Sistermann Umgang Mit Dem Wissen Um Den Tod Religion Heute 65

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Rolf Sistermann: Umgang mit dem Wissen um den Tod, Unterrichtsreihe- Sek. II, in: Religion heute, 65/2006 I. Ein Videoclip als „Memento mori!“? Robbie Williams’ Musikvideo „Come undone“ zeigt am Anfang Bilder, die zwar heftig, aber nicht ungewöhnlich sind. Der Morgen nach einer wüsten Party in einem Haus der Reichen und Schönen hoch über Los Angeles. Leere Flaschen überall, ein Sessel schwimmt im Pool, halb oder ganz nackte verschlungen schlafende Leiber auf den Sofas oder in den Sesseln. Der Sänger streift verkatert durch das Haus. Szenen der wüsten Orgie, die in der Nacht gelaufen ist, werden wie Erinnerungsfetzen eingeblendet. Dann sieht man plötzlich ein hässliches großes Insekt auf dem makellosen Gesicht einer jungen Frau. Der Betrachter ist sich erst nicht sicher, ob er sich getäuscht hat. Aber dann tauchen zwischen den nackten, schönen Frauenleibern und aus den offenen Mündern plötzlich immer mehr eklige Tiere auf, Spinnen, Würmer und Schlangen. Zwischendurch auch kurz eingeblendet ein Totenschädel. Erleben wir einen Deliriumtraum oder ist das etwa eine Anspielung auf die spätmittelalterlichen Darstellungen der Frau Welt, die von vorne ein verführerisches Angesicht, von hinten einen von Maden zerfressenen Rücken zeigt? Man kann sich an barocke „Memento Mori!“ Gedichte erinnert fühlen. Der Text spricht das Thema Tod an: „I’ not scared of dying, I just don’t want to.“ Den Refrain „I come undone“ kann man mit „Ich geh kaputt“ übersetzen. Noch weniger würde man das Video von Marius Müller- Westernhagen Nimm mich mit“ in einem Musikvideosender erwarten. Am Anfang wischt jemand eine Staub- oder Erdschicht von einer Schiefertafel. Dann wird ein neugeborenes Baby auf die Tafel gelegt, das sich schnell verändert und älter wird. Links oben auf der Tafel kann man die Zahl der Lebensjahre der Person ablesen, die unbeweglich mit nacktem Oberkörper auf der Tafel liegt. Bei der Zahl zwanzig erkennt man schon deutlich die Züge des Sängers. Die Veränderung der Gestalt führt jedoch nicht etwa bis zu seinem jetzigen Lebensalter, sondern zeigt ihn auch als Greis, bis er schließlich mit 93 Jahren stirbt und ihm jemand die Augenlider zudrückt. Aber die Veränderung geht weiter. Wir sehen, wie die Gestalt verwest, wie das Skelett auseinander fällt und schließlich in der Staubschicht verschwindet, die wir schon am Anfang gesehen haben. Drittes Beispiel dafür, dass Musikmacher längst begriffen haben, dass der Umgang mit dem Wissen um den Tod ein Thema für Jugendliche ist: „Hey boys, hey girls“ von den Chemical Brothers. Der Text gibt nicht mehr her als die nichtssagende Eingangszeile, aber die Bildgeschichte ist perfekt zusammengeschnitten. Ein junges Mädchen entdeckt bei einem Besuch im Naturkundemuseum und beim Röntgen, nachdem sie sich einen Arm gebrochen hat, die Ähnlichkeit ihres 1

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Rolf Sistermann: Umgang mit dem Wissen um den Tod, Unterrichtsreihe- Sek. II, in: Religion heute, 65/2006

I.Ein Videoclip als „Memento mori!“? Robbie Williams’ Musikvideo „Come undone“ zeigt am Anfang Bilder, die zwar heftig, aber nicht ungewöhnlich sind. Der Morgen nach einer wüsten Party in einem Haus der Reichen und Schönen hoch über Los Angeles. Leere Flaschen überall, ein Sessel schwimmt im Pool, halb oder ganz nackte verschlungen schlafende Leiber auf den Sofas oder in den Sesseln. Der Sänger streift verkatert durch das Haus. Szenen der wüsten Orgie, die in der Nacht gelaufen ist, werden wie Erinnerungsfetzen eingeblendet. Dann sieht man plötzlich ein hässliches großes Insekt auf dem makellosen Gesicht einer jungen Frau. Der Betrachter ist sich erst nicht sicher, ob er sich getäuscht hat. Aber dann tauchen zwischen den nackten, schönen Frauenleibern und aus den offenen Mündern plötzlich immer mehr eklige Tiere auf, Spinnen, Würmer und Schlangen. Zwischendurch auch kurz eingeblendet ein Totenschädel. Erleben wir einen Deliriumtraum oder ist das etwa eine Anspielung auf die spätmittelalterlichen Darstellungen der Frau Welt, die von vorne ein verführerisches Angesicht, von hinten einen von Maden zerfressenen Rücken zeigt? Man kann sich an barocke „Memento Mori!“ Gedichte erinnert fühlen. Der Text spricht das Thema Tod an: „I’ not scared of dying, I just don’t want to.“ Den Refrain „I come undone“ kann man mit „Ich geh kaputt“ übersetzen.Noch weniger würde man das Video von Marius Müller- Westernhagen „Nimm mich mit“ in einem Musikvideosender erwarten. Am Anfang wischt jemand eine Staub- oder Erdschicht von einer Schiefertafel. Dann wird ein neugeborenes Baby auf die Tafel gelegt, das sich schnell verändert und älter wird. Links oben auf der Tafel kann man die Zahl der Lebensjahre der Person ablesen, die unbeweglich mit nacktem Oberkörper auf der Tafel liegt. Bei der Zahl zwanzig erkennt man schon deutlich die Züge des Sängers. Die Veränderung der Gestalt führt jedoch nicht etwa bis zu seinem jetzigen Lebensalter, sondern zeigt ihn auch als Greis, bis er schließlich mit 93 Jahren stirbt und ihm jemand die Augenlider zudrückt. Aber die Veränderung geht weiter. Wir sehen, wie die Gestalt verwest, wie das Skelett auseinander fällt und schließlich in der Staubschicht verschwindet, die wir schon am Anfang gesehen haben. Drittes Beispiel dafür, dass Musikmacher längst begriffen haben, dass der Umgang mit dem Wissen um den Tod ein Thema für Jugendliche ist: „Hey boys, hey girls“ von den Chemical Brothers. Der Text gibt nicht mehr her als die nichtssagende Eingangszeile, aber die Bildgeschichte ist perfekt zusammengeschnitten. Ein junges Mädchen entdeckt bei einem Besuch im Naturkundemuseum und beim Röntgen, nachdem sie sich einen Arm gebrochen hat, die Ähnlichkeit ihres Skeletts mit all den anderen toten Lebewesen. Später bei dem Besuch in der Disko, bei der Anmache an der Theke, auf der Damentoilette oder bei Suche nach einem Taxi sieht sie immer wieder, wie die Menschen sich in Skelette verwandeln. Anscheinend kommt sie von dem Gedanken nicht los, dass in allen Lebewesen der Tod steckt. Ist sie davon besessen oder kann sie gut damit leben? Als sie sich am Schluss in ein Taxi fallen lässt und ein Skelett sich umdreht und fragt „Where are you going, baby?“ wirkt sie eigentümlich gelassen.

II.In dem monumentalen Werk über die Geschichte des Todes von Ariès heißt es: »Der Tod hat aufgehört, als natürliches und notwendiges Phänomen zu gelten. Er ist ein Fehlschlag, ein business lost... Wenn der Tod eintritt, wird er als Zwischenfall aufgefasst, als Zeichen ärztlicher Unfähigkeit oder Ungeschicklichkeit...« (Ph. Ariès, 1982, 751) Ariès hat wohl recht, wenn er behauptet, dass seit der Aufklärung der Tod aus dem Alltag verdrängt wird. An die Stelle der Auseinandersetzung mit dem Tod im Alltag sind jedoch Inszenierungen des Todes in der Literatur, im Fernsehen und im Kino getreten. Der Eindruck von der Allgegenwart des Todes drängt sich vor allem in den Nachrichtensendungen auf. Unfälle, Katastrophen, Terroranschläge und Krieg sind beherrschende Themen. Je mehr Tote, desto größer ist der Stellenwert. „Not und Leid, Sterben und Tod sind wie Mosaiksteine für ein großes Unterhaltungstableau gebührenzahlender Bürger, die für ihr „Geld auch was haben“ wollen – und dies auch bekommen.“ (Hartmut Kriege, Deutschlandfunk Köln, Impulse 1994, Nr 32) Die Verdrängung des Todes aus dem Alltagsleben hat die Frage Hamlets nach dem "unentdeckten Land, von des Bezirk kein Wanderer wiederkehrt," nicht verstummen lassen. Wir können vielleicht den Tod aus dem Alltag verdrängen, aber nicht das Wissen um unsere Sterblichkeit.

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Die Frage nach dem, was danach kommt, lässt uns nicht los und stürzt den Menschen in ein Dilemma, das Jugendlichen sehr bewusst ist, das aber zu ihrem Leidwesen nur selten angesprochen wird. Es gibt deshalb ein unmittelbares Interesse an diesem Thema im Unterricht. Der amerikanische Soziologe Ernest Becker schildert das Dilemma in drastischer Weise:" So ist der Mensch buchstäblich in zwei Hälften gespalten: Er weiß um seine eigene, herrliche Einmaligkeit, weil er sich überall von der Natur abhebt und sie überragt, und doch braucht er nur ein paar Meter unter die Erde zu gehen, um blind und stumm zu verwesen und für immer zu verschwinden. Es ist ein schreckliches Dilemma, mit dem er leben und sich abfinden muss. (....) Es bedeutet, erkannt zu haben, dass man Fraß für die Würmer ist. So sieht also das Entsetzliche aus: aus dem Nichts hervorgegangen zu sein, einen Namen, ein Bewusstsein, tiefe innere Gefühle, eine quälende Sehnsucht nach Leben und Selbstverwirklichung zu beherbergen - und trotzdem sterben zu müssen. " (E. Becker, 1976, 54 ) Das Dilemma der menschlichen Existenz entsteht also aus dem Gefühl der Einzigartigkeit einerseits und dem Wissen um die Gleichheit angesichts des Todes andererseits. Ein Ausweg aus diesem Dilemma, so die These von E. Becker, ist der Heroismus. "Heldenmut ist vor allem die Kehrseite der Todesangst." (33)

Der Giessener Philosoph Werner Becker hat die These aufgegriffen und zu einer umfassenden Kulturtheorie ausgestaltet, die neue Aspekte und Möglichkeiten für einen grundlegenden Kurs über theologische Anthropologie in der Sekundarstufe II bieten kann.Man kann den Gedankengang seines Werkes in fünf Schritten zusammenfassen und diese Zusammenfassung auch den Schülern an geeigneter Stelle in die Hand geben. Sie haben damit einen Leitfaden, der ihnen hilft, unterschiedliche Materialien einzuordnen und selbst zu finden:

Werner Becker: Das Dilemma der menschlichen Existenz: die Evolution der Individualität und das Wissen um den Tod, Stuttgart u.a. 2000Der Gedankengang des Buches in fünf Schritten: In dem ersten Schritt geht es um das Bewusstwerden der Sterblichkeit, das den Menschen grundlegend vom Tier unterscheidet. Der Mensch kann darauf mit Annahme oder Abwehr reagieren, kann aber nicht mehr dahinter zurück. Indem er sich bewusst geworden ist, dass der Tod nicht nur das andere Tier in seinem Rudel oder seiner Herde bedroht und schmerzhaft erfasst, sondern auch unausweichlich ihn selbst erreichen wird, ist er aus dem Paradies des zeitlosen Lebens herausgefallen und weiß, dass er sterblich ist. Er hat gewissermaßen von der Frucht der Erkenntnis des Guten und Bösen genossen.Mit der Anerkennung der Tatsache der eigenen Sterblichkeit verbindet sich in einem zweiten Schritt das existentielle Dilemma des Menschen.„Einerseits akzeptiert man, wie alle sterblich zu sein. Andererseits versteht man sich, in Auflehnung dagegen, als einzige mögliche Ausnahme. Die Intensität der Dramatisierung, mit der die Auflehnung gegen das Sterbenmüssen einhergeht, macht zugleich den zentralen Gehalt des Individualitätsbewusstseins aus. Die spezifische Art und Weise, wie Menschen auf das Wissen um den Tod reagiert haben, ist für das menschliche Individualitätsbewusstsein charakteristisch.“ (27)Der dritte Schritt ist also die spezifische Ausprägung des menschlichen Individualitätsbewusstseins. Ist der Mensch sich einmal seiner Vergänglichkeit bewusst geworden, bleiben ihm nur zwei Möglichkeiten: Der eine ist der Weg der Teilhabe oder Partizipation. Dieser findet seine Bestimmung letztlich nur in der Teilhabe an einem überindividuellen unsterblichen Wesen. Der andere ist der Weg der Selbstbehauptung, des Heroismus und der Individuation.Der eine Weg beinhaltet einen weitgehenden Verzicht auf Ausgestaltung der eigenen Individualität durch "Exteriorisierung" (Entäußerung) alles Besonderen. Der andere beinhaltet eine Steigerung durch Theatralik "grandioser Selbstinszenierung“. Man könnte auch sagen, es ist der Weg der Ruhmsucht, des Größenwahns oder der Angeberei. Beide Versuche, mit der Todesangst fertig zu werden, sind kulturschaffend und kulturprägend.Man kann also in einem vierten Schritt Teilhabe und Selbstbehauptung als grundlegende kulturelle Betätigungen unterscheiden. Religiös geprägte Kulturen gehören sicher zu den ersteren. Mythisierung kann als der Versuch betrachtet werden, das Dilemma von Besonderheit und Einzigartigkeit auf der einen Seite und von Vergänglichkeit und Bedeutungslosigkeit auf der anderen Seite dadurch zu lösen, dass die Vorstellung von Individualität auf ein unsterbliches Wesen übertragen wird. In der verehrenden Teilhabe an diesem Wesen kann der Mensch zwar nicht selbst der Sterblichkeit entgehen,

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aber an Unsterblichkeit und Unvergänglichkeit in einer wie auch immer gearteten Form teilhaben. Der Weg der Selbstbehauptung dagegen ist der des Heroismus. Er versucht mit der Todesangst dadurch fertig zu werden, dass das Selbst seine Größenphantasien auslebt und seine Individualität möglichst grandios inszeniert.In einem fünften Schritt des Gedankengangs bei Werner Becker geht es um die Kosten und den Erfolg der Versuche, mit der Todesangst fertig zu werden.Die Religionskritik hat immer nur die Versuche, an einem göttlichen Wesen und seiner Unsterblichkeit teilhaben zu wollen, für illusionär gehalten und die Anerkennung der Sterblichkeit als verheißungsvollen Weg zu einer befreienden Autonomie gepriesen. Werner Becker betont dagegen, dass auch der Weg der Selbstbehauptung zum Scheitern verurteilt ist, weil die Positionen gesellschaftlicher Anerkennung, die die Todesangst verblassen lassen, knapp sind. Immer nur ganz wenige können hoffen, sich einen Namen gemacht zu haben, der noch einige Zeit im Gedächtnis der Menschheit bleiben wird, und selbst die wenigen werden einmal vergessen sein. Der Kampf um die knappen Positionen gesellschaftlicher Anerkennung ist der von Hobbes beschriebene Kampf aller gegen alle. Besonders zerstörerisch wird er, wenn aus der Erkenntnis der Knappheit die Verdiesseitigung beibehalten wird und eine Dilemmaentlastung in einem heroischen Kollektivsubjekt, z.B. der Nation, gesucht wird.

III. Die These Bonhoeffers, dass wir in einem religionslosen Zeitalter leben, muss im Fernsehzeitalter unter einem erweiterten Religionsbegriff bezweifelt werden. Werner Becker bietet eine Erklärung und eine wichtige Differenzierung für das Phänomen, dass auch die populäre Kultur von heute noch von mythischen Motiven geprägt ist. Bisher schien die Kulturtheorie René Girards (1982/1988, 38ff; Sistermann 1990) die beste Erklärung dafür zu liefern. Danach ist der Mensch von einer unbestimmten Begierde erfüllt und kann diese nur zeitweise stillen, indem er Vorbilder nachahmt und nach dem strebt, was dieses Vorbild besitzt ("Was hat er, was ich nicht habe?"). Dadurch wird das Vorbild zum Rivalen. Die latente Aggressivität in einer durch diese mimetische Rivalität geprägten Gesellschaft wird dann in regelmäßigen Abständen auf einen Sündenbock gelenkt, der ausgegrenzt, gemobbt oder gar umgebracht wird. Jede Gesellschaft braucht Opfermythen, mit denen sie ihre Verbrechen als Erfüllung eines göttlichen Willens verklären kann und durch die sie sich wieder zur Gemeinschaft zusammenschließt. Das erklärt die ungebrochene Kraft des Mythos auch in der modernen populären Kultur. Aber oft kann man beim besten Willen in den popkulturellen Inszenierungen keine mythischen Elemente entdecken. Oft will offensichtlich nur jemand den Helden spielen. Unsere ganze populäre Kultur ist wie jede Kultur wohl mindestens genauso sehr von der Suche nach immer neuen Helden geprägt wie von dem Kult alter und neuer Götter. Eine Theorie der Kultur muss nicht nur das Weiterleben des Mythos erklären, sondern auch den modernen Heldenkult, den Heroismus. Der Freudschüler Otto Rank hat den erweiterten Begriff des Heroismus wesentlich geprägt. In seiner kleinen Monographie „Der Künstler“ (Wien u.a. 19182) sieht er in diesem in erster Linie einen hysterischen Selbstdarsteller, der aus Angst vor dem Versinken in die Bedeutungslosigkeit mit allen Mitteln ohne Rücksicht auf alle menschlichen Beziehungen versucht, sich einen Namen zu machen. Heute wird man Spitzensportler und Popstars in ähnlicher Weise sehen müssen. Die populäre Kultur ist durch die Wiedergeburt der Helden mindestens ebenso geprägt wie durch die Wiedergeburt der Götter. Die Göttergeschichten des Mythos und die Heldengeschichten sind oft aus dem gleichen Muster erklärt worden, z.B. bei Joseph Campbell (1953), nach dessen Theorie heute viele Hollywooddrehbücher ausgerichtet sind. Titel wie „Götter und Helden der Griechen“ suggerieren, dass Mythisierung und Heroismus etwas Ähnliches bezeichnen. Nach Werner Becker müssen sie aber als zwei sehr unterschiedliche Versuche verstanden werden, mit dem Bewusstsein des Todes zurecht zu kommen. Der eine beruht auf der Teilhabe, der andere auf der Selbstbehauptung. "Mut zum Sein" hat Paul Tillich 1952 eine wichtige religionsphilosophische Schrift genannt. Er unterscheidet zwei Formen, den Mut zur Partizipation und den Mut zur Individuation, die sehr genau der Beckerschen Unterscheidung in Teilhabe und Selbstbehauptung entsprechen. In dem ersten Band seiner kurz zuvor erschienenen Systematischen Theologie sieht er in der Typologie von Individuation und Partizipation neben Dynamik und Form und neben Freiheit und Schicksal eine der drei grundlegenden ontologischen polaren Elemente. Die gleiche Polarität taucht auch bei Fritz Riemann in den ‚Grundformen der Angst’ auf. Er vergleicht die bei jedem Menschen lebensnotwendige

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Individuation mit dem Kreisen der Erde um die eigene Achse und die ebenso notwendige „Selbsthingabe“ mit dem Kreisen der Erde um die Sonne und der Einordnung in ein größeres System. Nach ihm leben wir immer in der Angst, der „paradoxen Zumutung“ (Riemann, 1981,14) nicht gerecht werden zu können, zugleich zur Selbstbewahrung und zur Selbsthingabe fähig sein zu müssen. Indem wir nur einen Pol verwirklichen, droht die Neurose. Riemann kann deutlich machen, dass es in jedem Leben darum geht, die richtige Mischung aus Selbstbehauptung und Teilhabe zu finden. Die Erklärung des menschlichen Dilemmas nach der Stellung der Erde im Sonnensystem ist allerdings weit hergeholt. Hier ist die Erklärung Werner Beckers aus dem Widerspruch zwischen der Gleichheit aller sterblichen Wesen und der Einzigartigkeit meines eigenen Todes einleuchtender. Schüler bekommen damit einen gut nachvollziehbaren Zugang zu den Phänomenen der Mythisierung und des Heroismus und können diese mit eigenen Erfahrungen verbinden. Sie können versuchen, sich selbst einzuordnen und zu überlegen, welche Mischung aus Selbstbehauptung und Teilhabe sie selbst anstreben wollen. Beide Haltungen gehören zum Leben. Mythisierung und Heroismus kommen durch hypertrophe Steigerung zu Stande und sind darin strukturell ähnlich, wenn auch inhaltlich verschieden. Grund ist wohl eine übersteigerte Todesangst, die zu einer leidenschaftlichen Besessenheit von dem Bild einer mythischen Welt einerseits oder dem Idol des Helden andererseits führt. Ziel einer Beschäftigung mit diesen Strukturen wäre ein gelassener, humorvoller Umgang mit unserem Wissen um den Tod und den Versuchen, damit zurecht zu kommen. Natürlich stellen die beiden Haltungen nicht mehr und nicht weniger als eine heuristische Typologie dar. Sie kommen nur selten in reiner Form vor. Das Opfer, z.B. das die westliche Welt verstörende der islamischen Selbstmordattentäter, kann als eine Verbindung von Heroismus und Mythisierung verstanden werden. Die sinnlose Selbstbehauptung des Verlierers im Wettkampf um die knappen Positionen gesellschaftlicher Anerkennung bekommt ihren angeblich höheren Wert, indem sie indem sie durch Externalisierung des Individualitätsbewusstseins als Hingabe an ein göttliches Subjekt verstanden wird. Auch der Buddhismus stellt eine Mischform dar. „Einerseits zielt die Lehre auf Aufhebung der menschlichen Individuation im Zustand des >Nicht-seins<, andererseits will ein >Buddha< Anerkennung seiner Individualität nach den >exzentrischen< Maßstäben der Besonderheit, indem er sich zu einer heroischen Menschengestalt zu entwickeln sucht, von Normalen gänzlich abgehoben.“ (92f) Andere Positionen kann Becker jedoch eindeutig zuordnen, so z.B. das Christentum und den Platonismus dem Teilhabemodell, die heroische Welt des heidnischen Germanentums dagegen und die „solipsistische Welt des Philosophen-Individuums >Friedrich Nietzsche<“, der sich als „größter Denker unter den lebenden“ versteht, dem Selbstbehauptungsmodell (197). Auch der kapitalistische Unternehmer wird nach Becker interessanter Weise nicht, wie bisher immer angenommen, von einem natürlichen Egoismus bewegt, sondern von der „individualistischen Motivation“, sich im Angesicht des Todes zu behaupten und sich einen Namen zu machen. (193) Kommunismus und Nationalismus stellen auch Mischformen dar, indem sie fordern, auf individuelle Selbstbehauptung zu verzichten und als Lohn für die Opferbereitschaft Teilhabe an einem Kollektivsubjekt versprechen. Da dieses aber im Gegensatz zum Teilhabemodell ein diesseitiges ist, dominiert der Heroismus der Selbstbehauptung (232; 262). Eindeutig ist dagegen die Zuordnung des Existentialismus. Nach Becker „handelt es sich um einen Heroismus der Eigentlichkeit, denn sowohl bei Kierkegaard und Nietzsche als auch bei Heidegger wird ein elitärer Stolz offenbar, Äußerstes an existenzieller Negativität aushalten zu wollen.“ (307) Tatsächlich versteht auch der von Becker nicht erwähnte Camus seine Philosophie als „modernen Heroismus“ (Camus, 1965, 100) und preist den rücksichtslosen Verführer Don Juan wegen seiner „sieghaften Frechheit“ (61), die an nichts glaubt. Becker kann sogar das Interesse an Computerspielen mit Horrorszenarien noch als Ausdruck der „superlativischen Ansprüche der Individualität“ und der Verarbeitung von „Enttäuschungserfahrungen mit dem Phänomen >individualistischer< Knappheit in der realen Gesellschaft“ deuten (313). Auf jeden Fall bietet die von Werner Becker entwickelte Typologie von Teilhabe und Selbstbehauptung eine hervorragende didaktische Möglichkeit, weit mehr kulturelle und popkulturelle Schöpfungen als bisher in religionsphilosophischer Perspektive zu betrachten. Indem man sie als Antworten auf die Frage nach der Bewältigung der Todesangst versteht, können sie mit den in der christlichen Tradition gegebenen Antworten in Korrelation gebracht werden.

IV.

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In der Unterrichtsreihe, die ich im Folgenden vorstelle, stehen die oben zusammengefassten Thesen von Werner Becker im Mittelpunkt. Sie verbinden auf wünschenswerte Weise die Frage nach Ursprung und Funktion von Religion mit der Frage nach dem Sinn und der Bestimmung menschlichen Lebens.

Zur Hinführung dient das anfangs geschilderte Video von Müller- Westerhagen, in dem die Schüler hautnah mit dem Phänomen des Alterns, Sterbens und Verwesens konfrontiert werden. Man kann den Ton zuerst weglassen, weil der Text sehr viel weniger aussagekräftig ist als die Bilder, und die Schüler selbst einen Text schreiben lassen. Die Resultate sind oft tiefgehender als der Originaltext. Wenn das Video nicht zur Verfügung steht, kann auch ein Auszug aus dem m.E. theologisch wichtigsten Buch zum Thema Tod von Eberhard Jüngel den Schülern einen realistischen Eindruck von der biologischen Seite des Sterbens vermitteln (M) . Die in dem Video der Chemical Brothers aufgeworfene Frage, ob es gut ist, sich bewusst zu machen, dass man sterblich ist, kann auch mit der Graphik von Charles D. Gibson „Frau im Spiegel“ (um 1908) erarbeitet werden.

Wie in dem Video von Robbie Williams geht es um ein ‚Memento mori!’ Motiv. Die Schüler erkennen: Eine Dame der feinen Gesellschaft macht sich vor ihrem Schminkspiegel zum Ausgehen zurecht. Sie sieht nicht, dass ein Beobachter im Hintergrund ihren Hinterkopf und ihr Spiegelbild als die Augen eines von dem Spiegel und den Schminkfläschchen gebildeten Totenkopfes auffassen kann. Sollte der eintretende Beobachter der Dame seine Beobachtung mitteilen? Indem die Schüler darüber diskutieren, entwickeln sie intuitiv Thesen über die Bedeutung des Todesbewusstseins und dessen Verhältnis zu Alltag und Vergnügen.

In einer kontrollierten Problemlösungsphase können sie nun den Text über den prähistorischen Ursprung des Todesbewusstseins von Werner Becker als eine Antwort eines Experten auf ihre Frage verstehen (M). Für ihn ist das Todesbewusstsein das entscheidende Charakteristikum, „ durch das sich die menschliche Art von denen der Tiere unterscheidet.“ Die Ergebnisse der modernen Primatenforschung, die man den Schülern z. B. mit Hilfe des Films „Der Mensch im Affen“ (Arte 1998) präsentierten kann, bestätigen, dass alle anderen Merkmale, die in der Geschichte der Anthropologie genannt wurden (Sprachfähigkeit, Werkzeuggebrauch, Gemeinschaftsfähigkeit), bei Menschenaffen auch nachgewiesen werden können. Zwar haben auch Tiere einen Überlebenswillen und versuchen instinktiv, die Todesgefahr zu vermeiden. Ihr Leben ist aber außerhalb der akuten Todesgefahr offensichtlich nicht von einem Todeswissen bestimmt. Sie leben im glücklichen

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Vergessen und gehen auf im Augenblick (Vgl. F. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, I). Sie leben tatsächlich im Paradies des zeitlosen Lebens. Wenn genügend Zeit ist, kann man an dieser Stelle in einem Transfer die Neuinterpretation von Genesis 3 durch Werner Becker anschließen. (M) Werner Becker lenkt die Aufmerksamkeit auf die Frage: „Warum sollten die ersten Menschen nicht von den Früchten des Baumes der Erkenntnis essen?“ Man sollte diese Frage nach der Lektüre von Genesis 3 mit den Schülern vorab besprechen, damit diese in einer intuitiven Phase eigene Lösungen entwickeln können. Man wird feststellen, dass die Schüler das Verbot Gottes für willkürlich und die Furcht Evas, bei einer Übertretung sterben zu müssen, für unbegründet halten und damit der Schlange Recht geben. Dabei lernen sie, dass es bei den Früchten nicht, wie immer wieder behauptet, um Äpfel geht, sondern dass diese Deutung nur durch eine falsche Übersetzung von Malum entstanden ist. Warum sollten auch Äpfel verboten sein? Einleuchtender ist dann schon die durch die Darstellung Tizians nahegelegte Interpretation, dass es um eine sexuelle Verfehlung geht und dass die verlockende Frucht, die Eva Adam anbietet, ihre eigene Brust ist. Die Darstellung kann unter http://www.uni-leipzig.de/ru/bilder/urgesch1/tizian01.jpg heruntergeladen werden. Tiefgehender und plausibler ist aber die Interpretation Werner Beckers. Nicht das biologische Faktum des Todes ist die direkte Folge der Sünde, sondern das Bewusstsein davon. Die Sünde ist also keine Schuld, sondern eine Bewusstseinsveränderung, die den Menschen aus dem Paradies des zeitlosen Lebens fallen lässt. Man kann nun fragen, ob Gottes Gebot so gesehen wirklich als ein willkürliches Verbot oder nicht eher als fürsorgliche Warnung verstanden werden muss.

Im Verlauf der Reihe kommt nun die eigentliche Problemstellung: Wie kann der Mensch mit dem Wissen um seine Sterblichkeit fertig werden?In einer intuitiven Phase suchen die Schüler eigene Lösungen, indem sie sich mit der Frage beschäftigen: Was würde ich tun, wenn ich nur noch einen Monat, eine Woche und schließlich nur noch einen Tag zu leben hätte? Anschließend erhalten sie den Textauszug von J.P. Sartre (M). In einer seiner frühesten literarischen Arbeiten hat Sartre die Situation, nur noch wenige Stunden zu haben, eindringlich beschrieben. Im spanischen Bürgerkrieg sind drei Kämpfer der internationalen Brigaden von den Faschisten gefangen genommen worden und warten auf ihre Erschießung am anderen Morgen, betreut von einem belgischen Priester. Die Schüler können überlegen: Was könnte ich als der Erzähler, als der Ire Tom, als der belgische Priester dem kleinen Juan sagen? Eine ähnliche Situation, in der drei Soldaten am nächsten Morgen wegen angeblicher Feigheit vor dem Feind erschossen werden sollen, schildert der Film von Stanley Kubrick „Wege zum Ruhm“ (1957). Das Dilemma der menschlichen Existenz und die daraus resultierende Frage nach dem Sinn des Lebens wird in dem leicht verständlichen Text von J. Ziegler auf den Begriff gebracht: „Unser ganzes Tun ist nichts als ein Versuch, den Tod zu bannen.“ (M)Wenn man die Schüler auffordert, sich Beispiele zu diesem Satz zu überlegen, kommt eine erstaunliche Liste zusammen: Ehrgeiz im Beruf; Fitness/Sport; Kontakte; Essen/Gesundheit; Vorsorgeuntersuchung; Hygiene; Fernsehen; Drogen/Alkohol; Musik hören; Tai-chi/Autogenens Training; Kirche/ Gebet; übermäßiges Schlafen; Feiern; Erinnerungen (Fotos, Tagebuch usw.); Arbeiten (Workaholics); Kinder machen/ sich fortpflanzen...Mit der Frage, wie sich diese vielfältigen Beispiele ordnen lassen, sind wir bei dem zentralen Teil der Reihe, der oben dargebotenen Zusammenfassung der Thesen Werner Beckers in fünf Schritten. (M) Mit der Methode des Gruppenpuzzles, einer Kombination von arbeitsteiliger und arbeitsgleicher Gruppenarbeit, können die Schüler den anspruchsvollen Text selbstständig erarbeiten. In einer ersten Runde beschäftigt sich je eine Stammgruppe von fünf Schülern intensiv mit nur einem der fünf Schritte. Anschließend werden Expertengruppen gebildet, in denen für jeden Schritt ein Experte sitzt, der den anderen die Ergebnisse seiner Stammgruppe vermitteln muss. Gemeinsam erstellen sie eine Visualisation des Textzusammenhangs auf Folie und bekommen die Aufgabe, sich diese fünf Schritte einzuprägen. In einer anschließenden Klausur kann man das bisher Erarbeitete mit einem Textauszug des amerikanischen Soziologen Ernest Becker vergleichen lassen, von dem sich Werner Becker in seinem Werk hat anregen lassen. (M) Die Gegenüberstellung von „kosmischem Heroismus" und „kulturellem Heroismus“ bei Ernest Becker ist weniger prägnant als die von Mythisierung durch Teilhabe und Heroismus durch Selbstbehauptung. Andererseits macht Ernest Becker mit Bezug auf Kierkegaard

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sehr schön deutlich, wie der kosmische Heroismus von den unerträglichen Zumutungen des kulturellen Heroismus entlastet. Mit dem Rüstzeug der fünf Schritte Werner Beckers haben die Schüler eine heuristische Typologie, die es ihnen ermöglicht, im Sinne einer Festigungsphase unterschiedliche kulturelle und religiöse Zeugnisse zu erfassen. Sie stellen sehr schnell fest, dass Selbstbehauptung und Teilhabe keine Schubladen sind, sondern Begriffswerkzeuge, die erlauben, Tendenzen und Überschneidungen zu beschreiben. Wenn sie verstehen, wie jedes kulturelle und religiöse Zeugnis von einer ganz besonderen Mischung aus Teilhabe und Selbstbehauptung im Wissen um den Tod geprägt ist, wird es ihnen vielleicht helfen, die für ihr eigenes Individualitätsbewusstsein charakteristische Verbindung zu erkennen und zu reflektieren.

Nach der Lektüre des Textes von Z. Bauman (M), einem postmodernen Soziologen und Philosophen, der sich ebenfalls wie Werner Becker von Ernest Becker hat anregen lassen, nennen die Schüler für den Heroismus der Selbstbehauptung und für die „grandiose Selbstinszenierung“ viele Beispiele: Lance Armstrong („Verlieren ist wie Sterben“), Michael Schumacher, Alexander der Große, Herkules, die Helden in den Aktionfilmen, aktuelle Popstars, das in der Sportschau gezeigte Transparent beim Bayernderby Nürnberg gegen München „Heute könnt ihr unsterblich werden“, aber auch notorische Angeber aus ihrem Bekanntenkreis.

Manche Schüler kommen von selbst auf das aktuell vielleicht eindeutigste popkulturelle Beispiel für den Heroismus der Selbstbehauptung, den Film „Troja“ (USA 2004) von Wolfgang Peterson und seinem Drehbuchautor David Benioff. Sie können den Film den anderen vorstellen und die entsprechenden Ausschnitte auf DVD präsentieren. Am Anfang stellt eine dumpfe Stimme aus dem Off beim Überblick über eine öde Landschaft die für die Haltung der Selbstbehauptung wichtigsten Fragen: "Werden unsere Taten die Zeiten überdauern? Werden Freunde sich unserer Namen erinnern, lang nachdem wir tot sind?" Griechenlands größter Held Achill (Brad Pitt) ist weder an der Ehre seines Landes noch an der Gemeinschaft mit seinen Landsleuten interessiert, sondern nur an seinem eigenen Ruhm. Bei der Landung in Troja segelt er der riesigen Flotte weit voraus und, bevor er mit seinen wenigen Getreuen allein den Apollotempel am Strand erstürmt, stachelt er seine Männer an mit der Parole "Jenseits dieses Strandes wartet die Unsterblichkeit! Holt sie euch!" Als ein Mitkämpfer ihn nach der Eroberung des Tempels vor der Rache des Gottes warnt, schlägt er der goldenen Apollostatue den Kopf ab und zeigt so seine Verachtung für die Hoffnung, am Göttlichen teilhaben zu können. In dem Bild von Hubert Lanzinger „Hitler als Bannerträger“ und dem dazu passenden Gedicht des Nazidichters Heinrich Anacker erkennen die Schüler auch sofort die Haltung der heroisierenden Selbstbehauptung. Zugleich wird aber auch in der Diskussion die Problematik dieser Haltung klar. Die Positionen gesellschaftlicher Anerkennung sind knapp. Das führt unausweichlich zum gnadenlosen Kampf und zur Ausrottung aller, die dabei im Wege stehen.

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Brüder, was bleibt von unserer Zeit? Runen, die leuchten in Ewigkeit! Unsere Leiber werden vergehen, Werden als Staub in die Winde wehen. Unsere Lieder werden verklingen Anders werden die Kommenden singen. Unsre Gebärden und unsere Worte Schluckt des Vergessens mächtige Pforte, Aber vom Rund mit den steinernen Stufen Werden die Chöre der Zukunft rufen. Und auf den Straßen, die wir bauten, Die erst die Enkel vollendet schauten, Werden in hundert und tausend Jahren Sausenden Schwungs die Wagen noch fahren. Unverwittert wirds dauern und bleiben, Und darüber, Beginn und Amen, Leuchtendste Rune: des Führers Namen!(Heinrich Anacker: Brüder, was bleibt ... In: Das Schwarze Korps. 14. 8. 1935. S. 9)

(Hubert Lanzinger, Hitler als Bannerträger in: G. Richter, Kitsch- Lexicon von A bis Z, Bertelsmann: Gütersloh 1972)

Als deutliches Beispiel für mythisierende Teilhabe am Göttlichen lernen die Schüler die Sure 56,16-39 kennen. (M) Die Schüler zeigen sich erstaunt über die anscheinend ungebrochen wörtlich verstandenen Bilder von den Gärten der Wonne. Ein Schüler spricht von „Männerträumen“. In der Diskussion erinnern einige daran, dass nicht nur die heroisierende Selbstbehauptungstheorie zu Gewalt führen kann, sondern dass manche islamische Selbstmordattentäter auch durch die Vorstellung der Belohnung im Paradies zu blutigen Taten ermutigt wurden. Die Diskussion ergibt, dass mythische Vorstellungen dann problematisch sind, wenn sie ungebrochen wörtlich genommen und nicht symbolisch verstanden werden.Um zu zeigen, dass es auch im Christentum sehr bilderreiche mythologisierende Ausmalungen des Himmels gibt, präsentiere ich den Schülern das Kirchenlied „Herzlich tut mich erfreuen“ von Johann Walter (1552) (Evangelisches Gesangbuch 1996 Lied Nr. 148).(http://www.gesangbuch.org/hymns/title2.html)

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Dagegen steht die eher symbolisch zu verstehende Vorstellung vom Buch des Lebens. Die Schüler erhalten den Auftrag, in arbeitsteiligen Gruppen aus dem Kontext die Bedeutung dieses Symbols aus Jes. 4, 3; Ps. 69, 29, Dan. 12,1 und Lk. 10, 20 zu erschließen und zu überlegen, wieweit sie diese Stellen symbolisch verstehen, d.h. auf ihr Leben beziehen können. Anschließend können sie ihre Deutung mit einem Auszug aus der Predigt des örtlichen Gemeindepfarrers Klaus Müller vergleichen (M) und in einer E- Mail Stellung dazu Stellung beziehen. In der Diskussion geht es um die Frage, wer den Eintrag ins Buch des Lebens vornimmt. Kann ich mich selber eintragen? Entscheidet Gott, wer eingetragen wird? Tragen sich meine Taten von selbst ein? Die Schüler sind durch die Diskussion genügend vorbereitet, um in der angeleitet kontrollierten Problemlösungsphase den anspruchsvollen Text des jüdischen Religionsphilosophen Hans Jonas zu lesen und die These zu erfassen, dass nicht die Täter, sondern die Taten sich einfügen in ein transzendentes Reich. (M)

In der Transfer- und Beurteilungsphase vergleichen die Schüler die klassischen Thesen der Religionskritik Feuerbachs und Nietzsches am Jenseitsglauben mit der Position Schopenhauers. Feuerbach: „Der religiöse Mensch gibt die Freuden dieser Welt auf; aber nur, um dafür die himmlischen Freuden zu gewinnen (....) Und die himmlischen Freuden sind dieselben wie hier, nur befreit von den Schranken und Widerwärtigkeiten dieses Lebens. Die Religion kommt so, aber auf einem Umweg, zu dem Ziele, dem Ziele der Freude, worauf der natürliche Mensch in gerader Linie zueilt. (...) Die Religion opfert die Sache dem Bilde auf.“ (M)Nietzsche: „Christentum war von Anfang an wesentlich und gründlich Ekel und Überdruß des Lebens am Leben, welcher sich unter dem Glauben an ein »anderes« oder »besseres« Leben nur verkleidete, nur versteckte, nur aufputzte.“ (M)Schopenhauer: „Hauptsächlich auf diesen Zweck sind alle Religionen und philosophischen Systeme gerichtet, sind also zunächst das von der reflektierenden Vernunft aus eigenen Mitteln hervorgebrachte Gegengift der Gewissheit des Todes.“ (M)Feuerbach und Nietzsche kritisieren den Jenseitsglauben und halten ihm eine Philosophie des Lebens entgegen, die freilich bei Feuerbach und Nietzsche sehr unterschiedlich ausfällt. Für Feuerbach besteht sie in der Freude des „natürlichen Menschen“, eines Gattungswesen, das schon von Karl Marx in der 6. These über Feuerbach und von Friedrich Engels in einer eigenen Schrift als Abstraktum kritisiert wurde, für Nietzsche in „Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Notwendigkeit des Perspektivischen und des Irrtums.“Schopenhauer dagegen sieht, dass nicht nur die Religionen, sondern auch alle philosophischen Systeme (-das würde also auch für Feuerbach und Nietzsche gelten-) hauptsächlich zu dem Zweck entstanden sind, ein Heilmittel gegen die erschreckende Gewissheit des Todes zu bekommen. Das deckt sich mit den Thesen Werner Beckers. Während die klassische Religionskritik nur den Jenseitsglauben kritisierte, kann nun die Frage gestellt werden, ob die Selbstbehauptungstheorien Feuerbachs und Nietzsches, die sie an Stelle des Jenseitsglaubens setzen wollen, nur „grandiose Selbstinszenierungen“ angesichts des Todes sind. Der Einfluss von Nietzsches Lehre vom Leben als Kampf und dem Recht des Stärkeren auf die faschistische Weltanschauung und Ersatzreligion Hitlers kann im Rahmen einer Unterrichtsreihe im Religionsunterricht nur angedeutet werden. (Vgl B. Taureck, Nietzsche und der Faschismus, Hamburg: Junius 1989)Der Glaube und der Zweifel an der Möglichkeit der Teilhabe werden schließlich in dem Text von Günther Putzberg (M) auf humorvolle Weise vorgeführt und können mit den Schülern durchgespielt werden. Wenn einer der beiden Embryos die Überlegung anstellt „Vielleicht gibt es gar keine Mutter hinter allem.“, wird den Schülern klar, dass hier die Frage der Religionskritik ironisiert wird. Ist das Unsinn oder Tiefsinn? Darüber kann man gut diskutieren.

Literaturangaben:Ariès, Philippe: Geschichte des Todes, (Paris 1977) München 1982 Becker, Ernest: Dynamik des Todes, Die Überwindung der Todesfurcht- Ursprung der Kultur. Olten und Freiburg i.B., 1976 Becker, Werner: Das Dilemma der menschlichen Existenz, Die Evolution der Individualität und das Wissen um den Tod. Stuttgart, Berlin, Köln, 2000Campbell, Joseph: Der Heros in Tausend Gestalten, (1953) Frankfurt 1973Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos, Ein Versuch über das Absurde, (1942) Reinbek 1965Girard, René: Der Sündenbock (1982), Zürich 1988

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Peemöller- Schulz, Antje/ Schulz, Martin/ Surkau, Silke: Auseinandersetzung mit Sterben und Tod in Video-Clips, in: M. Pirner/Th. Breuer, Medien- Bildung- Religion, München 2004, 207-217Riemann, Fritz: Grundformen der Angst, Eine tiefenpsychologische Studie. München u.a. 1981Sistermann, Rolf: Symboldidaktik und gebrochener Mythos in: Ev. Erz. 42/1990, H.3, 321-341

V.Übersicht über die eingesetzten Textmedien Eberhard Jüngel: Vorboten des eintretenden und Anzeichen des eingetretenen Todes Werner Becker: Der prähistorische Ursprung des Todesbewusstseins Jean Paul Sartre: Die Wand (Le mur, 1937) Jean Ziegler: Was ist der Tod? Werner Becker: (Der Sündenfall) Ernest Becker: Die Überwindung der Todesfurcht Zygmunt Bauman: Das gesellschaftliche Versprechen persönlicher Unsterblichkeit Heinrich Anacker: Brüder, was bleibt (1935) Koran: Der Lohn im Paradies Johann Walter: Herzlich tut mich erfreuen“ (1552) (Evangelisches Gesangbuch 1996 Lied Nr.

148 Klaus Müller: Namen im Himmel Hans Jonas: Das Symbol ‚Buch des Lebens’ Ludwig Feuerbach: Kritik am Jenseitsglauben Friedrich Nietzsche: Die Erfindung des Jenseits aus Furcht vor der Schönheit und Sinnlichkeit

des Lebens Arthur Schopenhauer: Alle Religionen und philosophischen Systeme als Heilmittel gegen das

Bewusstsein der Sterblichkeit Günther Putzberg: Leben danach

Im Rahmen dieses Beitrags können nur die wichtigsten eingesetzten Textausschnitte abgedruckt werden (oben unterstrichen). Die vollständigen Ausschnitte können aber in dem virtuellen Studienzimmer Sistermann unter www.rpi-virtuell.de (http://www.rpi-virtuell.net/rolf%20sistermann)

aus dem Ordner ‚Tod und Bewusstsein der Sterblichkeit’ heruntergeladen werden.

Der Aufbau der Reihe und der einzelnen Unterrichtseinheiten ist bestimmt von einem Verständnis des Lernprozesses, das man am besten in einem Bonbonmodell darstellen kann. Die Breite der einzelnen Phasen deutet an, wo engere oder weitere Fragestellungen angebracht sind. Das Verständnis der schwierigeren Texte wird dadurch erleichtert, dass diese jeweils an eine Problemstellung angebunden werden, mit der sich die Schüler beschäftigen sollten, bevor sie den betreffenden Text erhalten. Sie haben damit die Möglichkeit, in einer selbstgesteuert intuitiven Problemlösungsphase eigene Antworten zu finden, die in der anschließenden angeleitet kontrollierten Problemlösungsphase mit den Antworten des Textes verglichen werden können. Sie sind so eher in der Lage, die ihnen in den

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Arbeitstexten angebotenen Lösungen kritisch beurteilen zu können.

Aus dem Lernprozessmodell ergeben sich für alle Texte folgende drei Arbeitsaufgaben: 1. Welche Antwort gibt der Autor auf die dem Text vorangestellte Frage? 2. Vergleichen Sie diese Antwort mit den Antworten, die Sie in Ihrer Lerngruppe

gefunden haben, bevor Sie den Text bekommen haben. 3. Nehmen Sie begründet Stellung zu der Frage, welche dieser Antworten für Sie die

überzeugendste und aufschlussreichste ist.

Wie muss man sich den Prozess des Sterbens vorstellen? E. Jüngel: Vorboten des eintretenden und Anzeichen des eingetretenen TodesAls wahrnehmbare Vorboten des Todes lassen sich nennen: »Verwesungsgeruch in der Ausatmungsluft; die Facies hippocratica mit der sich scharf profilierenden Nase, dem halboffenen Mund, dem Herabsinken der Augenlider; unwillkürlicher Abgang von Urin und Kot; kalter Schweiß und Totenblässe der Haut ... Der Schleim, der nicht mehr ausgehustet wird, verursacht rasselnde Geräusche. Die Tastempfindung beginnt zu schwinden. Die Hände bewegen sich unkoordiniert . . . Häufig, aber durchaus nicht immer, beginnen zunächst die rationalen, dann die sensitiven, die animalischen und schließlich die vegetativen Funktionen zu erlöschen . . . Die meisten Kranken sterben ohne klares Bewußtsein. Die Unruhe und das Stöhnen der Sterbenden sind auf reflektorisch bedingte Vorgänge zurückzuführen, ohne schmerzhaft empfunden zu werden. Soweit sich dies vom Biologischen beurteilen läßt, dürfte das Sterben des Menschen nicht mit besonderen Qualen verbunden sein.«

Ist der Tod eingetreten, dann hören Atem, Herztätigkeit und Pulsschlag auf. »Die Haut ist zyanotisch oder blaß und unempfindlich. Die Hornhaut trübt sich. Die Pupillen werden weit. Die Muskeln erschlaffen. Der Eintritt der Totenstarre ist unterschiedlich. Nach heftiger Muskelanstrengung kann die Starre plötzlich auftreten. In der Regel vergehen drei bis zehn Stunden bis zu deren Eintritt.« Wenn sich die Totenstarre nach 24-48 Stunden löst, kann es zu Bewegungen kommen.

Untrügliche Kennzeichen des eingetretenen Todes lassen sich erst eine gewisse Zeit nach dem Eintritt feststellen, am sichersten durch den Zerfall der Gewebe. »Die Zellen der bereits trüben Hornhaut beginnen sich voneinander zu lösen. Einige Stunden später werden an den abhängigen Körperpartien die Totenflecke sichtbar. Zunächst kann man sie noch wegdrücken, später bleiben sie fixiert. Die Haut beginnt einzutrocknen und bekommt besonders an den Lippen pergamentartiges Aussehen. Durch die im Darm sich entwickelnde Fäulnis beginnt sich die Bauchhaut grünlich zu verfärben. Die Fäulnisgase treiben den Leib auf. Bakterielle Zersetzung und Insektenlarven bauen die toten Gewebe fortschreitend ab, wenn Luft zutreten kann und genügend Feuchtigkeit und Wärme vorhanden ist. Nach vier bis sechs Jahren bleibt nur mehr das Knochengerüst übrig.« Das ist zweifellos das untrüglichste Anzeichen des eingetretenen Todes.Eberhard Jüngel: Tod, Gütersloh 1971, 33f, nach: Adolf Faller, Biologisches vom Sterben und Tod, in: Anima 1956,S.260ff

Welches ist das wichtigste Charakteristikum, durch das sich der Mensch von den Tieren unterscheidet? Werner Becker: Der prähistorische Ursprung des TodesbewusstseinsEine ins Bewußtsein dringende Ahnung über die eigene Sterblichkeit war beim Menschen gattungsmäßig so wenig vorhanden wie bei Tieren. Doch auch diese Unbewußtheit bewahrte nicht vor dem Faktum des Todes als endgültigem Ende. So ist die Geschichte der Menschheit eine der langen Phase vor der Entdeckung des Wissens um den Tod und eine weniger langen danach. In Analogie zur christlichen Zeitrechnung spreche ich von den Phasen ante und post scientiam mortis. Damit stellt die Trennung der Menschheitsphasen ante und post scientiam mortis einen der tiefsten Einschnitte im Selbstverständnis des Menschen dar. (....) Mit dem Satz >ich bin sterblich< wird die Wahrheit, daß alle Menschen sterblich sind, zentraler Bestandteil des menschlichen Selbstverständnisses. Sie verändert ihren Gehalt nicht dadurch, daß der

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Mensch sie in sein Wissen aufnimmt. Doch ihre Akzeptanz ist für jeden Einzelnen bedeutender, als es eine andere Wahrheit je hätte sein können. Mit Akzeptanz dieser Wahrheit geht nämlich der Verlust der Naivität des Lebensvollzugs einher, jener Unschuld, die ein Jeder vor der Aufnahme dieses Wissens besaß und deren Wesen darin lag, ähnlich wie die Tiere in der Wahrnehmung des Hier und Jetzt aufzugehen. (....)Die ältesten Zeugnisse, die auf ein mögliches Wissen um den Tod verweisen, sind Grabstätten, die auf Bestattungsriten schließen lassen. Konnte bei Ausgrabungen festgestellt werden, daß die verstorbenen Mitglieder einer Gruppe bestattet worden waren, so galt dies als sicherer Hinweis, daß es sich um Überreste menschlicher Gruppen gehandelt haben muß, die dem Tod mehr als nur eine materielle Bedeutung zusprachen. (....)Dieses Wissen ist ein, wenn nicht das Charakteristikum, durch das sich die menschliche Art von denen der Tiere unterscheidet. Zwar gibt es Belege dafür, daß auch Menschenaffen in der Lage sind, den Tod als Faktum in irgendeiner für sie typischen Weise zu erkennen und auszudrücken. Es ist jedoch überaus fraglich, ob sich damit eine wirkliche Ahnung vom direkt eigenen Tod verbindet. Selbst von Affen ist nicht bekannt, daß sie ihre toten Artgenossen bestattet hätten. Man weiß aus Beobachtungen, daß sie bei Verwundung oder Verletzung von Mitgliedern der eigenen Gruppe zu Empfindungen in der Lage sein können, die wir als >Mitgefühl< bezeichnen würden. Auch versuchten sie, verstorbene Artgenossen zu >wecken<, indem sie sie schüttelten. Blieben Versuche, dem toten Artgenossen noch ein letztes Lebenszeichen entlocken zu wollen, über längere Zeit erfolglos, ließen sie von ihm ab und wandten sich wieder der weiterziehenden Gruppe zu. (....) Der Mensch hat, als einziges Lebewesen, aus der Erfahrung plötzlicher Todesangst erst ein Bewusstsein dauernder Todesfurcht gemacht. (...)(Werner Becker: Das Dilemma der menschlichen Existenz: die Evolution der Individualität und das Wissen um den Tod, Stuttgart u.a. 2000)

Was würdest Du tun, wenn Du nur noch eine Nacht zu leben hättest? Jean Paul Sartre, Die Wand (Le mur, 1937)In diesem Moment hatte ich den Eindruck, als läge mein ganzes Leben ausgebreitet vor mir, und ich dachte: «Das ist eine verdammte Lüge. » Es war nichts mehr wert, denn es war zu Ende. Ich fragte mich, wie ich mit Mädchen hatte spazieren gehen, lachen können: ich hätte keinen Finger gekrümmt, wenn ich geahnt hätte, dass ich so sterben würde. Mein Leben war vor mir, abgeschlossen, zugebunden wie ein Sack, und dabei war alles, was darin war, unfertig. Einen Augenblick versuchte ich es zu beurteilen. Ich hätte mir gerne gesagt: es ist ein schönes Leben. Aber man konnte kein Urteil darüber fällen, es war ein Rohentwurf, ich hatte meine Zeit damit verbracht, Wechsel auf die Ewigkeit auszustellen, ich hatte nichts begriffen. Es tat mir um nichts leid- es gab eine Menge Dinge, um die es mir hätte leid tun können, der Geschmack von Manzanilla oder das sommerliche Baden in einer kleinen Bucht in der Nähe von Cadiz; aber der Tod hatte allem seinen Reiz genommen. Der Belgier hatte plötzlich eine großartige Idee. «Freunde», sagte er zu uns, «ich kann es übernehmen - vorausgesetzt, die Militärverwaltung ist einverstanden -, den Menschen. die Sie lieben, eine Nachricht von Ihnen, ein Andenken zu überbringen ... » Tom brummte: «Ich habe niemand. » Ich antwortete nichts. Tom wartete einen Augenblick, dann sah er mich neugierig an: «Läßt du Concha nichts ausrichten'.> « Nein. » (....) Ich dachte an ihre schönen sanften Augen. Wenn sie mich ansah, wanderte etwas von ihr zu mir. Aber ich dachte, daß das vorbei war: wenn sie mich jetzt ansähe, würde ihr Blick in ihren Augen bleiben, er ginge nicht bis zu mir. Ich war allein.Auch Tom war allein, aber nicht auf dieselbe Weise. Er hatte sich rittlings hingesetzt und hatte angefangen, die Bank mit einer Art Lächeln anzusehen, er sah verwundert aus. Er streckte die Hand aus und berührte behutsam das Holz, als hätte er Angst, etwas zu zerbrechen, dann zog er seine Hand schnell zurück und erschauerte. Ich hätte mich nicht damit vergnügt, die Bank zu berühren, wenn ich Tom gewesen wäre; das war wieder so eine Irenkomödie, aber ich fand auch, dass die Gegenstände komisch aussahen: sie waren verwischter, weniger dicht als gewöhnlich. ich brauchte nur die Bank, die Lampe, den Kohlenhaufen anzusehen und ich spürte, dass ich sterben würde. (....) Einen Moment lang tastete ich meine Hose ab und fühlte, dass sie feucht war; ich wusste nicht, ob sie von Schweiß oder von Urin nass war. (.....) Tom sprang hoch: wir hatten noch nicht gemerkt, dass die Zeit verrann; die Nacht umgab uns wie eine formlose und dunkle Masse, ich erinnerte mich nicht einmal, dass sie angefangen hatte.

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Der kleine Juan fing an zu schreien. Er rang die Hände, er flehte:«Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben. »Er lief mit erhobenen Armen durch den ganzen Keller, dann warf er sich auf einen der Strohsäcke und schluchzte. Tom sah ihn mit stumpfen Augen an und hatte nicht einmal mehr Lust, ihn zu trösten. Tatsächlich lohnte es sich nicht: der Kleine machte mehr Krach als wir, aber es ging ihm weniger schlecht: er war wie ein Kranker, der sich mit Fieber gegen seine Krankheit wehrt. Wenn einer nicht einmal mehr Fieber hat, ist es viel schlimmer.Er weinte: ich sah genau, dass er Mitleid mit sich selbst hatte; er dachte nicht an den Tod. Eine Sekunde, eine einzige Sekunde lang hatte ich Lust, auch zu weinen, vor Selbstmitleid. Aber das Gegenteil trat ein: ich warf einen Blick auf den Kleinen, ich sah seine mageren, vom Schluchzen geschüttelten Schultern und fühlte mich unmenschlich: ich konnte weder mit den anderen noch mit mir Mitleid haben. Ich sagte mir: « Ich will anständig sterben. »

Warum sollten Adam und Eva in Genesis 3 nicht von den Früchten des Baumes der Erkenntnis essen? Werner Becker: (Der Sündenfall) Mythen über Sündenfall und verlorene Unschuld, die aus vielen Kulturen überliefert sind, enthalten in verschlüsselter Form das Wissen über diesen Bruch der Menschheit mit ihrer bereits unvorstellbar langen Existenz im Zustand vorausgegangener ahnungsloser Unbewußtheit. Sie alle erinnern an belastende Herausforderungen, die ein solches Aufbrechen der Erkenntnis über die Sterblichkeit des menschlichen Individuums von Anfang an darstellte. So lautet etwa die Botschaft des biblischen Genesis-Berichts über die Erschaffung des Menschen: Tod ist Strafe für die Sünde des Menschen. Die >Sünde< liegt jedoch, ohne daß es ausgesprochen wird, nicht im biologischen Faktum des Todes, sondern im Bewußtsein davon.

Dem biblischen Bericht zufolge wurden Adam und Eva, die >unschuldig< im sicheren Gefühl der Ewigkeit existierten, von der Schlange verführt, Früchte vom >Baum der Erkenntnis< zu essen, Metapher für den Verlust paradiesischer Unsterblichkeit. Daß die Bibel Eva, der >Urfrau<, die Rolle zuweist, von der Last des zum Tode Verurteiltseins bereits zu wissen, mag Anleihe sein bei den durch Tod- und Fehlgeburten erlittenen psychischen Traumata und so uralte Erfahrungen der Frauen widerspiegeln. Denn Eva weiß - und teilt es der Schlange und Adam mit -, daß derjenige sterben müsse, der Früchte vom Baum der Erkenntnis ißt. Die >Erkenntnis< besteht also im Wissen um das Sterbenmüssen als einer Bestrafung für das gleichsam schwerste Verbrechen. Wie der >Sündenfall< ausgeht, ist bekannt: Adam und Eva lassen sich von der Schlange verlocken und essen von den verbotenen Früchten. Der Zorn Gottes fällt furchtbar aus wie auch die Strafe: Er verfügt ewige Feindschaft zwischen der Schlange, Symbol der Tierwelt, und dem Menschengeschlecht, bestraft die Frau für immer mit den schmerzlichen Beschwerden der Geburt und den Mann, >im Schweiß des Angesichts< künftig auf den >Äckern voller Disteln und Dornen< um des Überlebens willen arbeiten zu müssen. Das Sterben jedoch bleibt Höhepunkt der Bestrafung: „Zuletzt aber wirst du wieder zur Erde zurückkehren, von der du genommen bist. Staub von der Erde bist du, und zu Staub mußt du wieder werden.“ In diesem Sündenfall-Geschehen werden die Dinge aus der Naivität ihrer Anfänge heraus ins Gegenteil verkehrt: Mit der Vertreibung aus dem Paradies geht die Unsterblichkeit verloren. Die Trennung von Gott wird also mit dem historisch erreichten Wissen um den Tod in eins gesetzt. Die Sünde ist aber bereits im Alten Testament eine Schuld, die die Menschen nicht mehr begleichen können, können sie doch nicht mehr zur Stufe der Naivität ante scientiam mortis zurückkehren.(Werner Becker, Das Dilemma der menschlichen Existenz: die Evolution der Individualität und das Wissen um den Tod, Stuttgart, Berlin, Köln 2000, 29f)

Wie kann der Mensch seine Todesfurcht überwinden? Ernest Becker, Die Überwindung der Todesfurcht Der Mensch muß verzweifelt kämpfen, um sich im Kosmos als ein Objekt primären Wertes zu behaupten; er muß sich auszeichnen, ein Held sein, den größtmöglichen Beitrag zum Fortbestehen der Welt leisten, zeigen, dass er mehr zählt als jedes andere Ding, jeder andere Mensch. 23

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Dies also ist das Paradox: Der Mensch ist zur selben Zeit außerhalb der Natur wie hoffnungslos in ihr verfangen. Er ist eine Zweiheit, hoch oben in den Sternen und trotzdem ein vom Herzschlag belebter, nach Luft schnappender Leib, der einst einem Fisch gehörte und der immer noch dessen Kiemenmerkmale trägt. Sein Leib ist eine aus Materie bestehende fleischliche Hülle, die ihm auf mannigfaltige Weise fremd ist – das Seltsamste und Abstoßendste dabei ist, dass sie wehtun kann, dass sie blutet, dass sie altern und schließlich sterben muß. So ist der Mensch buchstäblich in zwei Hälften gespalten: Er weiß um seine eigene, herrliche Einmaligkeit, weil er sich überall von der Natur abhebt und sie überragt, und doch braucht er nur ein paar Meter unter die Erde zu gehen, um blind und stumm zu verwesen und für immer zu verschwinden. Es ist ein schreckliches Dilemma, mit dem er leben und sich abfinden muss. (....) Verrückt, weil, wir werden es sehen, alles, was der Mensch in seiner symbolischen Welt unternimmt, nichts weiter ist als ein Versuch, sein groteskes Schicksal zu verleugnen. Er betäubt sich buchstäblich mit sozialen Spielen, er klügelt psychologische Spitzfindigkeiten und individuelle, so weit von der Wirklichkeit seiner Situation entfernte Beschäftigungen aus, dass diese bereits Formen des Wahnsinns sind: zugegebener Wahnsinn, geteilter, verhüllter, würdevoller aber nichtsdestoweniger Wahnsinn. 53fDie Wahrheit wird verschleiert, die Verzweiflung der menschlichen Situation verborgen, eine Verzweiflung, die das Kind in seinen nächtlichen Alpträumen und täglichen Phobien und Neurosen erlebt. Und dieser Verzweiflung weicht es durch Abwehrmaßnahmen aus, und diese wiederum vermitteln ihm ein fundamentales Gefühl des Selbstwertes, der Bedeutsamkeit und der Macht. Dadurch erscheint es ihm, als beherrsche es sein eigenes Leben, seinen eigenen Tod, als lebe und handele es tatsächlich wie ein mit eigenem Willen ausgestattetes, freies Individuum, als besitze es eine einmalige, selbstgeprägte Individualität, kurz: als sei es jemand und kein zitterndes und rein zufällig geschaffenes Stück Protoplasma auf einem Treibhausplaneten (....). Wir haben den Lebensstil des Menschen eine lebensnotwendige Lüge genannt, und wir können jetzt eher verstehen, warum wir sie als lebensnotwendig bezeichnet haben: Sie ist die unerlässliche und grundlegende Unehrlichkeit uns selbst und unserer ganzen Situation gegenüber.94Was Kierkegaard sagen will ist, anders formuliert, dass die Schule der Angst nur dann eine Möglichkeit ist, wenn sie die Lebenslüge des Charakters vernichtet. (....) Der Mensch sprengt die Fesseln des rein kulturellen Heroismus; er zerstört die Charakterlüge, die ihn sich im Alltagsleben als Held gebärden ließ. Indem er dies tut, erschließt er sich der Unendlichkeit, dem Potential eines kosmischen Heroismus, dem Dienste Gottes. Damit erhält sein Leben einen letztendlichen Sinn anstelle eines nur sozialen und kulturellen oder historischen Sinnes. Er verbindet sein geheimstes, innerstes Selbst, seine echte Begabung, seine tiefsten Gefühle der Einmaligkeit, sein innerstes Streben nach einem letzten Sinn und Ziel mit dem wahren Grund der Schöpfung. (.....) Das ist der Sinn des Glaubens. (....) 141ffDie Religion hat die unmittelbare Antwort auf das Übertragungsproblem parat, indem sie Furcht und Schrecken hineinsteigert in den Kosmos, wohin sie gehören. Sie nimmt auch das Problem der Selbstrechtfertigung auf und entfernt es von den nächstliegenden Objekten. Nun brauchen wir unseren Nächsten nicht mehr zu gefallen, wir brauchen nur noch dem Quell aller Schöpfung zu gefallen – den Kräften, denen wir Leben verdanken und nicht denen, in deren Leben wir rein zufällig hineingefallen sind. (Ernest Becker, Dynamik des Todes, Die Überwindung der Todesfurcht- Ursprung der Kultur, (zuerst New York 1973) Walter Verlag, Olten und Freiburg i.B. 1976, 297ff)

Wie stellen sich Moslems die mythisierende Teilhabe am Göttlichen vor? Koran: Der Lohn im ParadiesSure 56, 10-39Und die Vordersten (die zuerst den Islam bekannten oder auch die Propheten) auf Erden.Die Vordersten auch im Paradiese. Sie sind die Allah Nahegebrachten.In Gärten der Wonne.Eine Schar der FrüherenUnd wenige der SpäterenAuf durchwobenen Polstern,Sich lehnend auf ihnen einander gegenüber. Die Runde machen bei ihnen

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Unsterbliche KnabenMit Humpen und EimernUnd einem Becher von einem Born.Nicht sollen sie Kopfweh von ihm haben Und nicht das Bewußtsein verlieren.Und Früchte, wie sie sich erlesen,Und Fleisch von Geflügel, wie sie's begehren,Und großäugige Hüris gleich verborgenen Perlen Als Lohn für ihr Tun.Sie hören kein Geschwätz darinnen und keine Anklage der Sünde; Nur das Wort: »Frieden! Frieden!«Und die Gefährten der Rechten - was sind die Gefährten der Rechten? (selig!) Unter dornenlosem LotosUnd Bananen mit Blütenschichten und weitem Schatten Und bei strömendem Wasser und Früchten in Menge,Unaufhörlichen und unverwehrten, und auf erhöhten Polstern. Siehe, wir erschufen sie (die Hüris) in (besonderer) Schöpfung Und machten sie zu Jungfrauen,Zu liebevollen Altersgenossinnen für die Gefährten der Rechten, Eine Schar der FrüherenUnd eine Schar der Späteren. (Der Koran, übertragen von Max Henning, Reclam: Stuttgart 1960, 512f)

Wie kann man die Rede vom Buch des Lebens symbolisch, also auf unser Leben bezogen, verstehen? Klaus Müller: Namen im Himmel Predigt am 20.2.05 in der Friedenskirche in Köln- Mülheim über Lk. 10, 20

Was meint nun aber Jesus, wenn er in unserem Monatsspruch sagt:Freut euch aber, dass eure Namen im Himmel geschrieben sind.Mit diesem Wort knüpft er an an ein Bild, welches es schon im AT gab. (Jes. 4, 3; Ps. 69, 29; Dan. 12,1)Das Bild vom Buch des Lebens, welches im Himmel liegt.Man hatte die Vorstellung, dass im Himmel ein Buch liegt, in das Gott Namen von Menschen einträgt.Welche Namen trägt er dort ein?Die Namen der Menschen, die vor ihm bestehen können.(....) Jesus redet von Freude und nicht von Angst.Jesus sagt dieses Wort zu seinen Freunden.Also zu denen, die auf sein Wort hören und die ihm vertrauen.Er sagt nicht zu ihnen:

Freut euch aber, dass die Namen einiger von euch im Himmel geschrieben sind.Nein, alle gehören dazu.Alle, die ihm vertrauen.Alle, die ihm nachfolgen.(....) Es ist kein Buch, welches in Gut und Böse einteilt.Es ist kein Buch, welches die Leistungen der Menschen aufzählt.Nein, man kann es wohl am ehesten mit einem TAGEBUCH vergleichen.Ich weiß nicht, wer von ihnen schon mal ein Tagebuch geführt hat.In so ein Tagebuch schreibt man alles rein, was man für wichtig erachtet.Man schreibt alles rein, was man gerne behalten möchte.Alles, woran man sich noch in 20 Jahren erinnern möchte.Da schreibt man vor allem auch rein, wenn man sich verliebt hat.Wenn man mal so die Tagebücher der Weltliteratur liest, dann stehen da ganz viele Liebesgeschichten drin.

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So stelle ich mir das auch mit dem Buch des Lebens im Himmel vor.Da steht alles drin, was wichtig ist.Da steht alles drin, was nicht vergessen werden darf.Das steht alles drin, was in Ewigkeit Bestand haben soll.Und vor allem, da stehen die Namen aller drin, die Gott liebt.Alle, mit denen Gott eine Liebesgeschichte hat.Da stehen alle drin, die auf Gottes Liebesbrief geantwortet haben. Und der Liebesbrief Gottes, das ist Jesus Christus.Durch ihn zeigt uns Gott, wie sehr er uns liebt.(....)Das bedeutet, dass ich bei Gott in alle Ewigkeit gut aufgehoben bin.Das bedeutet, dass ich niemals vergessen bin.Ich brauche keine Angst mehr zu haben, dass mit dem Tod alles aus ist.Jedes Leben und sei es noch so unscheinbar, hat bei Gott einen unverlierbaren Wert.Und selbst wenn ich irgendwann einmal in einem anonymen Grab auf dem Friedhof liegen werden:Mein Name ist im Himmel aufgeschrieben.Ich bin von Gott für alle Zeiten angenommen und geliebt.Freut euch aber,dass eure Namen im Himmel geschrieben sind.Amen

Was kann das Symbol vom »Buche des Lebens« uns sagen? Hans Jonas, Das Symbol ‚Buch des Lebens’ Was kann das Symbol vom »Buche des Lebens« uns sagen? In der jüdischen Überlieferung bedeutet es eine Art von himmlischem Hauptbuch, in dem unsere Namen gemäß unseren Verdiensten verzeichnet werden - womöglich »zum Leben«, d. h. zu unserem, dem Leben der jeweiligen Person. Aber anstatt Taten als Verdienste anzusehen, die dem Täter gutzuschreiben sind, können wir sie auch als für sich selbst zählend ansehen - gewissermaßen als »Dinge an sich« - und dann den Begriff des Buches anders fassen, nämlich so, daß es sich nicht mit Namen und Anrechnungen, sondern mit den Taten selbst füllt. Mit anderen Worten, ich spreche von der Möglichkeit, daß Taten sich selbst eintragen in ein ewiges Register der Zeitlichkeit; daß was immer hier gehandelt wird - jenseits seiner Fortwirkung und schließlichen Verflüchtigung im Kausalgewebe der Zeit -, sich in alle Zukunft einem transzendenten Reiche einfügt und es prägt nach Gesetzen, die anders sind als die der Welt, immer weiter das unabgeschlossene Protokoll des Seins anschwellend und immer neu die angstvolle Bilanz verschiebend. Ja, könnte es nicht sein, um mich noch einen Schritt weiter zu wagen, daß das, was wir so der Urkunde hinzufügen, von überragender Bedeutung ist - wenn auch nicht für unser eigenes zukünftiges Schicksal, so doch für das Interesse jener geistigen Summe selber, die das vereinende Erinnern der Dinge fortlaufend zieht? (H. Jonas, Unsterblichkeit und heutige Existenz, in: ders., Das Prinzip Leben, Suhrkamp TB, Frankfurt 1997, 387)

Welchen Wert haben Schönheit und Sinnlichkeit des Lebens im christlichen Jenseitsglauben? Friedrich Nietzsche, Die Erfindung des Jenseits aus Furcht vor der Schönheit und Sinnlichkeit des Lebens5. In Wahrheit, es gibt zu der rein ästhetischen Weltauslegung und Welt-Rechtfertigung, wie sie in diesem Buche gelehrt wird, keinen größeren Gegensatz als die christliche Lehre, welche nur moralisch ist und sein will und mit ihren absoluten Maßen, zum Beispiel schon mit ihrer Wahrhaftigkeit Gottes, die Kunst, jede Kunst ins Reich der Lüge verweist, - das heißt verneint, verdammt, verurteilt. Hinter einer derartigen Denk- und Wertungsweise, welche kunstfeindlich sein muß, solange sie irgendwie echt ist, empfand ich von jeher auch das Lebensfeindliche, den ingrimmigen rachsüchtigen Widerwillen gegen das Leben selbst: denn alles Leben ruht auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Notwendigkeit des Perspektivischen und des Irrtums. Christentum war von Anfang an wesentlich und gründlich, Ekel und Überdruß des Lebens am Leben, welcher sich unter dem Glauben an ein »anderes« oder »besseres« Leben nur verkleidete, nur versteckte, nur aufputzte. Der Haß auf die »Welt«, der Fluch auf die Affekte, die Furcht vor der Schönheit und Sinnlichkeit, ein Jenseits, erfunden, um das Diesseits besser zu verleumden, im Grunde ein Verlangen ins Nichts, ans Ende, ins Ausruhen, hin zum »Sabbat der Sabbate« - dies alles dünkte mich, ebenso wie der unbedingte Wille

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des Christentums, nur moralische Werte gelten zu lassen, immer wie die gefährlichste und unheimlichste Form aller möglichen Formen eines »Willens zum Untergang«, zum mindesten ein Zeichen tiefster Erkrankung, Müdigkeit, Mißmutigkeit, Erschöpfung, Verarmung an Leben, - denn vor der Moral (insonderheit christlichen, das heißt unbedingten Moral) muß das Leben beständig und unvermeidlich Unrecht bekommen, weil Leben etwas essentiell Unmoralisches ist (....) Gegen die Moral also kehrte sich (....) mein Instinkt, als ein fürsprechender Instinkt des Lebens, und erfand sich eine grundsätzliche Gegenlehre und Gegenwertung des Lebens, eine rein artistische, eine antichristliche. Wie sie nennen? Als Philologe und Mensch der Worte taufte ich sie, nicht ohne einige Freiheit - denn wer wüßte den rechten Namen des Antichrist? - auf den Namen eines griechischen Gottes: ich hieß sie die dionysische. - F. Nietzsche, Versuch einer Selbstkritik (1886) [Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, S. 13 ff.Die digitale Bibliothek der Philosophie, S. 42801 (vgl. Nietzsche-W Bd. 1, S. 14 ff.)]

Was haben Religionen und Philosophie mit dem Wissen um den Tod zu tun? Arthur Schopenhauer: Alle Religionen und philosophischen Systeme als Heimmittel gegen das Bewusstsein der Sterblichkeit ( Die Welt als Wille und Vorstellung, 1839, Kapitel 41:) Das Tier lebt ohne eigentliche Kenntnis des Todes: daher genießt das tierische Individuum unmittelbar die ganze Unvergänglichkeit der Gattung, indem es sich seiner nur als endlos bewusst ist. Beim Menschen fand sich, mit der Vernunft, notwendig die erschreckende Gewissheit des Todes ein. Wie aber durchgängig in der Natur jedem Uebel ein Heilmittel, oder wenigstens ein Ersatz beigegeben ist; so verhilft die selbe Reflexion, welche die Erkenntnis des Todes herbeiführte, auch zu metaphysischen Ansichten, die darüber trösten, und deren das Tier weder bedürftig noch fähig ist. Hauptsächlich auf diesen Zweck sind alle Religionen und philosophischen Systeme gerichtet, sind also zunächst das von der reflektierenden Vernunft aus eigenen Mitteln hervorgebrachte Gegengift der Gewissheit des Todes. Der Grad jedoch, in welchem sie diesen Zweck erreichen, ist sehr verschieden, und allerdings wird eine Religion oder Philosophie viel mehr, als die andere, den Menschen befähigen, ruhigen Blickes dem Tod ins Angesicht zu sehn.

Wie könnte sich ein Embryo fühlen, wenn ihm klar würde, dass er eines Tages den Mutterschoß verlassen muss? Günter Putzberg: Leben „danach“Es geschah, dass in einem Schoß Zwillingsbrüder empfangen wurden. Die Wochen vergingen, und die Knaben wuchsen heran. In dem Maß, in dem ihr Bewusstsein wuchs, stieg die Freude: "Sag, ist es nicht großartig, dass wir empfangen wurden? Ist es nicht wunderbar, dass wir leben?!" Die Zwillinge begannen, ihre Welt zu entdecken. Als sie aber die Schnur fanden, die sie mit ihrer Mutter verband und die ihnen die Nahrung gab, da sangen sie vor Freude: Wie groß ist die Liebe unserer Mutter, dass sie ihr eigenes Leben mit uns teilt!"Als aber die Wochen vergingen und schließlich zu Monaten wurden, merkten sie plötzlich, wie sehr sie sich verändert hatten."Was soll das heißen?" fragte der eine."Das heißt", antwortete der andere, dass unser Aufenthalt in dieser Welt bald seinem Ende zugeht.""Aber ich will gar nicht gehen", erwiderte der eine, "ich möchte für immer hier bleiben.",Wir haben keine andere Wahl", entgegnete der andere, "aber vielleicht gibt es ein Leben nach der Geburt!""Wie könnte das sein?", fragte zweifelnd der erste, "wir werden unsere Lebensschnur verlieren, und wie sollen wir ohne sie leben können? Und außerdem haben andere vor uns diesen Schoß hier verlassen, und niemand von ihnen ist zurückgekommen und hat uns gesagt, dass es ein Leben nach der Geburt gibt. Nein, die Geburt ist das Ende!"So fiel der eine von ihnen in tiefen Kummer und sagte: "Wenn die Empfängnis mit der Geburt endet, welchen Sinn hat dann das Leben im Schoß? Es ist sinnlos. Womöglich gibt es gar keine Mutter hinter allem." ,Aber sie muss doch existieren", protestierte der andere, "wie sollten wir sonst hierher gekommen sein? Und wie könnten wir am Leben bleiben?" "Hast du je unsere Mutter gesehen?" fragte der eine. Womöglich lebt sie nur in unserer Vorstellung. Wir haben sie uns erdacht, weil wir dadurch unser Leben besser verstehen können."

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Und so waren die letzten Tage im Schoß der Mutter gefüllt mit vielen Fragen und großer Angst. Schließlich kam der Moment der Geburt. Als die Zwillinge ihre Welt verlassen hatten, öffneten sie ihre Augen. Sie schrieen. Was sie sahen, übertraf ihre kühnsten Träume. (Günter Puzberg, aus: Klaus Berger, Wie kommt das Ende der Welt?, Gütersloh 2002)

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