für gemischten Chor. Das Ende der Romantik reicht noch bis ins 20. Jahrhundert hinein. Zwei ganz unter-schiedliche Komponisten dieser Zeit mögen als Beispiel gelten Max Reger (1873-1916) • Stark der Kirchenmusik zugewandt. Daher eine ganze Reihe geistlicher Chorwerke. • Diese Kompositionen lassen auf einen ziemlich hohes Niveau der Chöre, denen diese

    Kompositionen gewidmet sind schließen. • Aber auch ca. 200 (teils geistliche) Lieder und weltliche Chorwerke (zahlreich für

    Männerchor) Richard Strauss (1864-1949) • Oper und Liedschaffen dieses Komponisten beeinflussen sich gegenseitig. • Viele seiner Lieder existieren in einer Version mit Klavier, aber auch einer Version mit

    Orchester • Ansprüche an die Stimmstärke und den Ausbildungsstand der Stimmen haben sich

    dem der zeitgenössischen Oper stark angenähert. So werden viele seiner Lieder von bekannten Opernsängern der Zeit uraufgeführt

    (z.B. von Hans Hotter, der sowohl einen bis heute sagenumwobenen Holländer wie auch Wo-tan in Wagners Ring gegeben hat und sich gleichzeitig als Liedsänger der neuen Generation mit seiner wandlungsfähigen Stimme einen internationalen Ruf der Spitzenklasse erworben hat)

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    • Vokalkompositionen auch für Chor (bis zu 16-stimmige „Klangflächenmusik“ „Der A-bend“) und auch hier wieder für Männerstimmen) in der Tradition Schuberts, Schu-manns und Mendelssohns. Dabei sind die Anforderungen in manchen dieser „Mehrstimmigen Gesänge“ ganz ein-deutig professioneller Art und kaum adäquat von einem Laienchor zu erfüllen, son-dern sie kommen am besten in kammermusikalischer, ja sogar solistischer Besetzung zur vollen Entfaltung.

    Mit der Entstehung der nationalen Schulen Ausprägung landesspezifischen Lied-schaffens: Wichtige Liedkomponisten außerhalb Deutschlands sind z.B: Grieg, Moussorgski, Debussy, Ravel, Ibert, Fauré, Sibelius Aber auch G. Verdi liefert interessante (italienische) Beiträge zu diesem Genre.

    8. Das 20. Jahrhundert Betrachtet man die musikalischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, wird einem bald deutlich, wie die technischen und gesellschaftlichen Veränderungen diese beeinflusst ha-ben.

    Bevölkerungszunahme Zunehmende Enge, Lebenstempo (Reisen, Information etc) Reizüberflutung -> Veränderung (Abstumpfung?) der Sensibilität Aufteilung der menschlichen Gesellschaft in Klassen und Welten („3. Welt“)

    � Unterschiedliche Bedürfnisse (Kultur etc.) � Ausprägung aber auch Begegnung und Vermengung ganz verschiedener

    Kulturkreise

    Industrialisierung: Schafft die Voraussetzung für Massenproduktion fast jeden Gegenstandes Veränderung des Wertbegriffs (Nicht mehr die Verarbeitung und Dauerhaftigkeit eines Produktes zählt allein, Neuartigkeit, Design und Image spielen eine immer größere Rolle)

    Technisierung Beeinflusst Alltag, Kultur und Geisteswissenschaften gleichermaßen

    Information und Globalisierung Der Umgang mit und die ständige Verfügbarkeit über die unüberschaubaren Flut von In-formationen (Internet) wirft neue und gravierende Probleme auf (Wo findet man was, was sind die Stammquellen, wie und nach welchen Kriterien kann man effektiv filtern). Informiertheit tritt z.T. an die Stelle von Bildung:

    Wissen + Zeit -> Bildung (?!)

    Komponente der Entwicklung bezogen auf Person sonstige (künstlerische) Prozesse „Welche Zeit bekommt man für etwas?“

    hektische Suche nach dem Neuen, Auffälligen, Anderen, Reizvollen

    „noch mal einen draufsetzen“ Bewertung nach Akzeptanz, Reizintensität, Profitpotential

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    • Konflikt mit dem herkömmlichen Kulturbegriff (hegen, pflegen), da das unbewusste Reagieren auf Reize und das Ziel des Profits nicht unbedingt damit vereinbar sind sondern eher einer „niederen“ menschlichen Ebene zugerechnet werden.

    • Begriffe wie Erbauung, Vertiefung, Erhabenheit, Wesensbildung, Moral, Ästhetik er-scheinen in diesem Zusammenhang immer problematischer.

    Bezogen auf den Musik/Gesang ergibt sich folgende Entwicklung und Situation:

    8.1. Die Musikwissenschaft mit ihrem historischen Betrachtungswinkel, rückt alle musikalischen Epochen Stile und Kulturen gleichermaßen ins Zentrum der musikalischen Pflege

    Beispiele: • Zeitgenössische Musik steht zunehmend im historischen Zusammenhang • gemeinsames Erklingen im Konzertalltag

    Bachrenaissance bei Mendelssohn als erster Anfang • Orginalklang, Orginalinstrumente, Aufführungspraxis

    Bachchor München / Karl Richter Nikolaus Harnoncourt (Orginalklang)

    • Beschäftigung auch mit fernen Epochen und fremden Kulturkreisen • Tradiertes Volkslied als musikalisches Ausgangsmaterial für „zeitgenössisches

    Komponieren“ (Brahms, Reger, Mahler, Grieg, Bartok, Kodaly u.v.a.) • Jazz beeinflusst auch die E-Musik (z.B. Kurt Weill, Leonhard Bernstein)

    Besondere Rolle des Interpreten von Musik (anders als in der Bildenen Kunst): Verpflichtung dem Komponisten/Werk gegenüber:

    � Historischer Aufführungspraxis Was würden Bach oder Schubert heutigen zum Klang ihrer Musik sagen, der sich auch wegen der Fortentwicklung im Instrumentenbau so verändert hat?

    Die Technisierung/Industrialisierung/Globalisierung „Alles ist überall fast gleichzeitig zu haben“ Entwicklung im überschaubaren Umfeld – ständige Vergleichsmöglichkeiten weltweit Urheberrecht – Kreativität – Parallele Entwicklungen Umgang mit Material

    • Rasante Entwicklung der reproduzierenden Medien (Audio- und Videomedien) • Musik als flüchtige und in der Zeit verhaftete Kunst macht sich selbst Konkur-

    renz durch Millionen von Tonträgern, die eine technisch perfekte Welt vorgau-keln (Zusammenschnitt der besten Aufnahmeschnipsel). Das Ohr/Auge des Zuhörers gewöhnt sich an eine fehlerfreie Wiedergabe der Werke.

    Gültigkeit der Interpretation Sucht nach Abwechslung, neuen Reizen

    Werk für die Ewigkeit / die Gegenwart Interpretation für die Ewigkeit /die Gegenwart Die Künstler müssen sich auch an diesen neuen Maßstäben messen lassen.

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    8.2. E-Musik – U-Musik In der Entwicklung der Musik des 19. Jahrhunderts deutet sich schon die aufgehende Schere zwischen U- und E-Musik im 20. Jahrhundert an. Zuerst war Kultur der Neuzeit ganz vom gebildeten Adel getragen und gestaltet. (Entstehung der Oper) Mit der Emanzipation der Wissenschaft nach der Aufklärung verändert sich auch die Mu-sik und wird komplizierter in ihren Formen (Zunehmende Länge und Komplexität der Symphonie), der Verarbeitung (Motivik, Polyphone Strukturen, Rhythmik) und den Ge-setzen (z.B in der ständigen Erweiterung der Harmonielehre). Das führt schließlich zur Wiener Schule oder des Atonalität und Avantgarde (im Elfenbeinturm) des 20. Jh. Auch der Wandel hin zur bürgerlichen Gesellschaft hat Einfluss auf die Akzeptanz und weitere Entwicklung dieser Änderungen. Doch letztendlich war es oft nicht mehr ohne spezielles Wissen und langatmige Vorinfor-mationen möglich, einem musikalischen Kunstwerk zu folgen. Die populäre Musik kennt diese Probleme nicht:

    • Einfache Melodien (ähnlich dem Volkslied) • Einfache Harmonik (Kandenzmuster) • Mitreißender Rhythmus (Tanz) • Überschaubare Länge (~3 Minuten)

    Sie entspricht somit viel eher und zunehmend idealer der neuen Zeit und ihren Marktge-setzen (Akzeptanz, Reiz, Profit) Entwicklungen von beiden Seiten: E-Musik: Neue Einfachheit (Arvo Pärt), Minimalmusic U-Musik: Jazz (Harmonische Nähe zur Spätromantik, Affinität zur Avantgarde)

    Aber auch das wird wieder pervertiert und verwässert, z.B. in der sogenannten „Esotherischen Musik“ oder aber auch Smooth Jazz, oder sog. Pop-Symphonien. Teilweise tauchen seltsame Gebilde in den Klassik/Pop/etc.-Charts auf (Hits mit Gregorianik-Gesängen)

    8.3. Stimme im 20. Jahrhundert

    Stand um 1900:

    Professioneller Gesang ist gleich Operngesang Gefragt ist: Zuerst: Durchschlagskraft, Individuelle Klangfarbe, Vielseitigkeit, Ausge-prägter Persönlicher Charakter (Künstler), Aura Sodann: Darstellerisches Talent, Musikalische Bildung,

    Laiengesang: Der (dilettierende) Laie singt (außer Haus allerhöchstens) im Chor (teilwei-se durchaus anspruchsvolle „zeitgenössische Literatur) Gefragt ist: Musikalische Grundbildung (Notenlesen, Blattsingen), Mischungsfähiger Stimmklang, Begeisterung

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    Entwicklung im 20. Jahrhundert Im Laufe des 20. Jh. fächern sich die Aufgabengebiete des professionellen Sängers (her-ausragendes, interessantes und besonders charakteristisches Material, musikalische Be-gabung, passendes Aussehen, strapazierfähige Konstitution, stimmlich fundierte Ausbil-dung) gewaltig auf:

    Oper (Spezialisten für verschiedenen Stilrichtungen oder Epochen) Operette (Die Fledermaus) Musical klassisch ohne Verstärkung („My Fair Lady“) Musical modern mit Mikroverstärkung (“Phantom of the opera”) Konzert (Lied, Oratorium, Zeitgenössische Musik) Professionelles Chorwesen (Rundfunkchöre) Vokale Kammermusik, Vokalsolistenensembles Popmusik, Jazz, Crossover

    Auftrittsorte: Oper, Konzertsäle, Große Hallen, Studio, Open Air, TV Reisestrapazen (auch Klima, Zeitzonen) Das dilettierende Singen verliert immer mehr an einer zahlenmäßig breiten Ba-sis: Mögliche Gründe:

    • „Selbst Musik Machen“ früher auch mit der Stimme, jetzt zunehmend nur noch „mit dem CD/DVD-Player“

    • Verlust der „Heimat“ als naher und Geborgenheit schenkender Kulturkreis mit einem gemeinsam gepflegten und sich stets bereicherndem und entwi-ckelndem Liedgut

    • Wandel der Bildungsinhalte hin zur Technik und Information auf Kosten der Ausbildung von Phantasie Persönlichkeit

    • Andere Formen der Freizeitgestaltung und des gesellschaftlichen Austau-sches

    • Wachsende Kluft zwischen U- und E-Musik und damit verlorener Bezugs-punkt zur „umgebenden“ Musik

    • In einer dilettantischen Musikpflege schwindende Machbarkeit der mit im-mer größerem technischen Aufwand produzierten (Alltags)Musik und der damit sich wandelnden Hörgewohnheiten (Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit)

    Nichtsdestotrotz sehnen sich alle Zeiten zahlreiche junge Menschen danach als Künst-ler/Sänger berühmt und reich zu werden („Deutschland sucht den Superstar“) In Kombination mit der wachsenden visuellen Ausrichtung des Menschen und den Beson-derheiten des zeitgenössischen Starkultes treibt diese Sehnsucht bisweilen bizarre Blüten (Moshammer für Deutschland). -> teils professionell produzierte Musik mit unprofessionellen Sängern

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    8.4. „Professionell Singen“ im 20. Jh. …heißt: Stimmlich den Anforderungen der „musikalischen Performance“ ge-recht werden. Nun sind diese Anforderungen in den verschiedenen Bereichen der Musik durch-aus unterschiedlich oder z.T. sogar konträr oder sich gegenseitig ausschließend. Beispiel: Die Stimmtechnik im klassischen Gesang erfordert ganz bestimmte muskuläre Einstellun-gen und Vorgehensweisen beim Übergang in andere Lagen und Register. Die Rede ist vom sogenanntren Decken der Stimme. Damit ist eine mehr oder weniger starke Verdun-kelung und Abrundung des Stimmklangs ab einer bestimmten Lage gemeint (Verände-rung des Formantspektrums). Dazu wird die Kehle in eine bestimmte Position gebracht und das Ansatzrohr auf ganz bestimmte Weise geformt. Das wiederum ermöglicht vor allem den Frauenstimmen den nahtlosen Übergang zu den hohen Tönen der Stimme. Der Übergangs zu dieser Lage wird bei dieser Technik in den Bereich zwischen d’’ und f’’ ge-legt. Vermieden wird auf diese Weise ein als hell bis grell empfundener Stimmklang mit wenig Tragfähigkeit im Raum und wenig Bandbreite der Vokalfarben (alles wie helles o-der flaches a). Auch ist auf diese Weise ein die Stimme nicht schädigendes Forte in den Hohen Lagen möglich. Dagegen ist in der U-Musik das Decken verpönt. Man agiert auch beim Singen mit an der Sprechstimme orientierter hellerer offenerer Klangfarbe. D.h. weniger Weite im Ansatz-rohr. Dadurch verlagert sich das Zentrum der gesamten Weiblichen Stimme nach unten zur Bruststimme hin und auch der Übergang liegt bis zu einer Quarte tiefer. Die hohen Töne der Kopfstimme können so nicht erreicht werden und werden isoliert, ja deren Exis-tenz ist oft gar nicht bewusst. Auch die Tragfähigkeit im Raum und gehörte Fülle der Stimme ist nicht mit der gedeckten Form vergleichbar. Die Stimme behält jedoch eher ihre aus der Farbe der Sprechstimme bezogene Klangcharakteristik und wirkt so vielleicht authentischer und zum Stil passender (wobei wohl Ausprägung des Stils und verwendete Stimmtechnik sicher eng miteinander verknüpft sind) Anmerkung: Bei den Männerstimmen tritt dieser Unterschied nicht so deutlich auf. Das liegt daran, dass die Männerstimme von Natur aus mehr in der Bruststimme und damit auch der Sprechstimmfarbe beheimatet ist und der Unterschied in der Stimmtechnik nicht so gra-vierende Folgen hat (Im Bezug auf den Übergang und damit verbundene technisch unter-schiedliche Klangstrategien). Er zeigt sich am ehesten in einem Unterschied der Klanghel-ligkeit und natürlich auch Tragfähigkeit. Diese Tragfähigkeit spielt aber wiederum in der nur eine sekundäre Rolle, weil dafür Mikro und Technik zuständig sind. So kann ein stimmlicher Allrounder heutzutage gar nicht mehr das Ziel einer Ge-sangsausbildung für den professionellen Bereich sein. Wobei es durchaus immer wieder erfrischende und ganz wundervoll überraschende Ausflüge in den jeweils anderen Bereich gibt

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    8.5. Gesangsausbildung heute Stilistische Komponente für Grundausrichtung ausschlaggebend: Gemeinsame Basisbereiche: Atmung: Hier gelten auch heute hier wie dort die jahrhundertealten Gesetzte des Bel-canto (appogiare la voce – „die Stimme unterstützen“), einer gesunden Atemführung und der Balance zwischen Luftdruck und Stimmlippenspannung. Auch eine adäquate Haltung gehört bedingt in diesen Bereich, da Haltung und Atmung immer eine untrennbare Ein-heit bilden. Artikulation: Auch hier gelten grundsätzliche Regeln für alle Gesangsstile. Artikulation muss immer deutlich, platziert, zeitlich knapp und mit Unterstützung des Atemapparates passieren. Außerdem wird jedoch anders als beim Sprechen beim Singen die Tonhöhe und Tondauer einer Silbe durch die Komposition bestimmt. D.h. dass sich Klang- und Artikulationsbereiche so wenig wie möglich gegenseitig behindern dürfen. Im Prinzip ist Singen ja das Spiel mit Klangfarben. Aber nicht allein. Hinzu kommt der informelle und emotionale Inhalt des Textes. D.h. dass gerade die Konsonanten ein wesentliches Ele-ment in der Interpretation ausmachen. Allerdings gibt es hier im Bereich der U-Musik immer wieder Abweichungen, dann wenn sehr individuell veranlagte Stimmen gesanglichen Ausdruck anstreben. Auch bedingt der Gebrauch des Mikrofons Unterschiede vor allem in der Intensität der Artikulation. Anmerkung: Ein Phänomen des 20. Jahrhunderts ist, dass - bis auf die Kunst der Kastra-ten - man bestrebt ist so gut wie alle Musik so stilgerecht wie möglichst zu interpretieren. Auch das führt zur Ausprägung ganz verschiedener Stimmschulen und technischer Schwerpunktsetzung in der Ausbildung.

    8.6. Die Stimmforschung im 20. Jh. All diese vielfältigen Entwicklungen begleitet eine in zunehmendem Maße auch in den sängerischen Alltag und die Ausbildung der Sänger integrierte Stimmfor-schung. Gerade in der zweiten Hälfte des Jh. setzt sich immer mehr eine wissenschaftliche fun-dierte Betrachtungsweise des Stimmorgans, seines Baus und der Funktion durch. Für den Sänger wichtige Stimmforscher sind z.B.: Frederick Husler (ursprünglich Sänger, formuliert zum ersten mal überzeugend und verständlich den konkreten Zusammenhang zwischen Vorstellung und funktionellem Ge-schehen) Johan Sundberg (der als ambitionierte Chorsänger seine hochwissenschaftlichen For-schungen ganz auf die alltägliche Stimmpraxis bezieht) Wolfram Seidner (dem als studierten Sänger und HNO-Arzt eine enge und wissen-schaftlich fundierte Verbindung der Bereiche glückt) Darüber hinaus gibt es gerade aus dem Bereich der Logopädie eine Vielzahl von For-schungsprojekten und Therapieansätzen.

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    Unterstützt wird diese Arbeit durch die natürlich wiederum mit dem technischen Fort-schritt verknüpfte Entwicklung der Untersuchungsmethoden und –apparate Beispiele: Visuell: Die Stroboskopie macht die Schwingungen der Stimmlippen sichtbar Auditiv: Mittels des Computers lassen sich mittlerweile in Echtzeit die Obertonstrukturen eines Stimmklanges (Formantspektrum der Vokale) anzeigen und analysieren. Darauf und auf einer Reihe weiterer wissenschaftlicher Erkenntnisse basierend hat sich zu Beginn des 21. Jh. eine Reihe von fundierten Gesangsmethoden und Stimmtrainingspro-grammen entwickelt, die Muskulatur und Funktion des Stimmorgans gezielt trainieren (etwa vergleichbar den sportwissenschaftlichen Trainingsmethoden).

    Abschließend:

    Den funktionalen Gebrauch des Organs kann heute (konnte da-mals) jeder erlernen, der regelmäßig und mit den richtigen Übun-gen trainiert. (vgl. Muskeltraining: der funktionale Gebrauch der Muskulatur lässt diese sich entwickeln und belastbarer werden, Prinzip der richtigen Ermüdung). Für Erfolg bei diesem Üben ist außerdem Körperbewusstsein und Grips nötig. Zum Singenden machen einen darüber hinaus musikalische Bega-bung, ein musikalisches Ohr, Hintergrundwissen zur Interpretati-on, Gestaltungswillen, Phantasie etc. Zum Sänger macht einen neben all den bisher genannten Fakten das gegebene Instrument, d.h. die besondere Stimme im Hals, Und zum großen Sänger gehört ein gewisses Übermaß in möglichst vielen dieser Bereiche und für die langjährige Karriere zusätzlich eine Riesenportion Glück, ökonomischer Umgang mit den Kräften und nicht zuletzt ein gutes Management