Selbstbestimmung als Konstruktion || Selbstbestimmung, Behinderung und Bioethik: Schlussfolgerungen...

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Fünf individuelle Sichtweisen haben wir in den vorangegangenen Abschoitten kennengelemt, fünf Lebensgeschicbten, fünf Alltagstheorien, fünf Erfahrungen im Umgang mit persönlicher Autonomie. Herr Abel, der aufgrund seiner Muskel­krankheit in großem Umfang Assistenz benötigt, hat von seinem selbstbestimmten Leben außerhalb einer Einrichtung berichtet. Fmu Bender, die als chronisch Kran­ke mit Mukoviszidose lebt, hat ihr Konzept einer sozial verantwortlichen Selbst­bestimmung entwickelt. In Herrn Clemens haben wir einen querschnittsgelähmten Mann erlebt, dessen körperliche Beschwerden ihm die selbstbestimmte Gestal­tung des Alltags immer wieder erschweren. Die biogmphischen Erfahrongen als Frau standen bei der stark sehbehinderten Frau Donath im Mittelpunkt. Schließ­lich erzählte Herr EiehIer, der seit einer Polioerkrankung im Kleinkindalter geh­behindert ist, von seinem Prozess der Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung.

Zum Abschluss dieser Studie sollen nun die fünfEinzelfallstudien miteinan­der verglichen, ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausgearbeitet und so eine Kontmstierung hergestellt werden, die es ermöglicht, allgemeine Schlussfol­gerungen zum Zusammenhang von individueller Selbstbestimmung und gesund­heitlicher Beeinträchtigung zu entwickeln. Mehrere Schritte werden zu diesem Zweck durchgefiihrt. Eimnal wird mithilfe der bereits bekannten Kategorien ein Vergleich der verschiedenen Fälle vorgenommen. Im Ergehnis soll die Vielfalt der möglichen Selbstbestimmungsbegriffe deutlich werden. Gleichzeitig soll ein all­gemeineres Konstrukt von Selbstbestimmung im Kontext von chronischer Krank­heit und Behinderuog entfaltet werdeo. Außerdem wird ein Rückbezug hergestellt auf die Ausgangsfragestellungen, die das Ergebnis des Tbeoriekapitels darstell­ten. Abschließend ist die Gültigkeit des heuristischen Modells zu bewerten. Zu­nächst zum ersten Punkt. Die Konstruktionen, die sich aus den fünfFallanalysen ergeben, sind recht unterschiedlich und vielgestaltig; ein Vergleich scheint nur schwer zu bewerkstelligen. Die verschiedenen persönlichen Sichtweisen, so der erste Eindruck, lassen sich kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Der ge­naue Durchgang zeigt jedoch, dass immer wieder auch Parallelen erkennbar sind. Es tauchen relativ viele Gesichtspunkte auf, die sich in zumindest zwei der Ein-

A. Waldschmidt, selbstbestimmung als Konstruktion, DOI 10.1007/978-3-531-93450-1_4,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012

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zelfallstudien finden lassen. Wenn man nun die zweimalige Nennung als Kriteri­um nimmt, lässt sich im Ergebnis eine gemeinsame Konstruktion herstellen (vgl. Tab. 7). Im Detail lassen sich entlang des benutzten Kategorienschemas folgende Übereinstimmungen und Differenzen aufweisen.

Bei der Ausgang'lfrage lassen sich insgesamt vier Variationen identifizieren. Die Frage von Frau Bender "Wie will ich leben?" verweist auf das Konzept der Selbstgestaltung. Herr EiehIer fragt sich "Wer bin ich?" und stellt somit die Selbst­thernatisierung in den Mittelpunkt. In der Frage von Herrn Clemens "Was gestattet mir mein Körper?" scheint sich ein prekäres Verhältnis von Vernunft und Leib zu artikulieren. Bei Herrn Abel und bei Frau Donath schließlich heißt es "Was will ich?" Diese Fragestellung, die sich in zwei Fallanalysen findet, scheint mehrere Konzepte miteinander zu kombinieren. Bezieht man sie auf das theoretische Mo­dell, könnte man zu folgenden Schlussfolgerungen gelangen. Auf komprimierte Weise verbindet sie das "Was" von Selbstbeherrschung und Selbstinstrumentali­sierung, das ,,Ich" der Selbstthernatisierungund das "Wollen" der Selbstgestaltung. Allerdings fällt der Aspekt der Handlung eher weg. Ethische Konnotationen, wie sie etwa in dern "Sollen" der Selbstbeherrschung vorhanden sind, sind gleichfalls von keiner großen Relevanz mehr. Das Bedürfuis nach einer ethisch motivierten Tätigkeit scheint also weniger das Antriebsmoment darzustellen, wenn behinder­te Frauen und Männer die Forderung nach Selbstbestimmung formulieren. Eher sind es die Wünsche und Bedürfuisse, die befriedigt werden sollen, wenn notwen­dig auch vermittelt durchAasistenzkräfte, die den Impetus ihres Autonomiebegeh­rens zu bilden scheinen. Die Interviewanalyse erlaubt also den Schluss, dass die Selbstbestimmung behinderter Menschen weniger eine Handlungs- als vielmehr eine Entscheidungaautonomie beinhaltet.

Der persönliche Hintergrund der interviewten Personen ist geprägt durch eine körperliche Beeinträchtigung, die entweder angeboren oder injungen Jahren bzw. im Laufe des späteren Lebens erworben wurde. Alle verfügen über langjäh­rige Erfahrungen im Umgang mit der eigenen Behinderung; die Mehrzahl kennt die stationäre Versorgung aus eigener Anschauung. Es bestehen Pflegebedürftig­keiten bzw. Assistenzbedarfe in unterschiedlichem Umfang. Alle Gesprächspartner und -partnerinnen haben sich eine selbstständige Lebensfiihrung außerhalb einer Einrichtung aufbauen können. Selbstbestimmung, so kann man aus den Fallana­lysen schließen, ist bei Vorliegen einer körperlichen Behinderung wohl noch am leichtesten zu realisieren. Andere Gruppen, wie geistig und psychisch behinderte und schwerstbehinderte Männer und Frauen haben größere Schwierigkeiten, wie auch die Interviewpersonen mehrfach problematisieren. Unter ihnen selbst lässt sich allerdings auch eine Trennlinie herstellen. Bei zwei Männern hat die angebo-

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rene bzw. sehr früh erworbene Behinderung zu langjährigen Aufenthalten in einer Einrichtung geführt. Herr Abel und Herr EiehIer haben Kindheit und Jugend im Heim verbracht. Ihr Leben dort schildern beide als negativ. In Abgrenzung zu den entmündigenden Heimstrukturen haben sie den starken Wunsch nach Autonomie entwickelt. Selbstbestimmung bedeutet für sie den Auszug aus der Einrichtung, das Einrichten in einer eigenen Wohnung und die eigenverantwortliche Organisa­tion des Alltags. In anderen Worten, die Verwirklichung eines selbstbestimmten Lebens markiert in diesen Fällen einen deutlichen biographischen Einschnitt, die Abkehr von der stationären Existenz und die Chance zu einer grundlegend neuen Lebensgestaltung. Die drei anderen Interviewpersonen, die eine erworbene Be­einträchtigung aufWeisen, haben dagegen ein etwas anderes Verhältnis zum Au­tonontiegedanken. Frau Bender ist erst neunzehn, als sie von ihrer chmnischen Erkrankung erfährt. Trotz der dadurch bedingten intensiven Therapiemaßnahmen lässt sie sich nicht von ihrem Entschluss abbringen, ein Stodium aufzunehmen. Herr Clemens ist 25, als er den Unfall hat; er kämpft anschließend darum, an sei­nen Studienort zurückzukehren. Obwohl er später sein Stodium abbricht, will er offensichtlich sein Leben dort wieder aufnehmen, wo es zuvor unterbrochen wur­de. Frau Donath ist bereits vierzig, als sie wegen ihrer Sehbehinderung aus dern Schuldienst ausscheiden muss. Ihre Berufsorientierung gibt sie jedoch nicht auf. Sie schaffi es, über ehrenamtliches Engagement und einen zwischenzeitliehen Wiedereinstieg in den Beruf sich weiterhin die Anerkennung zu verschaffen, um die sie ihr ganzes Leben gekämpft hat. Bei diesen drei Interviewpersonen spielen offenbar die bereits gesammelten Lebenserfahrungen eine große Rolle. Sie ver­suchen, die eingetretene Beeinträchtigung in das bisher geführte Leben, so gut es geht, zu integrieren. Außerdem bemühen sie sich, bereits getätigte Entscheidun­gen für den weiteren Lebensweg dennoch zu realisieren. Die Angst, als behinder­ter Mensch fortan ntit Entmündigung und Bevormundung konfrontiert zu sein, ist offenbar groß. In der Forderung nach Selbstbestimmung scheint sich Gegenwehr gegen diese Perspektive zu artikulieren. Der Bezug auf den Autonontiegedanken soll dazu beitragen, Kontinuität in der eigenen Biografie herzustellen, die bereits gewonnene Unabhängigkeit so weit wie möglich zu bewahren. In anderen Worten, diejenigen mit einer angeborenen oder als Kind erworbenen Behinderung wollen sich ntithilfe des Selbstbestimmungsgedankens Normalität erobern; diejenigen ntit einer erworbenen Behinderung wollen sie nicht verlieren. Selbstbestimmung kann sowohl einen Bruch im bisherigen Leben und einen Neuanfang bedeuten als auch Beständigkeit und Stabilität.

In allen Fallanalysen spielen die Rahmenbedingungen eine große Rolle. Auch Gesprächspartner wie Frau Bender, Herr Clernens und Herr EiehIer, denen es eher

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um inhaltlich gefüllte Autonomiebegriffe und weniger um fonnale Konzepte geht, heben immer wieder darauf ab. In diesem Zusammenhang wird eine ganze Rei­he von Gesichtspunkten wiederholt genannt. Folgende Aspekte werden mindes­tens zweimal angeführt. Den eigenen finanziellen Ressourcen und einer eigenen Erwerbstätigkeit wird ein großer Stellenwert eingeräumt. Außerdem gilt die be­hindertengerechte Wohnung als wichtige Voraussetzung. Zudem muss ein ausrei­chendes Angebot an persönlicher Assistenz vorhanden sein. Mehrfache Erwäh­nung finden technische Hilfen, der behindertengerechte Personennahverkehr und die Notwendigkeit einer zugänglichen Umgebung. Das Vorhandensein eines sozi­alen Netzwerkes wie auch der familiäre Hintergrund spielen gleichfalls eine große Rolle. Auch die allgemeine soziale Akzeptanz von behinderten Menschen wird zu den grundlegenden Voraussetzungen gezählt. Bei Menschen mit eingeschränkten Ausdrucksmöglichkeiten sollte zudem die Bereitschaft der Umwelt zu Verständi­gungsprozessen vorhanden sein. Die zwischenmenschliche Kommunikstions- und Dialogbereitschaft spielt insbesondere im Themenfeld der Sterbehilfe eine große Rolle. Für die Selbstbestimmung der Patienten in der medizinischen Forschung wird auch der umfassenden Informationsvermittlung eine große Bedentung zu­geschrieben. Der individuelle Sozialisationsprozess und die Art der persönlichen Identität werden ebenfalls von mehreren Gesprächspartnern zu den Ralunenbedin­gungen gerechnet, wenngleich diese Aspekte weniger auf äußere Strukturen als auf innere Prozesse abheben. Des Weiteren werden von den Interviewpersonen durchaus auch unterschiedliche Punkte thematisiert. Beispielsweise erwähnt Herr Abel das eigene Zimmer als eine Voraussetzung fiir ein selbstbestimmtes Leben. Frau Bender bringt den Aspekt der Wohnregion ein und hebt die Bedeutung des Bildungsprozesses hervor. Herr Clemens erwähnt außerdem die Sicherung der all­gemeinen Existenzgrundlagen. Zusätzlich thematisiert er als Ralunenbedingungen seinen fragilen körperlichen Zustand und das Angebot einer guten medizinischen Versorgung. Als weiteren Gesichtspunkt bringt Frau Donath die Geschlechtszuge­hörigkeit ein. Für den Grad der erreichbaren Autonomie spielt fiir sie eine Rolle, ob die einzelne Person ein Mann oder eine Frau ist. Unter den Ralunenbedingun­gen spricht vor allem Herr EiehIer eine ganze Reihe neuer Aspekte an. So erwähnt er die Notwendigkeit, dass die Versorgungssysteme kundenorientiert und vielfiil­tig sind. Außerdem ist ihm wichtig, die Beziehungsebene hervorzuheben, das An­gewiesensein des Einzelnen auf enge persönliche Verbindungen, die von gegen­seitiger Akzeptanz getragen sind und in deren Ralunen Autonomie erlernt werden kann. Bei Herrn EiehIer findet sich auch noch der Hinweis auf die Notwendig­keit von individuellen Rechtsanspriichen auf Unterstützung. Zudem unterstreicht er die Bedeutung des marktwirtschaftlich strukturierten und konsumorientierten

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gesellschaftlichen Hintergrunds. Die Gegenwartsgesellschaft, die von einer all­gemeinen Individualisierung gekennzeichnet ist, wird auch in anderen Interviews angesprochen. Herr Abel erlebt die Individualisierung als tendenziell existenzge­fährdend; sie macht ihm Angst, weil der Ichbezug der Hilfskräfte deren Motivati­on verringert, die Assistenztätigkeit angemessen auszufiillen. Herr Clemens kann in den Gegenwartstendenzen durcbaus auch Vorteile erkennen, gleichzeitig ist aber auch er der Meinuog, dass eine grenzenlose Individualisierung den für behinderte Menschen so bedeutsamen Solidaritätsgedanken infrage stellt. Die beiden Frauen, Frau Bender uod Frau Donath, scheinen vor allem die Chancen, die die Individu­alisierung dem weiblichen Geschlecht bietet, wertzuschätzen.

Unter der Kategorie der mit dem Se\bstbestimmuogsgedanken verbuodenen Handlung finden sich wiederum recht verschiedene Angaben. So will Herr Cle­mens vor allem seine Bedürfnisse ausleben; Frau Bender verkoüpft mit dem Au­tonomiegedanken die Tätigkeiten der Reflexion, der Erfahruog, des Wählens, des Entscheidens und des Lemens. In dem Konzept von Frau Donath steht der Kampf im Mittelpuokt. Herr EiehIer will seine eigenen Werte finden. Zugleich verbindet er mit der Idee der Selbstbestimmuog die Befreiuog aus der Heimstruktur. Herrn Abel geht es ähnlich, auch er will sich aus strukturellen und personalen Abhängig­keiten loslösen. Die Handluog der Befreiung wird also zweimal genannt. Auch im Begriff des Kampfes, den Frau Donath hervorhebt, ist sie angedeutet. Die empiri­sche Ebene verdeutlicht somit, dass Selbstbestimmung für behinderte Menschen schwerpunktmäßig einen Befreiuogsprozess beinhaltet.

Bei der Kategorie des Imperativs ist es ebenfalls nicht leicht, die sehr hete­rogenen Ergebnisse auf einen Nenner zu bringen. Die Aufforderung von Herrn Abellautet: "Verfolge Deine Interessen!" Frau Bender würde ihreu Imperativ wahrscheinlich so ausdrücken: "Gestalte Dein Leben uoter Berücksichtiguog der Grenzen anderer!" Bei Herrn Clemens heißt er: "Vermittle Deine Bedürfnisse und setze Dich für ihre Umsetzung ein!" Der Imperativ von Frau Donath kann so for­muliert werden: "Kämpfe um Würde, Respekt uod Achtong!" Bei Herrn EiehIer lautet er: "Erkenne Dich selbst!" Diese unterschiedlichen Aufforderungen, die als interpretatorische Befunde aus den Fallanalysen herausgefiltert wurden, könnten vielleicht zusammengefasst werden in der Formulierung: "Sei aktiv!" Der Selbst­bestimmungsgedanke würde demzufolge letztlich einen Appell an die behinderte Person beinhalten, sich engagiert für das eigene Leben, die eigenen Bedürfnisse uod Interessen, die eigene Person und die persöuliche Identität einzusetzen. Vor dem Hintergrund von Abhängigkeitsstrukturen uod Bevormuoduogstendenzen, von denen das Leben vieler behinderter Menschen weiterhin gekennzeichnet ist, bat dieser Aufruf einen emanzipatorischen Gehalt.

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Unter den angesprochenen Freiheitsbegriffen finden sich sowohl negative als auch positive Freiheitskonzeptionen. Die äußere Freiheit steht bei Herrn Abel und Frau Donath im Mittelpunkt. Beide formulieren Abgrenzungen gegen äuße­re Abhängigkeiten, etwa gegen Heimstrukturen oder paternalistische Fürsorge­bestrebungen; sie legen das Schwergewicht auf die externen Bedingungen und charakterisieren ihre inhaltliche Freiheit nur allgemein. Auch Herr Clemens be­tont den Stellenwert der äußeren Verhältnisse; zugleich will er aber auch eine in­nere Freiheit realisieren. Die äußere Unabhängigkeit gilt ihm nicht als das Ziel, sondern als den Ausgangspunkt der Autonomiebestrebungen. Selbstbestimmung soll ihm die Verwirklichung seiner ideellen Bedürfnisse gestatten. Diese kommen etwa zum Ausdruck, wenn er den Theaterbesuch oder seinen Wunsch nach sozi­alen Begegnungen erwähnt. Frau Bender hat ebenfalls einen positiven Freiheits­begriff. Sie will ihr Leben im Ralunen der äußeren Gegebenheiten auf eine be­friedigende und angenehme Weise gestalten. Von den interviewten Personen ist Herr EiehIer deJjenige, der zwar auch die äußeren Bedingungen problematisiert, jedoch schwerpunktmäßig die innere Freiheit, Selbstentfaltung und Selbsterkennt­nis im Sinn hat. Insgesamt zeigt sich in den Fallstudien die Berechtigung der The­se von Charles Taylor (1995), nach der ein nur negativer Freiheitsbegriff, der auf die äußeren Bedingungen abhebt und nur die Möglichkeitsbedingungen von Frei­heit im Sinn hat, ohne Aussagen über Verwirklichungsaspekte zu formulieren, al­lein kaum denkbar ist. Jede interviewte Person hat zumindest vage Vorstellungen von dem, was sie mit ihrer Freiheit anfangen will. Selbst Herr Abel und Frau Do­nath haben positive Inhalte im Sinn, wenn sie über den Stellenwert von Selbstbe­stimmung nachdenken. Allerdings sind die persöulichen Schwerpunktsetzungen durchaus unterschiedlich. Bei dern einen Gesprächspartner stehen im Interview die äußeren Ralunenbedingungen im Blickpunkt; die andere Interviewperson betont eher die qualitativen Aspekte. Der negative Freiheitsbegriffbehinderter Menschen lässt sich im Ergebnis dahingehend präzisieren, dass er sich insbesondere gegen stationäre Versorgungsstrukturen und paternalistische Beziehungen wendet. Der positive Freiheitsbegriff der behinderten Männer und Frauen kann dagegen mit dem Streben nach Normalität näher beschrieben werden, mit dern Wunsch, wie es Herr Clemens ausdrückt, nach den üblichen Lebensbedingungen, die nichtbe­hinderte Menschen wie selbstverständlich fiir sich in Anspruch nehmen und von denen Behinderte nach wie vor eher ausgeschlossen sind.

Von den vier Interviewpersonen, die sich zu dem Adressatenkreis des Auto­nomiegedankens äußern, bejahen alle die Universalität des Begriffs. Alle wollen schwerstbehinderte und geistig behinderte Menschen explizit einbegriffen wissen und betonen die allgemeine Geltung von Selbstbestimmung. Frau Bender, Herr

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Clemens und Herr EiehIer heben in diesem Zusammenhang hervor, dass jeder Mensch zur Äußerung seiner Bedürfuisse und Befindlichkeiten fähig ist. Sie strei­chen heraus, dass es Aufgabe der Umwelt ist, auch reduzierte Ausdrucksmöglich­keiten anzuerkennen. Allerdings ist Herr EiehIer der einzige Gesprächspartner, der das Autonomievermögen geistig behinderter Menschen qualitativ begründet. Er verweist auf ihre besonders ausgeprägten emotionalen Fähigkeiten, die er fiir un­erlässlich hält, um Selbstbestimmung für sich zu entwickeln. Aus diesem Grund hält er sie fiir besonders autonomiefähig.

Die Anforderungen an das Subjekt, die in allen Gesprächen thematisiert wer­den, zeigen jedoch einen gewissen Widerspruch zu dem Postulat der Universalität. Aus der Sicht der interviewten Personen ist die Ausformung der eigenen Selbstbe­stimmung offenbar eine sehr komplexe Tätigkeit, die längst nicht von allen Men­schen ohne Weiteres geleistet werden. Viehnehr stellt derAutonomiegedanke viel­fältige Ansprüche an den Einzelnen. Als gemeinsame Nennungen lassen sich die folgenden Eigenschaften identifizieren, über die der Einzelne, sollte er persönli­che Autonomie für sich anstreben, tonlichst verfügen sollte. Er oder sie sollte ins­besondere Zielorientierung, Kommunikations- und Konfiiktfähigkeit, Durchset­zungs- und Orgauisationsvermögen aufweisen. Im Interview setzen die einzelnen Gesprächspartner und -partnerinnen zudem noch jeweils persönliche Akzente. So betont Herr Abel zusätzlich finanztechuische Fertigkeiten und Anleitongskompe­tenzen. Auch die körperliche und psychische Belastbarkeit im Umgang mit frem­den Menschen hält er fiir eine wichtige Eigenschaft. Frau Bender streicht Lem- und Entwicklungsfähigkeiten sowie die individuelle Anpassungs- und Leistongsbereit­schaft heraus. Auf Ehrgeiz und Eigensinn hebt Frau Donath ab. Herr Clemens hält frühere Lebenserfahrungen fiir bedeutsam; außerdem betont er Führungs- und Lei­tongskompetenzen. Herr Eichler erwähnt emotionale Reife und Selbstvertrauen. Die Äußerungen lassen also eine Paradoxie erkennen. Vom Anspruch her werden zwar alle Menschen unabhängig von Beeinträchtigung, Äußerungsvermögen und Handlungsfähigkeit einbegriffen. Faktischjedoch entwerfen die Interviewpersonen Konzepte, die so anspruchsvoll sind, dass sie im Grunde nur von körperbehinder­ten Menschen realisiert werden können, die vernunflbegabt sind und zudem noch über zusätzliche Kompetenzen verfügen. Offensichtlich ist selbstbestimmt zu le­ben ein mühseliges Geschäft, das selbst einer relativ privilegierten Gruppe unter den behinderten Menschen einige Probleme bereitet. Dass mit dem Selbstbestim­mungsprinzip die Gefithr einer Verstärkung der Behindertenhierarchie verbunden ist, wird von den interviewten Männem und Frauen durchaus gesehen. Jedoch wird diese Gefahr in den Aussagen eher heruntergespielt. Eine qnalitative Fundierung des Universalitätsgedankens, auch das wird in den Fallanalysen deutlich, steht im

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Grunde noch aus. Jedenfalls genügt es nicht, die allgemeine Geltung als Appell zu formulieren und gleichzeitig auf der Ebene der konkreten Anforderungen be­stimmte Personengruppen faktisch auszuschließen.

Der SubjektbegrijJ, von dem die interviewten Männer und Frauen ausgehen, könnte zusammenfassend "der reflexive Manager" genannt werden. Die Figur des Managers findet sich insbesondere bei Herrn Abel und Herrn Clemens wie­der. Die beiden stark pflegebedürftigen Männer stellen sozusagen die Leitung des eigenen Assistenzbüros in den Mittelpunkt ihrer Selbstbestimmungskonzeptio­nen. Neben Herrn Clemens bringen Frau Bender und Herr Eichler die Reflexions­fähigkeit ein, die das Subjekt aufweisen sollte, will es nicht nur eine äußere Un­abhängigkeit, sondern auch eine innere, qualitativ ausgefüllte Selbstbestimmung erreichen. Die Figur der "autonomen Frau", die Frau Donath entwickelt, und die des "pflichtbewussten Gesellschaftsmitglieds" von Frau Bender spielen dagegen in den anderen Fallanalysen keine Rolle; sie bleiben Einzelnennungen. Sowohl in den Anforderungen an das Subjekt als auch im Subjektbegriffzeigt sich somit die Wirkmächtigkeit eines Vernunftbegriffs, der nicht nur basale Rationalität im Sin­ne von eindentigen Zweck-Mittel-Relationen meint, sondern auch solch komplexe Ebenen wie Logik und Problemlösung, Organisation und Planung sowie Aspekte von Authentizität und Normativität beinhaltet. Gleichzeitig wird an dieser Stelle auch deutlich, dass für die interviewten Männer und Frauen Autonomie richtig­gehende ,,Arbeit" bedeutet. Sie stellt nicht nur irgendeine Handlung dar, sondern ist eine anspruchsvolle Tätigkeit, die besondere Qualifikationen und Kompeten­zen erfordert. Sie ist das Ergebnis von persönlichen Leistungen, und nicht etwa ein Gottesgeschenk. Mit dem Selbstbestimmungsgedaoken sind behinderte Men­schen einerseits aufgefordert, nicht mehr länger ihr Schicksal passiv und dnldsam zu erleiden, sondern aktiv ihr Leben in die Hand zu nehmen. Dieser durchaus po­sitiv zu bewertende Aspekt hat andererseits die Kehrseite von Mühe undAnstren­gung, von Beschwerlichkeit und Belastung, die auch in Überforderung und Er­schöpfung enden kann.

Inhaltliche Ausjüllungen finden sich in allen Gesprächen. Die These von der Notwendigkeit, den Selbstbestimmungsbegriff qualitativ zu kennzeichnen, erfährt in den Einzelfallstudien ihre empirische Bestätigung. Die Frage ,,Freiheit wozu" treibt alle interviewten Personen um, wenn auch in unterschiedlichem Umfang. Folgende Punkte lassen sich mindestens zweimal aus den Fallstudien extrahieren. Selbstbestimmung wird als Grundrecht und als Bestsndteil der Menschenwürde definiert. Sie soll persönliche Freiheit und Bedürfuisbefriedigung ermöglichen. Aktive Lebensgestaltung wird mit ihr ebenso verbunden wie Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis, Handlungs- und Entscheidungsfreiheit sowie Selbstverantwor-

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tung. Auf der konkreten Ebene verheißt sie Bewegungsfreiheit und Mobilität, eine befriedigende Berufstätigkeit und die Tei1nahme am sozialen Leben. Bei den in­haltlichen Charakterisierungen des Selbstbestimmungsbegriffs setzen die einzel­nen Interviewpersonen wiederum persönliche Akzente. Herr Clemens macht etwa deutlich, dass Selbstbestimmung für ihn auch negative Aspekte wie Anatrengung, Verpflichtung und Verunsicherung beinhaltet. Er versteht zudem darunter die Be­einflussung seiner eigenen Biografie. Frau Bender verbindet Selbstbestinrmung mit Gestaltungsebenen. Eine Wohnung und eine Partnerschaft, medizinische Ver­sorgung und finanzielle Unabhängigkeit gehören für sie dazu. Frau Donath ver­steht Selbstbestimmung auch als Aufforderung an ihre Umgehung, die Regeln, Wünsche und Bedürfnisse des behinderten Menschen zu respektieren. Außerdem bringt sie Selbstbestimmung in Zusammenhang mit politischer Interessenvertre­tung. Herr EiehIer schließlich betont, daas Autonomie für ihn eine erlernbare Fä­higkeit darstellt und auch daa Vermögen beinhaltet, zwischen sich und den ande­ren zu differenzieren.

Die Vernu'!ft-Körper-Bezüge, die in den Interviews hergestellt werden, lassen deutlich die gemeinsame Tendenz erkennen, die Vernunft zur Kontrolle des Kör­pers einzusetzen. Dieser Ansatz wird insbesondere in denAussagen von Frau Ben­der, Frau Donath und Herrn Clemens deutlich und artikuliert sich vor allem in den Stellungnahmen zu den bioethischen Fragestellungen. Allein Herr EiehIer formu­liert eine Kritik an der Rationalität und unterstreicht den Stellenwert von Emotio­nalität, Mitleid und Leidenafähigkeit. Er thematisiert auch die Bedeutung der un­bewussten und verdrängtenAnteile im Menschen. Dagegen wird von der Mehrzahl der Gesprächspartner und -partnerinnen die körperliche Ebene als Einschränkung wahrgenommen. Der eigene Leib als schwache Kraft wird thematisiert von Herrn Abel und Herrn Clemens, der die Beschwerden außerdem als persönliche Krän­kung erf"ahrt. Diese beiden Gesprächspartner haben auch ein Patiententestament unterzeichnet. Frau Bender hingegen hat sich mit ihrer körperlichen Befindlich­keit arrangiert, und Frau Donath nutzt ihre Sehbehinderung zum Ausgangspunkt von Kreativität und Inszenierungen im Alltag. Die beiden Frauen scheinen in Be­zug auf Sterbehilfe und medizinische Forschung den situstiven Ansatz zu bevor­zugen. Herr EiehIer, der die allgemeine Orientierung an der Rationalität kritisiert, lehnt Patiententestamente und Sterbehilfemaßnahmen entschieden ab.

Grenzen der Selbstbestimmung werden von den interviewten Personen eben­falls häufig thematisiert. Mehrfach findet sich der Hinweis auf die sozialen Bezie­hungen und die Bedürfnisse anderer Menschen. Diese Aspekte werden von allen Gesprächspartnerinnen und -partnern als notwendige Einschränkungen von per­sönlicher Autonomie akzeptiert. Als begrenzend im negativen Sinne werden dage-

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gen traditionelle soziale Rollen und Nonnen sowie finanzielle Restriktionen und sozialrechtliche Bestinnnungen erwähnt. Unzureichende Assistenzstrukturen sind gleichfalls ein Bereich, der mehrfach als einschränkend thematisiert wird. Außerdem finden sich in dieser Kategorie die sozialisatorischen Einflüsse, denen der Einzelne unterliegt, und die eigene körperliche Beeinträchtigung, die das selbstbestinnnte Leben manches Mal erschwert. Individuelle Schwerpunkte werden gesetzt, wenn etwa Herr Abel architektonische Barrieren und die Motivation der Hilfskräfte als Einschränkungen erwähnt. Für Frau Bender fallen die Notwendigkeit der priva­ten Existenzsicherung und die soziale Herkunft unter die Grenzen. Herr Clemens artikuliert an dieser Stelle die ökologische Frage. Er erlebt auch die fortwähren­de Notwendigkeit zu Verständigungsprozessen mit den Assistenzkräften als Ein­schränkung. Außerdem problematisiert er die individuelle Neigung zu Versorgung und Sicherheit. Für Frau Donath stellen die Zugehörigkeit zum weiblichen Ge­schlecht und eine paternalistisch verstandene Fürsorge Grenzen der eigenen Au­tonomie dar. Herr EiehIer erwähnt in diesem Zusammenhang die traditionelle Be­hindertenrolle. Die genannten Gegenbegriffe reichen von Fremdbestinnnung über Fremdherrschaft, Zwang, Dominanz, Tod und Gewalttätigkeit bis zur Selbstauf­gabe. Allerdings wird nur der BegriffFremdbestinnnung zweimal genannt; er fin­det deshalb Aufnalune in die allgemeine Übersicht.

hn Ergebnis haben sich in den Fallstudien recht verschiedene Konstruktionen auffinden lassen. Zweimal lässt sich die Konstruktion des "Selbstrnanagements" herauskristallisieren, und zwar sicherlich nicht ohne Grund bei Herrn Abel und Herrn Clemens, den beiden Männern, die in großem Umfang von persönlicher As­sistenz abhängig sind. Bei Herrn Clemens lässt sich zusätzlich die Hinwendung zum eigenen Ich feststellen, die allerdings in seinem Falle wenig konturiert ist und deshalb als Konstruktion der "Selbstfindung" bezeichnet wird. Bei Herrn EiehIer ist der Selbstbezug stärker ausgeprägt und mündet deshalb in die Konstruktion der "Selbstverwirklichung". In dem Entwurf von Frau Bender steht die "Selbstgestal­tung" im Vordergrund; sie wird von ihr allerdings nicht als Ästhetik der Existenz verstanden, sondern eher mit organisatorischen und reflexiven Elementen verse­hen. Diese Gesprächspartoerin entwickelt zusätzlich das Konzept einer sozialver­antwortlichen Autonomie, das als prägnanter Ansatz bezeichnet werden kann und deshalb als Konstruktion der "Selbstverpflichtung" charakterisiert wird. Frau 00-naths Verständnis von Selbstbestinnnung ist in die Konstruktion der "Selbstbe­herrschung" einzuordnen, da sie den Kampf gegen äußere Unterdrückung stark betont und außerdem mit ihrer Orientierung an gesellschaftlicher Anerkennung und an Einfluss auch politische Akzente setzt. In der Zusammenschau scheint die Selbstbestinnnung behinderter Menschen, wie sie in den fiinf Einzelfallstudien

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herausgearbeitet werden konnte, eine Kombination von "Selbstmanagement" und "Selbstentfaltung" darzustellen. Sowohl die organisatorischen und planerischen Notwendigkeiten fiir die technische Bewältigung der Behinderung als auch psy­chologische Elemente, die im Ziel des persönlichen Wachstoms angesprochen sind, haben einen großen Stellenwert. Die politische Autonomie scheint im Hintergrund eine wichtige Rolle zu spielen, während die Ästhetik der Existenz als eine weite­re Fonn von Selbstbestimmung von untergeordneter Bedeutung ist. Als nicht ex­plizit genannte, eher suggerierte Kategorie geistert außerdem die Frage der Nor­malität durch die Fallanalysen. Eine Aufgabe künftiger Untersuchungen könnte es sein, deren Stellenwert genauer zu erkunden. Vielleicht würde sich dann sogar ergeben, dass der Selbstbestimmungsgedanke fiir behinderte Menschen vor allem "Selbstnonnalisierung" meint. Denn im Wesentlichen sind die Autonomiebestre­bungen, die in den Fallanalysen dokumentiert werden, vor allem darauf gerich­tet, sich aus der randständigen Position, die einem droht oder bereits zugewiesen ist, zu lösen und sich hinein zu bewegen in die Mitte der Gesellschaft. Kurz, das Ziel des selbstbestimmten Lebens beinhaltet fiir chronisch kranke und behinderte Menschen auch die Aufforderung an sich selbst, sich die üblichen, eben ,,norma­len" Lebensbedingungen zu verschaffen.

Zusammenfassend bestätigt sich die empirische Nützlichkeit des heuristi­schen Modells, das als Ergehnis der theoretischen Überlegungen entstanden war (vgl. Tab. 7). Die vier entwickelten theoretischen Konstruktionen lassen sich tat­sächlich in den Fal1stndien wiederfinden, wenngleich auch eher verschwommen und wenig konturiert. Die einzelnen Konstrukttypen sind, wie nicht anders zu er­warten war, zwar nicht in Reinfonn vorhanden, dennoch können auf diese Weise die Interviewaussagen theoretisch verortet und kategorial systematisiert werden. hn Sinne des ,,Heureka!" erweist sich das Modell insgesamt als sinnvoll. Als Er­gebnis der empirischen Untersuchung kann außerdem der theoretische Entwurf um wichtige Aspekte ergänzt werden. Als bedeutsam zeigen sich etwa die mit dem Autonomiegedanken verbundenen Anforderungen an das einzelne Subjekt. In den Gesprächen werden auch inhaltliche Ausfüllungen des Selbstbestimmungskon­zepts entwickelt, die im Unterschied zu den abstrakten Verheißungen, wie sie auf der theoretischen Ebene formuliert werden, in ihrer Vielgestaltigkeit überraschen. Zudem schreiben die interviewten Personen den individuellen und gesellschaftli­chen Rahrnenbedingungen einen bedeutsamen Stellenwert zu. Schließlich haben die Grenzen der persönlichen Autonomie in der Lebenswelt ein viel größeres Ge­wicht, als dies theoretisch diskutiert wird. Auch in der späten Modeme kann offen­sichtlich kaum sinnvoll von individueller Selbstbestimmung gesprochen werden, ohne auf den Hintergrund zu verweisen. hn Verständnis vom autonomen Leben

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Tabelle 7· Selbstbestimmung und Behinderung Kategorien Interviewaunagen

/Re F'rtIg. "Was will ich?" Persö"liclto · Angeborene oder erworbene (körperliche) Beein1rächtigung Hintergnlnd · Erfahrungen mit der stationären Versorgung

· P:O.egebedürftigkeit bzw. Assistenzbedarfe in unterschiedlichem. Umfang

· Selbstständige Loboosfiihrung A.ngesproc#lme · Finanzielle RcsSOUT'CCD RalJlllenbedingungen · Eigene Erwerbstätigkeit

· Bebinderteogercchte Wohoung

· Angebot an persönlicher Assistenz

· Technische Hilfen

· Bebinderteogercchter Personennahverkohr I Zugängliche Umgebung

· Familiärer Hintergrund I Eigenes soziales Netzwerk

· Akzeptanz des behinderten Menschen

· Bereitschaft der Umwelt zu Verständigungsprozessen

· Umfassende Informationsvermittlung

· Eigener Sozialisationsprozess

· Persönliche Identität

· Individualisierte Gesellschaft Die Bad/uliK Befreiung Der Imperotiv "Sei aktiv!" Der F,.ihritsbegrijf Äußere Freiheit, Innere Freiheit Die Adnsslllm Alle behinderten Menschen AII!orthrungen (lII · Zielorientierung da SubjeJct · Durchsetzungsvermögen

· Kommmrikatioosfiihigkoit

· KoofljJctfäbjgkeit

· Organisationsvermögen Der Sllbjektbegriff · Der ,,reflexive Mana~' /Re VerMiflang · Grundrecht / II1holtlicb. · Bestandteil der Menschenwürde AII3}iiU""gen lI01I · Persönliche Freiheit SelbstbestiM",,,"1f · Bedürlhlsbefriedigung

· Aktive Lebensgestaltung

· Selbsterfahrung I Selbsterkenntnis

· Bewegungsfreiheit I Mobilität

· Handlungsfreiheit

· Entscheidungsfreiheit

· Selbstverantworhmg

· Arbeit

· Teilnahme am sozialen Leben Vet7llIlIft-Körper- · Vernunft zur Kontrolle des Körpers Bedige · Der Körper als Einschränkung

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Kategorien InterviewauSlagen Grenze".r · Soziale Beziehungen I Der andere Mensch Selbstbutim".,,"K · 1Iaditionelle soziale Rollen und Normen

· Finanzielle Restriktionen

· Sozialrechtliche Bestimmungen

· UllZlJI'Cichcndc Assistenzstrukturen

· Sozialisatorische Einflüsse

· Eigene körperliche Beeinträchtigung GegenbegrIffe Fremdbestimmung KoIUtruktio" · Selbstmanagcmcnt

· Solbstentfaltung

enthalten sind zumeist Bezüge auf andere Menschen oder Zielvorstellungen, die nur sozial konzipierbar sind (vgl. hi= auch Wagner 1995). Die Idee der indivi­duellen Selbstbestimmung kann nicht ungebunden existieren. Es gibt immer zu­gleich ihren Gegenpol, ein Anderes, das die persönliche Freiheit einschränkt und in der Begrenzung der Forderung nach Selbstbestimmung erst ihren Sinn gibt. Im Unterschied zum Zeitalter der frühen Modeme ist heute das Andere zwar nicht mehr einheitlich und eindeutig konturiert; es beruht nicht mehr auf einem gesell­schaftlichen Konsens. Die Sichtweisen der interviewten Männer und Frauen zei­gen jedoch, dass die Figur des Anderen - unabhängig von der konkreten inhaltli­chen Füllung - weiter gültig ist. Selbstbestimmung ist also im Wesentlichen ein relativer und ein relationaler Begriff.

An einem Punkt erweist sich übrigens das heuristische Modell als nicht be­friedigend. Die Aussagen zu den bioethischen Problemfeldern können häufig nicht oder nur schwer zugeordnet werden. In den Einzelfallstudien zeigen sich an die­ser Stelle Brüche und Widersprüche, die mit dem theoretischen Instrumentatium nicht systematisch aufgearbeitet werden konnten. Diese Schwierigkeit fiihrt zu der Frage, ob es berechtigt ist, die Selbstbestimmung behinderter Menschen mit der bioethischen Problematik zu verbinden. Es besteht vielleicht doch ein nicht uner­heblicher, möglicherweise sogar qualitativer Unterschied zwischen einem Auto­nomiebegriff, der sich in Abgrenzung gegen bevormundende soziale Strukturen und personale Abhängigkeiten bildet, und einem Konzept, dem es vor allem dar­um geht, Freiheit vom eigenen Körper und der biologisch-organischen Ebene zu erlangen (Waldschrnidt 2003a). Die Verwendung des Selbstbestimmungsbegriffs in der bioethlschen Debatte scheint qualitativ neue Fragen aufzuwerfen; vielleicht aber verweist sie auch nur auf Ungereimtheiten, die demAutonomiegedanken im­mer schon innewohnten. Das Verhälmis zwischen Individuum und Gesellschaft bleibt auch in der späten Moderne prekär, ebenso wie die Beziehung des Menschen

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256 4. Selbstbestimmung, Belrinderung und Bioethik

zu sich selbst. Die Sichtweisen der hier interviewten körperlich beeinträchtigten Männer und Frauen zeigen auf eindrucksvolle Weise, dass sich in der Debatte um Autonomie Widerspräche nicht vermeiden lassen. In ihren Gesprächsaussagen dokumentieren sich Empfindungen, die gegenwärtig wohl alle Menschen umtrei­ben. Es sind die Angst vor sozialer Ausgrenzung und persönlicher Entwertung wie auch die Hoffnung auf Freiheit, Teilhabe und Normalität. Gleichzeitig offenbart sich behinderten Menschen stärker als anderen die Ambivalenz des Selbstbestim­mungsgedankens. Er verheißt ihnen einerseits eine bisher nicht gekannte Freiheit, andererseits zwingt er sie zu neuer Disziplin.