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Siebzig Jahre kritische Theorie
1937 erschien Max Horkheimers Aufsatz ›Traditionelle undkritische Theorie‹ in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹
Roger Behrens
»Die kritische Theorie erklärt: es muss nicht so sein, die Menschen
können das Sein ändern, die Umstände sind jetzt vorhanden.« Max
Horkheimer, ›Traditionelle und kritische Theorie‹ (1937)1
Am 13. März 1933 wird knapp eineinhalb Monate nach Beginn des NS-
Regimes das Gebäude des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am
Main geschlossen. Am 14. Juli 1933 wird das Institut schließlich von der
Gestapo aufgrund »staatsfeindlicher Bestrebungen« aufgelöst. 1931, also
zwei Jahre zuvor, hatte der Sozialphilosoph Max Horkheimer im Alter
von sechsunddreißig Jahren die Leitung des Instituts übernommen und
war gerade dabei, eine Forschungsgruppe zusammenzustellen, zu deren
engeren Kreis dann unter anderen Theodor W. Adorno, Leo Löwenthal,
Herbert Marcuse, Friedrich Pollock und Erich Fromm gehören werden.
Horkheimer bringt das Institut über Genf und Paris nach New York, wo
es an der Columbia Universität eine neue Wirkungsstätte findet. Nach
und nach emigrieren weitere Mitarbeiter nach Amerika in die
Vereinigten Staaten. Im Zentrum der Forschungsarbeit stand die
Herausgabe der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹, das Organ des Instituts
– sie erschien von 1932 bis 1941. In der von Horkheimer
herausgegebenen Zeitschrift – die in den letzten drei Jahrgängen unter
dem Titel ›Studies in Philosophy and Social Science‹ erschien –
veröffentlichten zahlreiche Linksintellektuelle und marxistische
Theoretiker, wie etwa der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, die
Ethnologin Margaret Mead, der Philosoph Raymond Aron, der
Marxexperte Karl Korsch oder der Soziologe Henri Lefebvre; auch
innerhalb des Horkheimer-Kreises kontrovers diskutierte Theoretiker
1 Max Horkheimer, ›Traditionelle und kritische Theorie‹, in: ›Zeitschrift für
Sozialforschung‹, Jg. 6 (1937), München 1980 (Reprint), S. 279 (Fußnote).
Seite 2wie Günther Anders, Karl Löwith oder Otto Neurath konnten
Buchrezensionen in dem umfangreichen Besprechungsteil der Zeitschrift
unterbringen. 1936 erschien hier – in französischer Übersetzung und
redaktionell gekürzt – Walter Benjamins berühmter Essay ›Das
Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‹; im
selben Jahrgang veröffentlichte Adorno unter dem bissigen Pseudonym
Hektor Rottweiler in der Zeitschrift seine rücksichtslose Kritik ›Über
Jazz‹. Ein Jahr später, also im Jahrgang 1937, werden dann in der
›Zeitschrift für Sozialforschung‹ zwei programmatische Beiträge
publiziert: ›Traditionelle und kritische Theorie‹ von Horkheimer sowie
der in zwei Teilen von Horkheimer und Marcuse verfasste Aufsatz
›Philosophie und kritische Theorie‹.
Diese beiden Aufsätze – vor allem Horkheimers ›Traditionelle und
kritische Theorie‹ – werden als Gründungsdokumente einer, zumeist
großgeschriebenen »Kritischen Theorie« der so genannten »Frankfurter
Schule« verstanden. – Ich möchte dem entgegen zeigen, dass
Horkheimer und Marcuse in diesen Texten die kritische Theorie nicht
erfunden haben. Gleichwohl ist unbestreitbar, dass in diesen Aufsätzen
das Konzept einer kritischen Theorie der Gesellschaft programmatisch
gefasst worden ist: allerdings, und das möchte ich darstellen, haben
diese Aufsätze für die Entwicklung der kritischen Theorie selbst gar
nicht die Bedeutung, die ihnen später zugesprochen wurde. Schon jetzt
sei darauf verwiesen, dass die 1937 in der ›Zeitschrift für
Sozialforschung‹ publizierten Aufsätze bis in die sechziger Jahre nur
äußerst schwer zugänglich waren, beziehungsweise in Raubdrucken
kursierten, bis schließlich Marcuse seinen Teil von ›Philosophie und
kritische Theorie‹ 1965 in seinem Aufsatzsammelband ›Kultur und
Gesellschaft 1‹ wieder veröffentlichte – 1968 folgte eine amerikanische
Übersetzung für seinen Band ›Negations. Essays in Critical Theory‹;
Horkheimer hat schließlich ›Traditionelle und kritische Theorie‹ sowie
seinen Teil von ›Philosophie und kritische Theorie‹ erst 1970 in seinem
gleichnamigen Sammelband ›Traditionelle und kritische Theorie‹ wieder
offiziell zugänglich gemacht. Die ›Zeitschrift für Sozialforschung‹
erscheint im Übrigen erst 1980 im Reprint; das heißt über Jahrzehnte
war kaum bekannt, welche Beiträge mit welchem Stellenwert in der
›Zeitschrift für Sozialforschung‹ überhaupt publiziert wurden. – Ferner
geht es mir darum, deutlich zu machen, inwiefern für den damals
formulierten Begriff der kritischen Theorie der Gesellschaft die zeitlichen
Seite 3und insbesondere räumlichen Umstände der Emigration eine Rolle
spielen; dass die Texte in New York verfasst wurden, bleibt ihnen nicht
äußerlich – zumal wenn man bedenkt, welche epochalen Umbrüche sich
zu dieser Zeit sozial und kulturell weltweit sowie in der US-
amerikanischen Metropole zutragen.
* * *
Das gemeinsame Thema der Aufsätze von 1937 ist zweifellos die kritische
Theorie. Dabei ging es darum, eine Philosophie fortzusetzen, die als
Philosophie nicht mehr fortsetzbar war; anders gesagt: mit dem
zwanzigsten Jahrhundert wird auf grausame Weise klar, dass die
gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mehr philosophisch erfasst, nicht
mehr mit Begriffen der Philosophie dargestellt werden können; weder
als Ethik noch als Metaphysik vermag die Philosophie etwas zur Lösung
der gegenwärtigen Probleme der Welt beizutragen, es sei denn als
ideologische Verklärung und damit Fortsetzung dieser Probleme.
Gleichwohl bleibt in der Philosophie die Kritik bewahrt, dass die Welt
sich verändern lässt, dass die Befreiung und Befriedung des
menschlichen Daseins möglich ist. Einschlossen ist das in der
Philosophie der Aufklärung sowie im deutschen Idealismus, der um
Achtzehnhundert mit Kant und schließlich Hegel seinen systematischen
Höhepunkt hatte. Dass die bürgerliche Philosophie allerdings die
Emanzipation des Menschen nur als Ideal festhalten konnte, während
gleichzeitig die humane Einrichtung der Welt an den bürgerlichen
Prinzipien selbst scheiterte, markierte die Krise der Philosophie, die
keine andere ist als die der Gesellschaft. Kurzum: der kapitalistischen
Warenproduktion, wie sie sich im neunzehnten Jahrhundert etablierte,
kommt man mit Vernunftkritik, Geist und Sittlichkeit nicht bei.
Gefordert ist die materielle Kritik der Verhältnisse und deshalb die Kritik
der materiellen Verhältnisse; Karl Marx und Friedrich Engels haben sie
in ihren Schriften formuliert: als ›Kritik der politischen Ökonomie‹, wie
der Untertitel des Marxschen ›Kapitals‹ lautet – dass das ›Kapital‹ 1867
erschien, was also vor 140 Jahren war, erinnert natürlich an ein weiteres
Jubiläum in diesem Jahr.
Die kritische Theorie bezeichnet in diesem Sinne also eine Linie radikalen
Denkens, die über Kant und Hegel verläuft und in der Marxschen
Theorie ihren Angelpunkt findet: versteht man unter kritischer Theorie
den historischen und dialektischen Materialismus, dann kann ohne
Seite 4weiteres Marx als Begründer der kritischen Theorie gelten. Zugleich ist
das Projekt einer kritischen Theorie mit Marx freilich nicht
abgeschlossen; solange eine menschliche und von den Menschen selbst
bestimmte Gesellschaft nicht realisiert ist, bleibt die kritische Theorie
aktuell. Damit widerspricht die kritische Theorie im Übrigen auch dem
so genannten wissenschaftlichen Sozialismus, der die Gesellschaftskritik
als Weltanschauung verteidigt und auf vermeintlich unveränderliche
Gesetzmäßigkeiten reduziert; stattdessen sieht sich die kritische Theorie
permanent von neuen Fragen herausgefordert, die durch die
widersprüchliche Gesellschaft selbst provoziert sind: Warum misslingt
die emanzipatorische Umgestaltung der Welt, obwohl sie sozial durchaus
möglich ist? Warum tendiert die geschichtliche Logik des Fortschritts ins
Gegenteil, etwa in die Katastrophe eines Weltkriegs? Welche Kräfte
wirken in den Verhältnissen, dass die Menschen bereit sind, ihre
eigenen Interessen zurückzustellen und sogar ihr Leben für die
Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung zu opfern? Inwiefern
handelt es sich dabei um Kräfte, die hinter den Rücken der Menschen
ihre Wirkung entfalten und die sich zugleich auch als Unbewusstes
manifestieren? Schon 1931 war klar, wo und in welcher Weise die
Antworten auf diese Fragen zu finden sind; über ›Die gegenwärtige Lage
der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für
Sozialforschung‹ notiert Horkheimer, eine kritische Theorie hat sich »um
solche Phänomene zu bekümmern, die nur im Zusammenhang mit dem
gesellschaftlichen Leben der Menschen verstanden werden können: um
Staat, Recht, Wirtschaft, Religion, kurz um die gesamte materielle und
geistige Kultur der Menschheit überhaupt.«2 – Kritische Theorie ist
immer kritische Theorie der Gesellschaft. Insofern gilt es, die sozialen
Phänomene als, wie Marx es nannte, »konkrete Totalität« zu erfassen,
also die Gesellschaft als zusammenhängendes Ganzes systematisch zu
begreifen. Zugleich gilt es aber auch, die Schwierigkeit zu reflektieren,
dass diese Totalität, dieses Ganze, überhaupt jeder Einzelaspekt der
Gesellschaft nicht unmittelbar zu haben ist, sondern der kritischen
2 Horkheimer, ›Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben
eines Instituts für Sozialforschung‹, in: Frankfurter Universitätsreden, XXXVII,
Frankfurt am Main 1931, S. 3; zit. n. Alfred Schmidt, ›Die ›Zeitschrift für
Sozialforschung‹‹, in: ›Zeitschrift für Sozialforschung‹, Jg. 1 (1932), S. 12*.
Seite 5Vermittlung bedarf.
Die Gesellschaft erscheint in allen ihren Ausprägungen äußerst verzerrt,
widersprüchlich, komplex und unverständlich. Es gibt keine den
materiellen Beziehungen übergeordnete objektive Instanz, keinen Gott,
keinen transzendentalen Sinn und keinen metaphysischen Grund, nach
dem die Welt entschlüsselt werden könnte. Deshalb stellte sich nicht die
Aufgabe, einen programmatischen Begriff der kritischen Theorie zu
entwerfen, sondern als Programm einer kritischen Theorie der
Gesellschaft das in den Blick zu nehmen, was Horkheimer als
»traditionelle Theorie« bezeichnet, nämlich eben ein Denken, welches
sich nicht selbstreflexiv zu seinen Bedingungen und Voraussetzungen
verhält. Die traditionelle Theorie ist also ein Denken, welches den
Prozess der Aufklärung an der kritischen Stelle abbricht und so in den
vorgegebenen Mustern des bürgerlichen Bewusstseins gefangen bleibt;
ebenso wie die traditionelle Theorie in der Denkweise – das heißt in
ihrem Theorieverständnis und ihren Methoden – sich auf die Tradition
beruft, bleibt sie auch in ihrem Gegenstand und ihren Begriffen den
vorherrschenden Denktraditionen verhaftet. Dabei gehört es zur
Struktur des bürgerlichen Bewusstseins, gerade unter Berufung auf die
Tradition, Kritikfähigkeit, Reflexionsvermögen und theoretische
Eigenständigkeit für sich zu reklamieren. Dies setzt sich in der modernen
Ideologie fort und kennzeichnet nicht nur die neuzeitliche Philosophie
(Horkheimers Beispiel ist selbstverständlich René Descartes), sondern
auch die Politik und das Alltagsbewusstsein der Menschen. Diesem
Komplex widmen sich die zahlreichen philosophischen wie auch
soziologischen und psychologischen Beiträge in der ›Zeitschrift für
Sozialforschung‹; alleine die Titel der Beiträge verweisen darauf, etwa
Horkheimers ›Geschichte und Psychologie‹ (1932), Borkenaus ›Zur
Soziologie des mechanistischen Weltbildes‹3 (1932), Horkheimers
›Materialismus und Metaphysik‹ (1933), Marcuses ›Der Kampf gegen
den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung‹ (1934),
Horkheimers ›Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie‹ und
›Zum Problem der Wahrheit‹ (beide 1935), Marcuses ›Zum Begriff des
Wesens‹ (1936), oder Fromms ›Zum Gefühl der Ohnmacht‹ (1937), um
3 Es handelt sich um einen Auszug aus Borkenaus ›Der Übergang vom
feudalen zum bürgerlichen Weltbild‹, Paris 1934.
Seite 6nur auf eine kleine Auswahl zu verweisen. Den psychologischen
Aspekten einer kritischen Sozialforschung wird darüber hinaus eine
besondere Aufmerksamkeit zuteil, geht es nämlich – wie Erich Fromm
bereits im ersten Heft der Zeitschrift 1932 unter dem Titel ݆ber
Methoden und Aufgaben einer analytischen Sozialpsychologie‹
expliziert – um die Frage nach dem »Kitt«, der die menschlichen
Beziehungen im Innersten zusammenhält, um »die Triebstruktur, die
libidinöse, zum großen Teil unbewusste Haltung einer Gruppe aus ihrer
sozialökonomischen Struktur heraus zu verstehen«.4 Diese Gruppe ist
vor allem die Familie, die von der kritischen Theorie als »die
psychologische Agentur der Gesellschaft« verstanden wird.5 Das haben
Horkheimer und seine Kollegen in den umfangreichen ›Studien über
Autorität und Familie‹ ausgeführt, die 1936 in einem Pariser Verlag
publiziert wurden.
Eingebettet sind diese Überlegungen in eine kritische Theorie des
Subjekts, die von der Dialektik der Emanzipation des Menschen
bestimmt wird: Die Realität des Individualismus, der lediglich eine Krise
des Subjekts bedeutet, ist mit der Utopie des befreiten, autonomen
Individuums zu konfrontieren. Zur Disposition steht, wie Marcuse es in
seinem Teil über ›Philosophie und kritische Theorie‹ entfaltet, die Idee
des Glücks, die bereits in der humanistischen Philosophie verankert war
und nunmehr von der materialistischen Kritik bewahrt werden muss.
Die humanistisch-materialistische Vorstellung des Glücks ist für den
Begriff der kritischen Theorie wesentlich; hier zeigt sich nämlich, wie
wenig das Projekt einer kritischen Theorie der Gesellschaft auf ein
akademisches Wissenschaftsprogramm reduziert werden kann, wie
wenig es auf die normative Legitimität der Forschung ankommt, und wie
sehr stattdessen die kritische Theorie von der Praxis abhängt:
Horkheimer nennt »ein menschliches Verhalten, das die Gesellschaft
selbst zum Gegenstand hat«, »das ›kritische‹«: »Es bezeichnet eine
4 Erich Fromm, ݆ber Methode und Aufgabe einer analytischen
Sozialpsychologie‹, in: ›Zeitschrift für Sozialforschung‹, Jg. 1 (1932), S. 34.
5 Fromm, ›Über Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie‹,
a.a.O., S. 35.
Seite 7wesentliche Eigenschaft der dialektischen Theorie der Gesellschaft.«6
Dieses Verhalten, so Horkheimer weiter, »richtet sich nicht bloß auf die
Abstellung irgendwelcher Missstände, diese erscheinen ihm vielmehr als
notwendig mit der ganzen Einrichtung des Gesellschaftsbaus verknüpft
… Die Kategorien des Besseren, des Nützlichen, Zweckmäßigen,
Produktiven, Wertvollen, wie sie in dieser Ordnung gelten, sind ihm
vielmehr selbst verdächtig und keineswegs außerwissenschaftliche
Voraussetzungen, mit denen es nichts zu schaffen hat.«7 Es ist insofern
auf die Praxis, auch im Sinne eingreifender Veränderungen, verwiesen;
noch einmal: »Der zwiespältige Charakter des gesellschaftlichen Ganzen
in seiner aktuellen Gestalt entwickelt sich bei den Subjekten des
kritischen Verhaltens zum bewussten Widerspruch … Diese Welt ist
nicht die ihre, sondern die des Kapitals.«8
Horkheimer und Marcuse formulieren ihre Überlegungen zum Konzept
der kritischen Theorie in New York. Europa ist vom Nationalsozialismus
überschattet, der Zweite Weltkrieg steht bevor (und kündigt sich etwa
durch den deutschen Angriff auf Guernica im spanischen Bürgerkrieg
an), die sozialistische Bewegung ist fast vollständig zerschlagen; vor allem
in Deutschland, aber nicht nur dort, sind Antisemitismus und
Ressentiments fest im kollektiven Bewusstsein verankert. Die
sozialistische Revolution in der Sowjetunion ist gescheitert, dem
stalinistischen Terror fallen Zigtausende Genossen zum Opfer. Über die
Moskauer Schauprozesse ist man in den Vereinigten Staaten informiert,
nicht zuletzt deshalb, weil hier Trotzki einen großen Einfluss auf die
kommunistische Bewegung hat, die – das muss man sich im Rückblick
stets vergegenwärtigen – in den dreißiger und auch noch vierziger
Jahren eine bedeutende politische Kraft in Amerika ist. Nicht nur setzt
sich hier die Arbeiterbewegung fort, sondern auch und gerade Kunst
und Kultur sind linkssozialistisch ausgerichtet – man kann sagen:
kommunistische Theorie und Praxis findet sich zu dieser Zeit in einer
Selbstverständlichkeit inmitten des herrschenden liberalen und
6 Horkheimer, ›Traditionelle und kritische Theorie‹, a.a.O., S. 261.
7 Horkheimer, ›Traditionelle und kritische Theorie‹, a.a.O., S. 261.
8 Horkheimer, ›Traditionelle und kritische Theorie‹, a.a.O., S. 262.
Seite 8konservativen Zeitgeistes so weit verbreitet, dass sie nicht einmal
besonders auffallen. Nichtsdestotrotz war für die marxistisch
beziehungsweise links eingestellten Emigranten Vorsicht und
gegebenenfalls auch Zurückhaltung geboten – das lehrten die
Erfahrungen aus Deutschland; für Horkheimer und das Institut hieß
das etwa, auf politische Phrasen und Etiketten zu verzichten, um so die
Kritik umso radikaler fortführen zu können.
In diesem Zusammenhang ist es im Übrigen keineswegs verwunderlich,
dass der im Mai 1938 gegründete Ausschuss für unamerikanische
Aktivitäten (HUAC) die politische Gefahr des Kommunismus als
Verschwörung projizierte, wonach die Massenmedien von Kommunisten
unterwandert seien. Ende der dreißiger Jahre wurde erstmals von
Massenmedien gesprochen; und tatsächlich kommen entscheidende
Impulse durch Kommunisten in die Debatte. Davon unabhängig ist zu
bedenken, dass sich schon in den zwanziger Jahren das Radio als
Leitmedium etabliert hatte. Zusammen mit dem Kino und den Magazinen
(Illustrierte und Comics) vollzog sich in diesen Jahrzehnten,
insbesondere in den dreißiger Jahren, ein fundamentaler Wandel der als
»Kultur« bezeichneten Sphäre. Die fordistische Massenproduktion griff
auf den Film über – in Hollywood etablierte sich das Studiosystem und
erreicht dann Ende der Dreißiger seinen Höhepunkt: man denke an
Filme wie ›Snow White and the Seven Dwarfs‹ (1937) oder ›The Wizard
of Oz‹ und ›Gone with the Wind‹ (beide 1939). Hinzukommt, dass New
York in diesem Jahrzehnt schlussendlich zur Hauptstadt der
künstlerischen Avantgarde wird (mit nachhaltigen Folgen für die Kunst
bis heute).
Das sind auch Faktoren, die ihre Rolle spielen, wenn nunmehr »Kultur«
im weitesten Sinne zunehmend in das Blickfeld der kritischen Theorie
rückt. Weiterhin geht es um eine kritische Theorie der Gesellschaft –
jetzt aber unter Berücksichtigung der Dialektik der Kultur. Kultur
erscheint als ein verkehrtes Reich der Freiheit, das von der repressiven
Struktur der Gesellschaft ebenso bestimmt ist, wie vom utopischen Ideal
der Humanität – ein Widerspruch, der sich mit der fortschreitenden
Entwicklung der Massenkultur zuspitzt. Als allgegenwärtige
Kulturindustrie – die Horkheimer und Adorno 1944 in ihrer ›Dialektik
der Aufklärung‹ analysieren – bringt die Gesellschaft nur noch
Pseudoindividualität hervor und bindet das menschliche Glück an
Seite 9ökonomischen Erfolg und den Warenkonsum. Wie in den Philosophien
Kants und Hegels, bleibt auch in der bürgerlichen Hochkultur und ihrer
Kunst eine »ästhetische Dimension« (Marcuse) der Freiheit bewahrt,
obgleich verzerrt und verschleiert. Auch dieser Themenblock findet sich
seit dem ersten Heft in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ (1932
erscheinen zum Beispiel Adornos Aufsatz ›Zur gesellschaftlichen Lage
der Musik‹ und Löwenthals Aufsatz ›Zur gesellschaftlichen Lage der
Literatur‹). Grundlegend für diesen Komplex ist dann Marcuses
ebenfalls 1937 in der Zeitschrift publizierter Essay ݆ber den
affirmativen Charakter der Kultur‹.
Wie wichtig für die kritische Theorie die politische Ökonomie sowohl
unter dem Gesichtspunkt der kapitalistischen Gegenwart, als auch der
potenziellen gesellschaftlichen Neuordnung ist, zeigt sich schließlich in
den zahlreichen Beiträgen in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹, in
denen staatstheoretische und wirtschaftspolitische Fragen verhandelt
werden. Bereits im ersten Heft findet sich Pollocks Aufsatz ›Die
gegenwärtige Lage des Kapitalismus und die Aussichten einer
planwirtschaftlichen Neuordnung‹. Und im Jahrgang 1937 schreibt
Franz Neumann über den ›Funktionswandel des Gesetzes im Recht der
bürgerlichen Gesellschaft‹. (Man kann zusätzlich auf die Rezensionen
von Büchern kommunistischer Autoren verweisen, die im
Besprechungsteil der Zeitschrift aufgenommen werden: dazu gehören
einige Schriften von Marx und Engels, sowie auch ein Band von Lenin.)9
Insgesamt ist auffällig, dass der Begriff der kritischen Theorie relativ
spät eingeführt wird und sich zunächst keineswegs als allgemeine
Bezeichnung für die zum Forschungskreis des Instituts gehörigen
Theoretiker durchsetzt. Adorno zum Beispiel benutzt den Begriff sehr
selten – obwohl gerade sein Name untrennbar mit der kritischen Theorie
9 Vgl. die Besprechung von Lenins ›Über den historischen Materialismus‹ von
Korsch in: ›Zeitschrift für Sozialforschung‹, Jg. 1 (1932), S. 423 f. – Im ersten
Jahrgang finden sich unter den am Heftende abgedruckten Verlagsanzeigen der
Lenin-Band ›Aus dem philosophischen Nachlass‹ annonciert, allerdings auch
reaktionärer Schund wie etwa Friedrich Burgdörfer, ›Volk ohne Jugend.
Geburtenschwund und Überalterung des deutschen Volkskörpers‹ oder ›Die Rettung
des Abendlandes durch den Geist der Goethezeit‹ von Friedrich Muckle …
Seite 10verbunden ist. (Adorno veröffentlicht zunächst nur wenige,
ausschließlich musiktheoretische Beiträge in der ›Zeitschrift für
Sozialforschung‹; erst in den letzten Jahrgängen gibt es soziologische
und philosophische Texte – etwa über Kierkegaard, 1941. 1937 lag
allerdings seine Mannheim-Kritik ›Neue wertfreie Soziologie‹ als
Fahnenabzug für die Zeitschrift vor, ist aber dort nicht erschienen;
Adorno spricht hier im Schlusssatz von der »Notwendigkeit
eingreifender Kritik«.10) – Ein Blick in die Nachkriegszeit ist hilfreich:
von Horkheimer und Adorno wird das Institut für Sozialforschung zu
Beginn der fünfziger Jahre in Frankfurt am Main wiedereröffnet. Die
nach Fünfundvierzig einsetzende Historisierung der kritischen Theorie
bedeutet nicht nur ihre Aktualisierung durch die Neue Linke, sondern
auch das Gegenteil, ihre geschichtliche Auflösung und Mystifikation
(dazu gehört etwa ein Personenkult, der in der Bundesrepublik
insbesondere um Adorno und Benjamin betrieben wird und die
Rezeptionsgeschichte bis heute prägt). Nachgerade paradox stehen dann
in den Sechzigern die kritischen Theoretiker in der Öffentlichkeit unter
dem Verdacht, geistige Brandstifter der militanten Revolte zu sein,
während gleichzeitig die kritische Theorie wissenschaftlich demontiert
und systematisch ihre emanzipatorische Wurzel gezogen wird. Schnell
ist ihr radikaler Impuls sozialdemokratisch nivelliert und somit kritische
Forschung endgültig von der Praxis entkoppelt. Die »Kritische Theorie«
(mit großem »K«) verselbstständigt sich als Label, wird unabhängig von
den ursprünglichen Texten.11 Man spricht von der »Frankfurter
Schule« – unlogisch, weil es am Institut zu keinem Zeitpunkt
10 Vgl. Theodor Adorno, ›Neue wertfreie Soziologie‹, in: Adorno, GS Bd. 20·1,
Frankfurt am Main 1997, S. 45. Vgl. etwa den Brief Adornos an Horkheimer vom 2.
März 1937, in: Adorno und Horkheimer, Briefwechsel Band I. 1927–1937, Frankfurt
am Main 2003, S. 312: Ohne Marcuses Text ݆ber den affirmativen Charakter der
Kultur‹ schon zu kennen, glaubt Adorno, dass »einige Sätze« seiner »Mannheim-
Polemik« in »genau die gleiche Richtung« zielen; Adorno hat allerdings kurze Zeit
später Marcuses Essay scharf kritisiert.
11 Gleichwohl haben Horkheimer, Marcuse, Adorno und Löwenthal unter dem
Eindruck der internationalen Protestbewegung der sechziger Jahre den Begriff der
kritischen Theorie der Gesellschaft wieder aufgegriffen und durch Neuausgaben und
Sammelbände die alten Texte wieder zugänglich gemacht, die lange vergriffen waren.
Seite 11akademische Lehrer-Schüler-Beziehungen gab, und weil der Begriff der
kritischen Theorie und die mit ihm verbundene Forschung maßgeblich
in den Vereinigten Staaten entwickelt wurde. Zwar mag es zu Zwecken
akademischer Ordnung sinnvoll sein, in dieser Weise von Kritischer
Theorie und Frankfurter Schule zu sprechen, den Absichten einer
kritischen Theorie widerspricht es. Gerade die Beiläufigkeit, mit der
Horkheimer und Marcuse vor siebzig Jahren den Begriff der kritischen
Theorie einführten, sollte im Sinne der kritischen Theorie selbst ernst
genommen werden. Horkheimers und Marcuses Aufsätze von 1937 sind
Grundlagentexte der kritischen Theorie, ohne Zweifel. Doch ist es
bemerkenswert festzustellen, dass sie damals keineswegs als solche
rezipiert wurden. Anders gesagt: sie wurden auch nicht mehr und nicht
weniger zitiert als andere Texte aus der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹.
Viele Beiträge, vor allem die »wichtigen« (also diejenigen, in denen sich
die Zeitschrift repräsentiert sah), wurden von Horkheimer, Marcuse,
Adorno, Benjamin und Löwenthal ausführlich diskutiert (übrigens nicht
selten mit heftigsten gegenseitigen Anfeindungen und Streit; so nannte
Adorno gegenüber Horkheimer einmal Marcuse einen »durch das
Judentum verhinderten Faschisten«;12 auch das Zerwürfnis mit Erich
Fromm darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben13). Dass hier keine
homogene Theorie begründet wird, ist leicht über die erhaltenen
Briefwechsel zu rekonstruieren. Allerdings – und das ist ebenfalls
bemerkenswert – hat es gerade über die programmatischen Texte
12 Vgl. Adorno an Horkheimer, Brief vom 13. Mai 1935, in: Adorno und
Horkheimer, Briefwechsel Band I. 1927–1937, a.a.O., S. 65: »… und es wird Sie nicht
wundernehmen, wenn es mich traurig macht, dass Sie philosophisch unmittelbar mit
einem Mann arbeiten [gemeint ist Marcuse, Anm. R.B.], den ich schließlich für einen
durch Judentum verhinderten Faszisten [sic!] halte.«
13 Fromm hatte mit seinen Beiträgen maßgeblichen Anteil an der
programmatischen Ausrichtung der kritische Theorie; gleichwohl trennen sich 1939
aus bis heute nicht vollständig geklärten Gründen die Wege von Fromm und
Horkheimer. Fromms 1941 erschienenes Buch ›Escape from Freedom‹ (dt. ›Die Furcht
vor der Freiheit‹) wird allerdings in einer ausführlichen Rezension im letzten
Jahrgang der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ vom Psychoanalytiker Ernest Schachtel
äußerst positiv besprochen; vgl. ›Studies in Philosophy and Social Science‹, Jg. 9
(1941), S. 491 ff.
Seite 12›Traditionelle und kritische Theorie‹ sowie ›Philosophie und kritische
Theorie‹ eine solche Auseinandersetzung zwischen den
Institutsmitarbeitern nicht gegeben. Auch damit wird deutlich, dass die
kritische Theorie der Gesellschaft keine »Schule« ist, nicht auf ein
definiertes Programm angelegt ist und sich keineswegs auf einen
eindeutig benennbaren Personenkreis erstreckt. Der Begriff der
kritischen Theorie dient der Bezeichnung einer Linie, die in den
dreißiger Jahren sowenig abgeschlossen war wie in den darauf
folgenden Jahrzehnten –, und man muss hinzusetzen: sowenig wie sie
heute abgeschlossen ist. Noch immer geht es um die kritische Theorie,
»die das Glück aller Individuen zum Ziel hat«.14
* * *
Freilich sind die Essays ›Traditionelle und kritische Theorie‹ sowie
›Philosophie und kritische Theorie‹ programmatisch zu verstehen. Diese
Programmatik als Selbstverständigung der kritischen Theorie dient aber
v o r a l l e m d e r A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t anderen
gesellschaftstheoretischen und philosophischen Ansätzen, nicht der
Vorgabe eines fertigen, hermetischen Programms. So kommt den Texten
dieselbe Funktion zu wie den meisten anderen Beiträge aus der
›Zeitschrift für Sozialforschung‹. Auch hier spielt noch einmal der
amerikanische Kontext eine Rolle. Drei Aspekte sind wichtig: Erstens
ging es überhaupt darum, das Überleben der Emigranten nicht nur
finanziell, sondern auch intellektuell zu sichern – die Zeitschrift bot für
das kritische Denken einen Zufluchtsort; mit dem Begriff der kritischen
Theorie wurde indes kenntlich gemacht, dass es sich hierbei weder um
eine isolierte Nische, noch einen bloßen Standpunkt handelt. Zweitens
gab es in der Universitätsphilosophie der Vereinigten Staaten damals
kaum eine nennenswerte kritische Auseinandersetzung mit der
idealistischen Philosophie Kants und Hegels, und damit – so muss man
14 Horkheimer, ›Philosophie und kritische Theorie‹, in: ›Zeitschrift für
Sozialforschung‹, Jg. 6 (1937), S. 628.
Seite 13sagen – keinen kritischen Begriff der Philosophie;15/16 der Begriff der
kritischen Theorie erfüllt sozusagen eine philosophiegeschichtliche
Aufgabe, ohne sich auf die Philosophiegeschichte zurückzuziehen.17
Drittens verschärfte sich Ende der Dreißiger die Debatte mit der
positivistischen Theorie (die nicht nur in ›Traditionelle und kritische
Theorie‹ Thema ist, sondern auch in Horkheimers Aufsatz ›Der neueste
Angriff auf die Metaphysik‹, ebenfalls 1937).18
Wie gesagt: der Begriff der kritischen Theorie findet in den Texten nach
1937 erstaunlicher Weise keine systematische Berücksichtigung (was
eben noch einmal auf den Stellenwert der Aufsätze verweist). In den
nachfolgenden Jahren haben selbst Horkheimer und Marcuse nur an
einigen wenigen Stellen auf ihre Artikel von 1937 Bezug genommen –
15 Siehe Horkheimers kleinen Aufsatz ›The Social Function of Philosophy‹ in:
›Zeitschrift für Sozialforschung‹ – beziehungsweise den ›Studies in Philosophy and
Social Science‹ (1940).
16 Die Ausnahme ist der Pragmatismus John Deweys – und es kommt nicht
von Ungefähr, dass Horkheimer sich mit ihm als nahezu einigen amerikanischen
Philosophen auseinandersetzte.
17 Was das bedeutet, hat schließlich Marcuse mit seinem für die Hegelforschung
enorm wichtigen Buch ›Reason and Revolution. Hegel and the Rise of Social Theory‹
von 1941 gezeigt; ein Kapitel erschien in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ –
beziehungsweise den ›Studies in Philosophy and Social Science‹ – unter dem
signifikanten Titel ›An Introduction to Hegel’s Philosophy‹ (1940).
18 Vgl. Horkheimer, ›Der neueste Angriff auf die Metaphysik‹, in: ›Zeitschrift
für Sozialforschung‹, Jg. 6 (1937), S. 4 ff. – Dieser Beitrag löst einen heftigen Streit
mit Otto Neurath aus (der allerdings im selben Jahrgang auch einen Beitrag in der
›Zeitschrift für Sozialforschung‹ hat. In der Korrespondenz gibt es von Anbeginn an
Spannungen zwischen Horkheimer und Neurath (vgl. etwa den Brief von Neurath an
Horkheimer vom 21. Juni 1937, in: Horkheimer, Briefwechsel 1937–1940, GS Bd. 16,
Frankfurt am Main 1995, S. 178 f., wo Neurath die kritischen Theoretiker als
»feindliche Freunde« grüßt, S. 179); vgl. den Brief von Horkheimer an Neurath vom
29. Juni 1937, ebd., GS Bd. 16, S. 185, sowie den Brief von Neurath vom 8.
Dezember 1937, ebd., GS Bd. 16, S. 319 f.
Seite 14wenn überhaupt, dann sehr sporadisch in Fußnoten.19 Wenn der
Begriff der kritischen Theorie dann in den sechziger Jahren im Zuge der
Protestbewegungen wieder ins Spiel gebracht wird, dann vor allem und
ausgerechnet in den Schriften Marcuses – »ausgerechnet« deshalb, weil
nun Marcuse, der nach Fünfundvierzig in den Vereinigten Staaten
bleibt, am wenigsten mit einer auf die »Frankfurter Schule«
zurechtgestutzten »Kritischen Theorie« (mit großem »K«) zu tun hat.
Doch zurück ins Jahr 1937, um von dort aus noch einmal die Frage zu
stellen, ob denn der nunmehr programmatisch gefasste Begriff einer
kritischen Theorie auch ebenso programmatisch rezipiert wurde.
Aufschlussreich ist die Spurensuche in der Korrespondenz zwischen
Adorno und Horkheimer – weil die beiden zu der Zeit ihre Kooperation
verstärkten und sich in umfassender Weise über verschiedenste
Themen austauschten. – Nun ist jedoch festzustellen: In der
Korrespondenz20 zwischen Adorno und Horkheimer spielen die Artikel
keine Rolle. Lediglich ist überliefert, dass Adorno einmal Ernst Krenek
Horkheimers »beiden großen Aufsätze« zur Lektüre empfiehlt – »zur
Orientierung«, nämlich als Vorbereitung für einen (dann nie
publizierten) Band ›Massenkunst im Monopolkapitalismus‹.21 – Die
beiden großen Aufsätze sind Horkheimers ›Traditionelle und kritische
19 Vgl. zum Beispiel Herbert Marcuse, ›Zur Kritik der Hedonismus‹, in:
›Zeitschrift für Sozialforschung‹, Jg. 7 (1938), S. 73 (Fußnote): »Wir verstehen unter
kritischer Theorie hier die Theorie der Gesellschaft, wie sie in den prinzipiellen
Aufsätzen der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ auf Grund der dialektischen
Philosophie und der Kritik der politischen Ökonomie dargestellt wurde.«
20 Die nachfolgenden Bemerkungen sind freilich Schlussfolgerungen, die sich
aus den überlieferten und erhaltenen Briefwechseln ergeben. Keine Quellen deuten
darauf, inwieweit die zur Debatte stehenden Texte direkt (mündlich) diskutiert
wurden. Wahrscheinlich ist, dass Horkheimer und Marcuse ihre Beiträge vor Ort in
New York besprochen haben. Auch kann es natürlich sein, dass über die Texte in
heute nicht mehr zugänglichen Briefen geschrieben wurde.
21 Adorno an Krenek, Brief vom 28. Juli 1937, in: Adorno und Horkheimer,
Briefwechsel Band 1. 1927–1937, a.a.O., S. 527. Von Krenek erscheinen 1938 in der
›Zeitschrift für Sozialforschung‹ ›Bemerkungen zur Rundfunkmusik‹. – Ein weiter
Titel des erwähnten geplanten Bandes war ›Die Kunst des Massenkonsums‹.
Seite 15Theorie‹ und ›Der neueste Angriff auf die Metaphysik‹.
Reaktionen – und zwar durchweg positive – finden sich zu Horkheimers
›Traditionelle und kritische Theorie‹ (und auch zu Horkheimers und
Marcuses ›Philosophie und kritische Theorie‹) eher von denen, die
rezeptionsgeschichtlich höchstens in der Peripherie der kritischen
Theorie verortet werden. Zunächst meldet sich Friedrich Pollock mit
einem Brief an Horkheimer vom 16. August 1937: »Ich habe jetzt endlich
den ›Theorie‹ Aufsatz zu Ende lesen können (zum zweiten mal).
Eigentlich sollte ich ihn auswendig lernen. Er ist der Inhalt eines dicken
Buches und die XVII Abschnitte, in die ich ihn (ziemlich willkürlich, weil
er doch einen Gedankenzug darstellt) aufgeteilt habe, um ihn bewältigen
zu können, bilden jeder reichlich Stoff für ein Kapitel so lang wie der
Aufsatz. Nirgends auf der Welt ist die ›Kritische‹ Theorie so weit
vorangetrieben wie in diesen Seiten, und die Tatsache ihrer Einsamkeit,
die so eindringlich begründet ist, darf uns nicht drausbringen. Es
gehört zu unseren verantwortungsvollsten Aufgaben dafür zu sorgen,
dass diese Arbeit unter den besten Bedingungen fortgesetzt wird. – F.«22
Euphorisch äußert sich auch Hans Mayer in seinem Brief vom 30.
November 1937: »Sie [die »positiv-kritische Theorie«, wie Mayer sie
nennt] bringt für uns unendliche Bereicherung und vielfältigste
Klärung, aber eigentlich (zum Glück) keine ›Überraschungen‹ – und das
ist gerade eine ihrer wichtigsten Eigenarten, denn sie ist ja nicht ganz
frisch ›erfunden‹ oder ›ausgedacht‹, da sie ja überhaupt kein
Hirngespinst ist.«23 Nach Mayer könnte man »hier wirklich – und dieser
Eindruck entstand bei mir nach der Lektüre ihrer Analysen – von einem
›Gefährlich-Leben‹, einem ›Gefährlich-Denken‹ sprechen, das einen
Anker im Zukünftigen ausgeworfen hat und nun von ihm her, vom
unbekannten Land, die Analyse der Gegenwart und die Haltung zu ihr
bestimmen lässt.«24 – Überschwänglich ist auch der marxistische
22 Friedrich Pollock an Horkheimer, Brief vom 16. August 1937, in:
Horkheimer, Briefwechsel 1937–1940, GS Bd. 16, S. 218.
23 Hans Mayer an Horkheimer, Brief vom 30. November 1937, in: Horkheimer,
Briefwechsel, GS Bd. 16, , S. 297.
24 Mayer an Horkheimer, Brief vom 30. November 1937, a.a.O., S. 300.
Seite 16Wirtschaftswissenschaftler Alfons Goldschmidt: »›Die Avantgarde
bedarf der Klugheit im politischen Kampf, nicht der akademischen
Belehrung über ihren so genannten Standort.‹ Diesen Satz möchte ich
besonders unsern emigrierten Kathederleuten übers Bett gehängt sehen,
damit sie jeden Morgen beim Aufwachen erinnert werden, wozu sie
eigentlich da sind.«25 Positiv äußert sich auch Adolph Lowe.26 Karl
August Wittvogel geht auf eine Bemerkung Horkheimers über die
einfache Tauschgesellschaft in ›Traditionelle und kritische Theorie‹ ein.27
Die ausführlichste Kritik der programmatischen Texte von 1937 findet
sich in einem Brief von Andries Sternheim an Horkheimer vom 14.
Dezember1937.28 Der niederländische Sozialhistoriker Sternheim schrieb
schon im ersten Jahrgang der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ einen
Essay ›Zum Problem der Freizeitgestaltung‹ und steuerte über die Jahre
zahlreiche Rezensionen bei; ab 1934 leitete er die Genfer Zweigstelle des
Instituts für Sozialforschung, kehrte allerdings 1938 nach Amsterdam
zurück. 1944 wurden er und seine Frau von den Deutschen verhaftet
und in Auschwitz ermordet.
Sternheims im Brief auf wenigen Seiten ausgeführte Kritik gehört noch
heute zu den sachhaltigsten Auseinandersetzungen mit dem Konzept der
kritischen Theorie;29 seine Einwände formuliert er im Sinne einer
25 Alfons Goldschmidt an Horkheimer, 5. Dezember 1937, in: Horkheimer,
Briefwechsel, GS Bd. 16, S. 310. – Horkheimers Satz findet sich in: ›Traditionelle und
kritische Theorie‹, a.a.O., S. 275. – Goldschmidt rezensiert 1938 ein Buch für die
›Zeitschrift für Sozialforschung‹, vgl. Jg. 7 (1938), S. 311.
26 Vgl. Adolph Lowe an Horkheimer, Brief vom 15. Dezember 1937, in:
Horkheimer, Briefwechsel, GS Bd. 16, S. 327 ff.
27 Vgl. Karl August Wittvogel an Horkheimer, Brief ca. November 1937, in:
Horkheimer, Briefwechsel, GS Bd. 16, S. 284 f.
28 Andries Sternheim an Horkheimer, Brief vom 14. Dezember 1937, in:
Horkheimer, Briefwechsel, GS Bd. 16, S. 322 ff.
29 Auch Sternheim spricht von der kritischen Theorie wie die anderen im
Übrigen so, als handelt es sich um einen Vorschlag für ein Denkmodell, nicht um
Seite 17politischen Logik, maßgeblich vor dem Hintergrund der
gesellschaftlichen Verhältnisse in Europa: Der Optimismus, der in
Horkheimers und Marcuses Texten in Bezug auf die mögliche
Entwicklung des Klassenkampfes anklingt, sei unbegründet – die
Gegenwart zeige drastisch, »wieweit eine Anpassung des Proletariats an
die bürgerliche Kultur möglich ist und wie sehr die neuere Erfahrung
der Sozialpsychologie die Massenbeherrschung mit einem Handstreich
möglich machte.«30 Ein Vertrauen in das politische Potenzial der
Arbeiterbewegung wäre alles andere als angebracht – Horkheimer,
Marcuse und Adorno haben dies selbst wenige Jahre später in den
Begriff der kritischen Theorie unter dem Stichwort der negativen Utopie
aufgenommen. In diesem Zusammenhang gehören auch weitere
Kritikpunkte Sternheims: Ohne Rückhalt sei etwa der Glücksbegriff der
kritischen Theorie; beziehungsweise sei es illusorisch zu glauben, dass
eine zukünftige Gesellschaft vollständig im Glück aufgeht. Sternheim
korrigiert, dass es von den gegebenen Bedingungen aus keine
Möglichkeit gibt, eine umfassende Vorstellung des Glücks oder des
allgemeinen Glückszustands zu gewinnen. Man muss allerdings
Horkheimer wie Marcuse zugute halten, dass sie konsequenter sind, als
Sternheim es ihnen zutraut. Die kritische Theorie versucht einen Begriff
des Glücks zu formulieren, ohne das Glück selbst auszupinseln und
seinen Inhalt vorzuschreiben. Dafür greift die kritische Theorie auf die
humanistische Philosophie zurück: sie ist historisch obsolet, ohne dass
damit – wie Sternheim die entsprechenden Passagen bei Horkheimer
und Marcuse interpretiert – die philosophischen Probleme vom Tisch
wären. Sternheim meint, in den Texten werde behauptet, »dass in der
neuen Gesellschaft überhaupt keine Lebensprobleme mehr bestehen
werden.«31 Das ist jedoch falsch; vielmehr werden in einer emanzipierten
Gesellschaft erst die Bedingungen wieder hergestellt, sich philosophisch
solchen Problemen zuzuwenden, denen gegenüber die Philosophie unter
gegebenen Bedingungen machtlos ist.
eine offizielle Programmdirektive des Instituts. Das widerspricht ebenfalls der heute
üblichen Deutung, die insbesondere Horkheimers ›Traditionelle und kritische
Theorie‹ einen überhöhten Stellenwert zuweist.
30 Sternheim an Horkheimer, Brief 14. Dezember 1937, a.a.O., S. 326.
31 Sternheim an Horkheimer, Brief 14. Dezember 1937, a.a.O., S. 325.
Seite 18Nach Sternheim sei es ohnehin »unmöglich …, uns so positiv über die
Zukunft auszusprechen.«32 Marcuse und Horkheimer argumentierten
hier auf eschatologischer Basis, was Sternheim entschieden ablehnt.33
Zur Frage wird, auf welcher Grundlage die kritische Theorie ihre
politische Zuversicht gewinnt. Etwa sei nur als Widerspruch zu
begreifen – so Sternheim –, »dass die psychologische Konstruktion [der
Menschen] für die neue Gesellschaft bereits vorhanden sein muss, bevor
sie überhaupt zustande gekommen ist.« Und Sternheim fragt: »Steht
diese Auffassung nicht im Gegensatz zu derjenigen, wonach die Struktur
des menschlichen Denkens und Handelns ein Produkt einer
vorhandenen gesellschaftlichen Lage ist?«34 Eine Antwort auf
Sternheims Brief ist – meines Wissens – nicht überliefert; auch wenn
Sternheim mit seiner Kritik zum Teil auf sozialdemokratische Positionen
zurückfällt und manchen Aspekt zu undialektisch referiert, hat er
wesentliche Punkte benannt, auf welche die kritische Theorie wenige
Jahre später reagiert hat – das betrifft vor allem den Topos der
Vernunftkritik und, darin eingeschlossen, den Begriff der Geschichte.
Hierbei rekurrieren Horkheimer, Marcuse und schließlich auch Adorno
auf Walter Benjamin – der sich 1940 auf der Flucht vor den Nazis das
Leben nimmt. Nicht zu unterschätzen für die Weiterentwicklung der
kritischen Theorie sind dabei Benjamins so genannten Thesen über den
Begriff der Geschichte (der vermutlich letzte von ihm verfasste Text).
Überdies gehört auch Benjamin zu den wenigen, die sich zu
Horkheimers und Marcuses Aufsätzen von vor siebzig Jahren äußern;
und sein Kommentar ist nicht weniger programmatisch zu nehmen als
der Begriff der kritischen Theorie selbst: »Wie man in einen Abriss pour
le Dauphin eine Arbeit wie ›Traditionelle und kritische Theorie‹, aus der
ich eine Anzahl von wichtigen Zitaten bereitgestellt hatte, oder eine
32 Sternheim an Horkheimer, Brief 14. Dezember 1937, a.a.O., S. 325.
33 Sternheim überliest allerdings die Dialektik, die Horkheimer und Marcuse
entfalten; Adorno hat sie 1966 in seiner ›Negativen Dialektik‹ dann mit dem
Begriffspaar von Materalismus und Moral ausgeführt. Vgl. den Abschnitt ›Solidarität
mit dem Unverfügbaren‹ in meinem Buch ›Verstummen. Über Adorno‹, Laatzen
2004, S. 206 ff.
34 Sternheim an Horkheimer, Brief 14. Dezember 1937, a.a.O., S. 324.
Seite 19Arbeit wie die über den Jazz einbeziehen kann, ist mir noch nicht
ersichtlich. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass die Kritik des
Systembegriffs, wie sie zumal Ihren letztgenannten Essay bestimmt,
meiner Ansicht nach zu den Grundpfeilern unserer Arbeit gehört. Es ist
nur leider der dialektische Witz der Sache, dass bei den ›reinen‹
Methodenfragen die politischen Zwecke, für die diese Methoden wirken,
nicht weniger ›rein‹ zum Vorschein kommen. Etwas günstiger steht es
mit den kunstkritischen Methoden. Ich hoffe, dass ich Wiesengrunds
[d. i. Adornos, Anm. R.B.] Arbeiten wenigstens nach dieser Seite hin
werde kennzeichnen können«,35 so Benjamin in einem Brief vom 6.
Dezember 1937.
Benjamin hat den Begriff der kritischen Theorie dahingehend in und mit
seinem ›Passagen-Werk‹ ergänzt (ohne das Wort kritische Theorie zu
benutzen). Auch Horkheimer und Marcuse haben die kritische Theorie
der Gesellschaft weitergeführt. Andere radikale Denker wie zum Beispiel
Leo Kofler haben den Terminus aufgegriffen. So wird in den sechziger
Jahren im Kontext der internationalen Protestbewegung der Begriff der
kritischen Theorie sozusagen ein zweites Mal eingeführt – weitgehend
unabhängig von den Texten von 1937. Marcuse selbst hat den Begriff in
seinem Bestseller ›Der eindimensionale Mensch‹ (1964; dt. 1967) noch
einmal programmatisch geprägt: »Von Anbeginn steht … jede kritische
Theorie der Gesellschaft dem Problem historischer Objektivität
gegenüber, einem Problem, das an den beiden Stellen aufkommt, an
denen die Analyse Werturteile einschließt: 1. das Urteil, dass das
menschliche Leben lebenswert ist oder vielmehr lebenswert gemacht
werden kann oder sollte. Dieses Urteil liegt aller geistigen Anstrengung
zu Grunde; es ist das Apriori der Gesellschaftstheorie, und seine
Ablehnung (die durchaus logisch ist) lehnt die Theorie selbst ab; 2. das
Urteil, dass in einer gegebenen Gesellschaft spezifische Möglichkeiten
zur Verbesserung des menschlichen Lebens bestehen sowie spezifische
Mittel und Wege, diese Möglichkeiten zu verwirklichen.«36 Als Mittel
35 Walter Benjamin an Horkheimer, Brief vom 6. Dezember 1937, in:
Horkheimer, Briefwechsel, GS Bd. 16, S. 313.
36 Marcuse, ›Der eindimensionale Mensch‹, Schriften Bd. 7, Springe 2004, S.
12�f.
Seite 20und Wege, die angesprochenen Möglichkeiten zur Verbesserung des
Lebens zu realisieren, verweist Marcuse damals auf die Notwendigkeit
einer Großen Weigerung. Damit aktualisiert Marcuse die kritische
Theorie der Gesellschaft schließlich als Praxis eingreifender
Veränderung – nicht nur als Aufgabe der Sozialforschung, sondern als
Aufgabe ihrer politischen Dringlichkeit in der Gegenwart. Horkheimer
formulierte das vor siebzig Jahren mit folgenden Worten: »An der
Existenz des kritischen Verhaltens, das freilich Elemente der
traditionellen Theorien und dieser vergehenden Kultur überhaupt in
sich einschließt, hängt heute die Zukunft der Humanität. Eine
Wissenschaft, die in eingebildeter Selbstständigkeit die Gestaltung der
Praxis, der sie dient und zugehört, bloß als ihr Jenseits betrachtet und
sich bei der Trennung von Denken und Handeln bescheidet, hat auf die
Humanität schon verzichtet … Der Konformismus des Denkens, das
Beharren darauf, es sei ein fester Beruf, ein in sich abgeschlossenes Reich
innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen, gibt das eigene Wesen des
Denkens preis.«37 Horkheimers Schlussworte von damals stehen heute
noch immer am Anfang des Interesses der kritischen Theorie: die
Einrichtung von Lebensverhältnissen, in denen Glück nicht mehr nur
als die Vermeidung von Unglück erscheint, sondern als die den Horizont
des Gegebenen vollständig überschreitende Verwirklichung des
Menschen selbst.
* * *
Nachtrag
Von den zahlreichen Beiträgen, die in der ›Zeitschrift für
Sozialforschung‹ über die dreißiger Jahre publiziert wurden, ist der
bekannteste sicherlich Benjamins Essay ›Das Kunstwerk im Zeitalter
seiner technischen Reproduzierbarkeit‹, veröffentlicht 1936 in
französischer Sprache. Für das Programm einer kritischen Theorie der
Gesellschaft hat Benjamins Aufsatz mindestens ebensoviel beigetragen
wie die Essays von Horkheimer und Marcuse. Gleichzeitig hat allerdings
der Kunstwerkaufsatz auch für heftige Kontroversen innerhalb des
Instituts gesorgt und paradoxerweise Benjamins Außenseiterposition
37 Horkheimer, ›Traditionelle und kritische Theorie‹, a.a.O., S. 292.
Seite 21bestätigt und das ambivalente Verhältnis zu Horkheimer und Adorno
eher verstärkt als gelockert.
Walter Benjamin verlässt am 17. März 1933 das nationalsozialistische
Deutschland und geht ins Exil – Paris wird einer seiner Aufenthaltsorte.
Im April erhält Benjamin vom Institut für Sozialforschung den Auftrag
einen Aufsatz über französische Literatur zu schreiben, der unter dem
Titel ›Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französischen
Schriftstellers‹ 1934 in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ erscheint –
Benjamins erster Beitrag in dem theoretischen Organ des Instituts. 1935
folgen eine Sammelbesprechung ›Probleme der Sprachsoziologie‹, sowie
einige thematisch ähnliche Rezensionen. 1936, im fünften Jahrgang der
›Zeitschrift für Sozialforschung‹ erscheint schließlich in französischer
Übersetzung Benjamins Aufsatz ›Das Kunstwerk im Zeitalter seiner
technischen Reproduzierbarkeit‹ (›L’œuvre d’art à l’époque de sa
reproduction mécanisée‹). Benjamin schrieb die erste Fassung seines
umfangreichen Essays von September bis Dezember 1935; die zweite
Fassung, die Benjamin als »Original« bezeichnete, liegt im Februar 1936
vor – auf ihr basiert die Übersetzung von Pierre Klossowski, beide
Fassungen entstehen in Paris. Bis zum Frühjahr 1939 arbeitet Benjamin
noch an einer dritten Fassung.
Es ist der erste Text in französischer Sprache in der ›Zeitschrift für
Sozialforschung‹, der – ähnlich wie die englischsprachigen Texte – das
Institut im Ausland bekannt machen sollte. Das mag ein Grund dafür
sein, dass Max Horkheimer – als Institutsdirektor und Herausgeber der
Zeitschrift – die politische Terminologie entschärft haben wollte und die
Streichung des gesamten ersten Abschnitts und andere Eingriffe der
Bearbeitung von Hans Klaus Brill billigte. Bemerkenswert ist, dass es um
die Veröffentlichung des Textes zwar eine große Kontroverse gibt, die
Resonanz allerdings weitgehend ausbleibt, bis dann schließlich der
Essay im Kontext der politischen Bewegungen der Achtundsechziger als
einer der wichtigsten Beiträge zur marxistischen Kulturtheorie entdeckt
wird: ›Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit‹ erscheint erst 1963 zum ersten Mal vollständig in
deutscher Sprache.
Brecht hält den Kunstwerkaufsatz für »ziemlich grauenhaft«, »alles
Mystik«, obwohl der Text in sachlicher Nähe zu Brechts ›Rundfunk als
Kommunikationsapparat‹ von 1932 steht. Adorno moniert hingegen
Seite 22einen »sehr sublimierten Rest gewisser Brechtscher Motive«, fordert
einerseits von Benjamin ein »Mehr« an Dialektik und kritisiert
andererseits die »Überspannung« eben der dialektischen Methode.
Gleichwohl betonen Adorno und Benjamin im Briefwechsel immer
wieder die Übereinstimmung in den Grundpositionen; Adorno möchte
seinen ebenfalls 1936 in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹
publizierten Aufsatz ›Über Jazz‹ als Beitrag zum selben Komplex
verstanden wissen.
Benjamins Wunsch nach einhundert Sonderdrucken, die auch als
Werbung für die ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ hätten dienen sollen,
wird von Friedrich Pollock abgewiesen: Auch in der stark veränderten
veröffentlichten Fassung sei Benjamins »Studie« noch »viel zu kühn …,
viel zu problematisch, als dass wir sie in derart programmatischer Weise
für unsere Zeitschrift verbreiten dürften.«
Allerdings gibt es vom Museum of Modern Art38 in New York die
Anfrage, ob das Institut das deutsche Original von Benjamins Essay zur
Verfügung stellen könnte – was Horkheimer aufgrund der großen
inhaltlichen Differenzen zwischen der radikalen Urfassung und der
entschärften Druckversion ablehnt (er behauptet, dass der deutsche
Text nicht mehr vorliegt). – Es lässt sich nur darüber spekulieren,
inwiefern hierdurch eine stärkere Einbindung der kritischen Theorie in
die US-amerikanischen Debatten verhindert wurde.
Skepsis bestand in New York vor allem gegenüber Benjamins politischer
Absicht, Begriffe in die Kunsttheorie einzuführen, die »für die Zwecke
des Faschismus vollkommen unbrauchbar sind. Dagegen sind sie zur
Formulierung revolutionärer Forderungen in der Kunstpolitik
38 Am 7. November 1929 öffnete das Museum erstmals für die Allgemeinheit.
Bis dahin gab es in den USA nur kunstgeschichtliche Museen. Die Idee, auch
moderne Kunst, besonders die des 20. Jahrhunderts, in ein Museum zu stellen,
kannte der erste Kurator und Präsident des MoMA, Alfred Barr aus dem
Kronprinzenpalais in Berlin, dem Vorläufer der Neuen Nationalgalerie, wo er zuvor
tätig gewesen war.
Seite 23brauchbar.«39 – Das korrespondiert mit dem Schluss des
Kunstwerkaufsatzes: »Der Faschismus versucht, die neu entstandenen
prole tar i s ier ten Massen zu organis ieren, ohne d ie
Eigentumsverhältnisse, auf deren Beseitigung sie hindrängen,
anzutasten. Er sieht sein Heil darin, die Massen zu ihrem Ausdruck
(beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen zu lassen. … Der Faschismus
läuft folgerecht auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus. … So
steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt.
Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst.«40
Auch wenn Benjamin mit solchen Sätzen bei Horkheimer ein Unbehagen
provozierte, antizipiert er mit ihnen, was ein Jahr später – also vor
siebzig Jahren – in den Aufsätzen von Horkheimer und Marcuse als
kritische Theorie der Gesellschaft gefasst wird.
Gesendet am 4. Juli 2007, 14–15.00 Uhr, FSK: Freibaduniversität;
Sprechzeit: 54:40 Minuten.
39 Walter Benjamin, ›Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‹,
Zweite Fassung, in: GS Bd. VII, Frankfurt am Main 1991, S. 350.
40 Benjamin, ›Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‹, Zweite
Fassung, GS Bd. VII, S. 382, S. 384.