Sinti und Roma in Deutschland

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Aktiv werden In Deutschland und Europa nehmen diskriminierende und rassistische Einstellungen gegenüber sozial benachteiligten Gruppen zu. Auch Sinti und Roma geraten mehr und mehr in den Fokus rassistischer Ausgrenzung. Wir rufen dazu auf, den wachsenden Antiziganismus in Deutschland und Europa sowie die prekäre Lebenssituation von abgeschobenen Sinti und Roma zu thematisieren und ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Hierzu bieten sich insbesondere die Internationalen Wochen gegen Rassismus an. Diese gehen zurück auf den 21. März, den Internationalen Tag gegen Rassismus der Vereinten Nationen. Die diesjährigen Aktionswochen finden vom 14. - 27. März 2011 statt. Was Sie tun können: Informieren Sie sich, wie die aktuelle Lebens- und Ab- schiebesituation von Sinti und Roma in Deutschland und anderen europäischen Ländern aussieht. Wenn in Ihrem persönlichen Umfeld diffamierende oder stigmatisierende Äußerungen über Sinti und Roma gefällt werden oder die Bezeichnung »Zigeuner« für die Minder- heit verwendet wird, widersprechen Sie! Weisen Sie durch Leserbriefe die Herausgeber und Öffent- lichkeit darauf hin, wenn in Publikationen weiterhin der diskriminierende Fremdbegriff »Zigeuner« verwendet wird. Als Lehrer/in können Sie eine Unterrichtsreihe zum Thema Sinti und Roma und/oder Antiziganismus durchführen. Achten Sie bei der Erziehung Ihrer Kinder auf einen vor- urteilsfreien Umgang mit anderen Menschen und klären Sie sie über die Unrechtmäßigkeiten von stigmatisieren- den Zuweisungen auf. Protestieren Sie gegen die Abschiebepraxis der Bundes- regierung und die prekäre Situation in Aufnahmeländern wie dem Kosovo. In Gemeinden und städtischen Einrichtungen können Veranstaltungen mit Politiker/innen sowie Betroffenen durchgeführt und die Thematik diskutiert werden. Nehmen Sie an einer Führung durch das Dokumentations- und Kulturzentrum der Deutschen Sinti und Roma in Heidelberg teil und erfahren Sie mehr über die Geschichte und Kultur der Sinti und Roma. Abschiebungen in den Kosovo Im Verlauf der kriegerischen Konflikte auf dem Balkan in der Zeit zwischen 1991 und 1995 wurden bosnische Roma zu Opfern von Folterungen, Massenvergewaltigungen, Plünderungen und Mord, ohne dass dies von der europäi- schen Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Noch weit- aus gravierender waren Roma – einschließlich der alba- nischstämmigen Roma – von den gewaltsamen Auseinan- dersetzungen, Massenvertreibungen und Massenmorden während des Kosovo-Krieges betroffen. Nach Abzug der internationalen UN-Schutztruppen wurde zwischen März und Juni 1999 die Mehrheit der im Kosovo seit Jahrhun- derten ansässigen Roma – 130.000 von ehemals 150.000 Menschen – vertrieben, ein großer Teil ihrer Häuser wur- de im Verlauf der gewaltsamen Terrorangriffe zerstört. Angehörige der Minderheit leben bis heute in ständiger Gefahr rassistischer Übergriffe durch militante albanische Nationalisten. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma protestiert gegenüber der deutschen Bundesregierung und den zu- ständigen Behörden seit Jahren gegen die zwangsweise Abschiebung von Roma-Flüchtlingen, solange die Sicher- heit der Menschen im Kosovo nicht gewährleistet und eine echte Perspektive für die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für Sinti und Roma nicht gegeben ist. Die Bundesrepublik Deutschland sollte sich vor dem Hintergrund der Geschichte über die besondere Verantwortung gegenüber Sinti und Roma bewusst sein und sich hierzu bekennen, so wie sie es gegenüber der jüdischen Minderheit seit Jahrzehnten tut. Weitere Informationen und Materialien zu den Inter- nationalen Wochen gegen Rassismus finden Sie unter www.internationale-wochen-gegen-rassismus.de. Herausgeber Zentralrat Deutscher Sinti und Roma Bremeneckgasse 2, 69117 Heidelberg Telefon: (0049) -(0)6221- 98 11 01 Telefax: (0049) -(0)6221- 98 11 90 E-Mail: [email protected] Internet: http://zentralrat.sintiundroma.de Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma Bremeneckgasse 2, 69117 Heidelberg Telefon: (0049) -(0)6221- 98 11 02 Telefax: (0049) -(0)6221- 98 11 77 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.sintiundroma.de Interkultureller Rat in Deutschland e.V. Goebelstr. 21, 64293 Darmstadt Telefon: (0049)-(0)6151-33 99 71 Telefax: (0049)-(0)6151-391 97 40 E-Mail: [email protected] Internet: www.interkultureller-rat.de www.internationale-wochen-gegen-rassismus.de Förderverein PRO ASYL e.V. Postfach 16 06 24, 60069 Frankfurt/M. Telefon: (0049) -(0)69 -23 06 88 Telefax: (0049) -(0)69-23 06 50 E-Mail: [email protected] Internet: www.proasyl.de Veröffentlicht im Februar 2011 Titelmotiv: © Stefanie Eifler, wunschbox-designs Was Sie schon immer über »Zigeuner« wissen wollten … Roma-Siedlung im Kosovo. Die Aufnahme ist entstanden beim Besuch des Zentral- rats Deutscher Sinti und Roma im April 2009.

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Page 1: Sinti und Roma in Deutschland

Aktiv werden

In Deutschland und Europa nehmen diskriminierende undrassistische Einstellungen gegenüber sozial benachteiligtenGruppen zu. Auch Sinti und Roma geraten mehr und mehr in den Fokus rassistischer Ausgrenzung.

Wir rufen dazu auf, den wachsenden Antiziganismus inDeutschland und Europa sowie die prekäre Lebenssituationvon abgeschobenen Sinti und Roma zu thematisieren und insLicht der Öffentlichkeit zu rücken.

Hierzu bieten sich insbesondere die Internationalen Wochen gegen Rassismus an. Diese gehen zurück auf den21. März, den Internationalen Tag gegen Rassismus derVereinten Nationen. Die diesjährigen Aktionswochen findenvom 14.-27. März 2011 statt.

Was Sie tun können:■ Informieren Sie sich, wie die aktuelle Lebens- und Ab-

schiebesituation von Sinti und Roma in Deutschland undanderen europäischen Ländern aussieht.

■ Wenn in Ihrem persönlichen Umfeld diffamierende oderstigmatisierende Äußerungen über Sinti und Roma gefälltwerden oder die Bezeichnung »Zigeuner« für die Minder-heit verwendet wird, widersprechen Sie!

■ Weisen Sie durch Leserbriefe die Herausgeber und Öffent-lichkeit darauf hin, wenn in Publikationen weiterhin derdiskriminierende Fremdbegriff »Zigeuner« verwendet wird.

■ Als Lehrer/in können Sie eine Unterrichtsreihe zum ThemaSinti und Roma und/oder Antiziganismus durchführen.

■ Achten Sie bei der Erziehung Ihrer Kinder auf einen vor-urteilsfreien Umgang mit anderen Menschen und klärenSie sie über die Unrechtmäßigkeiten von stigmatisieren-den Zuweisungen auf.

■ Protestieren Sie gegen die Abschiebepraxis der Bundes-regierung und die prekäre Situation in Aufnahmeländernwie dem Kosovo.

■ In Gemeinden und städtischen Einrichtungen könnenVeranstaltungen mit Politiker/innen sowie Betroffenendurchgeführt und die Thematik diskutiert werden.

■ Nehmen Sie an einer Führung durch das Dokumentations-und Kulturzentrum der Deutschen Sinti und Roma inHeidelberg teil und erfahren Sie mehr über die Geschichteund Kultur der Sinti und Roma.

Abschiebungen in den Kosovo

Im Verlauf der kriegerischen Konflikte auf dem Balkan in der Zeit zwischen 1991 und 1995 wurden bosnische Romazu Opfern von Folterungen, Massenvergewaltigungen,Plünderungen und Mord, ohne dass dies von der europäi-schen Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Noch weit-aus gravierender waren Roma – einschließlich der alba-nischstämmigen Roma – von den gewaltsamen Auseinan-dersetzungen, Massenvertreibungen und Massenmordenwährend des Kosovo-Krieges betroffen. Nach Abzug derinternationalen UN-Schutztruppen wurde zwischen Märzund Juni 1999 die Mehrheit der im Kosovo seit Jahrhun-derten ansässigen Roma – 130.000 von ehemals 150.000Menschen – vertrieben, ein großer Teil ihrer Häuser wur-de im Verlauf der gewaltsamen Terrorangriffe zerstört.Angehörige der Minderheit leben bis heute in ständigerGefahr rassistischer Übergriffe durch militante albanischeNationalisten.

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma protestiertgegenüber der deutschen Bundesregierung und den zu-ständigen Behörden seit Jahren gegen die zwangsweiseAbschiebung von Roma-Flüchtlingen, solange die Sicher-heit der Menschen im Kosovo nicht gewährleistet undeine echte Perspektive für die gleichberechtigte Teilhabeam gesellschaftlichen Leben für Sinti und Roma nichtgegeben ist. Die Bundesrepublik Deutschland sollte sichvor dem Hintergrund der Geschichte über die besondereVerantwortung gegenüber Sinti und Roma bewusst seinund sich hierzu bekennen, so wie sie es gegenüber der jüdischen Minderheit seit Jahrzehnten tut.

Weitere Informationen und Materialien zu den Inter-nationalen Wochen gegen Rassismus finden Sie unterwww.internationale-wochen-gegen-rassismus.de.

Herausgeber

Zentralrat Deutscher Sinti und RomaBremeneckgasse 2, 69117 HeidelbergTelefon: (0049) -(0)6221-98 11 01Telefax: (0049) -(0)6221-98 11 90E-Mail: [email protected]: http://zentralrat.sintiundroma.de

Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und RomaBremeneckgasse 2, 69117 HeidelbergTelefon: (0049) -(0)6221-98 11 02Telefax: (0049) -(0)6221-98 11 77E-Mail: [email protected]: http://www.sintiundroma.de

Interkultureller Rat in Deutschland e.V.Goebelstr. 21, 64293 DarmstadtTelefon: (0049) -(0)6151-33 99 71Telefax: (0049) -(0)6151-391 97 40E-Mail: [email protected]: www.interkultureller-rat.dewww.internationale-wochen-gegen-rassismus.de

Förderverein PRO ASYL e.V.Postfach 16 06 24, 60069 Frankfurt/M.Telefon: (0049) -(0)69-23 06 88Telefax: (0049) -(0)69-23 06 50E-Mail: [email protected]: www.proasyl.de

Veröffentlicht im Februar 2011

Titelmotiv: © Stefanie Eifler, wunschbox-designs

Was Sie schon immer über »Zigeuner«

wissen wollten …

Roma-Siedlung im Kosovo.Die Aufnahme istentstanden beim Besuch des Zentral-rats Deutscher Sintiund Roma im April2009.

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Sprache und Kultur

Sinti und Roma teilen eine gemeinsame ethnische Identität.Kulturell gesehen gibt es jedoch nicht nur Gemeinsamkei-ten, sondern auch Unterschiede zwischen den europäischen Sinti und Roma. So sprechen die nationalen Roma-Gemein-schaften sehr unterschiedliche Romanes-Sprachen. Zu denwichtigsten Elementen der kulturellen Identität der deutschenSinti und Roma zählen heute unter anderem:

■ die Sprache Romanes: das deutsche Romanes ist im Rahmender Europäischen Charta für Minderheitensprachen aner-kannt. Sie wird seit über 600 Jahren in Deutschland gespro-chen und ist zugleich Bestandteil der deutschen Kultur,

■ die große Bedeutung familiärer und verwandtschaftlicherBeziehungen: Sie zeigt sich in der besonderen Fürsorge für die Kinder, der Achtung und dem Umsorgen der altenMenschen,

■ die Existenz eines eigenen Kunstverständnisses: Sie zeigtsich in der langen Tradition verschiedener Musikrichtungen(Sinti-Jazz, Flamenco, Klassik, ungarische Romamusik),

des Instrumentenbaussowie eines spezifi-schen Kunsthand-werks, der BildendenKunst, der Literatur,Lyrik und Poesie.

Was ist der Unterschied zwischen Sinti und Roma?

Sinti und Roma leben seit übersechshundert Jahren in Europa.In ihren Heimatländern bilden siealteingesessene und historischgewachsene Minderheiten. Dabeibezeichnet »Sinti« die in West-und Mitteleuropa beheimatetenAngehörigen der Minderheit,»Roma« diejenigen ost- undsüdosteuropäischer Herkunft.

Sinti und Roma in Deutschland

Sinti und Roma bilden keine Nation, sie stellen vielmehr in ihren jeweiligen Heimatländern nationale Minderheiten dar.Die geschätzten 70.000 in der Bundesrepublik beheimateten Sinti und Roma sind deutsche Staatsbürger und seit 1995 politisch als nationale deutsche Minderheit anerkannt, eben-so wie die Sorben, Dänen und Friesen. Neben den deutschenSinti und Roma leben in unserem Land mittlerweile zahl-reiche Roma aus Ost- und Südosteuropa, die als Bürgerkriegs-flüchtlinge oder Asylsuchende nach Deutschland gekommensind.

■ die Erfahrung einer jahrzehntelangen Verfolgung,insbesondere des nationalsozialistischen Genozids an einer halben Million Sinti und Roma. Das Leiden unterdem Nationalsozialismus und die Erinnerung an die Völkermordverbrechen der Nazis haben Sinti und Romanachhaltig geprägt und im historischen Gedächtnis der Minderheit einen unauslöschlichen Eindruck hinter-lassen.

Sollte man heute noch »Zigeuner« sagen?

Der Begriff »Zigeuner« ist eine ins Mittelalter zurückrei-chende und von Vorurteilen überlagerte Fremdbezeichnungder Mehrheitsbevölkerung; sie wird von den meisten Ange-hörigen der Minderheit als diskriminierend abgelehnt. In der 2. Auflage des Dudens sinn- und sachverwandter Wörteraus dem Jahr 1986 wird zum Beispiel unter dem Stichwort »Zigeuner« auf die Begriffe »Abschaum« und »Vagabund«verwiesen. Die Liste derartiger Beispiele ließe sich beliebigfortsetzen. Sie zeigen eines in aller Deutlichkeit: Die Be-zeichnung »Zigeuner« ist untrennbar verbunden mit rassis-tischen Zuschreibungen, die sich, über Jahrhunderte repro-duziert, zu einem geschlossenen und aggressiven Feindbild verdichtet haben, das tief im kollektiven Bewusstsein der jeweiligen Mehrheitsgesellschaften verwurzelt ist.

Der authentische Eigenname lautet Sinti oder Roma und ist heute die in der Bundesrepublik sowie in den inter-nationalen Organisationen (OSZE, Europarat, EuropäischeUnion, Vereinte Nationen) offiziell geführte Bezeichnung.

Aktuelle Situation

Sinti und Roma sind nach dem Wegfall des Eisernen Vor-hangs mit schätzungsweise zehn Millionen Menschen die größte Minderheit in Europa, die meisten sind in den Staaten Mittel- und Osteuropas beheimatet. Sie sindnach einer 2005 durch die europäische Beobachtungs-stelle für Rassismus erstellten Studie die durch Rassis-mus am stärksten bedrohte Minderheit in Europa. VieleAngehörige der Minderheit leben als Folge gesellschaft-licher Benachteiligung und Ausgrenzung bis heute untermenschenunwürdigen Bedingungen.

Nach dem Holocaust werden Sinti und Roma in vielenLändern nicht nur diskriminiert, sondern auch zu Opfernvon offener Gewalt bis hin zu Pogromen. Die jahrzehnte-lange gesellschaftliche Verdrängung des nationalsozialis-tischen Völkermords an den Sinti und Roma hat mit da-zu beigetragen, dass rassistische Zerrbilder immer noch nicht überwunden sind. Nicht zufällig sind Angehörigeder Minderheit bevorzugte Zielscheiben von Übergriffenoder Anschlägen durch Rechtsextremisten, die auch vorbrutalen Morden nicht haltmachen. Rassistische Gewaltgegen die Minderheit geht sogar unmittelbar von staatli-chen Institutionen wie der Polizei aus. Nur selten müssendie Täter mit konsequenter Strafverfolgung rechnen.

Erwähnung von »Züginern« in der Kosmographie von SebastianMünster (Erstausgabe 1550)

Konzert von Roby Lakatos

Führung im Dokumentations- undKulturzentrum DeutscherSinti und Roma

Romani Rose beim Europäischen Roma-Gipfel 2008 in Brüssel

Schal von Fußballfans mit antiziganistischer Aufschrift