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    Sezession 26 · Oktober 2008   Editorial

    „Europa“ ist ein Begriff, dessen Klarheit schon in Frage steht, wenn man sichum eine geographische Abgrenzung bemüht. Seine Eigenschaft als Kontinentist jedenfalls nur unzulänglich begründet, der Zusammenhang mit Asien ge-geben. Das Problem wird auch nicht kleiner, wenn man eine kulturelle Schei-delinie ziehen will. Dann kursieren nebeneinander Vorstellungen von Euro-pa, die entweder das Erbe der antiken Mittelmeerländer in Anschlag bringenoder das Christentum, vielleicht aber nur das westliche Christentum und da-mit dessen mittelalterliche Ausformung und folgend Reformation, Aufklä-rung und Industrialisierung.

    Selbstverständlich sprechen für die eine oder andere Entscheidung dieseoder jene Gründe, kann man mit Recht darauf verweisen, daß ohne die grie-chische Sage vom Raub Europas durch den stiergestaltigen Zeus Europa so-wenig zu denken wäre wie ohne die Rationalität der griechischen Philoso-phie, ohne die imperiale Zusammenfassung durch das römische Imperiumsowenig wie ohne das Erbe des römischen Rechts, ohne die Christianisierungder germanischen Völker sowenig wie ohne das Karlsreich, ohne die Kreuz-züge sowenig wie ohne die geistigen Umwälzungen, die die „Europäisierungder Welt“ (Hans Freyer) heraufbeschworen.

    Allerdings ist damit im eigentlich Politischen noch wenig gesagt. Die Be-zugnahme auf eine kulturelle Identität Europas eignet sich deshalb so vor-züglich für Sonntagsreden, Absichtserklärungen und Präambeln, weil sie un-

    verbindlich bleibt, keine klare Entscheidung erzwingt und ein Verbleiben imSowohl-als-auch ermöglicht.

    Anders war es nie. Historisch gesehen, hat sich ein gemeinsames euro-päisches Bewußtsein im politischen Sinn nur im Augenblick der gemeinsa-men Bedrohung ausgebildet. Das deutete sich an in Griechenlands Abwehrder persischen Gefahr und gewann wirklich Konturen mit dem Aufruf zurAbwehr der Türkengefahr durch Pius II., jenen Humanisten Enea Silvio Pic-colomini, der als erster Europa zur Einheit zwingen wollte nach dem FallKonstantinopels 1453 und angesichts des weiteren Vormarschs „Asiens“. Inseinen Überlegungen kamen schon zusammen: die Idee des antiken Erbes,der Christlichkeit und der Freiheit, die danach zu den entscheidenden Topoi

    der Europa-Rhetorik wurden.Mehr aber auch nicht. Eine politische Gestalt hat Europa in der Neuzeitlängst nicht mehr aus dem Glauben gewinnen können. Ein Zusammenschlußwäre nur von seinen Kernstaaten aus möglich gewesen. Großbritannien kamdafür kaum ernsthaft in Frage, es war mit Weltreichsplänen und dann mitder Pflege seiner transatlantischen Beziehungen beschäftigt, Frankreich hat-te seine Chance in der napoleonischen Ära, Deutschland mit dem Ersten Welt-krieg. Hier wie dort scheiterte man, an der Überforderung der eigenen Kräf-te, einer gewissen Unklugheit im Umgang mit den kleineren Völkern, aberauch an der Stärke des Widerstandes, der seinerseits ohne schöpferische Ideewar.

    Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Problem verdeckt durch die Be-vormundung der USA, die Blockkonfrontation, die Schwächung und denSchock des großen Blutvergießens. Diese Bedingungen sind nach und nachverschwunden, ohne daß deshalb eine Lösung des europäischen Problems er-kennbar würde. Die könnte nur eine politische sein, – und deshalb sind dieAussichten so gering. Bezeichnend, daß ein Ernst-Wolfgang Böckenfördeschon vor zehn Jahren darauf hinwies, daß es Europa zuerst an einem „Raum-bild“ fehle, und damit der Entwicklung so weit voraus war, daß ihn ein Jür-gen Habermas bis dato nicht einholen konnte, dessen jüngst erschienener Es-sayband Ach, Europa mit Vorstellungen hausieren geht, die schon vor 1989als erledigt betrachtet werden mußten.

    Editorial

    von Karlheinz Weißmann

    Editorial

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    2 Wolfrum – Depenheuer

    Grundlagen

    Autorenportrait Otto Depenheuer

    Sezession 26 · Oktober 2008

    Nachdem am 12. Juni 2008 die „EU-Verfassung“ am ablehnenden Votumdes irischen Volkes gescheitert war, sprach Heribert Prantl in der Süddeut-

    schen Zeitung  von einem „Spiegel vor dem Gesicht Europas“. Dieses Eur-opa sei noch nicht das Europa der Bürger. Die Argumente für den Vertragvon Lissabon hätten an die europäische Vernunft appelliert: Die EU brau-che eine Verfassung, um politisch handlungsfähig zu bleiben, und eigent-lich hätten gerade die Iren der EU dankbar sein müssen, da das Land seitseinem Beitritt doch einen eindrucksvollen wirtschaftlichen Aufschwung er-lebt habe. Trotzdem wollten die Menschen vielleicht keine Europäische Ver-fassung, keinen „europäischen Superstaat“.

    Warum bilden sie Staaten und unter welchen Prämissen leben sie imStaat? Weder die naturrechtlichen, rationalistisch-individualistischen Ver-tragstheorien, noch die organischen Staatstheorien vermögen je für sich ge-nommen befriedigende Antworten zu geben. Denn diese haben keinen Blickfür den Freiheitsanspruch, dessen der Mensch sich aber bewußt gewordenist, und handeln von theoretischen, nämlich konsequent rational struktu-rierten Menschen, die in Wirklichkeit höchst selten anzutreffen sind.

    Otto Depenheuer, Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Staatslehre,Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie sowie Direktor des Seminars fürStaatsphilosophie und Rechtspolitik an der Universität Köln, zeigt Wege ei-ner Synthese im Sinn eines modernen Staatsverständnisses, das zwar denFreiheitsanspruch des Einzelnen anerkennt, aber dennoch die praktischenExistenzbedingungen einer überindividuellen Gemeinschaft berücksich-tigt.

    Depenheuer fordert hierzu, die Vertragstheorien müßten ihren An-

    spruch aufgeben, „alles von Anfang an erklären“ zu können. Die Wirklich-keit könne nicht am Reißbrett entworfen werden, und so sei etwa die An-

    von Florian Wolfrum

    Heribert Prantl: Medizinfür die Demokratie, in:Süddeutsche Zeitung  vom19. Juni 2008.

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    nahme falsch, daß die vorstaatliche Freiheit, der der Mensch sich einmalbewußt geworden ist, dem Menschen gemäß und unhintergehbar sei. Wennder Staat infolge einer „grundrechtlichen Perspektivverkürzung“ nur nochaus dem Grundgesetz hergeleitet werde, die Grundrechte aber nach über-kommener Verfassungsdogmatik als Abwehrrechte des Einzelnen gegen denStaat gehandhabt würden, drohe eine Überforderung von Staat und Verfas-sung. Denn der Staat erscheine so als „Feind“ der Freiheit, die er erst er-

    mögliche.Die Grundrechte bezögen ihre tatsächliche Wirksamkeit nicht aus ei-

    nem Naturrecht, sondern aus verfassungsgesetzlicher, also staatlicher Ge-währung. Universale Menschenrechte taugten nur als regulative Ideen, dakein Staat sie über sein Territorium hinaus garantieren kann. Grundsätz-lich sei kein Mensch „politisch weltunmittelbar“. Umgekehrt könne abernur der Staat ethische Sätze in Recht umformen, indem er sie als Gewäh-rungen, als individuelle Zuweisungen ausspreche („suum cuique tribuere“):Dies impliziere ein individualrechtliches, rechtsstaatliches Verteilungsprin-zip.

    Wenig reflektiert seien hingegen elementare Staatsfunktionen, die ver-

    fassungsdogmatisch nicht auf dem Prinzip rechtsstaatlicher Verteilungsge-rechtigkeit beruhen, also etwa die Sozialversicherung. In ihr findet eine Um-verteilung der Beiträge von reich zu arm, gesund zu krank, stark zu schwachnach dem Prinzip der Bedarfsdeckung statt, die dem individualrechtlichen,rationalistischen Grundsatz der Beitragsäquivalenz widerspreche. Auch be-ruhe die Sozialversicherung auf Zwangsmitgliedschaft, nicht – wie nach denVertragstheorien der Staat – auf freiwilligem, vernunftgeleitetem Zusam-menschluß. Damit sei ein wirksames, eigenständiges solidarisches Vertei-lungsprinzip nachgewiesen, das an rational-individualistischen Maßstäbennicht gerechtfertigt werden könne.

    Das Solidaritätsprinzip liege apriorisch jeder Verfassungsgebung zu-grunde. Es ergebe sich aus der Tatsache staatlicher Existenz, sei also selbst

    den Grundrechten der Verfassung vorgelagert. Es zeitige Solidar- und „Grund-pflichten“ des Bürgers, deren Erfüllung dem Staat als „transzendentallogi-sche Voraussetzungen des Staates“ rechtlich zustehe. Geistesgeschichtlichfolge dies aus den Staatsgündungsmythen der neuzeitlichen Naturrechtsleh-re, nach denen sich die Menschen zunächst aus Angst vor dem Verlust desLebens und Besitzes unter Inkaufnahme von Unfreiheit (Hobbes), sodannzum Zweck des institutionellen Schutzes des Eigentums (Locke) und schließ-lich zur Erlangung sozialer Sicherheit im Verfassungsstaat (von Stein) zumStaat zusammengeschlossen hätten. Rechte gewähre der Staat seinen Bür-gern zumindest auch um ihrer ethisch wertvollen Betätigung willen. Diesschließe das Akzeptieren bestimmter Vorgegebenheiten, einer Art Geschäfts-

    grundlage, ein. Der freiheitliche Verfassungsstaat gehe insoweit ein Risikoein, als er darauf angewiesen sei, daß die Bürger in ihrer Gesamtheit ihre jerollenspezifische Verantwortung erkennen und ihr gerecht werden.

    Unter einer Verfassung aber, die die Betätigung subjektiver Öffentli-cher Rechte von ihren sozialen Folgen entkoppelt, degenerierten Grund-rechte zu „Titeln zur Entsolidarisierung“. Auch die freiheitliche Konkreti-sierung der Staatlichkeit könne auf die solidarische Grundlage nicht ver-zichten. Als Grundpflichten habe der Bürger unbedingt und ohne Gegenlei-stung zu erfüllen: die Friedenspflicht als Anerkennung des staatlichen Ge-waltmonopols, die einfachgesetzlich nur konkretisiert werde; die Gehor-samspflicht, die apriorisch der Verfassung vorausgehe und als Geltungs-grund des Rechts keiner Konkretisierung fähig sei; und die gemeinsame, so-lidarische Lastentragung, die durch Geld- und Dienstleistungen erbrachtwerde. Daher sind also Grundpflichten zu den erst verfassungsrechtlich be-gründeten Grundrechten asymmetrisch; diese können jenen nicht entgegen-gehalten werden: Wer sich auf seine „Menschenrechte“ berufen will, mußdem Staat, der sie ihm positivrechtlich gewährt, seinen Tribut zollen. IhreGrenzen finden die Grundpflichten in der individuellen Leistungsfähigkeitund Zumutbarkeit, die ebenfalls aus der gegenseitigen Solidarität fließen.

    Warum verhalten sich Menschen solidarisch? Sie tun das nur, weil undsoweit sie untereinander eine besondere Gleichheit erkennen, die als Grundund Legitimation der Solidargemeinschaft diese substantiell trägt, und dieDepenheuer als „Homogenität“ bezeichnet. Welcher menschliche Faktor

    diese Homogenität ausmacht, ist damit nicht gesagt. Entscheidend ist, daßdie Homogenität sämtliche andere Gleichheitsbeziehungen, deren es ja vie-

    Otto Depenheuer: Grund-rechte und Konservativis-mus, in: Detlef Mertenund Hans-Jürgen Papier:Handbuch der Grundrechte,Bd I, Entwicklung undGrundlagen,Heidelberg 2004, S.441–476.

    Otto Depenheuer: Bürger-verantwortung im demo-kratischen Verfassungsstaat ,in: Veröffentlichungen derVereinigung der DeutschenStaatsrechtler. Bd 55 (1996),S. 90–127.

    Otto Depenheuer: Zwi-schen staatlicher Souverä-nität und Menschenrecht.Grundfragen staatlicherEinwanderungspolitik, in:Mahulena Hoffmann undHerbert Küpper (Hrsg.):Kontinuität und Neubeginn.Staat und Recht in Europazu Beginn des 21. Jahrhun-derts. Festschrift für GeorgBrunner, Baden Baden 2001,S. 46–61.

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    Odo Marquard: Abschiedvom Prinzipiellen,

    Stuttgart 1981.

    le geben kann, so sehr überwiegt, daß es überhaupt zur Bildung der Soli-dargemeinschaft – des Staates – kommen kann. Homogenität sei unverfüg-bar historisch gewachsen. Ihre rational-individualistische Herleitung miß-linge, da auf dieser Basis nicht begründet werden könne, warum sich Staat-lichkeit und Solidarität nur im konkreten Rahmen, nicht global verwirkli-chen. Das subjektive Empfinden der Homogenität als identitäts- und ge-meinschaftsstiftende Verbundenheit entspreche dem Begriff der Brüderlich-

    keit, der auf Abstammungsgemeinschaft hinweist. Ihre Vermittlung siehtDepenheuer notwendig in der Geschichte begründet, da der Mensch infol-ge knapper Lebenszeit nicht in der Lage sei, die Möglichkeiten abstrakterFreiheit auszuschöpfen. Vielmehr sei er, wie Odo Marquard es formulierte,gezwungen, an etwas Gegebenes „anzuknüpfen“. Die Aufklärungsphiloso-phie dagegen habe alles Reale seiner Selbstverständlichkeit beraubt undnach prinzipieller Rechtfertigung verlangt, ohne aber selbst eine tauglicheHomogenitätsbasis zu begründen. Damit aber überfordere sie die Begrün-dungskapazitäten des Menschen. Freiheit vermittele sich nur konkret in derOrganisation, im Staat, der sie als beschränkte Freiheit in Abhängigkeit vonseinen historischen Voraussetzungen gewähre, dem Menschen dadurch aber

    erst Handlungsfähigkeit verleihe. Scheitert der Mensch an der Anknüpfung,bleibt ihm danach nur, vor dem horror vacui, der Erkenntnis der totalenKontingenz, zu erstarren. Hiervor schütze insbesondere das Tabu, das Sinnstifte, weil es durch seine Frageverbote daran hindere, den Sinn der eigenenüberindividuellen Verbunden- und Verwiesenheit zu hinterfragen. Der Kernverfassungsrechtlicher Garantien beruhe auf dem Tabu seiner Unabänder-barkeit (Art. 19 Abs. 2 GG) und Ewigkeitsgeltung (Art. 79 Abs. 3 GG),was zur Funktionsgewährleistung auch ausreichend sei: „Das Bewußtseindieses absoluten Verbotes beruhigt, weil man ,nicht alles darf, was mankönnte‘“. Auf diese Weise schließe das Tabu Handlungsalternativen aus undführe dadurch erst zur Freiheit rationalen Handelns, auch zur Freiheit zurSolidarität: Mit allen Menschen gleichzeitig solidarisch zu sein, übersteigt

    das Menschenmögliche. Aufgabe der Staatsrechtswissenschaft sei es, die ra-tionalitätskompensatorische Funktion und identitätsstiftende Notwendig-keit von Tabus im Recht herauszuarbeiten. Die rationale Staatstheorie ver-

    dränge und tabuiere jedoch das Irrationale des Menschen und könnezwar das Phänomen der Staatlichkeit erklären, nicht aber den „kon-

    kreten Staat in der Kontingenz von Zeit, Volk und Gebiet“. Da-durch werde sie den Bedürfnissen einer schicksalhaften, brü-

    derlich empfindenden und sich als „ewig“ ansehenden So-lidargemeinschaft nicht gerecht. Sie schaffe nur einen ra-

    tionalen Zweckverband zur Selbstentfaltung, der sichnach Zweckerreichung wieder auflöst: Am Ende der

    Entwicklung zu immer mehr liberaler „Freiheit von“stehe der isolierte, unhistorische Einzelmensch, dendie Staatslehre ursprünglich zu didaktischen Zwek-ken entworfen hat; der Liberalismus, so Depenheu-er, schaffe erst den „garstigen“ Naturzustand, indem der Mensch an der Unbeschränktheit seinerHandlungsmöglichkeiten zugrunde geht.

    Sobald eine Gemeinschaft beginnt, ihre Homo-genität zu reflektieren, bedürfe sie einer rechtlichfaßbaren Gestalt. Dies sei der Bund, die Manifesta-tion des subjektiven Willens zum Leben in der kon-kreten Gemeinschaft. Bund und Homogenität grei-

    fen ineinander: Der Bundesgedanke könne bei abneh-mender Homogenität den Solidaritätsgedanken weiter-

    tragen. Der Bund sei kein Vertrag des do ut des, son-dern Chiffre der Homogenität. Unter dem Recht-

    fertigungsdruck des Rationalismus habe erdie Rückführung der Solidargemeinschaftauf den Willen des Einzelnen erlaubt. Ersei unauflöslich und wehre dadurch Pro-fiteure ab; er verbinde Generationen undgebe der Solidargemeinschaft dadurch Ver-gangenheit und Zukunft: Der Bund be-

    freit den Einzelnen aus der vita brevis hinzur Geschichtlichkeit.

    Otto Depenheuer

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    5Wolfrum – Depenheuer

    Da den Vertragstheorien keine historische, sondern lediglich philoso-phische Wahrheit zukomme, könne von dem Erfordernis tatsächlicher Zu-stimmung zum Bundesschluß nicht ausgegangen werden. Der Einzelne be-kunde seinen Willen zum Leben in der Gemeinschaft vielmehr dadurch,daß er in ihr lebe – also durch einen „impliziten Vertragsschluß“, der we-sentlich auf dem Verbot widersprüchlichen Verhaltens – venire contra fac-tum proprium –  fußt. Depenheuer knüpft hier an Sokrates an: „Wer von

    euch aber geblieben ist, nachdem er gesehen hat, wie wir die Rechtssachenschlichten und sonst die Stadt verwalten, von dem behaupten wir dann,daß er uns durch die Tat angelobt habe, was wir nur immer befehlen wol-len, möchte er tun.“ Erfüllt also der Staat seine Ordnungs- und Sicherheits-funktion, so kann der Einzelne nicht analog der individualistisch-rationalkonzipierten Zivilrechtsordnung einwenden, seinem Schweigen kommekein Erklärungswert zu, sondern ihn trifft die Obliegenheit, sich zu demGemeinwesen, auf das er apriorisch verwiesen ist, aktiv zu verhalten. Dieeinzige Möglichkeit, den totalen Dissens zu manifestieren, liege im Aus-tritt aus der Solidargemeinschaft durch Auswanderung, wohin auch im-mer. Aus der Theorie vom impliziten Vertragsschluß hat Depenheuer kürz-

    lich seine Theorie des Bürgeropfers entwickelt, der zufolge der Staat auchPassagierflugzeuge, die als Waffe gegen die Bevölkerung verwendet wer-den sollen, ungeachtet der unschuldigen Insassen abschießen darf. DasBundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zum Luftsicherheits-gesetz vom 15. Februar 2006 geurteilt, dies verstoße gegen die Würde desMenschen, da der Staat die Passagiere „als bloße Objekte seiner Rettungs-aktion zum Schutze anderer“ behandele. Depenheuer entgegnet, der in ei-ner ausweglosen Lage ohnehin Todgeweihte gelange zu seiner Würde erstdadurch, daß er für andere, denen er sich brüderlich verbunden fühle, ge-opfert wird. Der Gedanke des Opfers, das man nicht ist, sondern das manbringt, sei aber tabu. Dabei verlange auch der untätige Staat faktisch einBürgeropfer, nämlich von den Bürgern am Zielobjekt, die er in einer Situa-

    tion allein lasse, in der nur er helfen kann, in der sie seines Schutzes alsoam nötigsten bedürfen. Dies komme der Aufkündigung der Solidargemein-schaft durch den Staat gleich.

    Die Pervertierung der Dürigschen Objektformel durch das Bundesver-fassungsgericht betrachtet Depenheuer als Höhepunkt einer Verfassungs-dogmatik, die den neuartigen, asymmetrischen Bedrohungen nicht mehrgewachsen sei, da sie die Selbstbehauptung des Rechtsstaates um ihrer„rechtsstaatlichen Unschuld“ willen in verwerflicher Weise verweigere, undder die Kategorien, unter denen verantwortliche Rechtsentscheidungen desStaates nur getroffen werden können – Normalität und Ernstfall, Feindund Recht, Opfer und Selbstbehauptung – entglitten seien.

    Für das Voranschreiten der europäischen Integration ist nach alledemzunächst die Frage zu beantworten, auf welcher gemeinsamen Homogeni-tätsbasis „Europa“ fußen soll. Vormals nationalstaatliche Aufgaben gehenauch in Zukunft auf überstaatliche Organisationen über. Durch den alsGlobalisierung umschriebenen Prozeß lockere sich auch die Bindung zwi-schen Staat und Bürger. Daher treten die Staaten in einen Wettbewerb umdie besten Lebensbedingungen: „Legitim ist der Staat, in dem die Bürgerleben wollen.“ Identität müsse daher auf eine stärker rationale Basis ge-stellt, fortlaufend kulturell erarbeitet und neu erworben und gerechtfertigtwerden. Die nationale sei nicht die einzige denkbare kollektive Identität.Indes wird diese gerade vor dem Hintergrund der islamischen Bedrohungnur durch eine Verbundenheit überlagert werden können, die so stark ist,daß sie „auch in Gefährdungslagen die staatliche Einheit“, also ebenfallsdas Opfer trägt. Ein rein rationaler, etwa wirtschaftspolitischer Zusam-menschluß ohne „nicht-rationale Tiefendimension“ werde dies nicht ver-mögen. Daher sei auch der deutsche „Verfassungspatriotismus“ konzeptio-nell untauglich. Die notwendige europäische Identität könne nicht durchÜberwindung der nationalen Identitäten geschaffen werden, sondern nuraus ihnen erwachsen. Die Europäische Verfassung schaffe nicht die Iden-tität Europas, sondern setze sie voraus. Hierzu sei unabdingbar, daß derrationalen wie der emotionalen, der rechtlichen wie der nationalen, derbündischen wie der homogenen Basis der Mitgliedstaaten Rechnung ge-tragen werde. Denn zur Menschenwürde gehöre auch, seine im konkret

    biographisch vorgegebenen Sozialverband erlangte Individualität behaltenzu dürfen.

    Otto Depenheuer: Dasöffentliche Amt, in: JosefIsensee und Paul Kirchhof(Hrsg.): Handbuch desStaatsrechts der Bundesre- publik Deutschland, Bd 3.3,Heidelberg 2005,S. 87–130.

    „Guantánamo auch inDeutschland denkbar.“ In-terview mit Otto Depenheu-er, in: Die Welt  vom28. Dezember 2007.

    Otto Depenheuer: NationaleIdentität und europäischeGemeinschaft, in: GünterBuchstab und Rudolf Uertz(Hrsg.): Nationale Identitätim vereinten Europa, Frei-burg i. Br. 2006, S. 55–74.

    Bibliographie:

    Der Wortlaut als Grenze.Thesen zu einem Topos derVerfassungsinterpretation,Heidelberger Forum, Bd 56,Heidelberg 1988.

    Solidarität im Verfassungs-

    staat. Grundlegung einernormativen Theorie derVerteilung , Universität Bonn1991 (Habilitationsschrift).

    Politik und Geld. Unzeit- gemäße Betrachtungenzur Parteienfinanzierung ,Schriftenreihe der Kölner Juristischen Gesellschaft, Bd26, Köln 2001.

    Selbstdarstellung der Politik.Studien zum Öffentlichkeits-anspruch der Demokratie,Paderborn 2002.

    Tabu und Recht, Wiesbaden2003.

    Eigentum. Ordnungsidee,Zustand, Entwicklungen,Berlin 2004.

    Recht und Lüge, Münster2005.

    Staat und Schönheit. Mög-lichkeiten und Perspektiveneiner Staatskalokagathie,Wiesbaden 2005.

    Selbstbehauptung des

    Rechtsstaates, Paderborn2007.

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    Die Grundlegung Europas

    Geographisch gesehen stellt Europa, mit rund 29 Millionen Quadratkilome-

    tern der zweitkleinste Erdteil, lediglich ein Anhängsel Asiens dar. Die Gren-ze zwischen beiden Kontinenten hat man zu verschiedenen Zeiten unterschied-lich lokalisiert, und auch die heute zumeist angenommene Trennungslinie(Ural, Uralfluß, Kaspisches Meer, Schwarzes Meer, Bosporus) ist willkürlich.Sie durchschneidet zwei geschlossene Siedlungs- und Staatsgebiete, das rus-sische und das türkische, und beläßt den äußersten Nordwesten der Türkeibei Europa, wesentlich stärker „europäisch“ geprägte Gebiete, Georgien et-wa oder Armenien, jedoch bei Asien.

    Als wenig hilfreich für das Verständnis Europas erweist sich auch diejüngere politische Entwicklung des Kontinents. Politik und Selbstverständnisder Europäischen Union orientieren sich keineswegs durchgängig an über-kommenen europäischen Grundprinzipien. Das gilt insbesondere für die ein-seitig wirtschaftspolitische Ausrichtung, die unzulängliche demokratischeFundierung und das zentralistische Gebaren der inzwischen entstandenen eu-ropäischen Mammutbürokratie. Die Identität Europas wird auch nicht kla-rer, wenn man den Blick auf die derzeitigen und zukünftigen Mitglieder derStaatengemeinschaft richtet. Einerseits gehören ihr Kroatien, Norwegen unddie Schweiz nicht an, andererseits werden auch innerhalb der EU Pläne zurEinbeziehung der Türkei und anderer nichteuropäischer Länder verfolgt.

    Europa läßt sich weder geographisch noch wirtschaftlich noch von dergegenwärtigen Politik her definieren, sondern nur als historisch-kulturellesPhänomen erfassen. Dabei fällt als erstes eine europäische Eigentümlichkeitins Auge: die ethnische Vielfalt. Die derzeit rund 720 Millionen Europäer glie-

    dern sich ungeachtet des verhältnismäßig kleinen Siedlungsareals in zahlrei-che Völker, von denen die kleinsten nur wenige Zehntausende, die größten

    von Ulrich March

    Sezession 26 · Oktober 2008Grundlagen

    Bollmann/March/Petersen:Kleine Geschichte Europas,Schnellroda 2004.

    Bollmann/March/Petersen:

    Kleine Geschichte derDeutschen, Schnellroda2004.

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    Bevölkerungsgruppen, da die Zahl der einwandern-den Germanen hier so gering ist, daß sie bald inder romanischen Mehrheitsbevölkerung aufgehen.In Südosteuropa findet überhaupt keine Begegnungstatt, da es dem Oströmischen Reich, das seit derReichsteilung des Jahres 395 eine eigenständigeEntwicklung nimmt, gelingt, alle germanischen An-

    griffe abzuweisen. Das Oströmische Reich entgeht– anders als der westliche Reichsteil – auf dieseWeise zwar dem Untergang, erfährt aber auch kei-ne Neubelebung. Vielmehr bleiben der spätantikeAbsolutismus und die kaiserliche Kirchenhoheit(„Cäsaropapismus“) bis zur Eroberung des Rei-ches durch die Türken erhalten; beides wird nachder Eroberung Konstantinopels (1453) vom Mos-kauer Zarentum fortgesetzt.

    Auf dem europäischen Kontinent entwickeln sich also zwei Kulturen,die lateinisch-abendländische, die aus der Verschmelzung von weströmischer

    Antike, Germanentum und römisch-katholischem Christentum hervorgeht,und die auf dem Boden des Oströmischen Reiches entstehende griechisch-or-thodoxe Kultur, die in religiöser Hinsicht durch die Ostkirche, ethnisch vorallem von Griechen und Slawen geprägt ist, an der aber das Germanentumkeinerlei Anteil hat. Die Grenze zwischen beiden Regionen folgt bis zum heu-tigen Tag derjenigen der Reichsteilung des Jahres 395, außerhalb des Reichs-gebietes dann einer Linie, die sich in den darauf folgenden Jahrhunderten zwi-schen den von Rom und den von Konstantinopel aus missionierten Ländernbildet (Save, Karpaten, heutige Ostgrenze Polens, baltische Länder und Finn-land).

    Europa im engeren Sinne, das Abendland, reicht also nur bis zu dieserLinie. Seinen Kernraum bildet von Anfang an das Gebiet zwischen Rhein,

    Loire und Po, jene Region also, in der sich die Begegnung zwischen Roma-nen und Germanen am intensivsten vollzieht. Von Kerneuropa sind die we-sentlichen Impulse der abendländisch-europäischen Geschichte ausgegan-gen.

    In Nordfrankreich siedeln die Franken, in der Poebene Ostgoten undLangobarden dicht, und nach der Landnahme stehen Herrscher wie Theo-derich (473–526) und Chlodwig (482–511) der römischen Kultur beson-ders aufgeschlossen gegenüber. Auf unterschiedliche Weise bedienen siesich der für sie nutzbaren Machtmittel des untergegangenen RömischenReiches, der riesigen Staatsdomänen etwa oder der eingespielten Verwal-tungsbürokratie. Während Theoderich wie die meisten anderen Germa-

    nenkönige eine Politik der getrennten Entwicklung beider Bevölkerungs-gruppen betreibt und an der arianischen Konfession festhält, die ihn vonder römisch-katholischen Mehrheit seiner Untertanen trennt, setzt Chlod-wig von Anfang an auf volle Integration. Indem er sich zusammen mit denGroßen seines Reichs römisch-katholisch taufen läßt, schafft er eine we-sentliche Voraussetzung für die zukunftweisende Verbindung von Antike,Christentum und Germanentum und für die – auch biologische – Ver-schmelzung von Germanen und Romanen. Zahlreiche Angehörige der al-ten römischen Führungsschicht treten in den Dienst des Königs, den sienunmehr als Nachfolger der Cäsaren sehen, und wachsen mit dessen An-hängern und Gefolgsleuten zu einem neuen Dienstadel zusammen, der dannim Rahmen des fränkischen Lehnsstaates, einer echten Neuschöpfung mitantiken, kirchlichen und germanischen Wurzeln, in politischer, gesellschaft-licher und militärischer Hinsicht größte Bedeutung erlangt. Vom Franken-reich aus breiten sich dann in der Folgezeit Lehnswesen und ritterliche Kul-tur über das europäische Abendland aus.

    Auch die wesentlichen Phänomene der weiteren europäischen Geschich-te, etwa Städtewesen und Bürgertum, Gotik und Renaissance, Stände- undVerfassungsstaat, die Französische Revolution und die parlamentarischeDemokratie, Kapitalismus und Industrielle Revolution, Wissenschaft undSozialstaat sind von Kerneuropa ausgegangen, zu dem außer dem Gebietdes fränkischen Reiches seit der normannischen Eroberung von 1066 auchEngland gehört. Auch die wichtigsten europäischen Staatsgebilde sind –

    Rußland ausgenommen – hier entstanden, das Heilige Römische Reich Deut-scher Nation, die Königreiche Frankreich und England, später dann der

    Ulrich March: Dauer undWiederkehr. Historisch- politi sche Konstanten ,

    Schnellroda 2005.

    Asien übergibt Europa dasSzepter der Weltherrschaft;

    Detail von der Kanzel der

    Kathedrale von Antwer- pen, Holzbildhauerei vonMichiel van der Voort dem

    Älteren, 1713.

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    französische, britische, italienische und deutsche Nationalstaat, schließlichauch die Montanunion als Vorgängerin der heutigen EU.

    Drei konstitutive Prinzipien des Abendlandes bestimmen dessen Ge-schichte, die sich, wie die abendländische Kultur selbst, im einzelnen eben-falls aus der Verschmelzung, antiker, germanischer und christlicher Elemen-te entwickelt haben und die besonders beim Vergleich mit anderen Weltre-gionen deutlich hervortreten: die Idee der persönlichen, politischen und gei-

    stigen Freiheit, der rationale Erkenntnis- und Gestaltungswille und derGrundsatz der Humanität. Die ältesten Wurzeln der Freiheitsidee Europasreichen bis zu den Griechen zurück, die erstmals die demokratische Staats-form entwickeln und in den Perserkriegen erfolgreich verteidigen, schon da-mals in dem Bewußtsein, daß hier ein freiheitliches Europa und ein despo-tisches Asien miteinander ringen. Entstehung und Entwicklung der Römi-schen Republik vollziehen sich ebenfalls im Zeichen der politischen Frei-heitsidee; überdies haben die Römer mit ihrem Rechtsdenken, das seit dem12. Jahrhundert in weiten Teilen Europas rezipiert wird, die Entwicklungdes Kontinents stark beeinflußt. Auch der christliche Freiheitsgedanke Frei-heit als Möglichkeit, zu Gott zu gelangen spielt in diesem Zusammenhang

    eine Rolle. Entscheidend für die staatliche Entwicklung des Abendlandesist jedoch der bereits von Tacitus so nachdrücklich hervorgehobene Frei-heitswille der Germanen geworden.

    Der Personenverbandsstaat des Mittelalters kennt tyrannische Herr-schaftsstrukturen ebensowenig wie der spätmittelalterliche und frühneuzeit-liche Ständestaat, die konstitutionelle Monarchie und die parlamentarischeDemokratie. Politische und geistige Despotie treten zwar im Zeitalter des Ab-solutismus und in den totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts auf, aber auchhier erhebt sich stets Widerspruch und Widerstand: Viele absolutistische Staa-ten, so etwa Preußen und Österreich, wandeln sich schon sehr bald zu auf-geklärten Monarchien, und die totalitären Diktaturen haben bezeichnender-weise alle nur zeitweilig bestanden, die meisten nur für wenige Jahre.

    Auch der europäische Rationalismus hat seine ältesten Grundlagen inder Antike, im nüchternen Denken der Römer und vor allem in der griechi-schen Philosophie und Wissenschaft. Spätestens seit der Gründung der erstenUniversitäten gewinnt dann das Prinzip der Ratio mehr und mehr an Bedeu-tung, das alle Lebensbereiche der kritischen Betrachtung durch die Vernunftunterzieht, dabei das eigene Vorgehen mit Skepsis und methodischem Zwei-fel begleitet und schließlich zur Entwicklung der modernen Wissenschaft undTechnik führt, die sich von Europa aus über die ganze Erde verbreiten.

    Der Gedanke der Humanität schließlich beruht auf der Achtung vor derpersonalen Würde des Menschen und ist zutiefst mit der christlichen Tradi-tion verknüpft. Aber auch hier gibt es ältere Wurzeln. Die römische Philoso-

    phie, vor allem aber Kunst, Dichtung und Philosophie der griechischen Klas-sik thematisieren die Humanitas. Schon die Griechen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts sehen – anders als die Zeitgenossen – im Gegner nicht nur denzu bekämpfenden Feind, sondern auch den Menschen, wie es besonders deut-lich in der Tragödie Antigone des Sophokles zum Ausdruck kommt („Nichtmitzuhassen, mitzulieben bin ich da“). Von hier aus ist es dann nur noch einSchritt bis zum Gebot der christlichen Nächstenliebe.

    Die Leitprinzipien der Freiheit, der Menschlichkeit und der Ratio sindvorzugsweise mit der Entwicklung im abendländischen Teil Europas ver-knüpft, besonders die beiden ersteren. Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeitund freiheitliche Demokratie haben sich im Osten und Südosten des Konti-nents entweder sehr zögerlich oder nur ansatzweise durchgesetzt. Das gilt biszum heutigen Tag für Balkanstaaten wie Serbien, Mazedonien, Bulgarien undRumänien, erst recht für Osteuropa, wo sich die Strukturen des Zarenreichsund der Sowjetunion nicht grundlegend verändert haben. Umgekehrt habendie abendländisch geprägten Völker des sowjetischen Herrschaftsbereichs so-fort und entschlossen die „Rückkehr nach Europa“ angetreten, sobald sieden politischen Spielraum dafür hatten. Nicht zufällig sind dies diejenigenVölker, die westlich der alten, letztlich auf das Jahr 395 zurückgehenden Kul-turgrenze ansässig sind. Dieser auffällige Unterschied, der offenkundige Zu-sammenhang zwischen der Grundlegung Europas und dem Zerfall der So-wjetunion beweist, daß der Kontinent immer noch in eine westliche und ei-ne östliche Region geteilt ist. Ob sich diese Spaltung nach dem EU-Beitritt

    weiterer ost- und südosteuropäischer Staaten mildern oder vielleicht sogar ei-nes Tages aufheben läßt, bleibt abzuwarten.

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    10 Vonderach – Wer ist Europäer?

      Sezession 26 · Oktober 2008Grundlagen

    Die Europäer, die anderenund die asymmetrische Evolution

    Es gehört zu den elementaren Erfahrungen, daß die Menschen in ver-schiedenen Erdteilen sich in ihrem Aussehen unterscheiden. Niemandwird einen Norweger mit einem Somali, einem Chinesen, einem Inderoder einem australischen Ureinwohner verwechseln. Solche signifikan-ten Populationsunterschiede innerhalb einer Art werden Unterarten (lat.Subspezies) oder Rassen (Varies) genannt. Die Menschheit ist eine po-lytypische Spezies. Bei kaum einer Tierart gibt es so große sichtbareUnterschiede wie beim Menschen. Bei den meisten Tierarten muß manschon sehr genau hinsehen, um die unterschiedlichen Subspezies unter-scheiden zu können. In der Regel ist nur ein Experte in der Lage, etwaunterschiedliche Vogel- oder Elefantenrassen auseinanderzuhalten. Wis-senschaftliche Untersuchungen zeigen, daß zum Beispiel bei den Schä-delproportionen die Unterschiede zwischen den Menschenrassen fastdoppelt so groß sind wie die zwischen den Subspezies anderer Primaten.Bei statistischen Untersuchungen, egal ob mit morphologischen oder ge-netischen Merkmalen, kann man die Menschen zu nahezu 100 Prozentihren jeweiligen Herkunftsgruppen richtig zuordnen. Jüngst ergab eineUntersuchung, die die Zugehörigkeit von 3.636 Amerikanern zu empi-risch ermittelten genetischen „Clustern“ mit ihrer ethnisch-rassischenSelbstzuordnung verglich, bei nur fünf Individuen (0,14 Prozent) eineNichtübereinstimmung.

    Dennoch sind die Populationsunterschiede recht gering, wenn mansie mit der Variabilität zwischen den Individuen innerhalb der Popula-

    tionen vergleicht. Sie tragen nur zu etwa 10 bis 15 Prozent zur Gesamt-variabilität bei, während etwa 85 Prozent der Variabilität auf den Unter-

    von Andreas Vonderach

    Ilse Schwidetzky: Rassen- geschichte und Rassenevo-lution, in: Herbert Wendt(Hrsg.): Kindlers Enzyklo-

    pädie „Der Mensch“, Bd 2,Zürich 1982,S. 339–380.

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    11Vonderach – Wer ist Europäer?

    schieden zwischen den Individuen innerhalb der Populationen beruhen.Dieser Wert von 10 bis 15 Prozent ist bemerkenswert gleichbleibend,egal ob man Blutgruppen, verschiedene Arten von DNS-Polymorphis-men oder Schädelmaße betrachtet. Für einige politisch korrekte Wissen-schaftler ist das der Grund, zu bestreiten, daß es überhaupt Rassen beimMenschen gibt. Allerdings ist die statistische Methode des FST-Index,auf der dieser Wert beruht, durchaus irreführend. Denn er ist ebenso

    ein Maß für die Heterogenität einer Bevölkerung. Je heterogener eineBevölkerung ist, desto kleiner erscheinen die Unterschiede zu anderenBevölkerungen. So ergab zum Beispiel die Berechnung des FST-Indexaufgrund von Schädelmaßen süd- und mittelamerikanischer Bevölke-rungen mit 24,2 Prozent einen Wert, der um 10 Prozent über dem Wertfür die Gesamtmenschheit liegt. Das heißt in diesem Falle aber nicht,daß die Unterschiede zwischen den lateinamerikanischen Populationengrößer wären als die zwischen den Hauptrassen des Menschen, sondernlediglich, daß die regionalen Bevölkerungen in Süd- und Mittelamerikain sich homogener sind. Neuere genetische Untersuchungen zeigen, daßdie Rassenunterschiede erheblich größer sind, wenn man nicht die Gene

    selbst, sondern deren Umsetzung durch regulatorische Gene vergleicht(Genexpression).Die Europäer sind Europide. Das heißt, sie gehören zu einer der

    drei Großrassen oder Rassenkreise, in die sich die geographische Typen-vielfalt des Menschen untergliedern läßt. Die Europiden sind vor allemdurch eine charakteristische, reliefreiche Physiognomie mit im Verhält-nis zum Hirnschädel kleinem Gesicht, tiefliegenden Augen, vorspringen-der schmaler Nase, kleinen Wangenknochen und tiefen Wangengrubencharakterisiert. Es besteht eine Tendenz zur Aufhellung der Farben, dieaber nicht bei allen regionalen Subtypen der Europiden gleich stark aus-geprägt ist. Zu den Europiden gehören auch die Bewohner Nordafrikasund des Nahen und Mittleren Ostens. Sie unterscheiden sich deutlich so-

    wohl von den Negriden in Afrika als auch von den Mongoliden in Asien.Zum weiteren Umfeld der Mongoliden gehören auch die UreinwohnerAmerikas (Indianide). Außerdem gibt es einige Gruppen, die nicht zuden drei Rassenkreisen gehören, wie die Ureinwohner Australiens (Au-stralide), die Weddiden in Südasien und die Khoisaniden in Südafrika.Diese Gliederung, die auf den sichtbaren morphologischen Merkmalenberuht, ist, trotz gelegentlich anderslautender Äußerungen von Gene-tikern, durch die genetischen Merkmale nicht nur im Großen, sondernvielfach auch im Detail bestätigt worden.

    Die Rassenunterschiede sind nicht nur äußerlicher Art. Es gibt Un-terschiede in der Anatomie des Skeletts einschließlich Händen und Fü-

    ßen und entsprechend von Gang und Bewegung, der Lage und Größeinnerer Organe, des Verlaufs kleinerer Gefäße, Muskeln und Nerven,bei physiologischen Parametern wie Hormonen, Grundumsatz undWärmeregulation, ja selbst in der Furchung der Großhirnrinde. Selbstdie Chromosomen zeigen unter dem Mikroskop erkennbare Unterschie-de in ihrer Bandenstruktur und Gestalt.

    Obwohl alle Rassen einer einzigen Art des Homo sapiens angehö-ren, haben sie sich nicht alle in gleichem Maße vom archaischen Homosapiens der Altsteinzeit entfernt. Menschheitsgeschichtlich alte, arche-morphe Merkmale – früher nannte man sie primitive Merkmale –, wieallgemeine Knochengrobheit, ein großer Gesichts- und im Verhältnisdazu kleiner Hirnschädel, eine niedrige, fliehende Stirn, betonte Über-augenwülste, massige Wangenknochen, Prognathie des Untergesichtsoder große Zähne finden sich in unterschiedlicher Häufigkeit auch nochin heutigen Populationen. Archemorphe Merkmale haben sich vor allemin Randlagen und Rückzugsgebieten erhalten, wie zum Beispiel bei denAustraliden, die die am stärksten archemorphe rezente Gruppe darstel-len. Der Schädel eines australischen Ureinwohners, in Europa ausge-graben, würde in die jüngere Altsteinzeit vor mehr als 10.000 Jahrendatiert werden. Versuche, den Homo sapiens statistisch aufgrund vonSchädelmaßen bei Ausschluß aller Neandertaler- und Homo erectus-Funde zu definieren, scheiterten daran, daß dabei neben prähistorischenVertretern des Homo sapiens auch die rezenten Australiden ausgegrenzt

    wurden. Außer den Australiden, die eindeutig die archemorphste Rassedarstellen, gehören die ihnen nahestehenden Melanesiden, die Ainuiden,

    Vincent Sarich und FrankMiele: Race. The Reality ofHuman Differences, Boul-der (Colorado) 2004.

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    12 Vonderach – Wer ist Europäer?

    die Weddiden, die Eskimiden, die Fuegiden (Feuerlandindianer) und dieKhoisaniden zu den altertümlicheren Menschenformen.

    Allen diesen Gruppen ist gemeinsam, daß sie auf sehr alten kul-turellen Entwicklungsstufen verharrten und schon vor Ausbreitung derEuropäer von ihren kulturell und biologisch progressiveren Nachbarn inunwirtliche Regionen abgedrängt worden sind. Die Australier, die Feu-erlandindianer, die Wedda auf Ceylon, die Negritos auf den Andama-

    nen und die afrikanischen Buschmänner lebten als nicht seßhafte Jägerund Sammler noch bis vor wenigen Generationen in tiefer Altsteinzeit.

    Die allgemeinen Entwicklungstendenzen des Homo sapiens, die die-sen von seinen stammesgeschichtlichen Vorgängern, dem Neandertalerund dem Homo erectus unterscheiden, wie die Zunahme der Schädelka-pazität, die allgemeine Grazilisierung des Knochenbaues, die Verkleine-rung von Kiefer und Gebiß und die Abnahme des Sexualdimorphismus,haben sich bei den verschiedenen geographischen Populationen in un-terschiedlich starkem Maß fortgesetzt. Dabei sind neomorphe Formenvermehrt in den Bevölkerungen der großen Kontinente aufgetreten, woschon aufgrund der größeren Menschenzahl das Auftreten vorteilhaf-

    ter Mutationen wahrscheinlicher war. Auch zwischen den drei Groß-rassen gibt es in dieser Hinsicht Unterschiede. Während die Europidenund die eigentlichen Ostasiaten, die Siniden, sich am weitesten von denstammesgeschichtlich alten Formen entfernt haben, weisen die Palämon-goliden in Südostasien und die Negriden Afrikas vergleichsweise mehrarchemorphe Merkmale auf. Die zeigen sich zum Beispiel in gröberenProportionen und morphologischen Besonderheiten des Gesichtsskelettswie großen Wangenknochen, Prognathie, flachen Wangengruben undgroßen Zähnen. Auch die Hirnschädelkapazität ist kleiner.

    Es ist offensichtlich, daß eine enge Korrelation zwischen der bio-logischen Dimension Archemorphie-Neomorphie und der kulturellenEntwicklungsstufe besteht, die die Völker der verschiedenen Weltregio-

    nen vor der Ausbreitung der Europäer erreicht haben. Die progressiv-sten Formen finden sich dort, wo die Menschen schon früh eine agrari-sche Lebensweise angenommen und auf dieser Grundlage autochthoneHochkulturen entwickelt haben, wie im Nahen und Mittleren Osten,in Europa und in China. Auch zeitlich läßt sich anhand von Skelettfun-den nachvollziehen, wie sich die Menschen in den Hochkulturregionenschon vor Jahrtausenden veränderten, während in jenen Weltregionen,wo sie ihre alten Lebensweisen beibehielten, sie weitgehend unverändertblieben.

    Vor diesem Hintergrund erscheint die Diskussion über psychischeRassenunterschiede in einem anderen Licht. Es ist bekannt, daß Cha-

    raktereigenschaften und der IQ in einem beträchtlichen Maß durch ge-netische Einflüsse bedingt sind. Wenn aber auch psychische Struktureneine genetische Basis haben, unterliegen sie ebenso den populationsge-netischen Gesetzen wie andere Merkmale und sind der Wirkung vonSelektion und Gendrift ausgesetzt. Aus diesem Grund besteht eine sehrgroße theoretische Wahrscheinlichkeit für die Existenz von genetisch be-dingten psychologischen Populationsunterschieden. Schon die Wirkungdes Zufallsfaktors Gendrift schließt aus, daß die an der Ausprägung psy-chischer Merkmale beteiligten Genotypen in jeder Bevölkerung gleichhäufig vorkommen. Außerdem besteht eine große Wahrscheinlichkeitdafür, daß gerade die psychischen Merkmale eine große Bedeutung fürdas Überleben und den Fortpflanzungserfolg gehabt haben.

    So zwingend die Annahme von Rassenunterschieden bei psychi-schen Eigenschaften auch ist, so schwierig ist der konkrete Nachweis.Praktisch überall, wo Bevölkerungsunterschiede vorliegen, gibt es auchkulturelle Einflüsse, die als Erklärung herangezogen werden können. Ei-nem Nachweis kommen wohl die Untersuchungen von Daniel G. Freed-man an Neugeborenen verschiedener Rassen am nächsten. Er und seineSchüler haben seit den späten sechziger Jahren in San Francisco mit Ba-bys unterschiedlicher rassischer Herkunft in den ersten 48 Stunden nachder Geburt Verhaltenstests durchgeführt. Um pränatale Beeinflussungenauszuschließen, wählten sie Mütter aus, die gleichaltrig waren, gleichviele Geburten hinter sich hatten, derselben Sozialschicht angehörten,

    dieselbe Schwangerschaftsberatung und während der Entbindung diegleichen Medikamente erhalten hatten. Freedman fand erhebliche Ver-

     Ilse Schwidetzky: Primi-tivtypen beim Menschen,

    in: Homo 3 (1952), S.

    137–140.

    Earnest A. Hooton: TheAsymmetrical Characterof Human Evolution, in:

    American Journal of Physi-cal Anthropology 8 (1925),

    S. 125–140.

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    haltensunterschiede. Die Neugeborenen chinesischer Herkunft erwiesensich als passiver und weniger leicht erregbar als die europäischer Her-kunft. Die europiden Säuglinge unterlagen in ihren Stimmungen grö-ßeren Schwankungen und reagierten stärker auf Störungen ihres Wohl-befindens oder auf akustische oder optische Reize. Negride Säuglingewaren ähnlich reizbar wie die europiden, zeigten aber vor allem stärker

    entwickelte motorische Fähigkeiten, viele von ihnen konnten schon beider Geburt den Kopf hochhalten. Die Ergebnisse Freedmans wurdendurch weitere Untersuchungen später auf andere ethnische Gruppenausgeweitet. Bei negriden Säuglingen in Afrika sind die Charakteristikaamerikanischer Negrider – die bis zu 30 Prozent europide Gene auf-weisen – noch ausgeprägter. Säuglinge australischer Ureinwohner habendagegen ein ganz eigenständiges Merkmalsprofil, zu dem ebenso großemotorische Fähigkeiten gehören wie bei den afrikanischen Negriden,aber auch eine ähnliche Passivität wie bei den siniden Mongoliden. Ja-panische Neugeborene und die nordamerikanischer Navajo-Indianernzeigen ein ähnliches Verhalten wie die chinesischen Säuglinge, letztere

    übertreffen diese sogar an stoischem Temperament.Die Weltverteilung des IQ zeigt bekanntlich erhebliche Unterschie-de. Der durchschnittliche IQ der autochthonen Bevölkerung (ohne ein-gewanderte Europäer) beträgt in Ostasien 105, in Europa 100, in Süd-ostasien 90, in Nordafrika, dem Mittleren Osten, Südasien und Amerika85, in Schwarzafrika 67 und ist am niedrigsten bei Australiern (62) undafrikanischen Buschmännern (56). Diese Differenzierungen werden üb-rigens durch die methodisch ganz anders gearteten Ergebnisse der kul-turvergleichenden Entwicklungspsychologie nach Jean Piaget bestätigt.Daran, daß hier auch kulturelle und soziale Faktoren eine Rolle spielen,kann kein Zweifel bestehen. Die Frage ist allerdings, ob diese Unter-schiede ausschließlich auf kulturellen Ursachen beruhen, wie die poli-tisch korrekte Meinung dazu ist, oder ob auch die Gene dabei eine Rollespielen. Es ist offensichtlich, daß es eine eindeutige Korrelation sowohlzur biologischen Dimension Archemorphie-Neomorphie als auch zumkulturellen Entwicklungsniveau vor Ausbreitung der Europäer gibt. Un-terschiede bestehen auch bei den verschiedenen Teilkomponenten derIntelligenz. So zeigen sowohl die amerikanischen als auch die afrikani-schen Negriden eine stärkere verbale als räumlich-visuelle Intelligenz.Bei den Ostasiaten ist es dagegen umgekehrt, die räumlich-visuellenFähigkeiten sind besser ausgeprägt als die verbalen. Bemerkenswertist nun, daß die Indianiden daßelbe Intelligenzprofil aufweisen wie dieostasiatischen Mongoliden, mit stärker räumlich-visueller als verbaler

    Intelligenz. Für die Beteiligung genetischer Faktoren spricht, daß auchbei den Reaktionszeiten entsprechende Unterschiede zwischen siniden

    Vonderach – Wer ist Europäer?

    Als sogar Linke nochwußten, daß es Rassen gibt;Bildtafeln zur Anthro- pologie des sowjetischenWissenschaftlers M. F.Nesturch; deutsche Ausgabeim Urania-Verlag (Leipzig- Jena) 1959.

    Richard Lynn: RaceDifferences in Intelligence.An Evolutionary Analysis,Augusta (Georgia) 2006.

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    Mongoliden, Europiden und Negriden bestehen. Die sind ein Maß fürdie neurologische Fähigkeit des Gehirns, einfache Reize zu verarbeiten.Die Mongoliden haben die kürzesten und die Negriden die längsten Re-aktionszeiten.

    Die Psychologen Richard Lynn und Edward M. Miller sehen in denAnforderungen, die das Eiszeitklima stellte, die Ursache für die höhereIntelligenz der Siniden und der (westlichen) Europiden. Das Leben in den

    nördlichen Breitengraden unterlag einem größeren Selektionsdruck alsin den tropischen oder subtropischen Regionen. Während in den war-men Regionen Afrikas und Südasiens die Menschen mehr Sammler als

     Jäger waren, standen sie in den nördlichen Regionen vor den kogni-tiven Problemen, die die Jagd auf große Säugetiere im offenen Gras-land stellte. Ebenso waren hier die Erfordernisse und Schwierigkeitenbei der Herstellung von Behausung und Kleidung und der Entfachungund Hütung des Feuers größere. Archäologen haben gezeigt, daß Jägerund Sammler in tropischen und subtropischen Regionen mit nur etwa10 bis 20 Werkzeugen auskamen, während die in nördlichen Regionenzwischen 25 und 60 benötigten. Im Norden waren schon die Jäger und

    Sammler darauf angewiesen, Lebensmittel zu bevorraten, um den Win-ter zu überleben. Alle diese Anforderungen erzeugten einen verstärktenSelektionsdruck in Richtung auf kognitive Fähigkeiten.

    In der Folge wird der erst einmal erreichte kulturelle Fortschrittselbst die Evolution kognitiver Fähigkeiten begünstigt haben. Er ermög-lichte, daß der ständige Selektionsdruck in Richtung Robustizität ab-nahm und sich grazilere Typen durchsetzten. Das häufige Vorkommenkleiner körperlicher Defekte wie Kurzsichtigkeit, Farbsehstörungen undDeformationen der Nasenscheidewand in der europäischen und ost-asiatischen Bevölkerung bezeugt das Nachlassen des Selektionsdruckes,den der Zwang zum Überleben unter naturnahen Bedingungen ausge-übt hatte. Differenziertere arbeitsteilige Sozialstrukturen erlaubten die

    Erhaltung von Sonderbegabungen. Der Fortpflanzungserfolg belohntezunehmend ein Sozialverhalten, das an eine komplexe Gesellschaft an-gepaßt war. Der Verlust motorischer Fähigkeiten bei Mongoliden undEuropiden erscheint so als das Ergebnis der nachlassenden natürlichenSelektion. Gleichzeitig liegt es nahe, die Friedfertigkeit und geringe Pro-vozierbarkeit sowie den hohen IQ der ostasiatischen Mongoliden alsAnpassungen an das Leben in einer zivilisierten Großgesellschaft zuinterpretieren. Ebenso dürfte die somatische und psychologische Entse-xualisierung der Europiden und Siniden gegenüber den Negriden (Hor-monspiegel, Hodengröße usw.) nicht, wie der kanadische Psychologe J.Philippe Rushton glaubt, auf unterschiedlichen soziobiologischen Fort-

    pflanzungsstrategien im Sinne der r- und K-Strategie, sondern auf derdurch den kulturellen Fortschritt veränderten sexuellen Selektion beru-hen (Bekleidung, Heiratsregeln).

     Jüngste genetische Untersuchungen haben im menschlichen GenomHinweise darauf gefunden, daß sich die Selektion in den letzten 40.000

     Jahren und vor allem seit der letzten Eiszeit vor etwa 10.000 Jahrenerheblich verstärkt hat. Es gibt weiterhin Hinweise darauf, daß die Ver-änderungen bei Europäern und Ostasiaten stärker waren als bei Afri-kanern. Dabei sind vier Fünftel der evoluierten Gene rassenspezifisch,und nur ein Fünftel findet sich bei allen Menschen. Ein großer Anteilder durch die Selektion veränderten Gene betrifft das Gehirn und dasNervensystem. So zum Beispiel das Mikrocephalin-Gen und das ASPM-Gen, die beide die Hirnentwicklung steuern. Beide zeigen eine deutlichegeographische Korrelation mit der Gehirngröße und dem IQ. So findetsich zum Beispiel das progressive Mikrocephalin-Allel bei Negriden mitnur 22 Prozent erheblich seltener als bei Europäern und Ostasiaten (un-ter 80 Prozent).

    Bislang wissen wir nicht, wie groß der Beitrag der Gene zu den ko-gnitiven Bevölkerungsunterschieden wirklich ist. Es ist möglich, daß ernur eine unbedeutende Rolle spielt. Aber auch das Gegenteil ist möglich.Erst die Aufklärung über die molekulargenetischen Grundlagen derkognitiven Fähigkeiten wird uns Klarheit verschaffen. Spätestens dannwird es nicht mehr ausreichen, das Thema zu tabuisieren, und es stellt

    sich die Frage, wie eine freiheitliche und der Menschenwürde verpflich-tete Gesellschaft mit diesem Wissen umgeht.

    Vonderach – Wer ist Europäer?

    Andreas Vonderach: Ent-wicklungspsychologie als

    Schlüssel, in: Sezession 17(2007), S. 34–37.

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    15Autorenverzeichnis

    Autoren dieses Heftes

    Thorsten Hinz, 1962, studierte Germanistik in Leipzig, war 1997/98Kulturredakteur der Wochenzeitung Junge Freiheit und arbeitet seither als

    freier Autor in Berlin. 2004 erhielt er den Gerhard-Löwenthal-Preis für Journalisten. Letzte Buchveröffentlichungen:Zurüstung zum Bürgerkrieg, Schnellroda 2008Das verlorene Land. Aufsätze zur deutschen Geschichtspolitik, Berlin 2008

    Randolf Jeß, geboren 1974, studierte Volkswirtschaft und Jura und arbeitetals Berater einer Bundestagsabgeordneten.

    Ellen Kositza, 1973, studierte Germanistik und Geschichte, freie Publizistin.Letzte Buchveröffentlichung:Gender ohne Ende. Was vom Manne übrigblieb, Schnellroda 2008

    Götz Kubitschek, 1970, studierte Germanistik, Geographie und Philosophie.Seit 2002 selbständiger Verleger (Edition Antaios).Letzte Buchveröffentlichung: Provokation, Schnellroda 2007

    Werner Mäder, 1943, studierte Rechtswissenschaften und ist promoviert als Jurist. Letzte Buchveröffentlichung:Vom Wesen der Souveränität. Ein deutsches und ein europäisches Problem,Berlin 2007

    Ulrich March, 1936, studierte Germanistik und Geschichte und ist promoviertals Historiker. Letzte Buchveröffentlichung:

    Kleine Geschichte deutscher Länder, Graz 2006Dauer und Wiederkehr. Historisch-politische Konstanten, Schnellroda 2005

    Martin Schmidt, 1966, studierte Geschichte und Germanistik und arbeitet alsLehrer. Letzte Buchveröffentlichung (als Herausgeber):Reisen zu den Deutschen im Osten Europas, Graz 2006

     Josef Schüßlburner, 1954, Jurist, Regierungsdirektor in einemBundesministerium. Letzte Buchveröffentlichung:Roter, brauner und grüner Sozialismus. Bewältigung ideologischer Übergängevon SPD bis NSDAP und darüber hinaus, Grevenbroich 2008

     Jan Wilhelms, 1967, studierte Geschichte, Religionswissenschaft und Politikin Hannover und Göttingen und arbeitet als Webprogrammierer.

    Dr. Karlheinz Weißmann, 1959, studierte Geschichte und EvangelischenTheologie und ist promoviert als Historiker. Letzte Buchveröffentlichung:Deutsche Zeichen. Symbole des Reiches – Symbole der Nation, Schnellroda 2007Das konservative Minimum, Schnellroda 2007

    Andreas Vonderach, 1964, studierte Geschichte, Anthropologie, Geographieund Politikwissenschaft. Letzte Buchveröffentlichung:Landleben in der Heide. Volkskundliche Fotografien von Wilhelm Carl-Mardorf , Heide 2005

    Florian Wolfrum, 1978, ist Volljurist und Wissenschaftlicher Mitarbeiter ander Universität Bayreuth.

    Sezession 26 · Oktober 2008

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    wächter-“ beziehungsweise des Rudimentes eines „Not-und Verstandes-Staates“ im Hegelschen Sinne. Die Po-litische Klasse will der staatspolitischen Misere entflie-hen. Josef Isensee schreibt treffend: „Das Kainsmerk-mal von Auschwitz würde verschwinden, würden dieDeutschen in einer größeren Einheit, etwa der europä-ischen, aufgehen. Die Selbstantipathie der Deutschen

    erklärt es, daß sie versuchen, ihrer zu entfliehen. Siebeschwören die multikulturelle Gesellschaft, die euro-päische Bürgergesellschaft, die Weltzivilisation, zugun-sten derer der Nationalstaat abdanken sollte. DieSelbstantipathie erklärt die forcierte Bereitschaft zureuropäischen Integration, die auch anhält, nachdemsie die ursprüngliche Faszination längst verloren hat....“

    Mit dem Vertrag von Maastricht 1992 wurde dieFinanzmacht (Währungshoheit) auf die EU verlagert.Die Rechtsgewalt hat sich der Europäische Gerichts-

    hof – mit Duldung des Bundesverfassungsgerichts –selbst verschafft. Die „forcierte Bereitschaft“ findet ih-ren vorläufigen Höhepunkt im ‚Vertrag von Lissabon‘2007, für den Bundeskanzlerin Merkel sich vehementeingesetzt hat. Es ist keine Aporie zu sagen, daß hierdie Bundesrepublik Deutschland Souveränitäts- undHoheitsrechte übertragen will, die sie ja in rechtlicherHinsicht gar nicht hat.

    Auf der anderen Seite können in der Frage nachder „europäischen Staatswerdung“ (Siegfried Broß)aus dem Integrationsprozeß seit 1992 drei Phasen herausgenommen werden.

    1. StaatenverbundDas Bundesverfassungsgericht hat zwar das Gesetz vom 28. Dezember 1992zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union passieren las-sen. Mit Verfassungsbeschwerden war gerügt worden, daß der Maastricht-Ver-trag das Grundgesetz völlig sinnentleert. Im Urteil vom 12.10.1993 meintendie Verfassungsrichter zweimal, das sei „noch nicht“ der Fall. Es hat eine Rei-he von Grenzpfählen gesetzt, die noch nicht verletzt worden seien:– Der Unions-Vertrag begründet einen Staatenverbund  zur Verwirklichung ei-ner immer engeren Union der – staatlich organisierten – Völker Europas, kei-nen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat.– Die Bundesrepublik ist Mitglied einer zu eigenem Handeln befähigten Staa-

    tengemeinschaft . Voraussetzung der Mitgliedschaft in einer zwischenstaatli-chen Gemeinschaft  ist, daß eine vom Volk ausgehende Legitimation und Ein-flußnahme auch innerhalb des Staatenverbundes gesichert ist. Nimmt ein Ver-bund demokratischer Staaten hoheitliche Aufgaben wahr, sind es zuvörderstdie Staatsvölker der Mitgliedstaaten, die dies über die nationalen Parlamentezu legitimieren haben.– Der Unions-Vertrag räumt grundsätzlich nur begrenzte Hoheitsbefugnisseein (begrenzte Einzelermächtigung). Der Ausdehnung der Aufgaben und Be-fugnisse der Europäischen Gemeinschaften sind vom demokratischen Prinzipher Grenzen gesetzt. Die Wahrnehmung von Hoheitsgewalt durch die EU grün-det sich auf Ermächtigungen souverän bleibender Staaten. Eine Generalermäch-tigung sei unzulässig. Der Vertrag begründe für die Union keine Kompetenz-Kompetenz. Dies würde das gesamte Vertragssystem überflüssig machen. DieStaaten bedürfen hinreichend bedeutsamer Aufgabenfelder, auf denen sich das jeweilige Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozeß po-litischer Willensbildung entfalten und artikulieren kann, um so dem, was es –relativ homogen – geistig sozial und politisch verbindet, rechtlichen Ausdruckzu geben.– Der Vertrag ermächtigt die Union nicht, sich aus eigener Macht die Finanz-mittel oder sonstige Handlungsmittel zu verschaffen, die sie für die Erfüllungihrer Zwecke für erforderlich hält.– Die Bundesrepublik unterwirft sich mit der Ratifikation des Vertrages nichteinem unüberschaubaren, in seinem Selbstlauf nicht mehr steuerbaren „Auto-

    matismus“ zu einer Währungsunion. Diese sei vom Zustimmungsgesetz ge-deckt.

    Rudolf Hrbek (Hrsg.): DerVertrag von Maastrichtin der wissenschaftlichenKontroverse, Baden-Baden1993.

    Mäder – Staat Europa?

    Königin Europa, Holz-schnitt aus Sebastian

    Münsters Cosmographia,1544.

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    18 Mäder – Staat Europa?

    – Deutschland ist einer der „Herren der Verträge“, die ihre Gebundenheit anden „auf unbegrenzte Zeit“ geschlossenen Unionsvertrag begründet haben,diese Zugehörigkeit aber letztlich durch einen gegenläufigen Akt auch wiederaufheben könnten.

    Die Aussage des Bundesverfassungsgerichts ist eindeutig, die EU ist ein„Staatenverbund“, kein Staat. Die Unterscheidung ist juristisch greifbar, auchwenn die Zusammensetzungen ‚Bundesstaat‘ und ‚Staatenbund‘ im Laufe der

    Zeit immer wieder definitionsbedürftig wurden, ohne daß es jemals zu einereinhelligen Meinung gekommen wäre. Hinter den juristischen Positionen zeich-nen sich nämlich politische Kräfte ab, die die Verfassungstermini – ähnlich ‚De-mokratie‘ oder ‚Monarchie‘ – politischen Kampfbegriffen angenähert haben.Dies ist hier nicht der Fall. Europa-Eschatologen mögen dies anders sehen. DasDeutsche Reich (1871) war kein Bund der Länder, sondern der Bund des ge-samten deutschen Volkes. Das galt für die Weimarer Reichsverfassung und giltauch für das Bonner Grundgesetz.

    2. StaatswerdungMateriell ist die Verbindung der Vertragsstaaten seitdem schon viel weiter vor-

    angeschritten, als dies von den politisch Verantwortlichen eingestanden ist. DieEU verfügt über die Finanzmacht und Rechtsgewalt, das heißt Elemente derSouveränität. Souveränität bedeutet in erster Linie tatsächliche Macht, der in-soweit das Recht folgt, sich notfalls über das Recht hinwegsetzt.

    Der Staat wird mitunter mit einer bestimmten Staats- beziehungsweise Re-gierungsform identifiziert, sein Begriff mit spezifischer (demokratie-inkompa-tibler) Verfassungssubstanz aufgeladen. Das verstellt den Blick dafür, daß dieSpezies Staats- beziehungsweise Regierungsform nicht mit dem Genus Staatkollidiert. In das Passepartout des Staatsbegriffs paßt sowohl die Demokratieals auch die Aristokratie sowie die Monokratie oder Diktatur (totale Herr-schaft). Die EU selbst leidet an einem unheilbaren Demokratiedefizit. Das hin-dert jedoch nicht daran, daß sie ein Staat werden kann.

    Das Bundesverfassungsgericht weist zwar darauf hin, daß es kein europä-isches Staatsvolk gibt, allerdings nur in dem Zusammenhang, daß sich deshalbaus dieser Quelle die EU keine demokratische Legitimation verschaffen kann.Zwar gehört nach reiner Völkerrechtslehre zum Staat ein Staatsvolk. Dasschließt jedoch nicht aus, daß ein Staat mit vielen Völkern (Vielvölkerstaat) einStaat ist und als solcher anerkannt wird. Maßgebend ist Faktizität der Herr-schaft. Demgemäß steht einer Staatswerdung der EU nicht entgegen, daß sieweder Demokratie ist noch über ein europäisches Volk verfügt.

    Es sind nicht Einzelmeinungen kompetenter Staatsrechtslehrer, die – an-ders als das Bundesverfassungsgericht – meinen, daß die EU als ein Herrschafts-gebilde eigener Art in der Praxis staatsähnliche Kompetenzen in einer derarti-

    gen Fülle hat, daß sie durchaus einem unitarischen Bundesstaat gleichkom-men.

    3. Vom ‚Staatenverbund‘ zum unitarischen Bundesstaat?An die Stelle der gescheiterten ‚Verfassung für Europa‘ 2004 ist der ‚Vertragvon Lissabon‘ 2007 getreten, mit dem unter anderer Bezeichnung daßelbe er-reicht werden soll. Der Bundespräsident hat bis zur Entscheidung des Bundes-verfassungsgerichts die Unterzeichnung des Zustimmungsgesetzes und die Ra-tifizierung des Vertrages zurückstellen müssen. Tritt der Vertrag in Kraft, be-deutet dies Revolution im wesentlichen mit folgenden Wirkungen. Die vomBundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil von 1993 aufgestellten Hür-den werden beiseite geschafft.– Der Vertrag schafft die Volkssouveränität ab. Das Grundgesetz wird wir-kungslos. Es bedeutet Absolutismus im Stile Ludwigs XIV. im Gewand einerEU-Rätediktatur.– Er beraubt Deutschland der Grundlagen seiner ohnehin nur bedingten Selb-ständigkeit und existentiellen Staatlichkeit. Das Land wird – fernab vom Rechts-und Sozialstaat – Teil einer Region globaler Rechtlosigkeit.– Mit dem vereinfachten Änderungsverfahren durch den Europäischen Rat er-langt dieser die Verfassungshoheit, ohne dazu legitimiert zu sein. Er verfügtüber weitreichende bundesstaatstypische Kompetenz-Kompetenzen, wird er-mächtigt, Unionssteuern zu erheben. Er kann so gut wie das gesamte Vertrags-werk oder Teile dessen (außer der Außen- und Sicherheitspolitik) ohne Betei-

    ligung der nationalen Parlamente ändern.– Die Rechtsetzung der Union ist durchgehend exekutiv, nicht parlamentarisch.

    Werner Mäder: Kritik derVerfassung Deutschlands,

    Berlin 2002.

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    19Mäder – Staat Europa?

    Die Brüsseler Exekutive ist nicht abwählbar.– Bisher hatten die Mitgliedstaaten ihre Hoheitsrechte nur – rückrufbar – über-tragen, nicht verloren. Der Vertrag sieht eine ausschließliche Zuständigkeit invielen Bereichen vor. Sie verlieren ihre Hoheit in diesen Bereichen endgültig.Sie verlieren in der Substanz ihre existentielle Staatlichkeit und werden mate-riell zu bloßen regionalen Selbstverwaltungskörperschaften, als die sie der Ver-trag definiert.

    Die Union wird durch den Vertrag ein ‚echter‘ (unitarischer) Bundesstaat,weil sie auf Vertrag beruht, als Bund der Mitgliedsländer, nicht ein ‚unechter‘Bundesstaat wie Deutschland, der durch Verfassungsgesetz – theoretisch – alsBund des Deutschen Volkes begründet ist.

    Die Union ist jedoch noch kein ‚perfekter‘ Staat, ihre Souveränität ist(noch) nicht absolut. So geht zum Beispiel zwar die Verteidigungspolitik aufdie EU über, die jedoch wiederum an die NATO und damit USA gebunden ist.Der Vertrag räumt ein Austrittsrecht ein. Hingegen gibt es ein Recht auf Ab-spaltung einzelner Landesteile im Völkerrecht nicht. Sollte bei der rein theore-tisch bleibenden Frage die Bundesrepublik tatsächlich austreten wollen, könn-ten seine „Siegerfreunde“ dies politisch zur Sezession erklären und Maßnah-

    men ergreifen. Ohnehin wäre die Union ein Machtgebilde, in dem das positi-ve Gesetz Recht verdrängen kann.Tatsächlich illustriert das Vorgehen bei der „Vertiefung“ und Erweiterung

    der EU ein Interview, das der Luxemburger Jean-Claude Juncker, früherer Rats-präsident, dem Spiegel  gegeben hat: „Wir beschließen etwas, stellen das dannin den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein gro-ßes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen,was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis eskein ,Zurück mehr gibt‘.“Erlaubt sind folgende Betrachtungen.a) Läßt das Bundesverfassungsgericht den Vertrag durchgehen, bleibt die ge-wiß nicht tröstliche Feststellung, aber die Erfahrung aus der Geschichte, daß

    sich keine Herrschaft auf Dauer halten kann, die von der Mehrheit der Bürgerzurückgewiesen wird. „Alle politischen Institutionen sind Manifestationen vonMacht; sie erstarren und verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nichtmehr hinter ihnen steht und sie stützt.“ Hannah Arendt gibt erstaunlich real-philosophischen Trost, wenn sie darauf verweist, daß Freiheit identisch ist mit(Neu-)Anfangen und Spontaneität menschlichen Handelns und wir deshalbdas Recht haben, menschliche Wunder zu erwarten.b) Scheitert der Lissabonner Vertrag, bildet das Maastricht-Urteil des Bundes-verfassungsgerichts bis zu einer Änderung seiner Rechtsprechung Orientierung.Politisch gesehen wird für die Eurokraten der Kompaß vorübergehend in „Un-ordnung“ geraten. Hier sei an Mark Twains Worte erinnert: „Als sie die Rich-

    tung verloren hatten, verdoppelten sie ihre Geschwindigkeit.“ Dann jedochbleibt das Streben der EU-Organe auf „immer mehr“.Solange es noch einen oder mehrere mächtige außereuropäische Staaten

    gibt, muß der Jurist ohne Europa-Eschatologie an den klassischen Begriffenfesthalten, ist Bodins ‚Souveränität‘ nicht aus der Welt. Man kann im derzeiti-gen Verhältnis der Mitgliedstaaten und der EU von einer „Pendenz der Souve-ränität“ sprechen. Ohnehin ist und bleibt, wirtschaftlich gesehen, die EU einegehobene Freihandelszone, eine offene „Region des globalen Kapitalismus“(Karl Albrecht Schachtschneider).

    Für den Nicht-Juristen ist es schwer, sich eine eigene Position zu verschaf-fen. Arnold Gehlen bezeichnete den Übergang, in dem wir leben, als „objekti-ve Unbestimmtheit“. Er meinte, daß gerade repräsentative Erscheinungen os-zillieren können, sie quer durch gewachsene, geschichtlich gewordene und le-gitimierte, tief im Herzen verwurzelte Gebilde ragen. Das Resultat sei dann eingegenstandsundeutliches Gebilde von objektiver Unbestimmtheit. „Haben wirKrieg oder Frieden? Haben wir ein Vaterland oder nicht? Leben wir im Zeit-alter des Sozialismus oder des Kapitalismus? Diese Fragen kann man nach Be-lieben beantworten, nicht weil die Antwort ,Ansichtssache‘ wäre, sondern weilsachlich jede gleich richtig ist. ...“

    Mit dem sicherlich nachvollziehbaren Befund der Sozialpsychologie darfsich der Jurist, will er nicht seinen Beruf verfehlen, allerdings nicht zufrieden-geben. Von ihm muß ein bestimmendes Urteil erwartet werden. Der Bildungs-bürger, sich Aufklärung verschaffend und aufgeklärt, kann sich zumindest sub-

    jektiv eine bestimmte Meinung verschaffen. Den Iren ist es offenbar, sei es mitwelchen Gründen auch, gelungen.

    Arnold Gehlen: Die Seele imtechnischen Zeitalter. Sozial-

     psychologische Probleme inder industriellen Gesell-schaft, zuletzt Frankfurta.M. 2007.

    Hannah Arendt: Denkenohne Geländer, München2006.

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    20 Weißmann – Postamerikanische Welt

    Europa in der postamerikanischen Welt

    Während des Konfliktes zwischen Rußland und Georgien hat Elmar Brok,MdEP und Vorsitzender der außen-, sicherheits- und europapolitischen Kom-

    mission der CDU, eine Analyse der „Schwäche der EU“ vorgelegt. Das alleinwäre keiner Erwähnung wert, aber Brok verweist auch auf die problemati-schen Rahmenbedingungen für jeden Versuch, an diesem Zustand etwas zuändern, bedingt nicht nur durch die Aggressivität Moskaus, sondern auchdurch „pure amerikanische Interessenpolitik“, die die „Einkreisung“ Ruß-lands ebenso rücksichtslos betrieben habe wie die Umwandlung der NATOin ein global operierendes Militärbündnis. Brok weist außerdem darauf hin,daß die USA Irritationen zwischen Alt- und Neumitgliedern der EU „reichlichausgenutzt“ hätten. Das bezieht sich vor allem auf die Rückendeckung, diedie Staaten Ostmitteleuropas von amerikanischer Seite erhielten, wenn es dar-um ging, Vorbehalte gegenüber einer weitergehenden Annäherung zwischender Union und Rußland zu stärken. Das alles, so Brok, sei Teil der Unüber-sichtlichkeit einer „multipolaren Welt“, in der es aber nicht um „Vergangen-heitsbewältigung“ gehen könne, sondern nur um „Interessenwahrung“, unddie verlange: eine gemeinsame „Energiesicherheitspolitik“ und „Nachbar-schaftspolitik“ und daß eine „Definition gemeinsamer Interessen der EU so-wie der EU mit Rußland gefunden“ werde.

    Man kann die Stellungnahme Broks als Übergangsphänomen betrachten.Er spricht zwar immerhin offen von „Multipolarität“ und gibt der „NeuenWeltordnung“ unter alleiniger Führung der USA den Abschied, aber gleich-zeitig finden sich Reste der alten „Werte“-Rhetorik, mit der man mühsam zuverbergen sucht, daß es im Grunde um politisches Kalkül, nationales Prestigeund Machtfragen geht, was wiederum bedeutet, daß die Vorstellung, man wer-

    de durch Diskussion, Konsensbildung und die Förderung wirtschaftlicher Be-ziehungen neue Stabilität gewinnen, naiv oder unehrlich erscheint. Will man

    von Karlheinz Weißmann

    Sezession 26 · Oktober 2008Grundlagen

    Elmar Brok: Die Schwächeder EU, in: FrankfurterAllgemeine Zeitung  vom14. August 2008.

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    es freundlicher formulieren, dann könnte man auch sagen, daß Brok versucht,das Selbstverständnis Europas als eines „postmodernen Imperiums“ zu ret-ten.

    Der Begriff stammt von Robert Kagan, der im Frühjahr sein Buch TheReturn of History and the End of Dreams (deutsche Fassung: Die Demokra-tie und ihre Feinde. Wer gestaltet die neue Weltordnung?, Berlin: Siedler 2008)veröffentlichte und darin ein Szenario für die Entwicklung der Weltpolitik ent-

    warf. Es handelt sich – wie der Titel schon anzeigt – um eine Absage an Fu-kuyamas These vom „Ende der Geschichte“, aber stärker noch um eine Kri-tik an Huntingtons Konzept vom „Kampf der Kulturen“. Nach Meinung Ka-gans sind die großen Konflikte nicht durch zivilisatorische, etwa religiöse, Un-terschiede bedingt, sondern durch Geopolitik und Verfassungsordnung.

    Auf dem Umschlag von Kagans Buch hat man eine Karikatur vom Endedes 19. Jahrhunderts wiedergegeben, die den russischen Bären und den briti-schen Löwen im Angriff auf den chinesischen Mandarin zeigt. Das ist inso-fern aufschlußreich, als Kagan meint, daß tatsächlich das postkommunisti-sche Rußland, die USA in der Nachfolge Großbritanniens und China die Ge-schicke der Welt bestimmen werden. Er verweist ausdrücklich auf die Konti-

    nuität der russischen Machtpolitik und zitiert Putin mit dem Satz, der Kollapsder Sowjetunion sei „die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts“gewesen. Den Rekurs auf die imperiale Tradition des Landes hält Kagan fürebenso selbstverständlich wie die Versuche, die militärische Stärke durch einegeschickte Nutzung der natürlichen Ressourcen – vor allem soweit sie der En-ergiegewinnung dienen – auszubauen. Diese Strategie ähnele derjenigen Chi-nas, dessen Demütigung weiter zurückliege als die Rußlands, das nichtsdesto-trotz seinen Aufstieg betreibe, unter Wahrung von autokratischer Struktur,Förderung des Nationalismus, der ausdrücklich auch auf die vorkommunisti-sche Zeit zurückgreife, und die rücksichtslose Modernisierung des Landes, dievor allem die Öffnung für kapitalistische Methoden bewirke. China gehe esdabei nicht nur um die Stabilisierung des Systems, sondern auch um ein „Sen-

    dungsbewußtsein“, demzufolge das Land ein natürliches Recht habe, an derNeugestaltung der internationalen Ordnung aktiv mitzuwirken. Dieses Zielzu erreichen, sei im Falle Chinas ungleich wahrscheinlicher als im Fall der an-deren asiatischen Staaten mit Großmachtpotential: Japan, Indien oder Iran.

    Dem Aufstieg Rußlands und Chinas können die USA aus Sicht Kaganswenig entgegensetzen. Das Land habe seine Position als einzige Supermachtnach dem Zusammenbruch des Kommunismus schlecht genutzt. Zwischen1989 und 2001 gab es mehr amerikanische Militärinterventionen als jemalszuvor, und Washington nahm weder auf die UN noch auf seine Verbündetenirgendwelche Rücksicht. Die Reaktion der früheren Außenministerin Albrightangesichts der Kritik an diesem Verhalten – „Wir stehen höher und sehen wei-

    ter in die Zukunft als jedes andere Land“ – sei Ausweis einer gefährlichen Ar-roganz, die die Illusion erzeuge, man könne die eigene Hegemonie nutzen, umandere Großmächte in einen weltweiten „Krieg gegen den Terror“ zu zwin-gen. Die Zusammenarbeit mit Rußland und China sei aber immer eine Illusi-on gewesen, weil deren Führungen von geopolitischen Interessenlagen ausgin-gen, die wenig oder nichts mit den ideologischen Vorgaben Washingtons zutun hatten.

    Kagan hält das für verständlich, betont allerdings, daß die Geopolitiknicht materialistisch aufgefaßt werden dürfe, im Sinne eines absoluten Deter-minismus. Raumlage und Verfassungsform böten aber zusammengenommendie sicherste Prognose im Hinblick auf die politische Orien-tierung eines Staates. Das wiederum bedeute, daß es keinglobales „Konzert“ der Mächte geben werde, bestenfallsein „demokratisches“, das die USA, Japan und Indien,aber auch die EU umfasse. Der wird in seiner Abhand-lung sonst kaum Beachtung geschenkt, wenngleich er demKonzept eines „postmodernen“ Imperiums mit Sym-pathie gegenübersteht. Gleichwohl erscheintihm die Union als „geopolitisches Rätsel“[94], denn deren Führer neigten immer wie-der dazu, die gebotene Solidarität mit denVereinigten Staaten zu opfern, um eigenekurzfristige Interessen zu verfolgen.

    Diese Einschätzung steht im Wider-spruch zu dem, was Kagan selbst als Kritik

    Das Gleichgewicht ist im-mer prekär; Karikatur vonHonoré Daumier, 1867.

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    22 Weißmann – Postamerikanische Welt

    der amerikanischen Außenpolitik formuliert hat, erklärt sich aber aus seinerBiographie, zu der die langjährige Tätigkeit im State Department  gehört, aberauch die Prägung durch die Erfahrungen des Kalten Krieges und die kurze Zeitdes amerikanischen Machtmonopols nach dessen Ende.

    Wahrscheinlich muß man auf diesen Hintergrund eine gewisse pessimi-stische Grundeinschätzung zurückführen. Kagan hält einen Krieg zwischenden autokratischen und den demokratischen Mächten zwar nicht für zwangs-

    läufig, glaubt aber eben auch nicht an eine Art von globalem Interessenaus-gleich oder eine vollständige Durchsetzung des westlichen Modells. Man müs-se ökonomische Interessen berücksichtigen, aber „Nationen sind keine Re-chenmaschinen“ [80], und in vieler Hinsicht würden die Beziehungen zwi-schen Staaten im 21. Jahrhundert wieder Mustern des 19. Jahrhunderts äh-neln. In vielem berührt sich diese Argumentation mit derjenigen von FareedZakaria, dessen jüngstes Buch gerade unter dem Titel The Post-AmericanWorld  erschien. Auch er weist die Grundannahmen von Fukuyama und Hun-tington zurück, hält den Islamismus nicht für die Hauptbedrohung, hebt dieBedeutung eines neuen „Nationalismus“ und der machtpolitischen Aspektehervor. Beide setzen außerdem den relativen Machtverlust der Vereinigten

    Staaten und den „Aufstieg desRestes“ voraus. Allerdings istdas Szenario, das Zakaria ent-wirft, deutlich optimistischerals das Kagans. Die Ursachedafür liegt in dem Gewicht,das er den wirtschaftlichenFaktoren zuweist. Seiner Mei-nung nach deuten alle Indika-toren auf eine positive Gesamt-entwicklung. Die Verflechtungder Staaten in bezug auf Wa-

    ren- und Kapitalverkehr, dieAuswirkungen der „Drittenökonomischen Revolution“,bewirkt durch die globale Ver-fügbarkeit nicht nur von Gü-tern und Geld, sondern auchvon Dienstleistungen, das alles

    bewirke eine dauernde Aufwärtsbewegung. Von den großen Verheißungen der1990er Jahre habe sich jedenfalls die bewahrheitet, daß alle wirtschaftlichenProbleme über Marktmechanismen zu lösen seien. Der Aufstieg Chinas undIndiens, mittelfristig auch derjenige Brasiliens, hänge mit der Entscheidung zu-

    sammen, voll- oder halbsozialistische Konzepte aufzugeben und die Spielre-geln des Kapitalismus zu akzeptieren. Auch Rußland werde letztlich diesemWeg folgen, wenngleich seine autokratische Struktur dem größere Hindernis-se entgegenstelle als das beispielsweise in China der Fall sei.

    In Zakarias Optik erscheint China als ein besonders aufschlußreiches Bei-spiel für den relativen Verlust an Anziehungskraft des amerikanischen Mo-dells. Mit deutlicher Bewunderung spricht er von den Durchgriffsmöglichkei-ten der Elite – die nur noch pro forma kommunistisch, de facto aber techno-kratisch und nationalistisch orientiert sei –, wenn es darum geht, Entwick-lungshindernisse aus dem Weg zu räumen oder eine langfristige Politik zu be-treiben. Seine Heimat Indien erscheint zwar sympathischer, was die innere Ver-fassung betrifft, aber gleichzeitig auch chaotischer und jedenfalls ungeeignetfür ein zentralistisches, halbdiktatorisches Regime. Diese Charakterisierungverweist auf eine weitere Besonderheit der Argumentation Zakarias, der an-ders als Kagan ein eher pragmatisches Verhältnis zu Verfassungsordnungenhat. Seiner Meinung nach ist die Freiheit des Marktes ein ungleich bessererGarant für die Freiheit des Individuums als die in einer Konstitution verbrief-te Liste von Freiheitsrechten. Er nennt diese Haltung „liberal“, und seine Be-geisterung für das amerikanische Modell resultiert aus der Wahrnehmung, daßdieses „liberalen“ Vorstellungen am nächsten kommt.

    Zakaria glaubt deshalb auch, daß Amerika die Möglichkeit habe, demSchicksal zu entgehen, dem noch jede imperiale Ordnung zum Opfer gefallensei: die fehlende Integration der Beherrschten, die Zwangsläufigkeit der Re-

    bellion, wenn das Gefühl der Entfremdung zu stark werde. Nach MeinungZakarias sind die USA durch die Anwerbung begabter Einwanderer auf dem

    Robert Kagan: The Returnof History and the End of

    Dreams, London 2008.

    Fareed Zakaria: The Post-American World, New

    York und London 2008.

    Neuer Kolonialismus;Collage vom Deckblatt desEconomist, März 2008.

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    Weg, dieser Gefahr zu entkommen. Beeindruckend sind jedenfalls die Zahlen,die er nennt, wenn es um den Anteil junger Asiaten unter den Absolventen dermathematischen, technischen und naturwissenschaftlichen Studiengänge geht;die Weißen, so seine etwas höhnisch klingende Bemerkung, wollten sich denAnstrengungen der sciences längst nicht mehr unterwerfen. Zakaria verweistauch darauf, daß die Geburtenrate der weißen Amerikaner genauso niedrigist wie die in den meisten europäischen Staaten.

    Deren Niedergang erscheint für ihn unaufhaltsam angesichts der demo-graphischen Tatsachen. Zwar müsse man gegenwärtig noch mit der EU alsFaktor rechnen, aber bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts werde deren Bedeu-tung immer weiter zurückgehen. Den Weißen werde so oder so die unange-nehme Wahrheit vor Augen geführt, daß die „Größe“ eines Staates tatsäch-lich mit seiner „Größe“ – im Hinblick auf Fläche und Bevölkerung – zusam-menhänge. Wenn die Zukunft Staaten wie Rußland, China und Indien gehö-re, dann könnten die USA ihre relative Machtstellung nur wahren, wenn sieals „ehrlicher Makler“ – Zakaria rekurriert ausdrücklich auf Bismarck unddessen Verwendung des Begriffs – aufträten, die Beziehungen zwischen denMächten moderierten und die Globalisierung in ihrem Inneren spiegelten, so

    daß sie alle zur Verfügung stehenden Potentiale nutzen könnten.Wenngleich Zakaria behauptet, dem Faktor „Kultur“ eine erhebliche Be-deutung zuzumessen, so wird doch an dieser Stelle eine generelle Schwächeseiner Argumentation deutlich: Trotz seines heftigen Leugnens sieht er im Men-schen nur den homo oeconomicus, Staat, Religion, Weltanschauung, Überlie-ferung, werden daran gemessen, ob sie dessen Entfaltung dienlich sind odernicht, sie haben keinen Eigenwert und ihr Anspruch auf Geltung ist ohne Be-lang. Das hat einmal mit einem – von Zakaria selbst beklagten – typisch ame-rikanischen Mangel zu tun: dem Fehlen vertiefter historischer Kenntnis. Esgeht aber auch um eine Art Stretchlimousinen-Politologie, die die Dinge nuraus großer Distanz und „von oben“ betrachtet, keinen Blick für die Verwer-fungen hat und im letzten glaubt, daß nichts den „Fortschritt“ aufhält.

    In dieser Hinsicht besteht ein deutlicher Unterschied zu Kagan. Dessenerster Satz lautet „The world has become normal again“, und seine Vorstel-lung von Normalität hat einen konservativen Grundzug: er setzt eine „unwan-delbare Natur“ des Menschen voraus und eine „endlose Konkurrenz der Na-tionen und Völker“. Kagan zählt tatsächlich zu den führenden Köpfen deramerikanischen „Neokonservativen“ und berät den republikanischen Präsi-dentschaftskandidaten McCain; umgekehrt gehört Zakaria zu den Unterstüt-zern Obamas. Sowenig man deshalb in Kagan einen Befürworter der bisheri-gen Außenpolitik sehen kann, sowenig darf man Zakaria als naiven Anhän-ger des neuen Messias betrachten. Beider Bücher sind nicht nur als aktuelleParteinahmen zu verstehen, eher als grundsätzliche Positionsbestimmungen

    für die Ära nach Bush. Wenn in dem Zusammenhang Europa kaum noch Be-deutung beigemessen wird, so muß man darin ein Indiz für die Verschiebungder machtpolitischen Gewichte sehen, die sich in den vergangenen Jahrzehn-ten vollzogen.

    Eine angemessene Reaktion darauf von europäischer Seite gibt es nicht,das kann man wissen seit den peinlichen Aufwallungen, zu denen die „Ach-se“ Paris-Berlin-Moskau geführt hat. Soweit sich die Eliten des alten Konti-nents nicht in fruchtlosen Klagen ergehen oder auf eine Nische im Weltstaa-tensystem hoffen, um in Ruhe ihren Geschäften nachzugehen, bleibt es beimAusmalen von Wolkenkuckucksheimen. Alan Poseners Buch Imperium derZukunft  fällt unter diese Kategorie und ist deshalb so sehr viel schwächer alsdie Veröffentlichungen von Kagan und Zakaria. Der Verfasser greift nur diemittlerweile wohlwollendere Betrachtung von Imperien auf und schlägt dem-entsprechend eine europäische Reichsbildung vor. Das ist im einzelnen durch-aus sympathisch und begleitet von Überlegungen, die man länger nicht vor-getragen bekam, aber bei den großen Problemen weicht Posener aus. Sein„sanfter Imperialismus“ bleibt in bezug auf die Klärung der politischen Exi-stenzbedingungen diffus. Sein „größeres Europa“ ist ein Konglomerat von EU-Altmitgliedern im Kern, Neumitgliedern, Assoziierten, Beitrittswilligen undschließlich allen, die den Euro als Leitwährung betrachten. Woher der Zusam-menhalt, den Posener – unter Rückgriff auf den arabischen Begriff „Asabiya“!– beschwört, kommen soll, bleibt sein Geheimnis, und die entscheidenden Fra-gen, das heißt die im eigentlichen Sinn politischen, bleiben unbeantwortet:

    Wer stellt das Reichsvolk? Wie ist der europäische Raum abzugrenzen? Wel-che Doktrin wäre ihm gemäß?

    Weißmann – Postamerikanische Welt

    Alan Posener: Imperiumder Zukunft. Warum Euro- pa Weltmacht werden muß,München 2007.

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    24 Schmidt – Grenze Europas

    An den Grenzen Europas

    Von Ernst von Salomon stammt der Satz, daß die Nation von ihren um-kämpften Grenzen her begriffen werden müsse. Auch die Zustandsbeschrei-bung unseres Heimatkontinents Europa kann von seinen Grenzen her er-folgen – aufschlußreich ist vor allem die Situation an den EU-Außengren-

    zen im Osten und deren durch das sogenannte Schengener Abkommen ver-ursachte Veränderungen. Seit der Öffnung der Land- und Seegrenzen inEstland, Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, Slowenien, Tschechien,Ungarn und Malta am 21. Dezember 2007 hat sich die Unterzeichnerzahldieses Vertrages auf 30 Länder erweitert, darunter sind auch Nicht-EU-Staaten wie Norwegen und Island. Für Großbritannien und Irland beste-hen Sonderregelungen, die es erlauben, weiterhin eigenständig Grenzkon-trollen durchzuführen. Der Schengen-Raum ist heute rund 3,6 MillionenQuadratkilometer groß und zählt etwa 400 Millionen Einwohner.

    Der am 15. Juni 1985 in Schengen, einem kleinen luxemburgischenStädtchen an der Mosel, geschlossene Vertrag beinhaltet den Verzicht aufKontrollen des Personenverkehrs an den Grenzen der beigetretenen Staa-ten und gleichzeitig die stärkere Sicherung der Außengrenzen zu Drittstaa-ten.

    ‚Schengen‘ steht für die Vision eines demokratischen, freizügigen undintern grenzenlosen Europas, das politisch wie wirtschaftlich immer mehrzu einer Art Vereinigte Staaten von Europa zusammenwächst. Von rechtswird das Vertragswerk als bürokratischer, realitätsferner Versuch zur Be-seitigung des vielgestaltigen „Europas der Vaterländer“ kritisiert, währenddie Linke eine bewußte Abschottung der „Festung Europa“ von den Nach-barräumen, ihren Entwicklungsproblemen und nicht zuletzt den von dortkommenden Flüchtlingsmassen behauptet.

    Wie sieht die Alltagsrealität an einem Grenzübergang des Schengen-

    Mitglieds Polen zum EU-Anwärter Ukraine aus? Einer der zwei großenÜbergänge an dieser 526 Kilometer langen Trennungslinie liegt östlich des

    von Martin Schmidt

    Sezession 26 · Oktober 2008Grundlagen

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    galizischen Przemysl auf der Strecke nach Lemberg. Er heißt Przemysl/Me-dyka – Mostiska. Auf der polnischen Seite ist das Erscheinungsbild in letz-ter Zeit viel freundlicher geworden – von den Uniformen der Grenzer biszu den mit Geldern aus Brüssel modernisierten Gebäuden. Nachdem dieZöllner im April 2007 durch einen massiven Streik eine Erhöhung ihrerLöhne durchsetzen konnten, wobei sie durch beton