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Seite 1 Siebzig Jahre kritische Theorie 1937 erschien Max Horkheimers Aufsatz ›Traditionelle und kritische Theorie‹ in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ Roger Behrens »Die kritische Theorie erklärt: es muss nicht so sein, die Menschen können das Sein ändern, die Umstände sind jetzt vorhanden.« Max Horkheimer, ›Traditionelle und kritische Theorie‹ (1937) 1 Am 13. März 1933 wird knapp eineinhalb Monate nach Beginn des NS- Regimes das Gebäude des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main geschlossen. Am 14. Juli 1933 wird das Institut schließlich von der Gestapo aufgrund »staatsfeindlicher Bestrebungen« aufgelöst. 1931, also zwei Jahre zuvor, hatte der Sozialphilosoph Max Horkheimer im Alter von sechsunddreißig Jahren die Leitung des Instituts übernommen und war gerade dabei, eine Forschungsgruppe zusammenzustellen, zu deren engeren Kreis dann unter anderen Theodor W. Adorno, Leo Löwenthal, Herbert Marcuse, Friedrich Pollock und Erich Fromm gehören werden. Horkheimer bringt das Institut über Genf und Paris nach New York, wo es an der Columbia Universität eine neue Wirkungsstätte findet. Nach und nach emigrieren weitere Mitarbeiter nach Amerika in die Vereinigten Staaten. Im Zentrum der Forschungsarbeit stand die Herausgabe der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹, das Organ des Instituts – sie erschien von 1932 bis 1941. In der von Horkheimer herausgegebenen Zeitschrift – die in den letzten drei Jahrgängen unter dem Titel ›Studies in Philosophy and Social Science‹ erschien – veröffentlichten zahlreiche Linksintellektuelle und marxistische Theoretiker, wie etwa der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, die Ethnologin Margaret Mead, der Philosoph Raymond Aron, der Marxexperte Karl Korsch oder der Soziologe Henri Lefebvre; auch innerhalb des Horkheimer-Kreises kontrovers diskutierte Theoretiker 1 Max Horkheimer, ›Traditionelle und kritische Theorie‹, in: ›Zeitschrift für Sozialforschung‹, Jg. 6 (1937), München 1980 (Reprint), S. 279 (Fußnote).

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Siebzig Jahre kritische Theorie

1937 erschien Max Horkheimers Aufsatz ›Traditionelle undkritische Theorie‹ in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹

Roger Behrens

»Die kritische Theorie erklärt: es muss nicht so sein, die Menschen

können das Sein ändern, die Umstände sind jetzt vorhanden.« Max

Horkheimer, ›Traditionelle und kritische Theorie‹ (1937)1

Am 13. März 1933 wird knapp eineinhalb Monate nach Beginn des NS-

Regimes das Gebäude des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am

Main geschlossen. Am 14. Juli 1933 wird das Institut schließlich von der

Gestapo aufgrund »staatsfeindlicher Bestrebungen« aufgelöst. 1931, also

zwei Jahre zuvor, hatte der Sozialphilosoph Max Horkheimer im Alter

von sechsunddreißig Jahren die Leitung des Instituts übernommen und

war gerade dabei, eine Forschungsgruppe zusammenzustellen, zu deren

engeren Kreis dann unter anderen Theodor W. Adorno, Leo Löwenthal,

Herbert Marcuse, Friedrich Pollock und Erich Fromm gehören werden.

Horkheimer bringt das Institut über Genf und Paris nach New York, wo

es an der Columbia Universität eine neue Wirkungsstätte findet. Nach

und nach emigrieren weitere Mitarbeiter nach Amerika in die

Vereinigten Staaten. Im Zentrum der Forschungsarbeit stand die

Herausgabe der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹, das Organ des Instituts

– sie erschien von 1932 bis 1941. In der von Horkheimer

herausgegebenen Zeitschrift – die in den letzten drei Jahrgängen unter

dem Titel ›Studies in Philosophy and Social Science‹ erschien –

veröffentlichten zahlreiche Linksintellektuelle und marxistische

Theoretiker, wie etwa der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, die

Ethnologin Margaret Mead, der Philosoph Raymond Aron, der

Marxexperte Karl Korsch oder der Soziologe Henri Lefebvre; auch

innerhalb des Horkheimer-Kreises kontrovers diskutierte Theoretiker

1 Max Horkheimer, ›Traditionelle und kritische Theorie‹, in: ›Zeitschrift für

Sozialforschung‹, Jg. 6 (1937), München 1980 (Reprint), S. 279 (Fußnote).

Seite 2wie Günther Anders, Karl Löwith oder Otto Neurath konnten

Buchrezensionen in dem umfangreichen Besprechungsteil der Zeitschrift

unterbringen. 1936 erschien hier – in französischer Übersetzung und

redaktionell gekürzt – Walter Benjamins berühmter Essay ›Das

Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‹; im

selben Jahrgang veröffentlichte Adorno unter dem bissigen Pseudonym

Hektor Rottweiler in der Zeitschrift seine rücksichtslose Kritik ›Über

Jazz‹. Ein Jahr später, also im Jahrgang 1937, werden dann in der

›Zeitschrift für Sozialforschung‹ zwei programmatische Beiträge

publiziert: ›Traditionelle und kritische Theorie‹ von Horkheimer sowie

der in zwei Teilen von Horkheimer und Marcuse verfasste Aufsatz

›Philosophie und kritische Theorie‹.

Diese beiden Aufsätze – vor allem Horkheimers ›Traditionelle und

kritische Theorie‹ – werden als Gründungsdokumente einer, zumeist

großgeschriebenen »Kritischen Theorie« der so genannten »Frankfurter

Schule« verstanden. – Ich möchte dem entgegen zeigen, dass

Horkheimer und Marcuse in diesen Texten die kritische Theorie nicht

erfunden haben. Gleichwohl ist unbestreitbar, dass in diesen Aufsätzen

das Konzept einer kritischen Theorie der Gesellschaft programmatisch

gefasst worden ist: allerdings, und das möchte ich darstellen, haben

diese Aufsätze für die Entwicklung der kritischen Theorie selbst gar

nicht die Bedeutung, die ihnen später zugesprochen wurde. Schon jetzt

sei darauf verwiesen, dass die 1937 in der ›Zeitschrift für

Sozialforschung‹ publizierten Aufsätze bis in die sechziger Jahre nur

äußerst schwer zugänglich waren, beziehungsweise in Raubdrucken

kursierten, bis schließlich Marcuse seinen Teil von ›Philosophie und

kritische Theorie‹ 1965 in seinem Aufsatzsammelband ›Kultur und

Gesellschaft 1‹ wieder veröffentlichte – 1968 folgte eine amerikanische

Übersetzung für seinen Band ›Negations. Essays in Critical Theory‹;

Horkheimer hat schließlich ›Traditionelle und kritische Theorie‹ sowie

seinen Teil von ›Philosophie und kritische Theorie‹ erst 1970 in seinem

gleichnamigen Sammelband ›Traditionelle und kritische Theorie‹ wieder

offiziell zugänglich gemacht. Die ›Zeitschrift für Sozialforschung‹

erscheint im Übrigen erst 1980 im Reprint; das heißt über Jahrzehnte

war kaum bekannt, welche Beiträge mit welchem Stellenwert in der

›Zeitschrift für Sozialforschung‹ überhaupt publiziert wurden. – Ferner

geht es mir darum, deutlich zu machen, inwiefern für den damals

formulierten Begriff der kritischen Theorie der Gesellschaft die zeitlichen

Seite 3und insbesondere räumlichen Umstände der Emigration eine Rolle

spielen; dass die Texte in New York verfasst wurden, bleibt ihnen nicht

äußerlich – zumal wenn man bedenkt, welche epochalen Umbrüche sich

zu dieser Zeit sozial und kulturell weltweit sowie in der US-

amerikanischen Metropole zutragen.

* * *

Das gemeinsame Thema der Aufsätze von 1937 ist zweifellos die kritische

Theorie. Dabei ging es darum, eine Philosophie fortzusetzen, die als

Philosophie nicht mehr fortsetzbar war; anders gesagt: mit dem

zwanzigsten Jahrhundert wird auf grausame Weise klar, dass die

gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mehr philosophisch erfasst, nicht

mehr mit Begriffen der Philosophie dargestellt werden können; weder

als Ethik noch als Metaphysik vermag die Philosophie etwas zur Lösung

der gegenwärtigen Probleme der Welt beizutragen, es sei denn als

ideologische Verklärung und damit Fortsetzung dieser Probleme.

Gleichwohl bleibt in der Philosophie die Kritik bewahrt, dass die Welt

sich verändern lässt, dass die Befreiung und Befriedung des

menschlichen Daseins möglich ist. Einschlossen ist das in der

Philosophie der Aufklärung sowie im deutschen Idealismus, der um

Achtzehnhundert mit Kant und schließlich Hegel seinen systematischen

Höhepunkt hatte. Dass die bürgerliche Philosophie allerdings die

Emanzipation des Menschen nur als Ideal festhalten konnte, während

gleichzeitig die humane Einrichtung der Welt an den bürgerlichen

Prinzipien selbst scheiterte, markierte die Krise der Philosophie, die

keine andere ist als die der Gesellschaft. Kurzum: der kapitalistischen

Warenproduktion, wie sie sich im neunzehnten Jahrhundert etablierte,

kommt man mit Vernunftkritik, Geist und Sittlichkeit nicht bei.

Gefordert ist die materielle Kritik der Verhältnisse und deshalb die Kritik

der materiellen Verhältnisse; Karl Marx und Friedrich Engels haben sie

in ihren Schriften formuliert: als ›Kritik der politischen Ökonomie‹, wie

der Untertitel des Marxschen ›Kapitals‹ lautet – dass das ›Kapital‹ 1867

erschien, was also vor 140 Jahren war, erinnert natürlich an ein weiteres

Jubiläum in diesem Jahr.

Die kritische Theorie bezeichnet in diesem Sinne also eine Linie radikalen

Denkens, die über Kant und Hegel verläuft und in der Marxschen

Theorie ihren Angelpunkt findet: versteht man unter kritischer Theorie

den historischen und dialektischen Materialismus, dann kann ohne

Seite 4weiteres Marx als Begründer der kritischen Theorie gelten. Zugleich ist

das Projekt einer kritischen Theorie mit Marx freilich nicht

abgeschlossen; solange eine menschliche und von den Menschen selbst

bestimmte Gesellschaft nicht realisiert ist, bleibt die kritische Theorie

aktuell. Damit widerspricht die kritische Theorie im Übrigen auch dem

so genannten wissenschaftlichen Sozialismus, der die Gesellschaftskritik

als Weltanschauung verteidigt und auf vermeintlich unveränderliche

Gesetzmäßigkeiten reduziert; stattdessen sieht sich die kritische Theorie

permanent von neuen Fragen herausgefordert, die durch die

widersprüchliche Gesellschaft selbst provoziert sind: Warum misslingt

die emanzipatorische Umgestaltung der Welt, obwohl sie sozial durchaus

möglich ist? Warum tendiert die geschichtliche Logik des Fortschritts ins

Gegenteil, etwa in die Katastrophe eines Weltkriegs? Welche Kräfte

wirken in den Verhältnissen, dass die Menschen bereit sind, ihre

eigenen Interessen zurückzustellen und sogar ihr Leben für die

Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung zu opfern? Inwiefern

handelt es sich dabei um Kräfte, die hinter den Rücken der Menschen

ihre Wirkung entfalten und die sich zugleich auch als Unbewusstes

manifestieren? Schon 1931 war klar, wo und in welcher Weise die

Antworten auf diese Fragen zu finden sind; über ›Die gegenwärtige Lage

der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für

Sozialforschung‹ notiert Horkheimer, eine kritische Theorie hat sich »um

solche Phänomene zu bekümmern, die nur im Zusammenhang mit dem

gesellschaftlichen Leben der Menschen verstanden werden können: um

Staat, Recht, Wirtschaft, Religion, kurz um die gesamte materielle und

geistige Kultur der Menschheit überhaupt.«2 – Kritische Theorie ist

immer kritische Theorie der Gesellschaft. Insofern gilt es, die sozialen

Phänomene als, wie Marx es nannte, »konkrete Totalität« zu erfassen,

also die Gesellschaft als zusammenhängendes Ganzes systematisch zu

begreifen. Zugleich gilt es aber auch, die Schwierigkeit zu reflektieren,

dass diese Totalität, dieses Ganze, überhaupt jeder Einzelaspekt der

Gesellschaft nicht unmittelbar zu haben ist, sondern der kritischen

2 Horkheimer, ›Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben

eines Instituts für Sozialforschung‹, in: Frankfurter Universitätsreden, XXXVII,

Frankfurt am Main 1931, S. 3; zit. n. Alfred Schmidt, ›Die ›Zeitschrift für

Sozialforschung‹‹, in: ›Zeitschrift für Sozialforschung‹, Jg. 1 (1932), S. 12*.

Seite 5Vermittlung bedarf.

Die Gesellschaft erscheint in allen ihren Ausprägungen äußerst verzerrt,

widersprüchlich, komplex und unverständlich. Es gibt keine den

materiellen Beziehungen übergeordnete objektive Instanz, keinen Gott,

keinen transzendentalen Sinn und keinen metaphysischen Grund, nach

dem die Welt entschlüsselt werden könnte. Deshalb stellte sich nicht die

Aufgabe, einen programmatischen Begriff der kritischen Theorie zu

entwerfen, sondern als Programm einer kritischen Theorie der

Gesellschaft das in den Blick zu nehmen, was Horkheimer als

»traditionelle Theorie« bezeichnet, nämlich eben ein Denken, welches

sich nicht selbstreflexiv zu seinen Bedingungen und Voraussetzungen

verhält. Die traditionelle Theorie ist also ein Denken, welches den

Prozess der Aufklärung an der kritischen Stelle abbricht und so in den

vorgegebenen Mustern des bürgerlichen Bewusstseins gefangen bleibt;

ebenso wie die traditionelle Theorie in der Denkweise – das heißt in

ihrem Theorieverständnis und ihren Methoden – sich auf die Tradition

beruft, bleibt sie auch in ihrem Gegenstand und ihren Begriffen den

vorherrschenden Denktraditionen verhaftet. Dabei gehört es zur

Struktur des bürgerlichen Bewusstseins, gerade unter Berufung auf die

Tradition, Kritikfähigkeit, Reflexionsvermögen und theoretische

Eigenständigkeit für sich zu reklamieren. Dies setzt sich in der modernen

Ideologie fort und kennzeichnet nicht nur die neuzeitliche Philosophie

(Horkheimers Beispiel ist selbstverständlich René Descartes), sondern

auch die Politik und das Alltagsbewusstsein der Menschen. Diesem

Komplex widmen sich die zahlreichen philosophischen wie auch

soziologischen und psychologischen Beiträge in der ›Zeitschrift für

Sozialforschung‹; alleine die Titel der Beiträge verweisen darauf, etwa

Horkheimers ›Geschichte und Psychologie‹ (1932), Borkenaus ›Zur

Soziologie des mechanistischen Weltbildes‹3 (1932), Horkheimers

›Materialismus und Metaphysik‹ (1933), Marcuses ›Der Kampf gegen

den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung‹ (1934),

Horkheimers ›Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie‹ und

›Zum Problem der Wahrheit‹ (beide 1935), Marcuses ›Zum Begriff des

Wesens‹ (1936), oder Fromms ›Zum Gefühl der Ohnmacht‹ (1937), um

3 Es handelt sich um einen Auszug aus Borkenaus ›Der Übergang vom

feudalen zum bürgerlichen Weltbild‹, Paris 1934.

Seite 6nur auf eine kleine Auswahl zu verweisen. Den psychologischen

Aspekten einer kritischen Sozialforschung wird darüber hinaus eine

besondere Aufmerksamkeit zuteil, geht es nämlich – wie Erich Fromm

bereits im ersten Heft der Zeitschrift 1932 unter dem Titel ݆ber

Methoden und Aufgaben einer analytischen Sozialpsychologie‹

expliziert – um die Frage nach dem »Kitt«, der die menschlichen

Beziehungen im Innersten zusammenhält, um »die Triebstruktur, die

libidinöse, zum großen Teil unbewusste Haltung einer Gruppe aus ihrer

sozialökonomischen Struktur heraus zu verstehen«.4 Diese Gruppe ist

vor allem die Familie, die von der kritischen Theorie als »die

psychologische Agentur der Gesellschaft« verstanden wird.5 Das haben

Horkheimer und seine Kollegen in den umfangreichen ›Studien über

Autorität und Familie‹ ausgeführt, die 1936 in einem Pariser Verlag

publiziert wurden.

Eingebettet sind diese Überlegungen in eine kritische Theorie des

Subjekts, die von der Dialektik der Emanzipation des Menschen

bestimmt wird: Die Realität des Individualismus, der lediglich eine Krise

des Subjekts bedeutet, ist mit der Utopie des befreiten, autonomen

Individuums zu konfrontieren. Zur Disposition steht, wie Marcuse es in

seinem Teil über ›Philosophie und kritische Theorie‹ entfaltet, die Idee

des Glücks, die bereits in der humanistischen Philosophie verankert war

und nunmehr von der materialistischen Kritik bewahrt werden muss.

Die humanistisch-materialistische Vorstellung des Glücks ist für den

Begriff der kritischen Theorie wesentlich; hier zeigt sich nämlich, wie

wenig das Projekt einer kritischen Theorie der Gesellschaft auf ein

akademisches Wissenschaftsprogramm reduziert werden kann, wie

wenig es auf die normative Legitimität der Forschung ankommt, und wie

sehr stattdessen die kritische Theorie von der Praxis abhängt:

Horkheimer nennt »ein menschliches Verhalten, das die Gesellschaft

selbst zum Gegenstand hat«, »das ›kritische‹«: »Es bezeichnet eine

4 Erich Fromm, ݆ber Methode und Aufgabe einer analytischen

Sozialpsychologie‹, in: ›Zeitschrift für Sozialforschung‹, Jg. 1 (1932), S. 34.

5 Fromm, ›Über Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie‹,

a.a.O., S. 35.

Seite 7wesentliche Eigenschaft der dialektischen Theorie der Gesellschaft.«6

Dieses Verhalten, so Horkheimer weiter, »richtet sich nicht bloß auf die

Abstellung irgendwelcher Missstände, diese erscheinen ihm vielmehr als

notwendig mit der ganzen Einrichtung des Gesellschaftsbaus verknüpft

… Die Kategorien des Besseren, des Nützlichen, Zweckmäßigen,

Produktiven, Wertvollen, wie sie in dieser Ordnung gelten, sind ihm

vielmehr selbst verdächtig und keineswegs außerwissenschaftliche

Voraussetzungen, mit denen es nichts zu schaffen hat.«7 Es ist insofern

auf die Praxis, auch im Sinne eingreifender Veränderungen, verwiesen;

noch einmal: »Der zwiespältige Charakter des gesellschaftlichen Ganzen

in seiner aktuellen Gestalt entwickelt sich bei den Subjekten des

kritischen Verhaltens zum bewussten Widerspruch … Diese Welt ist

nicht die ihre, sondern die des Kapitals.«8

Horkheimer und Marcuse formulieren ihre Überlegungen zum Konzept

der kritischen Theorie in New York. Europa ist vom Nationalsozialismus

überschattet, der Zweite Weltkrieg steht bevor (und kündigt sich etwa

durch den deutschen Angriff auf Guernica im spanischen Bürgerkrieg

an), die sozialistische Bewegung ist fast vollständig zerschlagen; vor allem

in Deutschland, aber nicht nur dort, sind Antisemitismus und

Ressentiments fest im kollektiven Bewusstsein verankert. Die

sozialistische Revolution in der Sowjetunion ist gescheitert, dem

stalinistischen Terror fallen Zigtausende Genossen zum Opfer. Über die

Moskauer Schauprozesse ist man in den Vereinigten Staaten informiert,

nicht zuletzt deshalb, weil hier Trotzki einen großen Einfluss auf die

kommunistische Bewegung hat, die – das muss man sich im Rückblick

stets vergegenwärtigen – in den dreißiger und auch noch vierziger

Jahren eine bedeutende politische Kraft in Amerika ist. Nicht nur setzt

sich hier die Arbeiterbewegung fort, sondern auch und gerade Kunst

und Kultur sind linkssozialistisch ausgerichtet – man kann sagen:

kommunistische Theorie und Praxis findet sich zu dieser Zeit in einer

Selbstverständlichkeit inmitten des herrschenden liberalen und

6 Horkheimer, ›Traditionelle und kritische Theorie‹, a.a.O., S. 261.

7 Horkheimer, ›Traditionelle und kritische Theorie‹, a.a.O., S. 261.

8 Horkheimer, ›Traditionelle und kritische Theorie‹, a.a.O., S. 262.

Seite 8konservativen Zeitgeistes so weit verbreitet, dass sie nicht einmal

besonders auffallen. Nichtsdestotrotz war für die marxistisch

beziehungsweise links eingestellten Emigranten Vorsicht und

gegebenenfalls auch Zurückhaltung geboten – das lehrten die

Erfahrungen aus Deutschland; für Horkheimer und das Institut hieß

das etwa, auf politische Phrasen und Etiketten zu verzichten, um so die

Kritik umso radikaler fortführen zu können.

In diesem Zusammenhang ist es im Übrigen keineswegs verwunderlich,

dass der im Mai 1938 gegründete Ausschuss für unamerikanische

Aktivitäten (HUAC) die politische Gefahr des Kommunismus als

Verschwörung projizierte, wonach die Massenmedien von Kommunisten

unterwandert seien. Ende der dreißiger Jahre wurde erstmals von

Massenmedien gesprochen; und tatsächlich kommen entscheidende

Impulse durch Kommunisten in die Debatte. Davon unabhängig ist zu

bedenken, dass sich schon in den zwanziger Jahren das Radio als

Leitmedium etabliert hatte. Zusammen mit dem Kino und den Magazinen

(Illustrierte und Comics) vollzog sich in diesen Jahrzehnten,

insbesondere in den dreißiger Jahren, ein fundamentaler Wandel der als

»Kultur« bezeichneten Sphäre. Die fordistische Massenproduktion griff

auf den Film über – in Hollywood etablierte sich das Studiosystem und

erreicht dann Ende der Dreißiger seinen Höhepunkt: man denke an

Filme wie ›Snow White and the Seven Dwarfs‹ (1937) oder ›The Wizard

of Oz‹ und ›Gone with the Wind‹ (beide 1939). Hinzukommt, dass New

York in diesem Jahrzehnt schlussendlich zur Hauptstadt der

künstlerischen Avantgarde wird (mit nachhaltigen Folgen für die Kunst

bis heute).

Das sind auch Faktoren, die ihre Rolle spielen, wenn nunmehr »Kultur«

im weitesten Sinne zunehmend in das Blickfeld der kritischen Theorie

rückt. Weiterhin geht es um eine kritische Theorie der Gesellschaft –

jetzt aber unter Berücksichtigung der Dialektik der Kultur. Kultur

erscheint als ein verkehrtes Reich der Freiheit, das von der repressiven

Struktur der Gesellschaft ebenso bestimmt ist, wie vom utopischen Ideal

der Humanität – ein Widerspruch, der sich mit der fortschreitenden

Entwicklung der Massenkultur zuspitzt. Als allgegenwärtige

Kulturindustrie – die Horkheimer und Adorno 1944 in ihrer ›Dialektik

der Aufklärung‹ analysieren – bringt die Gesellschaft nur noch

Pseudoindividualität hervor und bindet das menschliche Glück an

Seite 9ökonomischen Erfolg und den Warenkonsum. Wie in den Philosophien

Kants und Hegels, bleibt auch in der bürgerlichen Hochkultur und ihrer

Kunst eine »ästhetische Dimension« (Marcuse) der Freiheit bewahrt,

obgleich verzerrt und verschleiert. Auch dieser Themenblock findet sich

seit dem ersten Heft in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ (1932

erscheinen zum Beispiel Adornos Aufsatz ›Zur gesellschaftlichen Lage

der Musik‹ und Löwenthals Aufsatz ›Zur gesellschaftlichen Lage der

Literatur‹). Grundlegend für diesen Komplex ist dann Marcuses

ebenfalls 1937 in der Zeitschrift publizierter Essay ݆ber den

affirmativen Charakter der Kultur‹.

Wie wichtig für die kritische Theorie die politische Ökonomie sowohl

unter dem Gesichtspunkt der kapitalistischen Gegenwart, als auch der

potenziellen gesellschaftlichen Neuordnung ist, zeigt sich schließlich in

den zahlreichen Beiträgen in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹, in

denen staatstheoretische und wirtschaftspolitische Fragen verhandelt

werden. Bereits im ersten Heft findet sich Pollocks Aufsatz ›Die

gegenwärtige Lage des Kapitalismus und die Aussichten einer

planwirtschaftlichen Neuordnung‹. Und im Jahrgang 1937 schreibt

Franz Neumann über den ›Funktionswandel des Gesetzes im Recht der

bürgerlichen Gesellschaft‹. (Man kann zusätzlich auf die Rezensionen

von Büchern kommunistischer Autoren verweisen, die im

Besprechungsteil der Zeitschrift aufgenommen werden: dazu gehören

einige Schriften von Marx und Engels, sowie auch ein Band von Lenin.)9

Insgesamt ist auffällig, dass der Begriff der kritischen Theorie relativ

spät eingeführt wird und sich zunächst keineswegs als allgemeine

Bezeichnung für die zum Forschungskreis des Instituts gehörigen

Theoretiker durchsetzt. Adorno zum Beispiel benutzt den Begriff sehr

selten – obwohl gerade sein Name untrennbar mit der kritischen Theorie

9 Vgl. die Besprechung von Lenins ›Über den historischen Materialismus‹ von

Korsch in: ›Zeitschrift für Sozialforschung‹, Jg. 1 (1932), S. 423 f. – Im ersten

Jahrgang finden sich unter den am Heftende abgedruckten Verlagsanzeigen der

Lenin-Band ›Aus dem philosophischen Nachlass‹ annonciert, allerdings auch

reaktionärer Schund wie etwa Friedrich Burgdörfer, ›Volk ohne Jugend.

Geburtenschwund und Überalterung des deutschen Volkskörpers‹ oder ›Die Rettung

des Abendlandes durch den Geist der Goethezeit‹ von Friedrich Muckle …

Seite 10verbunden ist. (Adorno veröffentlicht zunächst nur wenige,

ausschließlich musiktheoretische Beiträge in der ›Zeitschrift für

Sozialforschung‹; erst in den letzten Jahrgängen gibt es soziologische

und philosophische Texte – etwa über Kierkegaard, 1941. 1937 lag

allerdings seine Mannheim-Kritik ›Neue wertfreie Soziologie‹ als

Fahnenabzug für die Zeitschrift vor, ist aber dort nicht erschienen;

Adorno spricht hier im Schlusssatz von der »Notwendigkeit

eingreifender Kritik«.10) – Ein Blick in die Nachkriegszeit ist hilfreich:

von Horkheimer und Adorno wird das Institut für Sozialforschung zu

Beginn der fünfziger Jahre in Frankfurt am Main wiedereröffnet. Die

nach Fünfundvierzig einsetzende Historisierung der kritischen Theorie

bedeutet nicht nur ihre Aktualisierung durch die Neue Linke, sondern

auch das Gegenteil, ihre geschichtliche Auflösung und Mystifikation

(dazu gehört etwa ein Personenkult, der in der Bundesrepublik

insbesondere um Adorno und Benjamin betrieben wird und die

Rezeptionsgeschichte bis heute prägt). Nachgerade paradox stehen dann

in den Sechzigern die kritischen Theoretiker in der Öffentlichkeit unter

dem Verdacht, geistige Brandstifter der militanten Revolte zu sein,

während gleichzeitig die kritische Theorie wissenschaftlich demontiert

und systematisch ihre emanzipatorische Wurzel gezogen wird. Schnell

ist ihr radikaler Impuls sozialdemokratisch nivelliert und somit kritische

Forschung endgültig von der Praxis entkoppelt. Die »Kritische Theorie«

(mit großem »K«) verselbstständigt sich als Label, wird unabhängig von

den ursprünglichen Texten.11 Man spricht von der »Frankfurter

Schule« – unlogisch, weil es am Institut zu keinem Zeitpunkt

10 Vgl. Theodor Adorno, ›Neue wertfreie Soziologie‹, in: Adorno, GS Bd. 20·1,

Frankfurt am Main 1997, S. 45. Vgl. etwa den Brief Adornos an Horkheimer vom 2.

März 1937, in: Adorno und Horkheimer, Briefwechsel Band I. 1927–1937, Frankfurt

am Main 2003, S. 312: Ohne Marcuses Text ݆ber den affirmativen Charakter der

Kultur‹ schon zu kennen, glaubt Adorno, dass »einige Sätze« seiner »Mannheim-

Polemik« in »genau die gleiche Richtung« zielen; Adorno hat allerdings kurze Zeit

später Marcuses Essay scharf kritisiert.

11 Gleichwohl haben Horkheimer, Marcuse, Adorno und Löwenthal unter dem

Eindruck der internationalen Protestbewegung der sechziger Jahre den Begriff der

kritischen Theorie der Gesellschaft wieder aufgegriffen und durch Neuausgaben und

Sammelbände die alten Texte wieder zugänglich gemacht, die lange vergriffen waren.

Seite 11akademische Lehrer-Schüler-Beziehungen gab, und weil der Begriff der

kritischen Theorie und die mit ihm verbundene Forschung maßgeblich

in den Vereinigten Staaten entwickelt wurde. Zwar mag es zu Zwecken

akademischer Ordnung sinnvoll sein, in dieser Weise von Kritischer

Theorie und Frankfurter Schule zu sprechen, den Absichten einer

kritischen Theorie widerspricht es. Gerade die Beiläufigkeit, mit der

Horkheimer und Marcuse vor siebzig Jahren den Begriff der kritischen

Theorie einführten, sollte im Sinne der kritischen Theorie selbst ernst

genommen werden. Horkheimers und Marcuses Aufsätze von 1937 sind

Grundlagentexte der kritischen Theorie, ohne Zweifel. Doch ist es

bemerkenswert festzustellen, dass sie damals keineswegs als solche

rezipiert wurden. Anders gesagt: sie wurden auch nicht mehr und nicht

weniger zitiert als andere Texte aus der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹.

Viele Beiträge, vor allem die »wichtigen« (also diejenigen, in denen sich

die Zeitschrift repräsentiert sah), wurden von Horkheimer, Marcuse,

Adorno, Benjamin und Löwenthal ausführlich diskutiert (übrigens nicht

selten mit heftigsten gegenseitigen Anfeindungen und Streit; so nannte

Adorno gegenüber Horkheimer einmal Marcuse einen »durch das

Judentum verhinderten Faschisten«;12 auch das Zerwürfnis mit Erich

Fromm darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben13). Dass hier keine

homogene Theorie begründet wird, ist leicht über die erhaltenen

Briefwechsel zu rekonstruieren. Allerdings – und das ist ebenfalls

bemerkenswert – hat es gerade über die programmatischen Texte

12 Vgl. Adorno an Horkheimer, Brief vom 13. Mai 1935, in: Adorno und

Horkheimer, Briefwechsel Band I. 1927–1937, a.a.O., S. 65: »… und es wird Sie nicht

wundernehmen, wenn es mich traurig macht, dass Sie philosophisch unmittelbar mit

einem Mann arbeiten [gemeint ist Marcuse, Anm. R.B.], den ich schließlich für einen

durch Judentum verhinderten Faszisten [sic!] halte.«

13 Fromm hatte mit seinen Beiträgen maßgeblichen Anteil an der

programmatischen Ausrichtung der kritische Theorie; gleichwohl trennen sich 1939

aus bis heute nicht vollständig geklärten Gründen die Wege von Fromm und

Horkheimer. Fromms 1941 erschienenes Buch ›Escape from Freedom‹ (dt. ›Die Furcht

vor der Freiheit‹) wird allerdings in einer ausführlichen Rezension im letzten

Jahrgang der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ vom Psychoanalytiker Ernest Schachtel

äußerst positiv besprochen; vgl. ›Studies in Philosophy and Social Science‹, Jg. 9

(1941), S. 491 ff.

Seite 12›Traditionelle und kritische Theorie‹ sowie ›Philosophie und kritische

Theorie‹ eine solche Auseinandersetzung zwischen den

Institutsmitarbeitern nicht gegeben. Auch damit wird deutlich, dass die

kritische Theorie der Gesellschaft keine »Schule« ist, nicht auf ein

definiertes Programm angelegt ist und sich keineswegs auf einen

eindeutig benennbaren Personenkreis erstreckt. Der Begriff der

kritischen Theorie dient der Bezeichnung einer Linie, die in den

dreißiger Jahren sowenig abgeschlossen war wie in den darauf

folgenden Jahrzehnten –, und man muss hinzusetzen: sowenig wie sie

heute abgeschlossen ist. Noch immer geht es um die kritische Theorie,

»die das Glück aller Individuen zum Ziel hat«.14

* * *

Freilich sind die Essays ›Traditionelle und kritische Theorie‹ sowie

›Philosophie und kritische Theorie‹ programmatisch zu verstehen. Diese

Programmatik als Selbstverständigung der kritischen Theorie dient aber

v o r a l l e m d e r A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t anderen

gesellschaftstheoretischen und philosophischen Ansätzen, nicht der

Vorgabe eines fertigen, hermetischen Programms. So kommt den Texten

dieselbe Funktion zu wie den meisten anderen Beiträge aus der

›Zeitschrift für Sozialforschung‹. Auch hier spielt noch einmal der

amerikanische Kontext eine Rolle. Drei Aspekte sind wichtig: Erstens

ging es überhaupt darum, das Überleben der Emigranten nicht nur

finanziell, sondern auch intellektuell zu sichern – die Zeitschrift bot für

das kritische Denken einen Zufluchtsort; mit dem Begriff der kritischen

Theorie wurde indes kenntlich gemacht, dass es sich hierbei weder um

eine isolierte Nische, noch einen bloßen Standpunkt handelt. Zweitens

gab es in der Universitätsphilosophie der Vereinigten Staaten damals

kaum eine nennenswerte kritische Auseinandersetzung mit der

idealistischen Philosophie Kants und Hegels, und damit – so muss man

14 Horkheimer, ›Philosophie und kritische Theorie‹, in: ›Zeitschrift für

Sozialforschung‹, Jg. 6 (1937), S. 628.

Seite 13sagen – keinen kritischen Begriff der Philosophie;15/16 der Begriff der

kritischen Theorie erfüllt sozusagen eine philosophiegeschichtliche

Aufgabe, ohne sich auf die Philosophiegeschichte zurückzuziehen.17

Drittens verschärfte sich Ende der Dreißiger die Debatte mit der

positivistischen Theorie (die nicht nur in ›Traditionelle und kritische

Theorie‹ Thema ist, sondern auch in Horkheimers Aufsatz ›Der neueste

Angriff auf die Metaphysik‹, ebenfalls 1937).18

Wie gesagt: der Begriff der kritischen Theorie findet in den Texten nach

1937 erstaunlicher Weise keine systematische Berücksichtigung (was

eben noch einmal auf den Stellenwert der Aufsätze verweist). In den

nachfolgenden Jahren haben selbst Horkheimer und Marcuse nur an

einigen wenigen Stellen auf ihre Artikel von 1937 Bezug genommen –

15 Siehe Horkheimers kleinen Aufsatz ›The Social Function of Philosophy‹ in:

›Zeitschrift für Sozialforschung‹ – beziehungsweise den ›Studies in Philosophy and

Social Science‹ (1940).

16 Die Ausnahme ist der Pragmatismus John Deweys – und es kommt nicht

von Ungefähr, dass Horkheimer sich mit ihm als nahezu einigen amerikanischen

Philosophen auseinandersetzte.

17 Was das bedeutet, hat schließlich Marcuse mit seinem für die Hegelforschung

enorm wichtigen Buch ›Reason and Revolution. Hegel and the Rise of Social Theory‹

von 1941 gezeigt; ein Kapitel erschien in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ –

beziehungsweise den ›Studies in Philosophy and Social Science‹ – unter dem

signifikanten Titel ›An Introduction to Hegel’s Philosophy‹ (1940).

18 Vgl. Horkheimer, ›Der neueste Angriff auf die Metaphysik‹, in: ›Zeitschrift

für Sozialforschung‹, Jg. 6 (1937), S. 4 ff. – Dieser Beitrag löst einen heftigen Streit

mit Otto Neurath aus (der allerdings im selben Jahrgang auch einen Beitrag in der

›Zeitschrift für Sozialforschung‹ hat. In der Korrespondenz gibt es von Anbeginn an

Spannungen zwischen Horkheimer und Neurath (vgl. etwa den Brief von Neurath an

Horkheimer vom 21. Juni 1937, in: Horkheimer, Briefwechsel 1937–1940, GS Bd. 16,

Frankfurt am Main 1995, S. 178 f., wo Neurath die kritischen Theoretiker als

»feindliche Freunde« grüßt, S. 179); vgl. den Brief von Horkheimer an Neurath vom

29. Juni 1937, ebd., GS Bd. 16, S. 185, sowie den Brief von Neurath vom 8.

Dezember 1937, ebd., GS Bd. 16, S. 319 f.

Seite 14wenn überhaupt, dann sehr sporadisch in Fußnoten.19 Wenn der

Begriff der kritischen Theorie dann in den sechziger Jahren im Zuge der

Protestbewegungen wieder ins Spiel gebracht wird, dann vor allem und

ausgerechnet in den Schriften Marcuses – »ausgerechnet« deshalb, weil

nun Marcuse, der nach Fünfundvierzig in den Vereinigten Staaten

bleibt, am wenigsten mit einer auf die »Frankfurter Schule«

zurechtgestutzten »Kritischen Theorie« (mit großem »K«) zu tun hat.

Doch zurück ins Jahr 1937, um von dort aus noch einmal die Frage zu

stellen, ob denn der nunmehr programmatisch gefasste Begriff einer

kritischen Theorie auch ebenso programmatisch rezipiert wurde.

Aufschlussreich ist die Spurensuche in der Korrespondenz zwischen

Adorno und Horkheimer – weil die beiden zu der Zeit ihre Kooperation

verstärkten und sich in umfassender Weise über verschiedenste

Themen austauschten. – Nun ist jedoch festzustellen: In der

Korrespondenz20 zwischen Adorno und Horkheimer spielen die Artikel

keine Rolle. Lediglich ist überliefert, dass Adorno einmal Ernst Krenek

Horkheimers »beiden großen Aufsätze« zur Lektüre empfiehlt – »zur

Orientierung«, nämlich als Vorbereitung für einen (dann nie

publizierten) Band ›Massenkunst im Monopolkapitalismus‹.21 – Die

beiden großen Aufsätze sind Horkheimers ›Traditionelle und kritische

19 Vgl. zum Beispiel Herbert Marcuse, ›Zur Kritik der Hedonismus‹, in:

›Zeitschrift für Sozialforschung‹, Jg. 7 (1938), S. 73 (Fußnote): »Wir verstehen unter

kritischer Theorie hier die Theorie der Gesellschaft, wie sie in den prinzipiellen

Aufsätzen der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ auf Grund der dialektischen

Philosophie und der Kritik der politischen Ökonomie dargestellt wurde.«

20 Die nachfolgenden Bemerkungen sind freilich Schlussfolgerungen, die sich

aus den überlieferten und erhaltenen Briefwechseln ergeben. Keine Quellen deuten

darauf, inwieweit die zur Debatte stehenden Texte direkt (mündlich) diskutiert

wurden. Wahrscheinlich ist, dass Horkheimer und Marcuse ihre Beiträge vor Ort in

New York besprochen haben. Auch kann es natürlich sein, dass über die Texte in

heute nicht mehr zugänglichen Briefen geschrieben wurde.

21 Adorno an Krenek, Brief vom 28. Juli 1937, in: Adorno und Horkheimer,

Briefwechsel Band 1. 1927–1937, a.a.O., S. 527. Von Krenek erscheinen 1938 in der

›Zeitschrift für Sozialforschung‹ ›Bemerkungen zur Rundfunkmusik‹. – Ein weiter

Titel des erwähnten geplanten Bandes war ›Die Kunst des Massenkonsums‹.

Seite 15Theorie‹ und ›Der neueste Angriff auf die Metaphysik‹.

Reaktionen – und zwar durchweg positive – finden sich zu Horkheimers

›Traditionelle und kritische Theorie‹ (und auch zu Horkheimers und

Marcuses ›Philosophie und kritische Theorie‹) eher von denen, die

rezeptionsgeschichtlich höchstens in der Peripherie der kritischen

Theorie verortet werden. Zunächst meldet sich Friedrich Pollock mit

einem Brief an Horkheimer vom 16. August 1937: »Ich habe jetzt endlich

den ›Theorie‹ Aufsatz zu Ende lesen können (zum zweiten mal).

Eigentlich sollte ich ihn auswendig lernen. Er ist der Inhalt eines dicken

Buches und die XVII Abschnitte, in die ich ihn (ziemlich willkürlich, weil

er doch einen Gedankenzug darstellt) aufgeteilt habe, um ihn bewältigen

zu können, bilden jeder reichlich Stoff für ein Kapitel so lang wie der

Aufsatz. Nirgends auf der Welt ist die ›Kritische‹ Theorie so weit

vorangetrieben wie in diesen Seiten, und die Tatsache ihrer Einsamkeit,

die so eindringlich begründet ist, darf uns nicht drausbringen. Es

gehört zu unseren verantwortungsvollsten Aufgaben dafür zu sorgen,

dass diese Arbeit unter den besten Bedingungen fortgesetzt wird. – F.«22

Euphorisch äußert sich auch Hans Mayer in seinem Brief vom 30.

November 1937: »Sie [die »positiv-kritische Theorie«, wie Mayer sie

nennt] bringt für uns unendliche Bereicherung und vielfältigste

Klärung, aber eigentlich (zum Glück) keine ›Überraschungen‹ – und das

ist gerade eine ihrer wichtigsten Eigenarten, denn sie ist ja nicht ganz

frisch ›erfunden‹ oder ›ausgedacht‹, da sie ja überhaupt kein

Hirngespinst ist.«23 Nach Mayer könnte man »hier wirklich – und dieser

Eindruck entstand bei mir nach der Lektüre ihrer Analysen – von einem

›Gefährlich-Leben‹, einem ›Gefährlich-Denken‹ sprechen, das einen

Anker im Zukünftigen ausgeworfen hat und nun von ihm her, vom

unbekannten Land, die Analyse der Gegenwart und die Haltung zu ihr

bestimmen lässt.«24 – Überschwänglich ist auch der marxistische

22 Friedrich Pollock an Horkheimer, Brief vom 16. August 1937, in:

Horkheimer, Briefwechsel 1937–1940, GS Bd. 16, S. 218.

23 Hans Mayer an Horkheimer, Brief vom 30. November 1937, in: Horkheimer,

Briefwechsel, GS Bd. 16, , S. 297.

24 Mayer an Horkheimer, Brief vom 30. November 1937, a.a.O., S. 300.

Seite 16Wirtschaftswissenschaftler Alfons Goldschmidt: »›Die Avantgarde

bedarf der Klugheit im politischen Kampf, nicht der akademischen

Belehrung über ihren so genannten Standort.‹ Diesen Satz möchte ich

besonders unsern emigrierten Kathederleuten übers Bett gehängt sehen,

damit sie jeden Morgen beim Aufwachen erinnert werden, wozu sie

eigentlich da sind.«25 Positiv äußert sich auch Adolph Lowe.26 Karl

August Wittvogel geht auf eine Bemerkung Horkheimers über die

einfache Tauschgesellschaft in ›Traditionelle und kritische Theorie‹ ein.27

Die ausführlichste Kritik der programmatischen Texte von 1937 findet

sich in einem Brief von Andries Sternheim an Horkheimer vom 14.

Dezember1937.28 Der niederländische Sozialhistoriker Sternheim schrieb

schon im ersten Jahrgang der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ einen

Essay ›Zum Problem der Freizeitgestaltung‹ und steuerte über die Jahre

zahlreiche Rezensionen bei; ab 1934 leitete er die Genfer Zweigstelle des

Instituts für Sozialforschung, kehrte allerdings 1938 nach Amsterdam

zurück. 1944 wurden er und seine Frau von den Deutschen verhaftet

und in Auschwitz ermordet.

Sternheims im Brief auf wenigen Seiten ausgeführte Kritik gehört noch

heute zu den sachhaltigsten Auseinandersetzungen mit dem Konzept der

kritischen Theorie;29 seine Einwände formuliert er im Sinne einer

25 Alfons Goldschmidt an Horkheimer, 5. Dezember 1937, in: Horkheimer,

Briefwechsel, GS Bd. 16, S. 310. – Horkheimers Satz findet sich in: ›Traditionelle und

kritische Theorie‹, a.a.O., S. 275. – Goldschmidt rezensiert 1938 ein Buch für die

›Zeitschrift für Sozialforschung‹, vgl. Jg. 7 (1938), S. 311.

26 Vgl. Adolph Lowe an Horkheimer, Brief vom 15. Dezember 1937, in:

Horkheimer, Briefwechsel, GS Bd. 16, S. 327 ff.

27 Vgl. Karl August Wittvogel an Horkheimer, Brief ca. November 1937, in:

Horkheimer, Briefwechsel, GS Bd. 16, S. 284 f.

28 Andries Sternheim an Horkheimer, Brief vom 14. Dezember 1937, in:

Horkheimer, Briefwechsel, GS Bd. 16, S. 322 ff.

29 Auch Sternheim spricht von der kritischen Theorie wie die anderen im

Übrigen so, als handelt es sich um einen Vorschlag für ein Denkmodell, nicht um

Seite 17politischen Logik, maßgeblich vor dem Hintergrund der

gesellschaftlichen Verhältnisse in Europa: Der Optimismus, der in

Horkheimers und Marcuses Texten in Bezug auf die mögliche

Entwicklung des Klassenkampfes anklingt, sei unbegründet – die

Gegenwart zeige drastisch, »wieweit eine Anpassung des Proletariats an

die bürgerliche Kultur möglich ist und wie sehr die neuere Erfahrung

der Sozialpsychologie die Massenbeherrschung mit einem Handstreich

möglich machte.«30 Ein Vertrauen in das politische Potenzial der

Arbeiterbewegung wäre alles andere als angebracht – Horkheimer,

Marcuse und Adorno haben dies selbst wenige Jahre später in den

Begriff der kritischen Theorie unter dem Stichwort der negativen Utopie

aufgenommen. In diesem Zusammenhang gehören auch weitere

Kritikpunkte Sternheims: Ohne Rückhalt sei etwa der Glücksbegriff der

kritischen Theorie; beziehungsweise sei es illusorisch zu glauben, dass

eine zukünftige Gesellschaft vollständig im Glück aufgeht. Sternheim

korrigiert, dass es von den gegebenen Bedingungen aus keine

Möglichkeit gibt, eine umfassende Vorstellung des Glücks oder des

allgemeinen Glückszustands zu gewinnen. Man muss allerdings

Horkheimer wie Marcuse zugute halten, dass sie konsequenter sind, als

Sternheim es ihnen zutraut. Die kritische Theorie versucht einen Begriff

des Glücks zu formulieren, ohne das Glück selbst auszupinseln und

seinen Inhalt vorzuschreiben. Dafür greift die kritische Theorie auf die

humanistische Philosophie zurück: sie ist historisch obsolet, ohne dass

damit – wie Sternheim die entsprechenden Passagen bei Horkheimer

und Marcuse interpretiert – die philosophischen Probleme vom Tisch

wären. Sternheim meint, in den Texten werde behauptet, »dass in der

neuen Gesellschaft überhaupt keine Lebensprobleme mehr bestehen

werden.«31 Das ist jedoch falsch; vielmehr werden in einer emanzipierten

Gesellschaft erst die Bedingungen wieder hergestellt, sich philosophisch

solchen Problemen zuzuwenden, denen gegenüber die Philosophie unter

gegebenen Bedingungen machtlos ist.

eine offizielle Programmdirektive des Instituts. Das widerspricht ebenfalls der heute

üblichen Deutung, die insbesondere Horkheimers ›Traditionelle und kritische

Theorie‹ einen überhöhten Stellenwert zuweist.

30 Sternheim an Horkheimer, Brief 14. Dezember 1937, a.a.O., S. 326.

31 Sternheim an Horkheimer, Brief 14. Dezember 1937, a.a.O., S. 325.

Seite 18Nach Sternheim sei es ohnehin »unmöglich …, uns so positiv über die

Zukunft auszusprechen.«32 Marcuse und Horkheimer argumentierten

hier auf eschatologischer Basis, was Sternheim entschieden ablehnt.33

Zur Frage wird, auf welcher Grundlage die kritische Theorie ihre

politische Zuversicht gewinnt. Etwa sei nur als Widerspruch zu

begreifen – so Sternheim –, »dass die psychologische Konstruktion [der

Menschen] für die neue Gesellschaft bereits vorhanden sein muss, bevor

sie überhaupt zustande gekommen ist.« Und Sternheim fragt: »Steht

diese Auffassung nicht im Gegensatz zu derjenigen, wonach die Struktur

des menschlichen Denkens und Handelns ein Produkt einer

vorhandenen gesellschaftlichen Lage ist?«34 Eine Antwort auf

Sternheims Brief ist – meines Wissens – nicht überliefert; auch wenn

Sternheim mit seiner Kritik zum Teil auf sozialdemokratische Positionen

zurückfällt und manchen Aspekt zu undialektisch referiert, hat er

wesentliche Punkte benannt, auf welche die kritische Theorie wenige

Jahre später reagiert hat – das betrifft vor allem den Topos der

Vernunftkritik und, darin eingeschlossen, den Begriff der Geschichte.

Hierbei rekurrieren Horkheimer, Marcuse und schließlich auch Adorno

auf Walter Benjamin – der sich 1940 auf der Flucht vor den Nazis das

Leben nimmt. Nicht zu unterschätzen für die Weiterentwicklung der

kritischen Theorie sind dabei Benjamins so genannten Thesen über den

Begriff der Geschichte (der vermutlich letzte von ihm verfasste Text).

Überdies gehört auch Benjamin zu den wenigen, die sich zu

Horkheimers und Marcuses Aufsätzen von vor siebzig Jahren äußern;

und sein Kommentar ist nicht weniger programmatisch zu nehmen als

der Begriff der kritischen Theorie selbst: »Wie man in einen Abriss pour

le Dauphin eine Arbeit wie ›Traditionelle und kritische Theorie‹, aus der

ich eine Anzahl von wichtigen Zitaten bereitgestellt hatte, oder eine

32 Sternheim an Horkheimer, Brief 14. Dezember 1937, a.a.O., S. 325.

33 Sternheim überliest allerdings die Dialektik, die Horkheimer und Marcuse

entfalten; Adorno hat sie 1966 in seiner ›Negativen Dialektik‹ dann mit dem

Begriffspaar von Materalismus und Moral ausgeführt. Vgl. den Abschnitt ›Solidarität

mit dem Unverfügbaren‹ in meinem Buch ›Verstummen. Über Adorno‹, Laatzen

2004, S. 206 ff.

34 Sternheim an Horkheimer, Brief 14. Dezember 1937, a.a.O., S. 324.

Seite 19Arbeit wie die über den Jazz einbeziehen kann, ist mir noch nicht

ersichtlich. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass die Kritik des

Systembegriffs, wie sie zumal Ihren letztgenannten Essay bestimmt,

meiner Ansicht nach zu den Grundpfeilern unserer Arbeit gehört. Es ist

nur leider der dialektische Witz der Sache, dass bei den ›reinen‹

Methodenfragen die politischen Zwecke, für die diese Methoden wirken,

nicht weniger ›rein‹ zum Vorschein kommen. Etwas günstiger steht es

mit den kunstkritischen Methoden. Ich hoffe, dass ich Wiesengrunds

[d. i. Adornos, Anm. R.B.] Arbeiten wenigstens nach dieser Seite hin

werde kennzeichnen können«,35 so Benjamin in einem Brief vom 6.

Dezember 1937.

Benjamin hat den Begriff der kritischen Theorie dahingehend in und mit

seinem ›Passagen-Werk‹ ergänzt (ohne das Wort kritische Theorie zu

benutzen). Auch Horkheimer und Marcuse haben die kritische Theorie

der Gesellschaft weitergeführt. Andere radikale Denker wie zum Beispiel

Leo Kofler haben den Terminus aufgegriffen. So wird in den sechziger

Jahren im Kontext der internationalen Protestbewegung der Begriff der

kritischen Theorie sozusagen ein zweites Mal eingeführt – weitgehend

unabhängig von den Texten von 1937. Marcuse selbst hat den Begriff in

seinem Bestseller ›Der eindimensionale Mensch‹ (1964; dt. 1967) noch

einmal programmatisch geprägt: »Von Anbeginn steht … jede kritische

Theorie der Gesellschaft dem Problem historischer Objektivität

gegenüber, einem Problem, das an den beiden Stellen aufkommt, an

denen die Analyse Werturteile einschließt: 1. das Urteil, dass das

menschliche Leben lebenswert ist oder vielmehr lebenswert gemacht

werden kann oder sollte. Dieses Urteil liegt aller geistigen Anstrengung

zu Grunde; es ist das Apriori der Gesellschaftstheorie, und seine

Ablehnung (die durchaus logisch ist) lehnt die Theorie selbst ab; 2. das

Urteil, dass in einer gegebenen Gesellschaft spezifische Möglichkeiten

zur Verbesserung des menschlichen Lebens bestehen sowie spezifische

Mittel und Wege, diese Möglichkeiten zu verwirklichen.«36 Als Mittel

35 Walter Benjamin an Horkheimer, Brief vom 6. Dezember 1937, in:

Horkheimer, Briefwechsel, GS Bd. 16, S. 313.

36 Marcuse, ›Der eindimensionale Mensch‹, Schriften Bd. 7, Springe 2004, S.

12�f.

Seite 20und Wege, die angesprochenen Möglichkeiten zur Verbesserung des

Lebens zu realisieren, verweist Marcuse damals auf die Notwendigkeit

einer Großen Weigerung. Damit aktualisiert Marcuse die kritische

Theorie der Gesellschaft schließlich als Praxis eingreifender

Veränderung – nicht nur als Aufgabe der Sozialforschung, sondern als

Aufgabe ihrer politischen Dringlichkeit in der Gegenwart. Horkheimer

formulierte das vor siebzig Jahren mit folgenden Worten: »An der

Existenz des kritischen Verhaltens, das freilich Elemente der

traditionellen Theorien und dieser vergehenden Kultur überhaupt in

sich einschließt, hängt heute die Zukunft der Humanität. Eine

Wissenschaft, die in eingebildeter Selbstständigkeit die Gestaltung der

Praxis, der sie dient und zugehört, bloß als ihr Jenseits betrachtet und

sich bei der Trennung von Denken und Handeln bescheidet, hat auf die

Humanität schon verzichtet … Der Konformismus des Denkens, das

Beharren darauf, es sei ein fester Beruf, ein in sich abgeschlossenes Reich

innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen, gibt das eigene Wesen des

Denkens preis.«37 Horkheimers Schlussworte von damals stehen heute

noch immer am Anfang des Interesses der kritischen Theorie: die

Einrichtung von Lebensverhältnissen, in denen Glück nicht mehr nur

als die Vermeidung von Unglück erscheint, sondern als die den Horizont

des Gegebenen vollständig überschreitende Verwirklichung des

Menschen selbst.

* * *

Nachtrag

Von den zahlreichen Beiträgen, die in der ›Zeitschrift für

Sozialforschung‹ über die dreißiger Jahre publiziert wurden, ist der

bekannteste sicherlich Benjamins Essay ›Das Kunstwerk im Zeitalter

seiner technischen Reproduzierbarkeit‹, veröffentlicht 1936 in

französischer Sprache. Für das Programm einer kritischen Theorie der

Gesellschaft hat Benjamins Aufsatz mindestens ebensoviel beigetragen

wie die Essays von Horkheimer und Marcuse. Gleichzeitig hat allerdings

der Kunstwerkaufsatz auch für heftige Kontroversen innerhalb des

Instituts gesorgt und paradoxerweise Benjamins Außenseiterposition

37 Horkheimer, ›Traditionelle und kritische Theorie‹, a.a.O., S. 292.

Seite 21bestätigt und das ambivalente Verhältnis zu Horkheimer und Adorno

eher verstärkt als gelockert.

Walter Benjamin verlässt am 17. März 1933 das nationalsozialistische

Deutschland und geht ins Exil – Paris wird einer seiner Aufenthaltsorte.

Im April erhält Benjamin vom Institut für Sozialforschung den Auftrag

einen Aufsatz über französische Literatur zu schreiben, der unter dem

Titel ›Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französischen

Schriftstellers‹ 1934 in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ erscheint –

Benjamins erster Beitrag in dem theoretischen Organ des Instituts. 1935

folgen eine Sammelbesprechung ›Probleme der Sprachsoziologie‹, sowie

einige thematisch ähnliche Rezensionen. 1936, im fünften Jahrgang der

›Zeitschrift für Sozialforschung‹ erscheint schließlich in französischer

Übersetzung Benjamins Aufsatz ›Das Kunstwerk im Zeitalter seiner

technischen Reproduzierbarkeit‹ (›L’œuvre d’art à l’époque de sa

reproduction mécanisée‹). Benjamin schrieb die erste Fassung seines

umfangreichen Essays von September bis Dezember 1935; die zweite

Fassung, die Benjamin als »Original« bezeichnete, liegt im Februar 1936

vor – auf ihr basiert die Übersetzung von Pierre Klossowski, beide

Fassungen entstehen in Paris. Bis zum Frühjahr 1939 arbeitet Benjamin

noch an einer dritten Fassung.

Es ist der erste Text in französischer Sprache in der ›Zeitschrift für

Sozialforschung‹, der – ähnlich wie die englischsprachigen Texte – das

Institut im Ausland bekannt machen sollte. Das mag ein Grund dafür

sein, dass Max Horkheimer – als Institutsdirektor und Herausgeber der

Zeitschrift – die politische Terminologie entschärft haben wollte und die

Streichung des gesamten ersten Abschnitts und andere Eingriffe der

Bearbeitung von Hans Klaus Brill billigte. Bemerkenswert ist, dass es um

die Veröffentlichung des Textes zwar eine große Kontroverse gibt, die

Resonanz allerdings weitgehend ausbleibt, bis dann schließlich der

Essay im Kontext der politischen Bewegungen der Achtundsechziger als

einer der wichtigsten Beiträge zur marxistischen Kulturtheorie entdeckt

wird: ›Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen

Reproduzierbarkeit‹ erscheint erst 1963 zum ersten Mal vollständig in

deutscher Sprache.

Brecht hält den Kunstwerkaufsatz für »ziemlich grauenhaft«, »alles

Mystik«, obwohl der Text in sachlicher Nähe zu Brechts ›Rundfunk als

Kommunikationsapparat‹ von 1932 steht. Adorno moniert hingegen

Seite 22einen »sehr sublimierten Rest gewisser Brechtscher Motive«, fordert

einerseits von Benjamin ein »Mehr« an Dialektik und kritisiert

andererseits die »Überspannung« eben der dialektischen Methode.

Gleichwohl betonen Adorno und Benjamin im Briefwechsel immer

wieder die Übereinstimmung in den Grundpositionen; Adorno möchte

seinen ebenfalls 1936 in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹

publizierten Aufsatz ›Über Jazz‹ als Beitrag zum selben Komplex

verstanden wissen.

Benjamins Wunsch nach einhundert Sonderdrucken, die auch als

Werbung für die ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ hätten dienen sollen,

wird von Friedrich Pollock abgewiesen: Auch in der stark veränderten

veröffentlichten Fassung sei Benjamins »Studie« noch »viel zu kühn …,

viel zu problematisch, als dass wir sie in derart programmatischer Weise

für unsere Zeitschrift verbreiten dürften.«

Allerdings gibt es vom Museum of Modern Art38 in New York die

Anfrage, ob das Institut das deutsche Original von Benjamins Essay zur

Verfügung stellen könnte – was Horkheimer aufgrund der großen

inhaltlichen Differenzen zwischen der radikalen Urfassung und der

entschärften Druckversion ablehnt (er behauptet, dass der deutsche

Text nicht mehr vorliegt). – Es lässt sich nur darüber spekulieren,

inwiefern hierdurch eine stärkere Einbindung der kritischen Theorie in

die US-amerikanischen Debatten verhindert wurde.

Skepsis bestand in New York vor allem gegenüber Benjamins politischer

Absicht, Begriffe in die Kunsttheorie einzuführen, die »für die Zwecke

des Faschismus vollkommen unbrauchbar sind. Dagegen sind sie zur

Formulierung revolutionärer Forderungen in der Kunstpolitik

38 Am 7. November 1929 öffnete das Museum erstmals für die Allgemeinheit.

Bis dahin gab es in den USA nur kunstgeschichtliche Museen. Die Idee, auch

moderne Kunst, besonders die des 20. Jahrhunderts, in ein Museum zu stellen,

kannte der erste Kurator und Präsident des MoMA, Alfred Barr aus dem

Kronprinzenpalais in Berlin, dem Vorläufer der Neuen Nationalgalerie, wo er zuvor

tätig gewesen war.

Seite 23brauchbar.«39 – Das korrespondiert mit dem Schluss des

Kunstwerkaufsatzes: »Der Faschismus versucht, die neu entstandenen

prole tar i s ier ten Massen zu organis ieren, ohne d ie

Eigentumsverhältnisse, auf deren Beseitigung sie hindrängen,

anzutasten. Er sieht sein Heil darin, die Massen zu ihrem Ausdruck

(beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen zu lassen. … Der Faschismus

läuft folgerecht auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus. … So

steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt.

Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst.«40

Auch wenn Benjamin mit solchen Sätzen bei Horkheimer ein Unbehagen

provozierte, antizipiert er mit ihnen, was ein Jahr später – also vor

siebzig Jahren – in den Aufsätzen von Horkheimer und Marcuse als

kritische Theorie der Gesellschaft gefasst wird.

Gesendet am 4. Juli 2007, 14–15.00 Uhr, FSK: Freibaduniversität;

Sprechzeit: 54:40 Minuten.

39 Walter Benjamin, ›Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‹,

Zweite Fassung, in: GS Bd. VII, Frankfurt am Main 1991, S. 350.

40 Benjamin, ›Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‹, Zweite

Fassung, GS Bd. VII, S. 382, S. 384.