Sistermann Sinn Des Lebens Problemorientierte Unterrichtsreihe Nach Bonbonmodell

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Der folgende Beitrag geht von der didaktischen Forderung nach einer Problemorientierung des Philosophieunterrichts aus und überlegt zunächst, was hierunter eigentlich genau zu verstehen wäre. Dabei wird konkretisierend auf des „Bonbonmodell“ des Unterrichts hingewiesen, für das der Verfasser in der Philosophiedidaktik bekannt geworden ist (1). Gerade für die schwierige Frage nach dem „Sinn“ erweisen sich neben philosophischen auch literarische Texte als einschlägig interessant, wie am Beispiel des Schulbuchs „Weiterdenken“ entwickelt wird (2). Abschließend folgen einige Vorschläge für eine Unterrichtsreihe zum „Sinn des Lebens“ (3), die nach den vorbenannten Zugriffsweisen aufgebaut sein kann. Rolf Sistermann: Der Sinn des Lebens. Eine problemorientierte Unterrichtsreihe nach dem „Bonbonmodell“, in ZDPE 4/ 2012 Dass der Philosophieunterricht problemorientiert ausgerichtet sein sollte, liegt schon seit Ekkehard Martens nahe, dem eigentlichen Initiator der philosophiedidaktischen Diskussion in Deutschland. Betrachtet er doch in seiner dialogisch- pragmatischen Philosophiedidaktik Philosophie als einen „problemorientierten Verständigungsprozess“: „Didaktisch folgt daraus die Forderung, von der Philosophie Argumente zu lernen, die zur Lösung konkreter Probleme beitragen oder Probleme überhaupt erst sichtbar machen; es folgt aber auch daraus, dass sich umgekehrt Philosophie vom common sense mögliche Antworten und von ihr noch nicht gesehene Probleme anhört und zur Lösung vornimmt. 1 1. Das Problem der Problemorientierung Was aber genau unter einem Problem und daraus folgend unter Problemorientierung zu verstehen ist und wie die Forderung umgesetzt werden kann, ist keineswegs genügend geklärt. Helmut 1 1 Martens, Ekkehard: Dialogisch-pragmatische Philosophiedidaktik – Hannover u.a: Schroedel, 1979,57

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Der folgende Beitrag geht von der didaktischen Forderung nach einer Problemorientierung des Philosophieunterrichts aus und überlegt zunächst, was hierunter eigentlich genau zu verstehen wäre. Dabei wird konkretisierend auf des „Bonbonmodell“ des Unterrichts hingewiesen, für das der Verfasser in der Philosophiedidaktik bekannt geworden ist (1). Gerade für die schwierige Frage nach dem „Sinn“ erweisen sich neben philosophischen auch literarische Texte als einschlägig interessant, wie am Beispiel des Schulbuchs „Weiterdenken“ entwickelt wird (2). Abschließend folgen einige Vorschläge für eine Unterrichtsreihe zum „Sinn des Lebens“ (3), die nach den vorbenannten Zugriffsweisen aufgebaut sein kann.

Rolf Sistermann: Der Sinn des Lebens. Eine problemorientierte Unterrichtsreihe nach dem „Bonbonmodell“, in ZDPE 4/ 2012

Dass der Philosophieunterricht problemorientiert ausgerichtet sein sollte, liegt schon seit Ekkehard Martens nahe, dem eigentlichen Initiator der philosophiedidaktischen Diskussion in Deutschland. Betrachtet er doch in seiner dialogisch- pragmatischen Philosophiedidaktik Philosophie als einen „problemorientierten Verständigungsprozess“: „Didaktisch folgt daraus die Forderung, von der Philosophie Argumente zu lernen, die zur Lösung konkreter Probleme beitragen oder Probleme überhaupt erst sichtbar machen; es folgt aber auch daraus, dass sich umgekehrt Philosophie vom common sense mögliche Antworten und von ihr noch nicht gesehene Probleme anhört und zur Lösung vornimmt.1“

1. Das Problem der ProblemorientierungWas aber genau unter einem Problem und daraus folgend unter Problemorientierung zu verstehen ist und wie die Forderung umgesetzt werden kann, ist keineswegs genügend geklärt. Helmut Engels, dem wir den meiner Kenntnis nach ersten didaktischen Beitrag zur Problemorientierung im Philosophieunterricht verdanken, geht von der Beobachtung aus, dass im Kontext der Philosophie „jede schwer zu beantwortende Frage“ als Problem bezeichnet wird. Dieser unspezifische Problembegriff sei methodisch unfruchtbar. Er plädiert dafür, den Problembegriff auf Fragen einzugrenzen, bei deren Beantwortung zwei widersprüchliche Thesen sich gegenüberstehen. Dieser eingegrenzte Problembegriff „bezeichnet eine bestimmte Art von Schwierigkeit und enthält – das ist wichtig – eine Art Suchanleitung für den Lösungsversuch: er lenkt nämlich den Blick auf die beiden anscheinend widersprüchlichen Thesen und ihr Verhältnis zueinander.“ „Ein Problem liegt vor, wenn zwei Positionen gegeben sind (1), die aus guten Gründen Respekt verdienen (2), die aber in einem unvereinbaren Gegensatz zueinander stehen (3), den es, um Einheit herzustellen, aufzulösen gilt (4).“ 2

Demnach wäre eine Formulierung, die durch die Konjunktion „ob“ die alternativen Positionen signalisiert, die angemessene Frageform. Mit Niklas Luhmann kann man jedoch präzisieren, dass es nicht immer nur um zwei Positionen, sondern um eine überschaubare Zahl von Lösungen gehen muss. Sein unabhängig von der didaktischen Diskussion formulierter Problembegriff macht deutlich, warum es bei der

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1 Martens, Ekkehard: Dialogisch-pragmatische Philosophiedidaktik – Hannover u.a: Schroedel, 1979,57

2 2 Engels, Helmut: Vorschlag, den Problembegriff einzugrenzen , ZDP Heft 3/90

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Unterrichtsplanung schwer ist, eine genaue Problemstellung zu finden. Er lässt aber auch erwarten, dass ein Unterricht, der sich daran hält, einer spannenden Dramaturgie folgt. „Ein Problem wird mit Sätzen formuliert, die eine in Hinsicht auf Wahrheit/ Unwahrheit unentschiedene Meinung kommunizieren. Ein Problem funktioniert nur, wenn es die Zahl möglicher Problemlösungen limitieren kann, und es funktioniert schlecht, wenn die Zahl der Problemlösungen zu groß ist. In der Formulierung des Problems werden Bedingungen der Erkennbarkeit von Lösungen vorgegeben, und das steigert, je nach der Hintergrundsdramatik der Problemstellung, die Spannung, mit der man nach Lösungen sucht, und den Aha-Effekt, der das Finden der Lösung begleitet.“ 3

Der Problembegriff Volker Gerhardts bietet über die bisher in den Blick genommene Sachebene eine für den Unterricht mindestens ebenso wichtige Ergänzung auf der Beziehungsebene: „Zur generellen Struktur von Problemen gehört, daß sie uns etwas angehen und daß sie, wenn sie drängend sind, eine eigene Anstrengung herausfordern. Sie tangieren unsere Empfindlichkeiten und unsere Bedürfnisse, sind vor allem aber direkt auf unsere Ansprüche bezogen.“ „In ihrem Bezug auf unsere spezifische Organisation haben Probleme Aufforderungscharakter: Sie »wollen« von dem gelöst werden, der sie als Problem erfährt.“ „Probleme erkennt man nicht wie einen Gegenstand, von dem man sich jederzeit wieder abwenden kann. Wenn es echte Probleme sind, die uns ganz berühren, dann fordern sie uns auch ganz und verlangen eine eigene, aus uns selbst kommende Aktivität.“4

Damit haben wir die m.E. wichtigsten Elemente einer problemorientierten Unterrichtsplanung zusammen: Die Planung muss

1. ein Problem finden, das die Schüler etwas „angeht“ und sie „berührt“, weil es auf ihre „Bedürfnisse“ und „Ansprüche“ bezogen ist.

2. Sie muss eine These in Frage stellen, bei der man „in Hinsicht auf Wahrheit/ Unwahrheit unterschiedlicher Meinung“ sein kann.

3. Sie muss den „Aufforderungscharakter“ des Problems berücksichtigen, der z.B. auftaucht, wenn die Schüler erkennen, dass bei der Beantwortung der Frage zwei Positionen vertreten kann„die beide Respekt verdienen“. Dieser verlangt eine „von ihnen selbst kommende Aktivität“, die darin besteht, dass sie sich ihr eigenes Vorwissen bewusst machen und auf diesem Wege eine intuitive Lösung suchen.

4. Sie wird aber auch einplanen, dass die Schüler durch die „Hintergrundsdramatik des Problems“ und die „Spannung, mit der sie nach Lösungen suchen, “ dazu motiviert sind, Texte von anerkannten Denkern der Vergangenheit und Gegenwart zu studieren und zu untersuchen, ob diese bei der Lösung weiterhelfen können.

5. Sie muss außerdem einplanen, dass man den „Aha- Effekt, der das Finden einer Lösung begleitet“ und der am Ende des Spannungsbogens steht, festhalten sollte, um in einer anschließenden oder späteren Lerneinheit darauf zurückkommen zu können.

6. Schließlich muss die Planung Gelegenheit bieten, die gefundene Lösung in Frage zu stellen, an anderen Beispielen zu erproben und ihre Konsequenzen weiterzudenken.

Dieser an einem differenzierten Problembegriff orientierte Ansatz entspricht dem Bonbonmodell des Lernprozesses. Das Bonbonmodell des Lernprozesses wurde in Weiterführung der zuerst von Heinrich Roth in Deutschland eingeführten lernpsychologisch begründeten Lernphasen entwickelt.5 Statt aber wie dort bei der Problemlösung nur die Stufe

3 3 Luhmann, Niklas : Die Wissenschaft der Gesellschaft , Frankfurt am Main : Suhrkamp 1992 , 4344 Gerhardt, Volker : Selbstbestimmung, Stuttgart: Reclam 1999, 47ff5 Zuerst veröffentlicht in: Sistermann, Rolf: Konsumismus oder soziale Gerechtigkeit? In: ZDPE Heft 1/ 2005; 16- 27.

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der Planung und die Stufe der Ausführung zu unterscheiden, wird im Bonbonmodell Wert darauf gelegt, dass die Schüler erst einmal selbstständig eine intuitive Lösung suchen, bevor sie diese an vorbereiteten und angeleiteten Lösungen kontrollieren können. Sie können den Wert von Einsichten aus der Tradition der großen Denker nur dann würdigen, wenn sie sich selbst -möglicher Weise auch vergeblich- an der gleichen Problematik versucht haben. In der unabdingbaren Abfolge von selbstgesteuert- intuitiver vor der angeleitet kontrollierten Lernphase entspricht der problemorientierter Unterricht nach dem Bonbonmodell genau dem, was Christian Gefert als Merkmal für einen kompetenzorientierten Unterricht beschrieben hat: „Ein kompetenzorientiertes Verständnis philosophischer Bildungsprozesse in der Schule setzt (... ) nicht blind bei vermeintlich „klassischen" Denkansätzen der fachphilosophischen Tradition an, um eine philosophische Denkbewegung zu initiieren. Vielmehr steht die Frage im Raum, welche vorgefundenen Deutungen aus der Sicht von Schülern und des Lehrers bisher so unbefriedigend gedeutet oder problematisch erscheinen, dass philosophische Denkbewegungen mit Bezug auf diese Deutungen im Unterricht gerechtfertigt sind. Erst dann werden im Philosophieunterricht in einer problemorientierten Forschungsperspektive gegebenenfalls Deutungsangebote aus der fachphilosophischen Tradition herangezogen.“6 Die im Sinne von „Trial and Error“ gefundenen selbstgesteuert- intuitiven Lösungen gehen zwangsläufig auseinander. Die angeleitet- kontrollierten Lösungen dagegen führen konvergierend zu einem zusammenfassbaren Ergebnis. Zusammen mit der breit ansetzenden Hinführung und der möglichst eng gefassten Problemstellung kann man den Wechsel zwischen eng geführten und breit gestreuten Unterrichtsbeiträgen in der Form eines Bonbons darstellen

Danach soll die Hinführung zu einer möglichst präzisen, nachvollziehbaren Problemstellung führen, an der die Schüler in der folgenden intuitiven Problemlösungsphase selbständig oder in Zusammenarbeit mit Mitschülern arbeiten können. So können sie sich in das Problem hineindenken und mögliche Lösungen antizipieren. Sie können dadurch dem Anspruch des Textes oder anderer Medien, mit dem sie in der kontrollierten Problemlösungsphase konfrontiert werden, besser und leichter gerecht werden. In der Festigungsphase sollten die Ergebnisse der kontrollierten Phase auf den Begriff gebracht, im Vergleich mit denen der intuitiven Phase befragt und in den Zusammenhang der Reihe gebracht werden. Schließlich geht es in der Transferphase um Anwendung und Erprobung an Beispielen, kritische Stellungnahme und anschließende offene Fragen.

In den verschiedenen Lernphasen kommen die verschiedenen Methoden des Philosophieunterrichts schwerpunkthaft zu Anwendung, die Ekkehard Martens in seiner Methodik des Philosophieunterrichts fünf Methoden der Fachphilosophie zugeordnet hat7 und die die Fachverbände Ethik und Philosophie in einem Diskussionspapier 2006 als besondere

6 Gefert, Christian: Kompetenzentwicklung in philosophischen Bildungsprozessen, in: ZDPE 2/20117 Martens, Ekkehard : Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. Philosophieren als elementare Kulturtechnik. Hannover: Siebert 2003; Zusammenfassung: Ders.: Ein integratives Methodenparadigma der Unterrichtsgestaltung. In: Steenblock, Volker (Hrsg): Philosophiekurse. Münster: Lit 2004. S. 155ff.

Inzwischen hat Michael Wittschier einen Band zur den Methoden der Textarbeit und einen weiteren zu den Methoden der Gesprächsführung veröffentlicht, die sich dadurch auszeichnen, dass die vielen einfallsreichen Methoden direkt an klassischen Texten vorgeführt und erprobt werden. In dem Band über Gesprächsführung sind 23 Methoden den sechs Phasen des Bonbonmodells zugeordnet. Wittschier, Michael: Gesprächschlüssel Philosophie, München: BSV 2012

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Standards herausgestellt haben8. Man kann die verschiedenen Methoden den einzelnen Lernphasen folgendermaßen zuordnen:

In der Hinführungsphase geht es darum, dass die Schüler mit phänomenologischen Methoden etwas wahrnehmen, das zur „Problemkonstituierung“ führt.In der selbstgesteuert-intuitiven Problemlösungsphase sollen sie mit spekulativen Methoden weiterführenden Einfällen nachgehen.In der angeleitet-kontrollierten Problemlösungsphase sollen sie mit hermeneutischen Methoden Texte verstehen lernen.In der Festigungsphase geht es um die Klärung von Argumenten und Begriffen mit Hilfe analytischer Methoden. In der Transferphase schließlich sollen sie mit Hilfe dialektischer Methoden „Auseinanderssetzungen führen können“.

Die Gegenüberstellung der vergleichbaren Methoden und Unterrichtsphasen ergibt folgende Synopse:

Phasen nach H. Roth

1. Stufe der Motivation

2. Stufe der Schwierigkeiten

3. Stufe der Lösungen

4. Stufe des Tuns und Ausführens

5. Stufe des Behaltens und Einübens 6. Stufe des Bereitstellens, der Übertragung und der Integration des Gelernten (Roth, H.: Pädago-gische Psychologie des Lehrens und Lernens. 121970. S. 208ff.)

Methoden nach E. Martens und dem Diskussionspapier1. Phänomenologische Methode: etwas wahrnehmen können

2. Probleme konstituieren,Konflikte bearbeiten

3. Spekulative Methode:Einfälle haben können,Kreativität entwickeln

4.Hermeneutische Metho-de: Jemanden verstehen können; Medien erschließen5. Analytische Methode: Argumente und Begriffe klären können

6. Dialektische Methode: Auseinandersetzungen führen können; Werte klären, Argumentieren undHandeln können(Martens, E.: Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts, 2003; Diskussionspapier der Fachverbände, 2006 )

(Sistermann, Rolf in: ZDPE, 1/2005. S. 16—27; ZDPE 4/2008; 299-305; ZDPE H.1/ 2011, 22-33)

Phasen der Problemorientierung

1. Ein Problem finden, das die Schüler angeht und berührt.

2. Divergente Ansichten gegenüber- und in Frage stellen: Die „ob“- Frage. 3. Das eigene Vorwissen zur Beantwortung der Problemfrage aktivieren 4. Auseinandersetzung mit den Lösungen von Denkern der Ver- gangenheit u. Gegen- wart 5. Erarbeitete Problem- ‚Lösung‘ festhalten 6.Problematisierung der gefundenen Lösung und/oder Erweiterung bzw. Vertiefung der Problemstellung bzw. Konsequenzreflexion(Sistermann, Rolf in: Der Sinn des Lebens nach dem Bonbonmodell, in: ZDPE 4 / 2012 )

8 Methodenkompetenzen, nach Diskussionspapier der Fachverbände Ethik und Philosophie zu Bildungsstandards für die Sek. I. In: E&U, 4/2006. S. 44

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Die Reihenfolge der Lernprozessphasen ist unabdingbar. Sie können jedoch unterschiedlich lang sein. Besonders die selbstgesteuert- intuitive Problemlösungsphase kann, je nachdem, wie ausführlich die Schüler ihre Lösungen ausarbeiten und einbringen wollen, zehn Minuten, eine ganze Stunde oder sogar mehrere Stunden umfassen.Nach dem oben ausgeführten Maßstab der Problemorientierung geht es in der Hinführungsphase darum, ein Problem zu finden, das die Schüler etwas „angeht“ und sie „berührt“, weil es auf ihre „Bedürfnisse“ und „Ansprüche“ bezogen ist. Gleichermaßen soll es aber auch eines sein, zu dem die Philosophie in der gesteuert- kontrollierten Phase etwas beizutragen hat, was die Schüler zu schätzen wissen und ihnen in ihren Überlegungen weiterhilft. Beides zusammen zu bringen, ist keine leichte Aufgabe. Aristoteles schießt nun einmal keine Tore. Für viele Jugendliche ist z.B. „Fußball (unter vielen anderen Interessen- und Bestimmungsfeldern wie Freundschaften, Computerspielen und weiteren popkulturellen Freizeitaktivitäten) als Medium der Identifikation und Selbstpositionierung von großer Bedeutung.“9 Wie ist es überhaupt möglich, die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen mit den Aussagen von Philosophen in Verbindung zu bringen. Hier kann der Rückgriff auf Kinder- und Jugendbücher weiterhelfen. Autoren von Kinder- und Jugendbüchern oder von altersangemessenen Filmen haben oft eine hervorragende didaktische Arbeit geleistet, um deren Probleme anschaulich zu machen. In dem dreibändigen Lehrwerk „Weiterdenken“10 sind alle Unterrichtseinheiten an dem Bonbonmodell ausgerichtet. In den beiden Bänden für die Unter- und Mittelstufe des Unterrichtswerkes „Weiterdenken“ (Bde. A und B) wurden zur Hinführung zu philosophischen Problemen konsequent Ausschnitte aus Kinder- und Jugendbüchern oder Filmen eingesetzt. Das Unterrichtswerk „Weiterdenken“ begnügt sich aber nicht mit einem Ausschnitt aus dem betreffenden Buch, sondern nutzt, nachdem die Schüler die Protagonisten einmal kennen gelernt haben, deren Geschichte als roten Faden durch das gesamte jeweilige Kapitel.

2. Literarische Texte als Hinführung zu philosophischen ProblemenUnterrichteinheiten für einen Oberstufenband nach den grundlegenden zwei didaktischen Prinzipien zu entwerfen, nämlich konsequente Planung von Lernprozessen nach dem Bonbonmodell und Hinführung zu den Problemen durch Literatur oder Filme, erweist sich als anspruchsvoller und schwieriger als bei Unter- und Mittelstufenbänden für den Philosophie- und Ethikunterricht. Einmal genügt es bei der Auswahl der philosophischen Texte für die angeleitet- kontrollierten Problemlösungsphase nicht, irgend einen Philosophen zu finden, der zu dem betreffenden Problem einen Text geschrieben hat, der nach entsprechender Kürzung oder Bearbeitung für die Altersstufe verständlich ist. Der Oberstufenband muss eine repräsentative Auswahl von klassischen philosophischen Autoren bieten, die gegebenenfalls auch noch durch die Obligatorik vorgeschrieben sind. Eine Hinführung zu den Fragen dieser Autoren durch Jugendbücher wäre sicher auch möglich, erscheint aber für einen Oberstufenband nicht angemessen. „Weiterdenken Bd. C“ geht deshalb neben Ausschnitten aus Filmen vor allem von Ausschnitten aus anspruchsvollen Texten der klassischen Literatur aus, um zu den philosophischen Problemen eines Oberstufenbandes zu führen. Klassische Literatur ist allerdings Jugendlichen nicht ohne weiteres zugänglich. Deutschlehrer können ein Lied davon

9 Steenblock, Volker: „Aristoteles schießt keine Tore“, Gegenwartskulturelle Möglichkeiten Philosophischer Bildung, in: Volker Steenblock: Philosophie und Lebenswelt, Beiträge zur Didaktik der Philosophie und Ethik, Siebert Verlag, Hannover 2012 , 3710 Sistermann, Rolf (Hg): Weiterdenken, Braunschweig: Schroedel Bd. A, ab Klasse 5 (2009); Bd. B.

ab Klasse 8 (2009); Bd. C ab Klasse 10 (2012)

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singen. Man könnte meinen, dass es einer Hinführung zu der Hinführung bedürfte, wenn man Ausschnitte aus klassischer Literatur als Hinführung im Philosophieunterricht einsetzen will. Zudem gibt es wenig Vorarbeiten, an denen man sich orientieren kann, wenn man danach sucht, welche klassischen Werke welche philosophischen Themen ansprechen. Während es zum Thema Literatur und Religion viele Überblicke und Sammlungen gibt, fehlen solche merkwürdiger Weise zum Themenkreis Literatur und Philosophie. Die Zeit der geistesgeschichtlichen Literaturbetrachtung, die große philosophisch gehaltvolle Werke wie H.A. Korffs vierbändiges „Geist der Goethezeit“ (1923-1953) oder Fritz Strichs Buch über Schillers Leben und Werk (1923) hervorgebracht hat, ist längst vorbei. Dabei gibt es genügend Schriftsteller, allen voran Robert Musil, die philosophisch bewandert sind und sich in ihren Romanen oder Dramen mit philosophischen Gedanken auseinandersetzen. Die nicht nachlassende Beliebtheit Sartres und Camus erklärt sich nicht nur durch ihr philosophisches Werk, sondern sicher auch dadurch dass sie in gleicher Weise als Philosophen und Literaten tätig waren. Da es aber wie gesagt keinen umfassenden Überblick über die Rezeption von Philosophie in der Literatur gibt, ist man auf Zufallsfunde angewiesen, wie z.B. Irvin D. Yaloms Roman „Schopenhauer- Kur“ (2005), der einen spannenden Wettstreit um die bessere therapeutische Wirkung zwischen der Psychoanalyse und der Beschäftigung mit der Philosophie Schopenhauers bietet, oder Paul Austers Roman „Buch der Illusionen“ (2003), der am Schluss als Schlüssel für die vielschichtige Handlung um einen verschollenen Stummfilmregisseur eine tiefsinnigen Parabel über Kants Behauptung enthält, „... dass die Dinge, die wir anschauen, nicht das an sich selbst sind, wofür wir sie anschauen...und dass, wenn wir unser Subjekt oder nur die subjektive Beschaffenheit der Sinne überhaupt aufheben, all die Beschaffenheit, alle Verhältnisse der Objekte im Raum und Zeit, ja selbst Raum und Zeit verschwinden würden.“Umgekehrt gibt es auch Philosophen, die literarische Texte als Anlass nehmen, ihre philosophischen Gedanken zu entwickeln. Schon Platon setzt in Auseinandersetzung mit Homer seine Vorstellung von der unwandelbaren einen guten Gottheit gegen dessen unmoralische Göttererzählungen. Die „Odyssee“ ist in der Geistesgeschichte immer wieder herangezogen worden, um allen Lesern bekannte Beispiele für ein philosophisch relevantes Verhalten anzuführen.11 In der Gegenwart ist vor allem Peter Bieris „Handwerk der Freiheit“ zu nennen, der seine Theorie der begrenzten Freiheit in wiederholter Reflexion von Raskolnikovs Untat in Dostojewskis Roman „Schuld und Sühne“ veranschaulicht. Hannah Arendt schreibt: „Keine Lebensweisheit, keine Analyse, kein Resultat, kein noch so tiefsinniger Aphorismus kann es an Eindringlichkeit und Sinnfülle mit der erzählten Geschichte aufnehmen.“ 12 Die philosophischen Begriffe gewinnen ihre Anschaulichkeit durch Geschichten und umgekehrt bekommen Geschichten erst ihre Tiefe, wenn man ihren philosophischen Gehalt benennen kann. Kants Einsicht, dass Begriffe ohne Anschauung leer sind und Anschauung ohne Begriffe blind ist, sollte im Hintergrund jeder philosophiedidaktischen Arbeit stehen. Gezielt ausgewählte Ausschnitte aus literarischen Texten und Filmen ermöglichen die Anschauung, ohne die alle Begriffe, die im Zentrum philosophischer Arbeit stehen, leer bleiben. Schüler brauchen vor allem anschauliche Beispiele für Problemsituationen, um motiviert zu sein, die schwierige philosophische Arbeit zu anzugehen, nach einer Lösung zu suchen und zu versuchen, über deren Möglichkeit oder Unmöglichkeit eine allgemeingültige Aussage zu machen.

11 Lange Irrfahrt Große Heimkehr, Odysseus als Archetyp – zur Aktualität des Mythos, Herausgegeben von Fuchs, Gotthard, Frankfurt am Main : Knecht, 1994

12 Arendt, Hannah: (zuerst 1959), in: Menschen in finsteren Zeiten. Hrsg. Ursula Ludz. München 1989, S. 38

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Es lohnt sich also, trotz aller Schwierigkeiten, die Aufgabe anzugehen, mit Ausschnitten aus klassischen literarischen Werken eine anschauliche Hinführung zu den für die Oberstufe wichtigsten philosophischen Problemen zu finden. Mit einführenden Texten, die die fragliche Szene oder den entsprechenden Abschnitt in den Zusammenhang der Handlung stellen, mit Kürzungen und Worterklärungen kann man die Schwierigkeiten des Zugangs überwinden. Um in einem vielschichtigen Medium wie einem literarischen Text oder einem Film zwischen allen möglichen Fragen, die man an dieses stellen kann, eine zu finden, die ein wirkliches Problem enthält, das einen ergiebigen philosophischen Lernprozess verspricht, bedarf es freilich einer für den Unterricht entscheidenden Kompetenz, die man nach einer Idee Roland Henkes Philosophiepotentialaufspürkompetenz oder auch nach dem oben Ausgeführten Problemaufspürkompetenz nennen könnte. Es gilt, die entscheidende Szene, die Formulierung oder das Stichwort zu finden, das das philosophische Problem in nuce enthält. Da der Philosophieunterricht nicht die Aufgabe hat, das Werk in seiner Komposition als ganzes zu betrachten, kann er sich auf die Stellen konzentrieren, die zum problemorientierten Weiterdenken anregen. Das gleiche gilt übrigens für die Arbeit mit Filmen. Auch hier ist eine Arbeit mit Ausschnitten sinnvoller und dem Fach angemessener als den ganzen Film mit seiner unüberschaubaren Komplexität im Unterricht zu präsentieren. Freilich kommt an dieser Stelle immer der Einwand, ob damit das Stück oder der Roman nur als Steinbruch benutzt und man so dem Kunstwerk als ganzem wirklich gerecht wird. Von einem Kunstwerk als Steinbruch kann man jedoch nur dann sprechen, wenn aus den Steinen etwas ganz anderes gemacht werden soll, so wie die Ruinen antiker Tempel manchmal als Steinbruch für den Bau mittelalterlicher Ställe und Wohnhäuser genutzt wurden. Bei der Wahl von literarischen Texten als Hinführung zu philosophischen Problemstellungen jedoch werden zentrale, aber in ihrem Gehalt nicht leicht verständliche Stellen des Werkes in einer intensiveren Weise erschlossen, als dies im Literaturunterricht normaler Weise möglich ist. Was aber kann damit gemeint sein, einem Kunstwerk als ganzem gerecht werden zu wollen? Bin ich ihm gerecht geworden, wenn ich allen Aspekten nachgegangen bin, die Wolfgang Kaiser in „Das sprachliche Kunstwerk“, dem germanistischen Standardwerk der sechziger Jahre, ausführt? Welcher Deutsch- oder Literaturunterricht könnte diesen Anspruch einlösen? Und welcher Schüler könnte das aushalten? Sind nicht alle unsere Interpretationsansätze fragmentarisch und bewährten sich daran, ob es gelingt weitergehende Zusammenhänge zu erschließen? Die Frage nach der Gerechtigkeit gehört in die politische Philosophie. Nach welchem Recht sollte hier geurteilt werden? Wie sind die Gesetze zu Stande gekommen? Wer ist der Richter? Alle diese Fragen sind nicht zu beantworten. Verrät die Redensart nicht vielmehr eine unbewusste Ersatzreligion, die unter dem unerfüllten und unerfüllbaren Zwang von Ganzheitsphantasien das Kunstwerk als letztes Heiligtum betrachtet, dem man sich nur nach Absolvierung feststehender Rituale, wie Struktur-, Form- und Textanalyse, nähern darf? Stattdessen kann die Arbeit mit sorgfältig ausgewählten und aufbereiteten Ausschnitten durchaus eine Chance für die literarische Bildung bedeuten. Wenn diese in zusammenhängender Form und nicht nur als Häppchen geboten werden, können sie einen Einstieg in anspruchsvolle literarische Werke bieten, die im Literaturunterricht schon durch ihr Volumen abschrecken. Nicht selten werden Schüler durch problemorientiert ausgewählte Ausschnitte angeregt, das ganze Werk zu lesen. Bei der Planung des Oberstufenbandes „Weiterdenken Bd. C“ ist es gelungen, zu allen Themenkreisen des Philosophieunterrichts Werke alter und moderner Klassiker zu finden, die Szenen oder Ausschnitte mit philosophischem Problempotential enthalten. Der für Klasse 10 gedachte ausführliche Einführungsteil, in dem alle Themenkreise im Sinne eines Lernen an Personen an exemplarischen Denkern vorgestellt werden, nimmt in den Hinführungsteilen immer wieder Bezug auf die Odyssee. Der Qualifikationsteil wird durch fünf große Kapitel zur

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Anthropologie, zur Ethik, zur politischen Philosophie, zur Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie und zur Metaphysik und Religionsphilosophie gebildet. Als Hinführungen zu den Problemen der Anthropologie wurden Teile aus der Geschichte des Prometheus und den Filmen „A.I. Künstliche Intelligenz“ und „Into the wild“ ausgewählt. Als Hinführung zu den Grundfragen der Ethik dienen Ausschnitte aus Molieres pointenreicher Komödie „Don Juan“, in der dieser als bekennender Egoist von seinem Diener immer wieder in Frage gestellt wird. Die Auseinandersetzung der beiden Brüder in Ibsens Stück „Ein Volksfeind“, in dem es um die Aufdeckung oder Verschleierung eines Umweltskandals geht, ist eine ideale Hinführung zur Beschäftigung mit Utilitarismus und Pflichtethik. Als Hinführung zur politischen Philosophie dienen Ausschnitte aus Hauptmanns „Weber“, aus einem ergreifenden autobiographischen Roman einer jungen Chinesin über das Leben in China unter der Herrschaft Mao Tse Tungs und Brechts '“Mutter Courage“. Als Hinführung zu Problemen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie erweisen sich gezielt ausgewählte Szenen aus Goethes Faust als hervorragend geeignet. Wenn es inzwischen in NRW möglich ist, Abitur zu machen, ohne im Deutschunterricht den „Faust“ gelesen zu haben, weil dessen Lektüre anscheinend intellektuell zu anspruchsvoll ist und zu viel voraussetzt, kann und sollte der Philosophieunterricht nicht nur im eigenen Interesse diese Bildungslücke füllen. Schließlich hat der Philosophieunterricht auch eine unverzichtbare Aufgabe im Zusammenhang kultureller Bildung, wie Volker Steenblock immer wieder betont hat.

3. Die Bedeutung der Transzendenz für die Frage nach dem Sinn des LebensDie Frage nach dem Sinn des Lebens, die zu dem Thema des vorliegenden Heftes führt, könnte man auch im Zusammenhang mit der Anthropologie stellen. In dem Oberstufenband von „Weiterdenken“ führt sie jedoch zu einem eigenen Unterkapitel im Rahmen des Themenkreises „Metaphysik und Religionsphilosophie“. Die Unterrichtseinheit „Die Bedeutung der Transzendenz für die Frage nach dem Sinn des Lebens“ beschließt den Themenkreis. Voraus gehen die Unterkapitel „Die Bedeutung der Mythen“, „Metaphysische Gottesvorstellungen“ und „Religionskritik- Standpunkte und Einwände“.Wenn man nach literarischen Hinführungen zu der Frage nach dem Sinn des Lebens sucht, bieten sich Ausschnitte aus Shakespeares „Hamlet“, aus Büchners „Dantons Tod“ oder aus Camus' Roman „Der Fremde“ an. Alle drei literarischen Werke zeigen Menschen, die sich mit dem nahen Ende ihres Lebens auseinandersetzen müssen, einer Situation, in der die Frage nach dem Sinn ihres Lebens besonders drängend wird. Die Frage nach „Sein oder Nichtsein“ in Shakespeares „Hamlet“ ist geradezu sprichwörtlich geworden. Die Fortsetzung, „ob es nobler im Gemüt ist ….“ wird durch die Konjunktion eingeleitet, die ich oben als die eigentliche Problemkonstituierungskonjunktion bezeichnet habe. Auch die Meditation über die Vergänglichkeit an Hand von Yoricks Schädel, dem toten Spaßmacher des Königshofes, wirft die Sinnfrage auf13. Camus' Roman „Der Fremde“ bietet über dies am Schluss ein Gespräch Meursaults mit dem Gefängnispfarrer über den Atheismus, das sich auch als Hinführung über das Unterkapitel zur Religionskritik eignen würde. Durch die Hinführung zu einem weiteren Unterkapitel kann das jeweilige literarische Werk in einem größeren Zusammenhang vorgestellt werden. Aber auch das Religionsgespräch unter Dantons Freunden im Gefängnis mit der klassischen Formulierung „Das Leid ist der Fels des Atheismus“ ist für die Hinführung zu dem vorausgehenden Unterkapitel über Religionskritik gut geeignet. „Dantons Tod“ hat außerdem im Unterschied zu den beiden anderen zur Wahl stehenden Werken den Vorteil, dass der Handlungszusammenhang nicht schwer zu erklären ist und die Motive der handelnden Personen

13 Vgl. Steenblock, Volker: „Der Rest ist Schweigen“. Shakespeares „Hamlet“und der Tod, in: ZDPE H.4/2010

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leicht nachvollziehbar sind. Dass in Shakespeares „Hamlet“ ein Königssohn meint, seinen Onkel und Stiefvater umbringen zu müssen, weil der Geist seines verstorbenen Vaters ihm mitgeteilt hat, von diesem ermordet worden zu sein, ist eine Problematik, die Jugendliche nicht ohne weiteres nachvollziehen können. Auch die Gleichgültigkeit des Fremden, der am Strand von Algier einen ihm unbekannten Araber erschießt, weil er vermeintlich ein Messer in der Sonne aufblitzen gesehen hat, wird man den Schülern durch kurze Einführungssätze kaum vermitteln können. Allerdings stellt Büchners anspielungsreiche Sprache für Schüler eine besondere Hürde dar, die nur durch gezielte kommentierende Einführungen und Kürzungen zu überwinden ist. Die Entscheidung für eines der drei möglichen Hinführungsmedien hängt jedoch vor allem davon ab, welche Zusammenhänge und Begriffe in den einzelnen Unterrichtseinheiten zu dem jeweiligen Thema erarbeitet werden sollen und ob die auszuwählenden Textabschnitte damit in Verbindung gebracht werden können. Das setzt eine gezielte Themenanalyse voraus, deren Ergebnisse im Lehrerband in einem Begriffsnetz festgehalten werden (s. Anhang).Im Anhang des Oberstufenbandes von „Weiterdenken“ sind die wichtigsten Begriffe jedes Unterkapitels mit den Bedeutungen, die im Text erarbeitet wurden, zur Selbstkontrolle der Sachkompetenz zusammengestellt. In dem Unterkapitel „Die Bedeutung der Transzendenz für die Frage nach dem Sinn des Lebens“ sind dies die Begriffe „Absurdität“, „Transzendenz“, „Sinn“ und „Teilhabe vs. Selbstbehauptung“. Leitend für diese Auswahl und die zu vermittelnde Bedeutung ist die Typologie von „Teilhabe vs. Selbstbehauptung“, die am Ende des Kapitels steht. Mit diesen beiden Begriffen bezeichnet Werner Becker die zwei möglichen Grundhaltungen angesichts des Wissens um die eigene Sterblichkeit. Nach dem Philosophen Werner Becker müssen wir nicht nur die Religion, sondern unsere gesamte Kultur, die politischen Ideologien und auch die atheistischen Philosophien als Versuche verstehen, mit der Tatsache fertig zu werden, dass wir um unseren Tod wissen, aber ihn uns nicht vorstellen können und nicht wahrhaben wollen. Man kann in dem Gedankengang seines Buches „Das Dilemma der menschlichen Existenz“ (Stuttgart u.a. 2000) vier Schritte unterscheiden:

In dem ersten Schritt geht es um das Bewusstwerden der Sterblichkeit, das den Menschen grundlegend vom Tier unterscheidet. Der Mensch kann darauf mit Annahme oder Abwehr reagieren, kann aber nicht mehr dahinter zurück. Indem er sich bewusst geworden ist, das der Tod nicht nur das andere Tier in seinem Rudel oder seiner Herde bedroht und schmerzhaft erfasst, sondern auch unausweichlich ihn selbst erreichen wird, hat er von der Frucht der Erkenntnis des Guten und Bösen genossen, ist aus dem Paradies des zeitlosen Lebens herausgefallen und weiß, dass er sterblich ist. Mit der Anerkennung der Tatsache der eigenen Sterblichkeit verbindet sich das existenzielle Dilemma des Menschen. Nach Werner Becker bewirkt der Umstand, dass jeder das Schicksal des Todes mit einem jedem teilt, nicht, „dass der Eindruck der Einmaligkeit durch den Eindruck der Gleichheit ersetzt werden könnte“. Einerseits akzeptiert man, wie alle sterblich zu sein. Andererseits versteht man sich, in Auflehnung dagegen, als einzige mögliche Ausnahme. Die Intensität der Dramatisierung, mit der die Auflehnung gegen das Sterbenmüssen einhergeht, macht zugleich den zentralen Gehalt des Individualitätsbewusstseins aus. Die spezifische Art und Weise, wie ein Mensch auf das Wissen um den Tod reagiert, prägt in besonderer Weise seinen Charakter.In einem zweiten Schritt geht es um die spezifische Ausprägung des menschlichen Individualitätsbewusstseins und die Ausprägung charakteristischer Lebensstile. Ist der Mensch sich einmal seiner Endlichkeit bewusst geworden, bleiben ihm auf der lebenspraktischen Ebene eigentlich nur zwei grundlegende Möglichkeiten, die allerdings im gelebten Alltag meist in widersprüchlicher Weise vermengt sind: Der eine Weg bedeutet einen weitgehenden Verzicht auf Ausgestaltung der eigenen

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Individualität durch „Externalisierung“ alles Besonderen. Dieser findet seine Bestimmung letztlich nur in der Teilhabe an einem überindividuellen unsterblichen Wesen. Mythisierung kann man als den Versuch betrachten, das Dilemma von Besonderheit und Einzigartigkeit auf der einen Seite und von Vergänglichkeit und Bedeutungslosigkeit auf der anderen Seite dadurch zu lösen, dass die Vorstellung von Individualität auf ein unsterbliches Wesen übertragen wird. In der verehrenden Teilhabe an diesem Wesen kann der Mensch zwar nicht selbst der Sterblichkeit entgehen, aber an Unsterblichkeit und Unvergänglichkeit in einer wie auch immer gearteten Form teilhaben. Der andere ist der Weg des Heroismus oder der Individuation. Er versucht mit der Todesangst dadurch fertig zu werden, dass das Selbst seine Größenphantasien auslebt und seine Individualität möglichst grandios inszeniert. Er bedeutet eine Steigerung durch Theatralik „grandioser Selbstinszenierung“. Man könnte auch sagen, es ist der Weg des Größenwahns und der Angeberei. In einem dritten Schritt kann man auf der theoretischen Ebene Teilhabe und Selbstbehauptung als grundlegende kulturelle Betätigungen unterscheiden. Beide Versuche, mit der Todesangst fertig zu werden, sind kulturprägend. Als Beispiele für den ersten Weg nennt Becker alle religiösen und metaphysischen Bewegungen und speziell den Platonismus und das Christentum. Beispiele für den zweiten Weg findet Becker [....] in den Heldensagen aller Völker. Mit Ausnahme von Max Stirner ist die Selbstbehauptung nirgendwo unverhüllter als Idee der möglichst grandiosen Selbstinszenierung ausformuliert als bei Nietzsche. Auch das Unternehmertum im Kapitalismus ist für Werner Becker ein Beispiel für die Haltung der Selbstbehauptung angesichts des Todes. Die Wirtschaftswissenschaften [...] haben seiner Meinung nach verkannt, dass das antreibende Motiv des Kapitalisten nicht die Habsucht ist, sondern das Streben nach dem knappen „Positionsgut“ der gesellschaftlichen Anerkennung als hervorragender Unternehmer.In einem vierten Schritt des Gedankengangs bei Werner Becker geht es um die Kosten und den Erfolg der Versuche, mit der Todesangst fertig zu werden. Die Religionskritik hat immer nur die Versuche, an einem göttlichen Wesen und seiner Unsterblichkeit teilhaben zu wollen, für illusionär gehalten und die Anerkennung der Sterblichkeit als verheißungsvollen Weg zu einer befreienden Autonomie gepriesen. Werner Becker betont dagegen, dass auch der Weg der Selbstbehauptung zum Scheitern verurteilt sei, weil die Positionen gesellschaftlicher Anerkennung, die die Todesangst verblassen lassen, knapp sind. Immer nur ganz wenige könnten hoffen, sich einen Namen gemacht zu haben, der noch einige Zeit im Gedächtnis der Menschheit bleiben wird, und selbst die wenigen werden einmal vergessen sein. Der Kampf um die knappen Positionen gesellschaftlicher Anerkennung entspricht dem von Hobbes beschriebenen Kampf aller gegen alle. Besonders zerstörerisch wird er, wenn aus der Erkenntnis der Knappheit die Dilemmaentlastung wie im Nationalismus oder Kommunismus in einem heroischen Kollektivsubjekt gesucht wird.

In dem Oberstufenband von „Weiterdenken“ steht dieser zusammenfassende Text zur Festigung des vorher Erarbeiteten am Schluss des Kapitels. Die vier Stufen werden unter Weglassung der Nummerierung in veränderter Reihenfolge als Gruppenpuzzle dargeboten. Die beiden Grundhaltungen werden vorher in vier nach dem Bonbonmodell gestalteten Unterrichteinheiten erarbeitet. Im Folgenden eine exemplarische Skizze der Unterrichtseinheit zum Begriff „Sinn“:

Von den vielen Facetten und Bedeutungen der Sinnfrage, über die man sich in dem einschlägigen Werk von Christian Thies einen umfassenden Überblick verschaffen kann14, wurden in „Weiterdenken Bd. C“ zwei ausgewählt, die den Grundhaltungen von Teilhabe oder Selbstbehauptung entsprechen, nämlich einmal die Orientierung an einem

14 Thies, Christian: Der Sinn der Sinnfrage, Freiburg 2008

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vorgegebenen und zum anderen die an einem selbst gegebenen Sinn. Thies spricht unter der Überschrift „Ersatz- Metaphysik“ von „Sinn entdecken“ und „Sinn geben“. In der Unterrichtseinheit zum Begriff „Sinn“ führen zwei Stellen aus Dantons Tod (M1) zu der Problemstellung, ob das Leben angesichts des unausweichlichen Todes überhaupt einen Sinn haben kann. Nachdem die Schüler in der intuitiven Problemlösungsphase angeregt durch das eindrucksvolle Plakat von W. Walsulksi 15 Gelegenheit bekommen haben, zu dieser Frage Stellung zu nehmen, können sie in der kontrollierten Problemlösungsphase die den Grundhaltungen von Teilhabe oder Selbstbehauptung entsprechenden Antworten aus den drei im Anhang abgedruckten Texten erarbeiten. Der Wissenssoziologe Thomas Luckmann16 spricht in seinem Text (M2) von einem Alltagssinn, der in offenbar vorgegebenen tieferen abgestuften Sinnschichten, die bis zu einem „heiligen“ Wirklichkeitsbereich reichen, „eingebettet“ ist. Erfahrungen mit diesem „letzten Sinn“ macht man nach Luckmann vor allem beim Zusammenbruch der „Routinen des täglichen Lebens“, zum Beispiel in der Angst im Wissen um den unmittelbar bevorstehenden Tod, wie sie Danton und seine Freunde im Gefängnis erleben. J. P. Sartre17 behauptet dagegen, dass es einen vorgegebenen Sinn ebenso wenig gebe wie einen Gott (M3). „Bevor Sie leben, ist das Leben nichts, es ist an Ihnen, ihm einen Sinn zu geben, und der Wert ist nichts anderes als dieser Sinn, den Sie wählen.“Bei der Aufforderung, sich zu den beiden Polen „Einen vorgegebenen Sinn finden“ oder „Einen selbst gegebenen Sinn erfinden“ an der Tafel mit einem Kreidekreuz zu positionieren, tendierten in meinem Kurs in der Klasse 12 von 25 Schüler und Schülerinnen außer drei muslimischen Schülerinnen alle anderen zu der zweiten Position. Bei diesem Befund, der durch die Shell Jugendstudie 2010 zur Wertorientierung bestätigt wird, erscheint es sinnvoll, den Prozess des Sinngebens noch einmal zu hinterfragen18. Wilhelm Weischedel (M4) 19 spricht in diesem Zusammenhang von einer Sinnkette, in der jedes Glied dem anderen nur dann einen Sinn verleihen kann, wenn es selber sinnvoll ist. Dabei unterstellt er, dass es seinen Sinn von einem „höheren“ umfassenderen Sinnhaften erhalten hat. Am Ende der Kette muss demnach ein „unbedingter Sinn“ stehen oder die ganze Kette ist sinnlos.In ähnlicher Weise argumentiert Robert Spaemann mit einer höheren Sinnebene in einem Interview, das in „Weiterdenken Bd.C“ im Unterkapitel „Metaphysische Gottesvorstellungen“ in einem Ausschnitt als Arbeitstext abgedruckt ist.20 Gegen die neuen Atheisten wie Richard Dawkins, die meinen, Beweise für die Nichtexistenz Gottes führen zu können, vergleicht er Platons Höhle mit einem Kino. Dawkins Versuch, die Nichtexistenz Gottes aus der wahrgenommenen Wirklichkeit beweisen zu

15 Plakat zur Verfilmung von Dantons Tod: http://www.listal.com/viewimage/777872h16 Luckmann, Thomas : Die unsichtbare Religion, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 199117 Sartre, Jean-Paul: Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays.

(1946) Neuübersetzung von Vincent von Wroblewsky. Reinbek 199418 http://www-static.shell.com/static/deu/downloads/youth_study_2010_values.pdf19 Weischedel, Wilhelm: Der Gott der Philosophen, Grundlegung einer philosophischen Theologie im

Zeitalter des Nihilismus, 2.B., Darmstadt: WB 1972, 170f20 Spaemann, Robert: „Wie ein Kino ohne Projektor“, Das Gespräch führte Günther

Klempnauer, Rheinischer Merkur Nr. 46, 12.11.2009

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wollen, gleiche dem Unverständnis von Menschen, die immer nur die Leinwand sehen und nicht glauben können, dass es einen Projektor gibt, weil sie ihn auf der Leinwand noch nie gesehen haben. Ein Beispiel für literarische Texte als Hinführung zu einer Problemstellung und zugeordneten philosophischen Arbeitstexten für die kontrollierte Problemlösung:

Ein Beispiel für literarische Texte als Hinführung zu einer Problemstellung und zugeordneten philosophischen Arbeitstexten für die kontrollierte Problemlösung:

M1 Georg Büchner: Im Angesicht des Todes (Dantons Tod III,4)Nachdem Danton wegen angeblicher Verschwörung verhaftet wurde, muss er sich vor dem Vorsitzenden des Revolutionstribunals Herman verantworten:HERMAN:Danton, der Konvent beschuldigt Sie, mit (…) den Fremden und der Fraktion Ludwigs des XVII. konspiriert zu haben.DANTON:Meine Stimme, die ich so oft für die Sache des Volkes ertönen ließ, wird ohne Mühe die Verleumdung zurückweisen. Die Elenden, welche mich anklagen, mögen hier erscheinen, und ich werde sie mit Schande bedecken. Die Ausschüsse mögen sich hierher begeben, ich werde nur vor ihnen antworten. Ich habe sie als Kläger und als Zeugen nötig. Sie mögen sich zeigen. (...) HERMAN schellt. Hören Sie die Klingel nicht?DANTON. Die Stimme eines Menschen, welcher seine Ehre und sein Leben verteidigt, muß deine Schelle überschreien. [...] Meine Stimme hat aus dem Golde der Aristokraten und Reichen dem Volke Waffen geschmiedet. Meine Stimme war der Orkan, welcher die Satelliten des Despotismus unter Wogen von Bajonetten begrub. [...] Jetzt kennt Ihr Danton – noch wenige Stunden, und er wird in den Armen des Ruhmes entschlummern.

Im Gefängnis, sprechen seine mitangeklagten Freunde, der Rechtanwalt Lacroix, der Generalleutnant Philippeau und der Verleger einer satirischen Zeitschrift Camille Desmoulins mit ihm über seinen Auftritt vor dem Tribunal:LACROIX. Du hast gut geschrieen, Danton; hättest du dich etwas früher so um dein Leben gequält, es wäre jetzt anders. Nicht wahr, wenn der Tod einem so unverschämt nahe kommt und so aus dem Hals stinkt und immer zudringlicher wird?[...]DANTON. Wär es ein Kampf, daß die Arme und Zähne einander packten! Aber es ist mir, als wäre ich in ein Mühlwerk gefallen, und die Glieder würden mir langsam systematisch von der kalten physischen Gewalt abgedreht. So mechanisch getötet zu werden!CAMILLE. Und dann daliegen allein, kalt, steif in dem feuchten Dunst der Fäulnis – vielleicht, daß einem der Tod das Leben langsam aus den Fibern martert – mit Bewußtsein vielleicht sich wegzufaulen!PHILIPPEAU. Seid ruhig, meine Freunde! Wir sind wie die Herbstzeitlose, welche erst nach dem Winter Samen trägt. Von Blumen, die versetzt werden, unterscheiden wir uns nur dadurch, daß wir über dem Versuch ein wenig stinken. Ist das so arg?DANTON. Eine erbauliche Aussicht! Von einem Misthaufen auf den andern! Nicht wahr, die göttliche Klassentheorie? Von Prima nach Sekunda, von Sekunda nach Tertia und so weiter? Ich habe die Schulbänke satt, ich habe mir Gesäßschwielen wie ein Affe darauf gesessen.[...] Ich kann nicht sterben, nein, ich kann nicht sterben. Wir müssen schreien; sie müssen mir jeden Lebenstropfen aus den Gliedern reißen.

Im Folgenden geht es um das Problem, ob das Leben angesichts des unausweichlichen Todes überhaupt einen Sinn haben kann.

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M2 Thomas Luckmann: Religiöse Symbole für die letzte Sinnwirklichkeit (1991)Die Gewohnheiten des täglichen Lebens erhalten ihren Sinn durch ihre Einbettung in verschiedene biografische, gesellschaftliche und geschichtliche Sinnschichten. Der Sinn des täglichen Lebens wird erfasst, indem er den Sinnschichten zugeordnet wird, die den Alltag transzendieren. Alltägliche Gewohnheiten sind Teil einer vertrauten Welt, einer Welt, in der man sich durch gewöhnliches Handeln zurechtfinden kann. Ihre „Realität“ kann mithilfe der gewöhnlichen Sinneswahrnehmung gewöhnlicher Menschen erfasst werden. Es handelt sich um eine Wirklichkeit, die konkret, unproblematisch und, wie wir nun sagen können, „profan“ ist. Die Bedeutungsschichten hingegen, auf die sich das alltägliche Leben letztlich stützt, sind weder konkret noch unproblematisch. [...] Der Wirklichkeitsbereich, der die alltägliche Welt transzendiert, wird als geheimnisvoll und andersartig erfahren. Wenn das tägliche Leben „profan“ ist, so erscheint die transzendente Wirklichkeit als „heilig“.Die Beziehung zwischen der alltäglichen Welt und dem heiligen Wirklichkeitsbereich ist indirekt. Dazwischen liegen viele abgestufte Sinnschichten, die die trivialen und „profanen“ Routinen an die letzte Bedeutung einer Biografie, einer historischen Tradition u. a. vermitteln. Es gibt allerdings auch eine ganz andere Art von Erfahrung, die sich dann einstellt, wenn die Routinen des täglichen Lebens zusammenbrechen. Solche Erfahrungen reichen von der Hilflosigkeit im Angesicht unkontrollierbarer natürlicher Ereignisse bis zum Wissen um den Tod. Sie werden regelmäßig von Angst oder Ekstase (oder einer Mischung aus beidem) begleitet. Erfahrungen dieser Art werden in aller Regel als unmittelbare Äußerungen der Wirklichkeit des sakralen Bereichs aufgefasst. Sowohl der „letzte Sinn“ des Alltagslebens wie auch der Sinn außergewöhnlicher Erfahrungen haben also ihren Ort in diesem „anderen“, „heiligen“ Wirklichkeitsbereich.

M 3 Jean Paul Sartre: Es ist an Ihnen, dem Leben einen Sinn zu geben (1946)Der Existentialist denkt im Gegensatz dazu [zu einem bestimmten Typ weltlicher Moral, der Gott leugnet, aber die vorgegebenen Werte unverändert beibehalten will]: Es ist sehr unangenehm, dass Gott nicht existiert, denn mit ihm verschwindet jede Möglichkeit, Werte in einem intelligiblen Himmel zu finden; es kann kein a priori Gutes mehr geben, da es kein unendliches und vollkommenes Bewusstsein gibt, es zu denken; nirgends steht geschrieben, dass das Gute existiert, dass man ehrlich sein soll, nicht lügen darf, denn wir befinden uns ja auf einer Ebene, wo es nichts gibt außer den Menschen. [...]Da ich Gottvater beseitigt habe, braucht es ja wohl jemanden, die Werte zu erfinden. Man muss die Dinge nehmen, wie sie sind. Und im Übrigen, wenn wir sagen, dass wir die Werte erfinden, so bedeutet das nichts anderes als: das Leben hat a priori keinen Sinn. Bevor Sie leben, ist das Leben nichts, es ist an Ihnen, ihm einen Sinn zu geben, und der Wert ist nichts anderes als dieser Sinn, den Sie wählen. [...]Der Existentialismus ist nicht so sehr ein Atheismus in dem Sinn, dass er sich in dem Beweis erschöpfte, Gott existiere nicht. Er erklärt vielmehr: Selbst wenn Gott existierte, würde das nichts ändern; das ist unser Standpunkt. Nicht, dass wir glauben, Gott existiere, doch wir meinen, das Problem ist nicht seine Existenz; der Mensch muss sich selbst wiederfinden und sich davon überzeugen, dass nichts ihn vor sich selbst retten kann, und sei es auch ein gültiger Beweis der Existenz Gottes.

M 4 Wilhelm Weischedel: Die Sinnkette (1972)Forscht man dem Phänomen des Sinngebens eindringlicher nach, dann zeigt sich: Das Sinngebende muss selber sinnhaft sein, um dem Sinnhaften, das in ihm seinen Sinn findet, Sinn verleihen zu können. [...] Das Verstehen von Sinn aber vollzieht sich so, dass es sich gleichsam an der Kette der Sinnverweisungen und Bedeutungen entlangtastet, um einen immer umfassenderen Sinn zu finden. [...]Was nun den umfassenden Sinn als solchen angeht, so muss er zwar, um anderem Sinn verleihen zu können, selber sinnhaft sein. Sofern er aber wirklich umfassend ist, kann seine Sinnhaftigkeit nicht, wie die eines jeden anderen Sinnhaften, in einem höheren Sinnhaften gründen, auf das er deutete und von dem her er seine Sinnhaftigkeit erhielte. Er müsste also – gesetzt, es gäbe ihn – seinen Grund und seine Bedeutung in sich selber tragen. Insofern kann man ihn als den unbedingten Sinn bezeichnen; denn unbedingt sein besagt ja: seinen Grund nicht in einem anderen Bedingenden haben. So kommt die genauere Betrachtung des umfassenden Sinnes zu dem Grundsatz der Notwendigkeit eines unbedingten Sinnes zur Ermöglichung von bedingtem Sinn. [...] Wo also die Frage nach der Sinnhaftigkeit des

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Einzelnen ernstlich gestellt wird, da kann sie nur entweder bei einem unbedingten Sinn oder bei der absoluten Sinnlosigkeit enden.

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Begriffsnetz zum Kapitel: Die Bedeutung der Transzendenz für die Frage nach dem Sinn des Lebens

Absur-dität

Unnütz und aussichtslos

Der Held des Absurden (Camus)

Rachsucht Eitelkeit Scheinheroismus (Salomon)

Beispiel Sisyphos

Selbstüberschätzung

Selbstdistanzierun

Demut (Nagel)

Transzendenz in der Natur (Hamsun)

Transzendenz in der Liebe (Joas )

Transzendenz im Antlitz des Anderen(Lévinas)

Scheitern der Transzendenz an der Sterblichkeit des Anderen (Bauman)

Sinn

Sinn durch Einbettung in vorgegebene Sinnschichten (Th. Luckmann)

Der selbst gegebene Sinn(J. P. Sartre)

Die Sinnkette verweist auf einen umfassenden Sinn(W. Weischedel)

Grundhaltun-gengegenüber dem Wissen um den eigenen Tod

Loslassen oder Kämpfen(Tugendhat)

Selbsterschaf-fung vs. Teilhabe an der ewigen Realität(Kolakowski)

Selbstbe-hauptung vs.Teilhabe(W. Becker)

Prometheu Nietzsche

Imaginiertes Ewiges Wesen

Hinfüh-rungen aus G.. Büchner: Dantons Tod„’s ist nicht zum Aushal-ten“ II,1

„Wir sind Dickhäu-ter“I,1

„In den Armen des Ruhms“-„Ich kann nicht sterben.“III,4

„Will denn die Uhr nicht ruhen?“IV,3

Transzen-denz