Säkularisation als sprachbildende Kraft · SÄKULARISATION ALS SPRACHBILDENDE KRAFT . Studien zur...

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Albrecht Schöne Säkularisation als sprachbildende Kraft Vandenhoeck cf Ruprecht G.A. Bürger-Archiv

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Albrecht Schoumlne

Saumlkularisation als sprachbildende Kraft

Vandenhoeck cf Ruprecht

GA Buumlrger-Archiv

PALAESTRA UNTERSUCHUNGEN AUS DER DEUTSCHEN UND

ENGLISCHEN PHILOLOGIE UND LITERATURGESCHICHTE

BEGRuumlNDET VON ERICH SCHMIDT UND ALOIS BRANDL

Herausgegeben von

Wolfgang Kaysert I Hans Neumann

Ulrich Pretzell Ernst Theodor Sehrt

Band 226

Albrecht Schoumlne

Saumlkularisation

als sprachbildende Kraft

GOumlTTINGEN VANDENHOECK amp RUPRECHT 1968

GA Buumlrger-Archiv

SAumlKULARISATION

ALS SPRACHBILDENDE KRAFT

Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersoumlhne

VON

ALBRECHT SCHOumlNE

Zweite uumlberarbeitete und ergaumlnzte Auflage

~ -GOumlTTINGEN VANDENHOECK amp RUPRECHTmiddot 1968

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copy Vandenboeck amp Ruprecht in Goumlttingen 1968 - Printed in Germany Ohne ausdruumlckliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustoshymechanischem Wege zu vervielfaumlltigen - Gesamtherstellung

Hubert amp Co Goumlttingen

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INHALT

I

EINFuumlHRUNG 7

II

POSTFIGURALE GESTALTUNG 37

Andreas Gryphius

III

WIEDERHOLUNG DER EXEMPLARISCHEN BEGEBENHEIT 92

Jakob Michael Reinhold Lenz

IV

DIDAKTISCHE VERWEISUNG 139

Jeremias Gotthelf

V

WELTLICHE KONTRAFAKTUR 181

Gottfried August Buumlrger

VI

uumlBERDAUERNDE TEMPORALSTRUKTUR 225

Gottfried Benn

VII

ZUR TYPOLOGIE DER S~KULARISATIONSFORMEN 268

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v

WELTLICHE KONTRAFAKTUR

Gottfried August Buumlrger

Ins Kirchenbuch von Molmerswende im Mansfeldischen schrieb der dashymalige Prediger des kleinen Doumlrfchens daszlig ihm am letzten Tag des zu Ende gehenden Jahres am 31Dezember 1747 ein Kind geboren worden sei Gottfried August Buumlrger Und die Besonderheit dieser Geburtsstunde wohl hat spaumlter den Sohn versucht der Wahrheit ein wenig Dichtung beishyzumischen Denn er war ein Poet geworden und hielt sich nicht fuumlr einen Spaumltling sondern fuumlr einen Beginnenden So erzaumlhlte er dem Arzt Ludwig Christoph Althof er sei geboren worden in der ersten Stunde des Jahres 1748 unter den Gesaumlngen womit man nach alter Sitte das angekommene neue Jahr vom Kirchthurme herab zu begruumlszligen pflegte 1

In viele seiner Lebensbeschreibungen hattJiese kleine Geburtslegendesich eingeschlichen und es scheint als habe Buumlrger ohne das zu woilen mit ihr auf eine tiefere Wahrheit gedeutet als die der aumluszligeren Genauigshykeit das erste was das Kind von der Welt empfing was ihm gleichsam in die Wiege gelegt wurde sind Worte einer Dichtung gewesen Verse aus den groszligen Neujahrsliedern der christlichen Kirche

Die beiden Paten die ihn zur Taufe trugen waren Geistliche wie sein Vater In das Haus des einen der die benachbarte Pans felder Pfarre vershywaltete und den Buumlrger mit seinem raquoPfarrer von Taubenhainlaquo geshymeint haben soll kam der Junge eine Zeitlang jeden Tag uumlber die Asseshyburgschen Felder hinuumlber um zusammen mit den dortigen Pastorskindern von einem Informator unterrichtet zu werden Aber im uumlbrigen wuchs er zwoumllf Jahre lang im vaumlterlichen Pfarrhause heran lernte nur wenig anderes als solche Lieder wie seine Geburtslegende sie erwaumlhnt die Geshyschichten der Bibel und das Lesen und Schreiben das er an ihnen uumlbte Denn mit dem Lateinischen haperte es sehr seinen Vater einen Liebshyhaber von Tobak und Bequemlichkeit kam es hart an einmal ein Viertelshystuumlndchen auf den Unterricht des Sohnes zu verwenden zumal er ihn

lLChr Althof Einige Nachrichten von den vornehmsten Lebensumstaumlnden Gottshytried Auiu~ Buumlrg~rs nebst einem Beitrag zur Charakteristik desselben 1798 (Zit nach d Abdruck in Buumlrgers saumlmmtL Werke hrsg AWBohtz 1835 S429ff Hier 5430) - Selbst Buumlrgers Grabstein nennt als Geburtstag den 1 Januar 1748

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fuumlr einen Dummkopf hielt von dem ohnehin nicht viel zu erwarten waumlre Und die Mutter hatte selbst kaum gelernt leserlich zu schreiben

Der Zwoumllfjaumlhrige verlieszlig das Vaterhaus ging zum Groszligvater nach Aschersleben und besuchte dort die lateinische Schule lutherischer Konshyfession Auch hier klingen die alten Kirchenlieder wieder auf von Amts wegen hatten die Scholaren an den Leichenkondukten teilzunehmen woshybei es auszligerordentlich viel zu singen gab 2 1760 dann fuumlhrt man Buumlrshyger als Schuumller des Koumlniglichen Paumldagogiums zu flaUe das ein orthodoxes Luthertum mit pietistischem Einschlag vertritt Neben dem Religionsshyunterricht und zahlreichen Andachtsuumlbungen betreiben die Lehrer eine spezielle cura animarum auf den Schuumllerstuben es wird von haumlufiger Kommunion berichtet der rigorose Seelenpruumlfungen vorangehen noch bei Tische liest man aus geistlichen Buumlchern vor und des Schulinspektors scharfer Tadel ergeht selbst an die Praumlzeptoren wenn sie versuchen dashybei in eine Zeitung zu schielen a

Nach drei Jahren holt der Groszligvater den Jungen aus Halle zuruumld Es ist ein alter eigensinniger Mann schreibt der Inspektor am 5 Sepshytember 1763 in seine Akten~p~r kleine Engel sitzt in Prima ein Halbshyjahr und ist ohngefaumlhr 15 Jahr a1t~-Er-welntemiddotunc1middotmiddotl5at ich moumlchte doch seine Stelle noch nicht vergeben er wollte beim Groszligvater um Prolonshygation bitten Aber der alte Mann hats abgeschlagen 4

Im Jahr darauf bezieht der Sechzehn jaumlhrige die Universitaumlt Halle um Theologie zu studieren Althof hat erklaumlrt daszlig diese Studienrichtung seiner eigenen Neigung ganz entgegen gewesen und durch den groszligvaumltershylichen Willen bestimmt worden sei Buumlrger haumltte lieber jedes andere Fach gewaumlhlt aber der alte Mann von dem er zumal nach dem bald darauf erfolgten Tode seines Vaters gaumlnzlich abhing habe durchaus einen Geistlichen aus ihm machen wollen Inwieweit das auch im Willen des Vaters lag der selbst ja auch in Halle sein Theologiestudium absolviert hatte bleibt ungewiszlig Er war nicht mehr am Leben als der junge Theoshy

2 HProumlhle GABuumlrger Sein Leben u s Dichtungen 1856 S28 3 VgL ADaniel Buumlrger auf der Schule (Progr d kgL Paumldagogiums zu Halle 1845)

Wiederabdruck in Zerstreute Blaumltter 1886 S 47 f Althof berichtet (a a O S432) daszlig einer der Lehrer mit seinen Schuumllern uumlbungen im Versemachen veranstaltet habe indem er ihnen Anfangs Verse aus den besten Deutschen Dichtern in versetzter Ordshynung der Woumlrter aufgegeben um sie wieder in die metrische Ordnung zu bringen und daszlig sich bei Buumlrger schon damals die entschiedene Anlage zur Dichtkunst und die besondere Vorliebe fuumlr die Volks-Poesie deutlich verrathen haben Auch hier ist freishylich zu vermuten daszlig die Neigung des alternden Buumlrger und seines Biographen zur Leg~ndenbildung uumlber die Tatsachen hinweggeht Denn Danicl (a a O S68) der aus den Schulakten die genauen Lektionsplaumlne und Schuumllerlisten zusammensuchte hat festshygestellt daszlig bei dem betreffenden Praumlzeptor niemals oratorischen oder deutshyschen Unterricht gehabt hat in dem allein Raum fuumlr solche Versuumlbungen gewesen sein koumlnnte

4 A Daniel S 72 5 A a O S 432

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loge schon nach wenigen Semestern vom Groszligvater nach Aschersleben zuruumlckgerufen Halle wieder verlieszlig und die Gottesgelehrsamkeit aufshygab 1768 ging Buumlrger aufs neue zur Universitaumlt diesmal nach Goumlttingen - zum Studium der Jurisprudenz~

Von dieser Zeit an zeigen seine Briefe eine zunehmende Entfernung von der strengen lutherischen Orthodoxie die die ersten zwanzig Jahre seines Lebens bestimmt hatte Ein zuverlaumlssigeres Zeugnis als die sehr unterschiedlich gefaumlrbten Gelegenheitsaumluszligerungen uumlber sein Verhaumlltnis zum Christentum gibt dafuumlr die Art des Umgangs mit dem angestammshyten religioumlsen Sprachgut Bibelworte Verse des Kirchenliedes und liturshygische Formeln vor allem werden voumlllig unbedenklich aus dem geheiligten Kodex geloumlst und ohne die mindeste Ruumlcksicht auf ihren ehrwuumlrdigen Ursprung gaumlnzlich auszligerreligioumlsen ja vorzugsweise spielerischen und scherzhaften Zwecken dienstbar gemacht Sie sind gerade gut genug

6 Die Buumlrger-Biographen pflegen die Hallenser Studentenzeit in duumlsteren Farben zu malen Da ist der Umgang mit Chr A Klotz dem Professor der Beredsamkeit in dessen Hause ein junger Theologe sich eigentlich nicht haumltte bewegen sollen da wird berichtet von einem sittenlosen Bummelleben und dem Miszligfallen an der Theologie mit der sich Buumlrgers sinnliches Temperament nicht vertragen habe In Wahrheit weiszlig man uumlber das alles kaum Genaues Sicher ist nur daszlig Buumlrger verbotenerweise an der Gruumlndung einer niedersaumlchsischen Landsmannschaft beteiligt war auf eine Denunziashytion hin mit seinen Freunden beim Gruumlndungsschmaus vom Pedellen erwischt und zu einer Woche Karzer verurteilt wurde Wahrscheinlich hat dieser Vorfall fuumlr den alten

f eigensinnigen Mann in Aschersleben schon ausgereicht um seinen Enkel zuruumlckzushybeordern Zwar heiszlig~ es im y_erhoumlspItokltill PJ g~2Iilt~LsE~(LtilloLAger houmlret Collegia beiHerrn Prof Hansen und studirr jura aber einiges muszlig er in Halk_ -~wohl auch fuumlr sein Theologiestudium getaiihaben denn de~lgis~e Dekan --- ---dls ares 176768 vermer t l~ctrszligerltrm---ei111iDgaumln szeu nis ausgestent~-~

- a e V rouml e In As ers e en onnte Buumlrger den Groszligvater um--- - stimmen zu Ostern 1768 ging er nach Goumlttingen Er nahm Quartier in dem uumlbel beshy

leumdeten Haus einer Madame Sachse der Schwiegermutter des Professors Klotz in Halle ein Brief den er 1770 an den Goumlttinger Prorektor schreibt berichtet von einer Pruumlgelei zwischen ihm und einem Nebenbuhler im Schlafgemach der Witwe Bandmann einer der Toumlchter des Hauses Nach Madame Sachses Tod zog er 1771 schwer verschuldet in ein Kuumlrschnerhaus und jetzt setzt offenbar eine Vandlung ein Schon seit dem Winshyter 7071 ruumlhmen die Lehrer seine gruumlndlichen rechtswissenschaftlichen Kenntnisse seinen Eifer Fleiszlig und sittsam-bescheidenen Lebenswandel Es liegt zwar nahe auch die Halleshyschen Vorgaumlnge so zu erklaumlren wie Boie der am 281 71 an Gleim schreibt daszlig Buumlrgers freyes lustiges Leben die Herren Theologen verhindert haumltte ihm gute Zeugshynisse zu geben auf Grund der wenigen zuverlaumlssigen Nachrichten ist es aber viel wahrscheinlicher daszlig die Biographen von den ersten Goumlttinger Semestern auf die Hallenser Zeit zUfUumlckgeschlossen haben und also das wirklich zuumlgellose und verwilderte Leben erst einsetzte als der Zwanzigjaumlhrige die geradlinige Entwicklung die ihn vom Molmerswender Pfarrhaus uumlber die Lateinschule in Aschersleben und das Koumlnigliche Paumldagogium nadl Halle gefuumlhrt hatte abbrach und seinem Leben eine gaumlnzlich neue Wendung gab Goumlttingen bleibt fortan bestimmend fuumlr den spaumlteren Amtsverwalter im benachbarten Gelliehausen und den Dozenten an der Georgia Augusta Die Theoshylogie liegt hinter ihm

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einem Brief jene Wuumlrze zu geben die dem Bewuszligtsein unangemessener Verwendung dieser Sprache entspringt Vom Leichtfertigen fuumlhrt das zushymal in den spaumlteren Zeugnissen bis an den Rand des Blasphemischen auf eine Mitteilung H Chr Boies des Freundes in Goumlttingen er gedenke eine reiche Frau zu heiraten antwortet Buumlrger am 13881 7 Wenn ich noch einmal wieder in meinem Leben heuumlrathen sollte wahrhaftig ich heuumlrathete wol eine Kuh wenn sie nur an der bewusten Vernunft [naumlmshylich am Gelde] keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte dich bei dieser Philosophie Amen Amen GA Buumlrger Daszlig die Sprache sich in solcher Weise aus ihren alten Bindungen loumlst waumlre kaum denkbar ohne eine Distanzierung auch des Sprechenden selbst vom Geist des vaumltershylichen Pfarrhauses

Wir wenden uns diesen Vorgaumlngen nicht mit jener Ausfuumlhrlichkeit zu die sie verdienten wenn es um eine Darstellung der inneren Entwicklung Buumlrgers ginge Auch fuumlr unsere Fragestellung aber sind sie bedeutungsshyvoll als Voraussetzung als Ermoumlglichungsgrund dichterischer Gestaltungsshyweisen Denn daszlig hier ein Abfall vollzogen wurde daszlig Buumlrger sich geshyloumlst hat von dem Gesetz nach dem er angetreten war auch ihm selber sehr wohl bewuszligt Wenn er an Boie uumlber den Dr Pideritt schreibt raquoSo viel ich aber aus einer Recension seiner Vertheydigung des Kanons der heil Schrifft 2tes Stuumlck muthmaszlige so mag er wohl einen Bannstral auf meine gottlosen Gedichte geworfen haben indem es heiszligt daszlig er zum Beweise gegenwaumlrtiger irreligioumlser und sittenloser Zeiten verschiedene Gedidlte aus den MusenAlmanachen angefuumlhrt habe (11676) so wird unter den ironischen Toumlnen doch deutlich spuumlrbar daszlig er sich mit seinen Dichtungen in einem anderen Raume weiszlig als dem seines Ursprungs

Es gibt wohl kein Zeugnis das in dieser Hinsicht aufschluszligreicher ja verraumlterischer waumlre als die Stelle aus einem Brief vom Sommer 1775 an Goethe Wie behaumlglich von der bekannten AlltagsleyerMe10dey der um uns plaumlrrenden Christlichen Gemeine unterweilen abbrechen und sein innres Seelenstuumlckchen anstimmen zu koumlnnen

Das ist mit Entchristlichung nicht einfach gleichzusetzen der tiefere Bereich persoumlnlicher Glaubenshaltung entzieht sich unserer Einsid1t Aber es bezeugt eine Abwendung vom strengen Kirchenchristentum und macht deutlich daszlig der Schreiber seine eigentlid1e Bestimmung auszligerhalb des religioumls-dogmatischen Raumes sieht Immerhin AlltagsleyerMelodey und innres Seelenstuumlckchen plaumlrren und anstimmen zeigen unershyachtet der recht eindeutigen Bewertung doch noch die Verwandtschaft einys gemeinsamen Wortfeldes und werden durchaus in einem Atemzug genannt Das aufschluszligreich genug Denn es deutet auf ein Verhaumlltnis

7 Vfenn nicht anders angegeben stammen die Briefzitate stets aus der Sammlung Briefe von und an Gottfried August Buumlrger hrsg A Strodtmann 4 Bde 1874

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zwischen religioumlsem und dichterischem Wort (so darf man ohne Zweifel uumlbersetzen) in dem zwar das erste dem zweiten untergeordnet wird aber doch noch immer eines mit dem anderen verbunden bleibt

Auch das Woumlrtdlen unterweilen wird man dabei nicht ganz uumlbershysehen duumlrfen Unterweilen hat Buumlrger seinem Verleger Dieterich gegenshyuumlber (und es gibt andere aumlhnliche Faumllle) in einem Brief vom 1 81782 die Weisheit und Guumlte goumlttlicher Vorsehung die jenseits menschlicher Einshysichtsfaumlhigkeit liegt mit Nachdruck ja mit Leidenschaft verteidigt - um dann dem Freunde selbst die Frage in den Mund zu legen Wie koumlmmt Saul unter die Propheten Dieses Sauls eigentliches Amt ist nidlt die AlltagsleyerMelodey sondern das innre Seelenstuumlckchen dichte- rischer Gestaltung Aber dabei grundet doch das eine auf dem anderen Was er anstimmt transponiert die alte Melodie in eine neue Tonart jenes Abbredlen wird zum Synonym einer weltlichen Kontrafaktur

Ich denke nicht heiszligt es im Vorbericht zur raquoIl i a slaquo-Obersetzung das Jemand die Umstaumlnde und das Aufheben welche ich hier mache uumlbertrieben abgeschmackt und laumlcherlich finden werde er muumlszligte denn anders die Kunst lebendiger Darstellung so wie das edle nicht Jedershymann von Gott verliehene Seelenvermoumlgen worauf sie sich gruumlndet und eins der wichtigsten Mittel deren sie sich bedient die Sprache die nie goumlttlich genug zu verehrende Sprache sie das theuerste heiligste Werkshyzeug des wirkenden Menschengeistes sie welche zu allen andern Wissenshyschaften spricht Ohne mich koumlnnet ihr nichts thun alles das muumlszligte er

( also fuumlr Lumpereien und unter der Wuumlrde maumlnnlicher Bemuumlhungen halten 8

Buumlrgers theoretische Schriften enthalten eine Fuumllle solcher Aumluszligerungen uumlber die Sprache und den dichterischen Umgang mit ihr die gekennshyzeichnet sind durch einen Anspruch dessen Unbedingheit den Bereich des wirkenden Menschengeistes auf das Religioumlse hin oumlffnet Literarische Taumltigkeit wird ins Heilige und Goumlttliche erhoumlht als edelste Bestimmung des Menschen uumlberhaupt und als Gnadengabe verstanden die nur den Auserwaumlhlten zuteil geworden Dichtung wird zum Gottesdienst der Wortverwaltung Das aber wird keineswegs als ein Obertragungsvorshygang begriffen und in seiner Problematik bedacht sondern erscheint als ein durchaus unreflektierter Akt und wird sichtbar allein als sprachlicher Vorgang Die aumlsthetischen Eroumlrterungen ziehen ihr Vokabular zu wesentshylichen Teilen aus den religioumlsen Texten nutzen gleichsam die Beglaubishygungskraft dieser Worte die ihnen von ihrem Ursprung her anhaftet shyohne daszlig dabei doch dieser Herkunftsbereich selber noch als Maszligstab und Bewertungsgrundlage gegenwaumlrtig bliebe Es geht nicht mehr um

8 Zitiert wird - von den GediChten abgesehen - nam Buumlrgers saumlmmtliche Werke hrsg A W Bohtz 1835 Abgekuumlrzt B hier S 184

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didaktische Verweisungen sondern um aumlsthetische Bereicherung Das Pfarrhaus wird abgebrochen damit was brauchbar und ansehnlich scheint unter den alten Steinen fuumlr den Bau des neuen Hauses verwendet werden kann Diesen Bezug auf die religioumlse Sprache auf den Luthertext insonderheit hat Buumlrger sich bis in stilistische Einzelheiten hinein bewuszligt gemacht In seinen raquoGedanken uumlber die Beschaffenheit einer Deutschen Uumlbersetzung des Homerlaquo etwa heigt es nachdem der Verfasser die von ihm bevorzugte Anfangsstellung des Hauptzeitwortes besprochen hat Ich habe keinen Platz zu Beispielen aber man wird ihrer genug finden welche dies Alles bestaumltigen Man schlage nur Luthers Bibel-uumlbersetzung und seine uumlbrigen Schriften nach auf jeder Seite sind weld1e Die poetischen Buumlcher der heiligen Schrift hat Luther mit dem besten Geschmacke fuumlr seine Zeiten so echt Deutsch und so feurig uumlbershysetzt daszlig man daruumlber erstaunen muszlig Ein fleiszligiger Sprachforscher muumlszligte unsere neuere Sprache mit den vortrefflichsten Schaumltzen aus den Schriften dieses bewundernswuumlrdigen Mannes wovor unseren Hominibus delicatulis so ekelt bereichern koumlnnen (B 137 L)

Die Stelle dessen was zwanzig Jahre lang dem Pfarrersohn als das Houmlchste und Heiligste vorgestellt und eingepraumlgt wurde was er hinter sidl lieszlig als er das Studium der Theologie in Halle abbrach vermochten die Jurisprudenz die Geschaumlfte des Amtsverwalters die Lehrtaumltigkeit des Dozenten keineswegs einzunehmen und auszufuumlllen Seine Berufstaumltigshykeit blieb fuumlr Buumlrger lebenslang eine Plage eine Quelle des Miszligmuts und der Verzweiflung Faumlhig dazu war allein die Po esie nur das innre Seelenstuumlckchen konnte die Klaumlnge der alten Melodie in sich aufnehmen und fortfuumlhren ~

Wie er uumlber Stolberg sagt Mich duumlnkt ich lese einen Propheten wenn ich seine Prosa lese 9 so schreibt er an Boie Uumlbrigens lebe und webe ich in den Reliques Sie sind meine Morgen und AbendAndacht 10 wie er von Shakespeare erklaumlrt Ihn kann man die Bibel der Dichter nenshynen 11 so urteilt er uumlber die unerwuumlnschten Rezensenten Und wenn der Engel Gabriel vom Himmel kaumlme und ihnen Poetik predigte so wuumlrde er dennoch nichts ausrichten 12 Mit voumllliger Unbefangenheit fast moumlchte man sagen mit der Unschuld des Selbstverstaumlndlichen wird das Vokabushylar beider Bereiche vermischt Die Aufloumlsung der Kodifikation kennt keine Grenzen mehr Denn die Saumlkularisation dient hier nicht dazu den religioumlsen Text als einen weltlicher Sprache integrierten Maszligstab fuumlr menschliches Reden und Handeln wirksam zu machen sondern sie nutzt ihn nur mehr als Mittel zu ihrer Erhoumlhung und Steigerung ein Buch

o Dt Museum Juli 1777 Zu FrLStolbergs raquouumlber die Fuumllle des Herzenslaquo 10 7477 Meint Percy Reliques of Ancient English Poctry London 1765 11 An Boie 15976 12 An Boie 31278

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wirft Licht auf das andere Buch aber - es ist nicht mehr das Licht der Erkenntnis dessen was gut und boumlse sei (Vgl S148 f)

Wie auf die Werke der Dichtkunst so faumlllt der Glanz dieses geborgten Lichtes auch auf die Dichter selbst Was Christus uumlber alle menschliche Macht und Groumlszlige erhebt wird jetzt auch dem Poeten zugesprochen sein Reich ist nicht von dieser Welt 13 und die Verheiszligungen die dem Chrishysten gegeben sind wandeln in der uumlbertragung ihre Formen nur gerade so viel wie noumltig ist um fuumlr den neuen Anwendungsbereidl braudlbar zu sein Einem unbekannten Empfaumlnger schreibt Buumlrger am 621772 meine Briefe sollen Ihnen hinfort wenigstens alle vier Wochen jenen biblischen Spruch parodieren Bleib den Musen getreuuml bis in den Tod so wird dir Apoll die Krone des ewigen Nachruhms geben Parodieren shydas meint hier nichtmiddotdie Entstellung den Entwurf eines scherzhaften oder boumlsartigen Gegenbildes sondern Akkomodation uumlbertragung und Anshypassung Es richtet sich nicht gegen den vorgegebenen Text aber es nimmt ihn auch nicht mehr ernst in seinem unbedingten und ausschlieszligenshyden Anspruch Schon deutet es in die Richtung einer uumlberarbeitung des Originals nach dem verbesserten Geschmack unsrer Zeit in einer neuen Einkleidung und Ordnung der Gedanken (v gl u S 269Anm 2) Dieser ) verbesserte Geschmack freilich ist kaum mehr als ein veraumlndertes thematisches Interesse In Wahrheit fehlt diesen uumlbertragungen geshylegentlich selbst der gute Geschmack und es kennzeichnet zugleich die

( uneingeschraumlnkte Verfuumlgbarkeit des religioumlsen Sprachgutes wenn Buumlrger auch auf betraumlchtliche Houmlhenunterschiede zwischen Ursprungs- und Anshywendungsbereich kaum mehr Ruumlcksicht nimmt An Goeckingk der ihm aus seiner fatalen aumluszligeren Situation heraushelfen will schreibt er anshystandslos wenn Sie mein Erloumlser seyn und mich den Musen wiedershyschenken koumlnnten - Sie wuumlrden mir das seyn was der Engel dem geshyfangenen Apostel in der Apostel Geschichte war 14 Ein gewisses Vershygnuumlgen am Miszligbrauch des Vorbildes und die ganz ernsthafte Absicht dem Sachverhalt Nachdrud und Gewicht zu geben sind hier wohl kaum zu trennen Aber ohne Zweifel steht dahinter ein Wertbewuszligtsein dem kein Preis zu hoch ist wenn es gilt den Anspruch und die Wuumlrde des poetischen Amtes zu verkuumlnden und durchzusetzen

So heiszligt es in den raquoGedanken uumlber die Beschaffenheit einer Deutschen uumlbersetzung des Homerlaquo Statt aller Untersuchunshygen uumlber diesen Punct koumlnnte der Streit wohl nicht angenehmer fuumlr den Zuschauer beigelegt werden als wenn der Genius unserer Literatur einen Mann von Genie und Kenntniszlig erweckte welcher zwischen die Zanshy

13 An Bollmann 22790 14 29675 Aus dem Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk hrsg A Sauer

Vjs f Litgesch III 1890 hier S 68

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kenden mit einer Uumlbersetzung traumlte uumlber welche man schreiben koumlnnte Der Nachwelt und der Ewigkeit heilig (B 135) Dem aufmerkshysamen Leser kann der Hintergrund der kleinen Szene nicht verborgen bleiben die hier entworfen wird Der Uumlbersetzer-Dichter er erscheint als ein neuer Moses welcher vom Gott seines Volkes erweckt unter die Israeliten tritt mit jenen Gebotstafeln die der christlichen Nachwelt und der Ewigkeit heilig sind (Selbst das Wort von den Zankenden die um die Homer-Uumlbersetzung miteinander im Streite liegen scheint auf den biblischen Bericht zu deuten Bei der Ruumlckkehr vom Sinai spricht Josua zu Moses Es ist ein Geschrei im Lager wie im Streit Er antshywortete Es ist nicht ein Geschrei gegen einander derer die obliegen und unterliegen sondern ich houmlre ein Geschrei eines Singetanzes Ex 3217 f)

Buumlrger selbst ist es der nach diesem Vorwort mit Proben seiner jamshybischen Lrbersetzung unter die Zankenden tritt - aber er zieht es vor dem Anspruch des Moses-Bildes auszuweichen Das bleibt dem Vollender uumlberlassen Fuumlr die eigene Person und das eigene Werk waumlhlt er ein anderes Modell Wenn ich gleich derjenige selbst nicht bin auf welchen unser Volk hoffet (denn ich muumlszligte den unversc~aumlmtesten Knabenstolz besitzen wenn ich mir einbildete daszlig ichs waumlre) so kann ich doch vielleicht zu der Ehre eines Vorlaumlufers dessen der kommen wird gelangen Auf den Worten des neutestamentlichen Vorlaumlufers Johannes des Taumlufers der die messianische Erwartung des Volkes von sich selber abweist und auf jenen Groumlszligeren lenkt der kommen wird gruumlndet die Haltung des raquoIliaslaquoshyObersetzers aus ihnen gewinnt sie dem eigenen Versuch dem Probestuumld~ Bedeutsamkeit und Gewicht Eine Entsprechung zur Saumlkularisationsform figuraler Gestaltung ist nicht zu verkennen Aber wenngleich hier wie dort eine dichterische Figur dem vorbildlichen Modell gleichgeformt wird J

geht es doch dort darum sie durchzusetzen und zu rechtfertigen auf der Grundlage des Imitatio-Denkens - hier aber sie zu steigern und zu ershyhoumlhen allein um ihrer selbst willen Der Dichter erscheint als Gottesmann weil er in dieser Gestalt dem Profanen enthoben ist

In der Behandlung aller Fragen die ihm wirklich am Herzen liegen greift Buumlrger zuruumlck auf den Sprach- und Formenschatz der ihm jahreshylang als Ausdrucksvorrat fuumlr das Wesentliche und Bedeutsame vermittelt wurde Bis in die Uumlberlegungen zum dichterischen Schaffensprozeszlig fuumlhrt das die deutlich unter der praumlgenden Kraft des Berichtes vom goumlttshylichen Schoumlpfungsakt stehen Jeder Kuumlnstler schreibt er an Schushybart sollte es sich daher zur Maxime madlen keines seiner Verke eher unter fremde Augen treten zu lassen als bis er nach Jahrelangem Anshyschauen alles dessen so er gemacht sagen koumlnnte Siehe da es ist alles sehr gut 15

15 12992 - Vgl die Goumlttliche Zufricdenhcits-Formel Geni 31

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Nichts anderes als eine uumlbertragung des reformatorischen Verhaumlltnisses zur Schrift und seine Anpassung an den Umgang mit dem dichterischen Vort ist sein Verantwortungsgefuumlhl und seine Treue gegenuumlber dem unshyverriickbaren Text ja der Glaube daszlig am Buchstaben das Heil haumlngen koumlnne Gleichguumlltig welcher Grad von bewuszligter Einsicht in diese Zushysammenhaumlnge auch vorgelegen haben mag Buumlrgers Aumluszligerungen uumlber solche Fragen speisen sich unablaumlssig aus der religioumlsen Sprachquelle So begleitet er Anfang 1784 die uumlbersendung eines Manuskriptes an Goeckingk mit der leidenschaftlichen Ermahnung Houmlrt ihr daszlig also nur nicht ein Puumlnctchen zu geschweige denn ein Buchstab oder gar ein Wort fehlt Ihr seht sonst Euumlres Ungluumlcks kein Ende weder hier zeitlich noch dort ewig

Die fuumlr Buumlrger so bezeichnende Neigung zur unermuumldlichen oft geradeshyzu kleinlich anmutenden uumlberarbeitung und Ausfeilung seiner Gedichte wird man in unmittelbarem Zusammenhang sehen muumlssen mit jener Heishyligung der Werktreue die der Protestantismus entwickelt hat und es ist charakteristisch fuumlr die Denkweise des ganzen Buumlrgerschen Freundesshykreises wenn Meyer ihm zu einigen Gedichten die er fuumlr den Musenshyalmanach schickt am 971793 entschuldigend schreibt sie haumltten noch Mangel der Feile die vor Gott und Menschen angenehm ist

Solche Einzelbeobachtungen und man koumlnnte sie beliebig vermehren machen deutlich wie folgerichtig der Weg von Molmerswende nach Halle seine Fortsetzung verlangt auch wenn er nun in andere Gefilde fuumlhrt wie tief der Erbzwang den Pfarrersohn bestimmt uumlberdem bin ich einmal ein Theologe gewesen schreibt er an Goeckingk und von der Zeit haumlngt mir illud Theologorum decantatissimum Dic et servasti animam immer noch an 16 Schon 1772 erklaumlrte er sich gegen seine bisherige wolshyluumlstige und taumlndelnde Dichtungsart von allen moralischen Sentimens entbloumlszligt weil er meinte damit verloumlre die Poesie ihr erhabenes Amt Lehrerin der Menschen zu seyn 17

Im engsten Zusammenhang damit muszlig nun Buumlrgers Glaubensartikel von der P 0 pul a ri t auml t der Poesie gesehen werden Denn wenn von der kirchlichen Wortverkuumlndigung her das Amt Lehrerin der Menschen zu seyn auf die Dichtung uumlbertragen wird so faumlllt ihr zugleich die Pflicht zu ins Breite zu wirken einem unbegrenzten Leserkreise zugaumlnglich und verstaumlndlich zu sein Buumlrger nennt als seine Maxime wenn nicht Alle n dennoch den Me ist e n - versteht sich ohne weder sich selbst noch der Dichtkunst etwas zu vergeben - zu gleicher Zeit zu gefallen 18 Nur

1G 3675 Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk S65 11 Brief an Boie 2 11 72 lB Die Problematik der Popularitaumlt die an dem eingeschobenen einschraumlnkenden

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dieGuumlnstlinge die dieses Ziel erreichen sind die gewaltigen Herzensshybezaumlhmer und Zauberer die ihre guumlldenen Staumlbe nie vergebens zucken und uumlber jedes Zei tal ter in immer lebendiger Kraft herrschen Nie verra uchen die Opfer auf ihren Altaumlren und unvergaumlnglich bluumlhen ihre Kraumlnze (B 178 f) Nur sie sprechen in Vollmacht Die Opferaltaumlre und der Bezug auf jene Staumlbe die vor dem Pharao von den aumlgyptischen Zauberern vergeblich dann aber von Moses und Aaron nie vergebens ausgereckt wurden 19

begruumlnden eine Priesterschaft der Wortverwaltung zu bestaumltigen die Wahrheit des Artikels woran ich festiglich glaube und welcher die Axe ist woherum meine ganze Poetik sich drehet Alle darstellende Bildshynerei kann und soll volksmaumlszligig seyn Denn das ist das Siegel ihrer Vollshykommenheit 20

Dieser Artikel von der Popularitaumlt der Dichtung Buumlrgers Glaubensshybekenntnis empfaumlngt in der Tat einen entscheidenden Anstoszlig aus der Predigt- und Seelsorgehaltung der er unter der vaumlterlichen Kanzel beshygegnete Wenn er scherzhaft an Meyer schreibt ein gottseliges Comite untersuche woher es wohl komme daszlig der Gottesdienst in der Unishyversitaumltskirche so sparsam besucht werde Ich denke mit Recht wird Euer gepredigtes Evangelium als eine der vornehmsten Ursachen oben an geshystellt werden (121 89) so liegt dem ganz der gleiche Gedanke zushygrunde der auch die Wirkungspoetik seiner Abhandlungen zur VolksshyPoesie bestimmt Es ist das saumlkularisierte Predigerethos das aus dem leishydenschaftlichen raquoHerzensausguszliglaquo spricht Durch Popularitaumlt mein ich soll die Poesie das wieder werden wozu sie Gott erschaffen und in die Seelen der Auserwaumlhlten gelegt hat Lebendiger Odem der uumlber aller Menschen Herzen und Sinnen hinweht Odem Gottes der vom Schlaf und Tod aufweckt Die Blinden sehend die Tauben houmlrend die Lahmen gehend und die Aussaumltzigen rein macht Und das Alles zum Heil und Frommen des Menschengeschlechts in diesem Jammerthaie (B 321) 21

Die Beobachtung solcher Umsetzungsvorgaumlnge die Buumlrgers theoretische Aumluszligerungen gedanklich und sprachlich bestimmen leitet zu unserer eigentlichen Frage nach der Bedeutung und Beschaffenheit der Saumlkularishysationsphaumlnomene in seinem d ich t e r i s c he n Werk

(wenn nicht gar aufhebenden) Satz zu entwickeln waumlre kann hier nicht ausgefuumlhrt werden Sie kommt in Schillers und A W Schlegels Buumlrger-Abhandlungen zur Sprache

Vgl Ex7-10 20 B S324 (Vorrede zur Ausgabe der Gedidlte 1778) 2 Ober eine ganz entsprechende neue Einstellung zum Volksganzen raquowelche die

seelsorgerliche Haltung des Vaters unmittelbar fortzusetzen scheint handelt H Schoumlffshyler Das literarische Zuumlrich 1925 S42f

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Unmittelbare und ausdruumlckliche biographische Zeugnisse fuumlr den Einshyfluszlig des religioumlsen Schrifttums gibt es kaum Immerhin finden sich einige Hinweise in den Aufzeichnungen Althofs die auf Buumlrgers eigenen freishylich sehr spaumlten muumlndlichen Auszligerungen beruhen Durch sie wird uumlbershyliefert daszlig der Junge bis in sein zehntes Lebensjahr hinein durchaus nicht mehr lernte als Lesen und Schreiben wohl aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse behielt was er sowohl in der Bibel als im Gesangshybuche las ja daszlig er wie er meinte das ganze Gesangbuch ohne Schwieshyrigkeit auswendig gelernt haben wuumlrde (B 431) Von den houmlchst aufshyschluszligreichen Einzelheiten dieser fruumlh gelegten Bibel- und Gesangbuch- kenntnisse muszlig spaumlter die Rede sein Hier wird zunaumlchst nur Althofs Mitteilung wichtig daszlig schon der Knabe ohne durch andere Muster als welche Bibel und Gesangbuch ihm lieferten dazu aufgefordert zu werden anfing Verse zu machen ehe er noch die allerersten Elemente der Grammatik erlernt hattelaquo (B 431) Das ist gewiszlig nicht so zu verstehen als habe der junge Verseschmied damals noch kein grammatisch fehlershyfreies Deutsch sprechen oder schreiben koumlnnen Grammatik lernte man an der Fremdsprache Buumlrger begegnete ihr also im lateinischen Untershyricht - und cr konnte ungeachtet aller Schlaumlge in zwei Jahren noch nicht Mensa decliniren (B 431) Diese Randbemerkung macht einsichtig

( daszlig es sich bei den poetischen Anregungen durch Bibel und Kirchenlied um ganz unreflektierte dem kontrollierenden Sprach- und Kunstbewuszligtshysein entzogene Vorgaumlnge handelt Das deckt sich voumlllig mit Althofs Aufshyzeichnung Buumlrger versicherte ferner So wenig diese Fertigkeiten als irgend eine andere Kenntniszlig seines nachfolgenden Lebens bis in sein maumlnnliches Alter haumltten ihm die geringste Anstrengung oder Muumlhe geshykostet es waumlre auch sehr wenig was er von Lehrern und aus Buumlchern geshylernt haumltte da es ihm immer in den Lehrstunden an Aufmerksamkeit und auszliger denselben an Geduld gefehlet ein Buch anhaltend aus zu lesen Er muumlszligte sich oft innerlich wundern wenn er einen Blick in die Vorrathsshykammer seiner Kenntnisse thaumlte wie und woher der Plunder alle hinein gekommen Das Meiste waumlre ihm hier und da und dort und uumlberall wie VOn selbst gleichsam angeflogen (B 431) Nichts konnte ihm so sehr von selbst anfliegen wie die Worte Bilder und Formen der heiligen Texte die von den Jugendjahren im vaumlterlichen Pfarrhaus bis zum Abbruch des theologischen Studiums in Halle sein taumlglicher Umgang waren Was aber fuumlr ihre Aufnahme gilt ist nicht weniger guumlltig fuumlr ihre Verwendung die Saumlkularisationsvorgaumlnge entziehen sich weithin dem Bewuszligtsein des Schreibenden Durch ihn hindurch aber oft ohne seine Absicht und ohne sein Dazutun wirkt hier die religioumlse Sprache auf das Kunstwerk ein

Der eigentliche Zugang zu diesen Phaumlnomenen kann deshalb nicht durch die Beschaumlftigung mit der Person des Autors gewonnen werden

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welches Forschers Geist hat Buumlrger selbst erklaumlrt kann sich immer so tief und innig in den Geist des Kuumlnstlers versenken um etwas mit Sicherheit auszumachen welches dieser oft selbst nicht recht weiszlig naumlmshylich was fuumlr Bestinunungsgruumlnde jeglichen seiner Schritte zum Ziele leitet haben 22 Nur im Ziele selbst im Zustandegekommenen WIrd wohl der eine oder andere Bestimmungsgrund erkennbar der Weg dahin fuumlhrt also nicht uumlber die Versenkung in den Geist des Kuumlnstlers sondern uumlber die Betrachtung des Kunstwerkes selbst

In dem 1782 entstandenen kleinen Gedicht raquoDer klug e Heldlaquo23 wird erzaumlhlt wie ein junger Soldat um der Gefahr zu entgehen am Tag vor der Schlacht einen Urlaub erbittet angeblich damit sein sterbender Vater ihm noch den Abschiedskuszlig geben koumlnne Die letzten Verse lauten

Sehr wohl versetzt der Chef und laumlchelt vor sich nieder Reis hurtig ab mein Sohn Denn nach der Bibel muszlig Dein Vater nach Gebuumlhr von dir geehret werden Auf daszlig dirs wohlergeh und du lang lebst auf Erden

Von verschiedenen Seiten aus wird einsichtig welch besonderes Gewicht dieser Schluszlig traumlgt ja daszlig das ganze Gedicht eigentlich auf ihn hin anshygelegt ist 24

bull Schon der Gespraumlchsablauf weckt eine Spannung auf die Beshygruumlndung fuumlr die Zustimmung des Chefs der den Vorwand ja durchshyschaut Zugleich trennt das Druckbild durch einen Gedankenstrich und folgenden Sinnabschnitt die hier angefuumlhrten letzten Zeilen von den vorshyangehenden und nachdem schon zuvor die wechselnd vier- und fuumlnfshyhebigen Jamben sich zweimal gleichsam praumlludierend ins alexandrinische Maszlig vorgewagt hatten gewinnt der Schluszligteil in dem die Alexandriner sich voumlllig durchgesetzt haben auch metrische Bedeutungssteigerung Entshyscheidend aber ist der Pointencharakter des Ausgangs und dessen eigentshylicher Uberraschungseffekt entsteht durch die ironische Beziehung des vierten Gebotes auf die Absichten des Soldaten Den wichtigsten Beitrag zur Schluszligbeschwerung des Gedichtes leisten diese beiden zitierenden len mit denen ein vorgeformtes und vorbelastetes Redestuumlck als schwerer Endakzent dem vorangehenden Berichte aufgesetzt wird

~2 Ueber die Wirkung des Schleiers in Werken der darstellenden Kunstlaquo TI S 340 23 Die Gedichte werden im folgenden zitiert nach der Ausgabe von E COllsentius

2 Bde 1914 Hier I S238 21 VgL E Staigers Begriff der nproblematischen Dichtung (Grundbegriffe der

Poetik LAufl 1951 S162ff)

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Schluszligbeschwerungen sind fuumlr Buumlrgers Lyrik charakteristisch Sie hershyvorzubringen erscheint die eben beobachtete Verbindung eines praumlforshymierten Sprachstuumlckes mit vorausgehenden freien Formationen beshysonders geeignet - und es ist bemerkenswert daszlig der strukturell so beshydeutsame pointierte Ausgang tatsaumlchlich in nahezu einem Drittel aller Gedichte Buumlrgers auf den christlichen Sprachbereich zuruumlckweist

Wo seine Gedichtausgaumlnge einen formelhaften Redeschluszlig woumlrtlich oder nur geringfuumlgig abgewandelt uumlbernehmen wird die Endbetonung am spuumlrbarsten Aus einer Fuumllle von Beispielen koumlnnte man dafuumlr nennen

Gott lass es dem Edlen doch wohl ergehn Das bet ich herzinniglich Amen (I 207)

Gott behuumlte liebe Seele Gott behuumlte dich davor (I 32)

o Paradiesesglaube Erhalt und staumlrke mich (I 38) Komm Von hinnen laszlig uns scheiden Eia waumlren wir schon da - (I 68) Dein Name sei gebenedeit Von nun an bis in Ewigkeit (I 45)

Der jeweilige Ursprungsort dieser Schluszligformeln bedarf keiner Erlaumluteshyrung Was sie - in einen neuen Zusammenhang versetzt - fuumlr den Aufshybau des Gedichtes leisten koumlnnen zeigt sich im ersten Beispiel (raquoDie Kuhlaquo) mit der Hervorhebung des Erzaumlhlers der diesen Epilog spricht und mit der Zusammenfassung des Gedichtes zur geschlossenen Form im letzten Beispiel (raquoDankliedlaquo) in dem die schlieszligenden Zeilen des Gedichtes die der Anfangsstrophe wieder aufnehmen und die preisende Aufreihung der Gottesgaben mit einer aus dem liturgischen Ursprungsort der Formel heruumlberwirkenden Kraft zusammengreifen und erfuumlllen im Benedeien des goumlttlichen Gebers Von solchen Leistungen wird noch die Rede sein

Aumlhnliche Wirkungen entfalten die Schluumlsse in denen Bibelzitate parashyphrasiert und auf die vorangehenden Verse bezogen werden In raquoSchoumln Suschenlaquo etwa geben die letzten Zeilen

Drum Lieb ist wohl wie Wind im Meer Sein Sausen ihr wohl houmlrt Allein ihr wisset nicht woher Wiszligt nicht wohin er faumlhrt (I 155)

die aus Joh 3 8 hervorgehen Antwort auf die Eingangsfrage des Geshydichtes durch sie erfuumlllt es sich in der inneren Form von Raumltselstellung und Raumltselloumlsung Vergleichbares bewirkt der Schluszlig von raquoDie Eleshy

13 7439 Schoumlne Saumlkularisation (Palaestra 226) 193

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mentelaquo nachdem die Liebe als allbewegende Triebkraft der Natur geshyschildert worden ist zieht der Ausgang die Lehre fuumlr den lieblos geshywordenen Menschen

Du bist ein eiteltoumlnend Erz Bist leerer Klingklang einer Schelle Und Tosen einer Wasserwelle (I 70)

Die auffallend haumlufige Verwendung solcher zusammenfassenden abshyrundenden aufloumlsenden erklaumlrenden pointierenden Schluszligbeschwerunshygen die der Dichter dem christlichen Sprachbereich entlehnt muszlig durchshyaus als Charakteristikum Buumlrgerseher Gedichtsstruktur verstanden werden

Ober die Bestimmung ihrer sprachlichen Herkunft hinaus sind diese beschwerten Ausgaumlnge in einigen Verwendungs faumlllen nun auch auf eine genauer bestimmbare Form des Sprechens zu beziehen Da endet etwa Die Entfuumlhrunglaquo mit den Versen

So segne dann der auf uns sieht Euch segne Gott von Glied zu Glied Auf Wechselt Ring und Haumlnde Und hiermit Lied am Ende (I 181)

Das ist die Spredlweise des Geistlichen und in der Tat nimmt ja hier am Ende des houmldlst wel dichen Balladengeschehens der Vater des entfuumlhrshyten Fraumluleins mit Segen und Ringwechsel eine priesterliche Handlung vor Diese personale Gleichung macht aufmerksam auf eine grundsaumltzliche typologische Entsprechung zwisdlen der Schluszligbeschwerung des Gedichshytes und geistlidler Redeweise Nicht nur das durchgehend religioumls beshystimmte liturgische Sprechen endet mit einer gewichtigen Schluszligformell des Gebetes Segens oder Lobpreises auch die nicht mehr formgebundene freie Rede das Gespraumlch die Ansprache so zu schlieszligen daszlig weltlidles Sprechen am Ende durch einen religioumlsen Bezug ein praumlformiertes Redeshystuumlck erhoumlht gekroumlnt gewichtig beschlossen wird ist fuumlr den Geistlichen offenbar bis heute bezeichnend

Diese durch vorgegebene Schluszligformeln charakterisierte Redeweise zeigt ganz die gleiche Grundform die in der Untersuchung der Buumlrgershysehen Gedichte sichtbar wird - wie ja jene Gepflogenheit an weltliche Rede einen oft geradezu gewaltsam angehaumlngten formelhaft-religioumlsen Schluszlig zu fuumlgen selbst in dem oben genannten Briefausgang noch spuumlrbar wird ich heuumlrathete wol ein Kuh wenn sie nur an der bewusten Vershynunft keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte didl bei dieser Philoshysophie Amen Amen GABuumlrger Unter diesem Blickwinkel gewinnt die Stelle geradezu karikierende Zuumlge

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Beispielhaft fuumlr eine solche Analogie der Sprechweisen scheinen etwa die Schluumlsse

Die Liebe segne dich und sie Mit ihrem besten Segen (148) Die Liebe sagt Verdammet nicht Daszlig man nicht Euch verdammet (I 187) Diesen Trinker gnade Gott Lass ihn nicht verderben (I 73)

Sie aber deuten auf eine Analogie-Antithese zwischen dem Pfarrer als dem Diener der christlichen Kirche und dem Poeten der eines seiner Geshydichte mit den Worten schlieszligt

Doch wisse du Apolls Religion Schenkt dir die Glaubenspflicht und dringt auf gute

Werke (I 248) Als Gottesdienst der Wortverwaltung hat Buumlrger sein dichterisd1cs Amt verstanden

Bin geweiht zum Priester des Apoll Mit des Gottes Kranz und goldnem Stabe Seines Geistes bin ich froh und voll Warum nicht auch frommer Wundergabe - (I 94)

Und am Ende des Gedichtes (raquoGeweih tes Ang ebind e zu Lo uis ens Geburtstagelaquo) tritt diese vaumlterliche Mitgift diese Sprechhaltung des Geistlichen ganz ausdruumlcklich ins Wort

Freud und Lust von keinem Harm vergaumlllt Sei durch dich Ihr in die Brust gegossen Freud an Gottes ganzer weiter Welt Mich den Priester auch mit eingeschlossen

shy

Die Beobachtung der Schluszligbeschwerung lenkt auf die Frage nach ihrer Integration in das Gesamtgefuumlge des Gedichtes und nach der Wirkung die sie dort entfaltet raquoDer kluge Heldlaquo kann darauf kaum schon ershyschoumlpfende Antwort geben die massive Pointicrung die hier durch den Endakzent zustande kommt ist nur eine unter vielen Moumlglichkeiten seiner Leistung Weit komplizierter liegen diese Verhaumlltnisse in Buumlrgers Nachshydichtung der raquoCo n f ess i 0laquo des Archipoeta 25

25 Das Gedicht war Buumlrger in einer dem Walter Mapes zugeschriebenen Fassung beshykannt geworden (vgl seinen Brief an Sprickmann vom 21077) deutliche Bezuumlge zeigen sich zu seinen Strophen 12 13 16-19 Zitiert wird die lat Vorlage nach dem auf 5 Strophen verkuumlrzten Abdruck den Buumlrger in der Ausgabe seiner Gedichte VOll

1778 auf S 290 f gegeben hat (Ausgenommen die beiden dort nicht mitgeteilten hier auf S199 zitierten Verse Voluptatis avidus laquo)

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Zechlied

Im will einst bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Alles meinen Wein nur nimt Lass im frohen Erben Nam der letzten Olung soll Hefen nom mim faumlrben Dann zertruumlmmre mein Pokal In zehntausend Smerben Jedermann hat von Natur Seine sondre Weise Mir gelinget jedes Werk Nur nam Trank und Speise Speis und Trank erhalten mim In dem remten Gleise Wer gut smmiert der faumlhrt aum gut Auf der Lebensreise Im bin gar ein armer Wimt Bin die feigste Memme Halten Durst und Hungerqual Mim in Angst und Klemme Smon ein Knaumlbchen smuumlttelt mim Was im aum mim stemme Einem Riesen halt im Stand Wann im zem und smlemme Aumlmter Wein ist aumlmtes 01 Zur Verstandeslampe Gibt der Seele Kraft und Schwung Bis zum Sternenkampe Witz und Weisheit dunsten auf Aus gefuumlllter Wampe Baszlig gluumlckt Harfenspiel und Sang Wann im brav smlampampe Nuumlchtern bin im immerdar Nur ein Harfenstuumlmper Mir erlahmen Hand und Griff Welken Haupt und Wimper Wann der Wein in Himmelsklang Wandelt mein Geklimper Sind Homer und Ossian Gegen mim nur Stuumlmper

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Nimmer hat durch meinen Mund Hoher Geist gesungen Bis ich meinen lieben Bauch Weidlich vollgeschlungen Wann mein Kapitolium Baechus Kraft erschwungen Sing und red ich wundersam Gar in fremden Zungen Drum will ich bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Nach der letzten oumllung soll Hefen noch mich faumlrben Engelchoumlre weihen dann Mich zum Nektarerben Diesen Trinker gnade Gott

Lass ihn nicht verderben (1 72 f)

Da wird mit der ersten Strophe das Bekenntnis zu einer Lebensfuumlhrung abgelegt und geradezu beschworen die selbst eingedenk des Todes noch ganz im Irdischen verharrt Fuumlnf folgende Strophen dann begruumlnden den Entschluszlig den die erste verkuumlndete auch ihre Aussagen bleiben durchshyaus im Bereiche des weingeweihten Diesseits Die letzte aber tritt nachshydem sie zunaumlchst das Bekenntnis der ersten aufgenommen in eine durchshyaus andere Sphaumlre Zwar setzt auch dort das irdische Trinkerleben sich fort aber der Spott der eben noch die letzte oumllung traf der Entschluszlig der ersten Strophe im Tode den Pokal zu zertruumlmmern lassen dieses Ende nicht erwarten

Ut dicant eum venerint angelorum chori Deus sit propitius huic potatori

heiszligt es in der raquoC 0 n fes s i 0laquo und solcher Gesang der Engelchoumlre beshyschlieszligt nun auch Buumlrgers koumlnigliches Sauflied 26 ein im religioumlsen Sprachbereich ausgebildetes Gebet um Gnade fuumlr den Suumlnder 27 - an dessen Stelle nun der Trinker steht - setzt den kraumlftigen Endakzent Wenn so unvermittelt das Sauflied in die Gebetsformel muumlndet scheint sich im Wortschatz in der Sprechhaltung im Hinblick auf die Geschehnisshyebene ein bruchhafter Wechsel zu vollziehen der die Einheitlichkeit des ganzen Gedichtes in Frage stellt Zwar folgen Vers- und Strophenbau zushygleich mit dem Reimschema der gtConfessiolaquo entlehnt ebenso wie die rhythmische Anlage des Liedes gleichbleibenden Aufbauprinzipien und stiften so eine formale Geschlossenheit des Ganzen aber gerade das treibt

28 Brief an Boie 18977 27 Vgl Lue1B 13 Deus propitius esto mihi peceatori

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den Umbruch der Schluszligbeschwerung nur um so kraumlftiger heraus Daszlig hier in Wahrheit keineswegs ein Bruch vorliegt daszlig dieser Sphaumlrenshywechsel durchaus nicht unvermittelt geschieht wird jedoch einsichtig sobald man die Sprache der Mittelstrophen schaumlrfer ins Auge faszligt Dann zeigt sich daszlig hinter der Bedeutungsoberflaumlche der Wortaussage vorshygeformtes Sprachgut aus eben der Sphaumlre wirksam ist zu der die schlieshyszligenden Verse sich erheben

Dem Wein dem der Sprechende selbst eingedenk des irdischen Endes noch sein Dasein verschreibt setzt die zweite Strophe die Speise zur Seite Beide Trank und Speise sind fuumlr das Leben noumltig - doch offenshybar nicht im Sinne notwendiger Ernaumlhrung Das erhalten meint kein einfad1es am-Leben-erhalten sondern ein im rechten Gleise im rechshyten Leben erhalten Das Schluszligwort der Strophe laumlszligt aufmerken Lebensreise erscheint als ein deutlich vorbelastetes vorgeformtes Sprad1stuumlck der religioumlsen Sphaumlre das (ausgehend von Gen 47 9) die christliche Deutung des Lebens als einer Reise durch die Weh zum jenshyseitigen Ziele in sich faszligt Trank und Speise in solchem Bedeutungsfeld als Hilfen die Lebensreise recht zu fuumlhren sie machen hinter dem lauten Gesang des Trinkers im fuumlnften Vers die liturgische Stimme vershynehmbar die Stimme des Geistlichen der die Hostie und den Wein reicht Nehmet hin und esset Nehmet hin und trinket das staumlrke und erhalte euch im rechten Glauben zum ewigen Leben Amenlaquo 28 Von andeshyrem Trank und anderer Speise als der vom Vater dargebotenen spricht der Sohn Doch im Bekenntnis des Zechlieds klingen noch immer jene Worte nach die von der Kraft des heiligen Mahles kuumlndeten weil das 11edium der Sprad1e die mit der Abendmahlsliturgie in sie eingeganshygenen Bedeutungsenergien bewahrt und fuumlr die Dichtung verfuumlgbar macht

Von der zweiten Strophe aufgerufen bleibt dieser Bezug auch in der dritten vierten und fuumlnften lebendig Hinter dem Zecher den Essen und Trinken der Angst und Schwaumld1e entheben so daszlig er einem Riesen standshyzuhalten vennag steigt das Bild des gottgestaumlrkten David herauf der dem Goliath standhaumllt Der aumlchte Wein und das aumldlte oumll derert Kraft die Seele zum Sternengewoumllbe erhebt gewinnen neue Bedeutung Hinter dem Harfenspieler und dem Himmelsklang seines Gesanges toumlnt leise der Psalm Davids zur Harfe zu singen und in der trunkseligen Prahshylerei der Erhebung uumlber Homer und Ossian mag damit eine verborgene Rechtfertigung solcher Selbsteinschaumltzung sich andeuten Sind die uumlbershytragenen Worte und Bilder hier dem Text des raquoZechlieds so weitshy

e8 In der Abendmahlsliturgie folgt diese in verschiedenen Fassungen gebraumluchliche Spclldeformc1 auf den Einsetzungsbericht Ausfuumlhrlich daruumlber P Graff Geschichte der Aufloumlsung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschshylands I 1937 S 197 ff

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gehend anverwandelt daszlig sie als fremdes Sprachgut kaum erkennbar werden heben sie sich in der sechsten Strophe doch wieder staumlrker ab erst der Abglanz der Erleuchtungsflammen des Pfingstwunders erhellt die Reden des Trunkenen als einwundersames Reden gar in fremden Zungen

Ein Vergleich mit dem Vorbild der lateinischen Beichtparodie der dies e Durchsichtigkeit auf den hinter der eigentlichen Aussage liegenden Sprach- und Bildbereich gaumlnzlich fehlt zeigt daszlig in Buumlrgers uumlbertragung eine sehr bewuszligte Absicht waltete Man halte gegen seine sechste Strophe etwa die Verse

Mihi nunquam spiritus prophetiae datur Non nisi cum fuerit venter bene satur Cum in arce cerebri Bacchus dominatur In me Phoebus irruit ac miranda fatur

Die Grundhaltung beider Gedichte unterscheidet sich wesentlich Mit den fuumlr die ganze raquoC 0 n fes s i 0laquo verbindlichen Versen

Voluptatis avidus magis quam salutis Mortuus in anima curam gero cutis

setzt der Archipoeta Diesseits und Jenseits gegeneinander und faumlllt seine klare Entscheidung fuumlr das eine gegen das andere Buumlrger aber verschmilzt die Bereiche Getragen von den sprachgebundenen Bedeutungsenergien die aus dem christlichen in einen houmlchst weltlichen Bereich des Sprechens uumlberfuumlhrt werden erhebt der bekenntnishafte Lebensbericht des Zechers sich zum Heilsbericht zum Preis einer uumlberirdischen und das Irdische vershywandelnden Macht die am Sprechenden wirksam wird Erst diese Spuren des weihevoll-heiligen Pathos dem Weine des schwoumlrenden protzenden singenden Zechers und Schlemmers beigemischt als ein verborgenes Arom bewirken jenes Entzuumlcken das Buumlrger mit der Lektuumlre des Gedichtes seinen Freunden verhieszlig29 Sie bereiten die schluszligbeschwerende Gebetsshyformel vor und bewirken daszlig statt eines Bruches hier der Aufschwung in jene Sphaumlre erfolgt die am inneren Aufbau des Liedes schon von Anshyfang an beteiligt war So vollendet sich das bekennende Sprechen des raquoZechliedslaquo am Ende in der inneren Form einer ihrer urspriinglichen Erfuumlllung mit christlichem Gehalt entleerten Heilsverkuumlndigung

i-

Mit jener Sprechweise des Geistlichen auf welche die Schluszligbeschweshyrung deutete haumlngt diese Form der He i I sv e r k uuml n d i gun g aufs engste zusammen Sie steht in Buumlrgers Werk durchaus nicht vereinzelt die im

29 Brief an Boie 18977

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religioumlsen Sprachgebrauch ausgebildeten Formmodelle finden hier zahlshyreiche und vielfaumlltige Entsprechungen die um so deutlicher erkennbar werden als sie noch immer merkliche Spuren auch des urspruumlnglichen Gehaltes tragen Sie erweisen sich als weltliche Kontrafakturen der relishygioumlsen Vorbilder 30 von denen sie nicht allein das organisierende Formshyprinzip beziehen sondern zugleich jenen Zuwachs an Bedeutungshaumlhe und Wirkungskraft den das Modell nur dann hergibt wenn es selbst noch als bedeutungshaltig und wirkungsfaumlhig intakt bleibt Die Annaumlherung auch der inhaltlichen Erfuumlllung dieser saumlkularisierten Formen an den christshylichen Denk- und Sprachbereich befoumlrdert ja begruumlndet ihre reichhaltige Erscheinung in Buumlrgers Lyrik

Ich glaube Luther wuumlrde dies Gedicht fuumlr ein wuumlrdiges Kirchenlied anerkannt haben schrieb AWSchlegel uumlber Die Elementelaquo (B 518) Schon mit dem Eingangsvers tritt es in die Form der Lehrvershykuumlndigung Horch Hohe Dinge lehr ich dich (I 68) Und diese Lehre vom Wesen der Elemente ist mehr als bloszlige Kundgabe Sie wird Maszligstab fuumlr den Belehrten Richtschnur Grundlage fuumlr das kommende Gericht Immer dringlicher wendet sie sich im Fortgang des Gedichtes an den Houmlrer selbst Sieh hin und her und Nun pruumlfe dich bis mit den oben (S 194) genannten Schluszligversen das lehrende Sprechen ins urteilende und verdammende uumlbergeht

Eine besondere Form der lehrhaft-bekennenden Rede macht das raquoDankl iedlaquo sichtbar (I 44ff) das Buumlrger urspruumlnglich Psalm nennen wollte und zu dem Boie ihm schrieb den denkenden Christen wird es entzuumlcken und erbauen aber den groumlszligten Haufen und Pastor Zuch - (12972) Es zeigt eine ganz symmetrische Anlage Die Eingangsstrophe wendet sich lobend an Gott den Schoumlpfer sechs folgende Strophen reihen auf was der Sprechende aus seiner Hand empfangen hat (daszlig es dabei ausgerechnet um die Liebe den Wein und den Gesang geht muszligte Pastor Zuch freilich wurmen) zwei Mittelstrophen bekennen daszlig die Fuumllle der Schoumlpfergaben nicht zu zaumlhlen sei (Wer zaumlhlt die Gaben alle Wer) und wenden sich auf den Sprecher selbst wieder sechs Strophen nennen dann die leiblichen und geistigen Eigenschaften die Gott ihm verliehen hat Hinter dieser Gaben Wunderschau aber wird Luthers Erklaumlrung zum 1 Artikel des Glaubensbekenntnisses sichtbar in der es nach der FrageWas ist das heiszligt Ich glaube daszlig mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mit Leib und Seele Augen Ohren und alle Glieshyder Vernunft und alle Sinne gegeben hat Gemaumlszlig den Schluszligworten der Erklaumlrung des alles ich ihm zu danken und zu loben schuldig bin muumlndet die letzte Strophe preisend und benedeiend in den liturgisch beshy

ao Zur Begriffsbestimmung dieser Saumlkularisationskategorie vgL S 289 ff

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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PALAESTRA UNTERSUCHUNGEN AUS DER DEUTSCHEN UND

ENGLISCHEN PHILOLOGIE UND LITERATURGESCHICHTE

BEGRuumlNDET VON ERICH SCHMIDT UND ALOIS BRANDL

Herausgegeben von

Wolfgang Kaysert I Hans Neumann

Ulrich Pretzell Ernst Theodor Sehrt

Band 226

Albrecht Schoumlne

Saumlkularisation

als sprachbildende Kraft

GOumlTTINGEN VANDENHOECK amp RUPRECHT 1968

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SAumlKULARISATION

ALS SPRACHBILDENDE KRAFT

Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersoumlhne

VON

ALBRECHT SCHOumlNE

Zweite uumlberarbeitete und ergaumlnzte Auflage

~ -GOumlTTINGEN VANDENHOECK amp RUPRECHTmiddot 1968

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copy Vandenboeck amp Ruprecht in Goumlttingen 1968 - Printed in Germany Ohne ausdruumlckliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustoshymechanischem Wege zu vervielfaumlltigen - Gesamtherstellung

Hubert amp Co Goumlttingen

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INHALT

I

EINFuumlHRUNG 7

II

POSTFIGURALE GESTALTUNG 37

Andreas Gryphius

III

WIEDERHOLUNG DER EXEMPLARISCHEN BEGEBENHEIT 92

Jakob Michael Reinhold Lenz

IV

DIDAKTISCHE VERWEISUNG 139

Jeremias Gotthelf

V

WELTLICHE KONTRAFAKTUR 181

Gottfried August Buumlrger

VI

uumlBERDAUERNDE TEMPORALSTRUKTUR 225

Gottfried Benn

VII

ZUR TYPOLOGIE DER S~KULARISATIONSFORMEN 268

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v

WELTLICHE KONTRAFAKTUR

Gottfried August Buumlrger

Ins Kirchenbuch von Molmerswende im Mansfeldischen schrieb der dashymalige Prediger des kleinen Doumlrfchens daszlig ihm am letzten Tag des zu Ende gehenden Jahres am 31Dezember 1747 ein Kind geboren worden sei Gottfried August Buumlrger Und die Besonderheit dieser Geburtsstunde wohl hat spaumlter den Sohn versucht der Wahrheit ein wenig Dichtung beishyzumischen Denn er war ein Poet geworden und hielt sich nicht fuumlr einen Spaumltling sondern fuumlr einen Beginnenden So erzaumlhlte er dem Arzt Ludwig Christoph Althof er sei geboren worden in der ersten Stunde des Jahres 1748 unter den Gesaumlngen womit man nach alter Sitte das angekommene neue Jahr vom Kirchthurme herab zu begruumlszligen pflegte 1

In viele seiner Lebensbeschreibungen hattJiese kleine Geburtslegendesich eingeschlichen und es scheint als habe Buumlrger ohne das zu woilen mit ihr auf eine tiefere Wahrheit gedeutet als die der aumluszligeren Genauigshykeit das erste was das Kind von der Welt empfing was ihm gleichsam in die Wiege gelegt wurde sind Worte einer Dichtung gewesen Verse aus den groszligen Neujahrsliedern der christlichen Kirche

Die beiden Paten die ihn zur Taufe trugen waren Geistliche wie sein Vater In das Haus des einen der die benachbarte Pans felder Pfarre vershywaltete und den Buumlrger mit seinem raquoPfarrer von Taubenhainlaquo geshymeint haben soll kam der Junge eine Zeitlang jeden Tag uumlber die Asseshyburgschen Felder hinuumlber um zusammen mit den dortigen Pastorskindern von einem Informator unterrichtet zu werden Aber im uumlbrigen wuchs er zwoumllf Jahre lang im vaumlterlichen Pfarrhause heran lernte nur wenig anderes als solche Lieder wie seine Geburtslegende sie erwaumlhnt die Geshyschichten der Bibel und das Lesen und Schreiben das er an ihnen uumlbte Denn mit dem Lateinischen haperte es sehr seinen Vater einen Liebshyhaber von Tobak und Bequemlichkeit kam es hart an einmal ein Viertelshystuumlndchen auf den Unterricht des Sohnes zu verwenden zumal er ihn

lLChr Althof Einige Nachrichten von den vornehmsten Lebensumstaumlnden Gottshytried Auiu~ Buumlrg~rs nebst einem Beitrag zur Charakteristik desselben 1798 (Zit nach d Abdruck in Buumlrgers saumlmmtL Werke hrsg AWBohtz 1835 S429ff Hier 5430) - Selbst Buumlrgers Grabstein nennt als Geburtstag den 1 Januar 1748

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fuumlr einen Dummkopf hielt von dem ohnehin nicht viel zu erwarten waumlre Und die Mutter hatte selbst kaum gelernt leserlich zu schreiben

Der Zwoumllfjaumlhrige verlieszlig das Vaterhaus ging zum Groszligvater nach Aschersleben und besuchte dort die lateinische Schule lutherischer Konshyfession Auch hier klingen die alten Kirchenlieder wieder auf von Amts wegen hatten die Scholaren an den Leichenkondukten teilzunehmen woshybei es auszligerordentlich viel zu singen gab 2 1760 dann fuumlhrt man Buumlrshyger als Schuumller des Koumlniglichen Paumldagogiums zu flaUe das ein orthodoxes Luthertum mit pietistischem Einschlag vertritt Neben dem Religionsshyunterricht und zahlreichen Andachtsuumlbungen betreiben die Lehrer eine spezielle cura animarum auf den Schuumllerstuben es wird von haumlufiger Kommunion berichtet der rigorose Seelenpruumlfungen vorangehen noch bei Tische liest man aus geistlichen Buumlchern vor und des Schulinspektors scharfer Tadel ergeht selbst an die Praumlzeptoren wenn sie versuchen dashybei in eine Zeitung zu schielen a

Nach drei Jahren holt der Groszligvater den Jungen aus Halle zuruumld Es ist ein alter eigensinniger Mann schreibt der Inspektor am 5 Sepshytember 1763 in seine Akten~p~r kleine Engel sitzt in Prima ein Halbshyjahr und ist ohngefaumlhr 15 Jahr a1t~-Er-welntemiddotunc1middotmiddotl5at ich moumlchte doch seine Stelle noch nicht vergeben er wollte beim Groszligvater um Prolonshygation bitten Aber der alte Mann hats abgeschlagen 4

Im Jahr darauf bezieht der Sechzehn jaumlhrige die Universitaumlt Halle um Theologie zu studieren Althof hat erklaumlrt daszlig diese Studienrichtung seiner eigenen Neigung ganz entgegen gewesen und durch den groszligvaumltershylichen Willen bestimmt worden sei Buumlrger haumltte lieber jedes andere Fach gewaumlhlt aber der alte Mann von dem er zumal nach dem bald darauf erfolgten Tode seines Vaters gaumlnzlich abhing habe durchaus einen Geistlichen aus ihm machen wollen Inwieweit das auch im Willen des Vaters lag der selbst ja auch in Halle sein Theologiestudium absolviert hatte bleibt ungewiszlig Er war nicht mehr am Leben als der junge Theoshy

2 HProumlhle GABuumlrger Sein Leben u s Dichtungen 1856 S28 3 VgL ADaniel Buumlrger auf der Schule (Progr d kgL Paumldagogiums zu Halle 1845)

Wiederabdruck in Zerstreute Blaumltter 1886 S 47 f Althof berichtet (a a O S432) daszlig einer der Lehrer mit seinen Schuumllern uumlbungen im Versemachen veranstaltet habe indem er ihnen Anfangs Verse aus den besten Deutschen Dichtern in versetzter Ordshynung der Woumlrter aufgegeben um sie wieder in die metrische Ordnung zu bringen und daszlig sich bei Buumlrger schon damals die entschiedene Anlage zur Dichtkunst und die besondere Vorliebe fuumlr die Volks-Poesie deutlich verrathen haben Auch hier ist freishylich zu vermuten daszlig die Neigung des alternden Buumlrger und seines Biographen zur Leg~ndenbildung uumlber die Tatsachen hinweggeht Denn Danicl (a a O S68) der aus den Schulakten die genauen Lektionsplaumlne und Schuumllerlisten zusammensuchte hat festshygestellt daszlig bei dem betreffenden Praumlzeptor niemals oratorischen oder deutshyschen Unterricht gehabt hat in dem allein Raum fuumlr solche Versuumlbungen gewesen sein koumlnnte

4 A Daniel S 72 5 A a O S 432

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loge schon nach wenigen Semestern vom Groszligvater nach Aschersleben zuruumlckgerufen Halle wieder verlieszlig und die Gottesgelehrsamkeit aufshygab 1768 ging Buumlrger aufs neue zur Universitaumlt diesmal nach Goumlttingen - zum Studium der Jurisprudenz~

Von dieser Zeit an zeigen seine Briefe eine zunehmende Entfernung von der strengen lutherischen Orthodoxie die die ersten zwanzig Jahre seines Lebens bestimmt hatte Ein zuverlaumlssigeres Zeugnis als die sehr unterschiedlich gefaumlrbten Gelegenheitsaumluszligerungen uumlber sein Verhaumlltnis zum Christentum gibt dafuumlr die Art des Umgangs mit dem angestammshyten religioumlsen Sprachgut Bibelworte Verse des Kirchenliedes und liturshygische Formeln vor allem werden voumlllig unbedenklich aus dem geheiligten Kodex geloumlst und ohne die mindeste Ruumlcksicht auf ihren ehrwuumlrdigen Ursprung gaumlnzlich auszligerreligioumlsen ja vorzugsweise spielerischen und scherzhaften Zwecken dienstbar gemacht Sie sind gerade gut genug

6 Die Buumlrger-Biographen pflegen die Hallenser Studentenzeit in duumlsteren Farben zu malen Da ist der Umgang mit Chr A Klotz dem Professor der Beredsamkeit in dessen Hause ein junger Theologe sich eigentlich nicht haumltte bewegen sollen da wird berichtet von einem sittenlosen Bummelleben und dem Miszligfallen an der Theologie mit der sich Buumlrgers sinnliches Temperament nicht vertragen habe In Wahrheit weiszlig man uumlber das alles kaum Genaues Sicher ist nur daszlig Buumlrger verbotenerweise an der Gruumlndung einer niedersaumlchsischen Landsmannschaft beteiligt war auf eine Denunziashytion hin mit seinen Freunden beim Gruumlndungsschmaus vom Pedellen erwischt und zu einer Woche Karzer verurteilt wurde Wahrscheinlich hat dieser Vorfall fuumlr den alten

f eigensinnigen Mann in Aschersleben schon ausgereicht um seinen Enkel zuruumlckzushybeordern Zwar heiszlig~ es im y_erhoumlspItokltill PJ g~2Iilt~LsE~(LtilloLAger houmlret Collegia beiHerrn Prof Hansen und studirr jura aber einiges muszlig er in Halk_ -~wohl auch fuumlr sein Theologiestudium getaiihaben denn de~lgis~e Dekan --- ---dls ares 176768 vermer t l~ctrszligerltrm---ei111iDgaumln szeu nis ausgestent~-~

- a e V rouml e In As ers e en onnte Buumlrger den Groszligvater um--- - stimmen zu Ostern 1768 ging er nach Goumlttingen Er nahm Quartier in dem uumlbel beshy

leumdeten Haus einer Madame Sachse der Schwiegermutter des Professors Klotz in Halle ein Brief den er 1770 an den Goumlttinger Prorektor schreibt berichtet von einer Pruumlgelei zwischen ihm und einem Nebenbuhler im Schlafgemach der Witwe Bandmann einer der Toumlchter des Hauses Nach Madame Sachses Tod zog er 1771 schwer verschuldet in ein Kuumlrschnerhaus und jetzt setzt offenbar eine Vandlung ein Schon seit dem Winshyter 7071 ruumlhmen die Lehrer seine gruumlndlichen rechtswissenschaftlichen Kenntnisse seinen Eifer Fleiszlig und sittsam-bescheidenen Lebenswandel Es liegt zwar nahe auch die Halleshyschen Vorgaumlnge so zu erklaumlren wie Boie der am 281 71 an Gleim schreibt daszlig Buumlrgers freyes lustiges Leben die Herren Theologen verhindert haumltte ihm gute Zeugshynisse zu geben auf Grund der wenigen zuverlaumlssigen Nachrichten ist es aber viel wahrscheinlicher daszlig die Biographen von den ersten Goumlttinger Semestern auf die Hallenser Zeit zUfUumlckgeschlossen haben und also das wirklich zuumlgellose und verwilderte Leben erst einsetzte als der Zwanzigjaumlhrige die geradlinige Entwicklung die ihn vom Molmerswender Pfarrhaus uumlber die Lateinschule in Aschersleben und das Koumlnigliche Paumldagogium nadl Halle gefuumlhrt hatte abbrach und seinem Leben eine gaumlnzlich neue Wendung gab Goumlttingen bleibt fortan bestimmend fuumlr den spaumlteren Amtsverwalter im benachbarten Gelliehausen und den Dozenten an der Georgia Augusta Die Theoshylogie liegt hinter ihm

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einem Brief jene Wuumlrze zu geben die dem Bewuszligtsein unangemessener Verwendung dieser Sprache entspringt Vom Leichtfertigen fuumlhrt das zushymal in den spaumlteren Zeugnissen bis an den Rand des Blasphemischen auf eine Mitteilung H Chr Boies des Freundes in Goumlttingen er gedenke eine reiche Frau zu heiraten antwortet Buumlrger am 13881 7 Wenn ich noch einmal wieder in meinem Leben heuumlrathen sollte wahrhaftig ich heuumlrathete wol eine Kuh wenn sie nur an der bewusten Vernunft [naumlmshylich am Gelde] keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte dich bei dieser Philosophie Amen Amen GA Buumlrger Daszlig die Sprache sich in solcher Weise aus ihren alten Bindungen loumlst waumlre kaum denkbar ohne eine Distanzierung auch des Sprechenden selbst vom Geist des vaumltershylichen Pfarrhauses

Wir wenden uns diesen Vorgaumlngen nicht mit jener Ausfuumlhrlichkeit zu die sie verdienten wenn es um eine Darstellung der inneren Entwicklung Buumlrgers ginge Auch fuumlr unsere Fragestellung aber sind sie bedeutungsshyvoll als Voraussetzung als Ermoumlglichungsgrund dichterischer Gestaltungsshyweisen Denn daszlig hier ein Abfall vollzogen wurde daszlig Buumlrger sich geshyloumlst hat von dem Gesetz nach dem er angetreten war auch ihm selber sehr wohl bewuszligt Wenn er an Boie uumlber den Dr Pideritt schreibt raquoSo viel ich aber aus einer Recension seiner Vertheydigung des Kanons der heil Schrifft 2tes Stuumlck muthmaszlige so mag er wohl einen Bannstral auf meine gottlosen Gedichte geworfen haben indem es heiszligt daszlig er zum Beweise gegenwaumlrtiger irreligioumlser und sittenloser Zeiten verschiedene Gedidlte aus den MusenAlmanachen angefuumlhrt habe (11676) so wird unter den ironischen Toumlnen doch deutlich spuumlrbar daszlig er sich mit seinen Dichtungen in einem anderen Raume weiszlig als dem seines Ursprungs

Es gibt wohl kein Zeugnis das in dieser Hinsicht aufschluszligreicher ja verraumlterischer waumlre als die Stelle aus einem Brief vom Sommer 1775 an Goethe Wie behaumlglich von der bekannten AlltagsleyerMe10dey der um uns plaumlrrenden Christlichen Gemeine unterweilen abbrechen und sein innres Seelenstuumlckchen anstimmen zu koumlnnen

Das ist mit Entchristlichung nicht einfach gleichzusetzen der tiefere Bereich persoumlnlicher Glaubenshaltung entzieht sich unserer Einsid1t Aber es bezeugt eine Abwendung vom strengen Kirchenchristentum und macht deutlich daszlig der Schreiber seine eigentlid1e Bestimmung auszligerhalb des religioumls-dogmatischen Raumes sieht Immerhin AlltagsleyerMelodey und innres Seelenstuumlckchen plaumlrren und anstimmen zeigen unershyachtet der recht eindeutigen Bewertung doch noch die Verwandtschaft einys gemeinsamen Wortfeldes und werden durchaus in einem Atemzug genannt Das aufschluszligreich genug Denn es deutet auf ein Verhaumlltnis

7 Vfenn nicht anders angegeben stammen die Briefzitate stets aus der Sammlung Briefe von und an Gottfried August Buumlrger hrsg A Strodtmann 4 Bde 1874

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zwischen religioumlsem und dichterischem Wort (so darf man ohne Zweifel uumlbersetzen) in dem zwar das erste dem zweiten untergeordnet wird aber doch noch immer eines mit dem anderen verbunden bleibt

Auch das Woumlrtdlen unterweilen wird man dabei nicht ganz uumlbershysehen duumlrfen Unterweilen hat Buumlrger seinem Verleger Dieterich gegenshyuumlber (und es gibt andere aumlhnliche Faumllle) in einem Brief vom 1 81782 die Weisheit und Guumlte goumlttlicher Vorsehung die jenseits menschlicher Einshysichtsfaumlhigkeit liegt mit Nachdruck ja mit Leidenschaft verteidigt - um dann dem Freunde selbst die Frage in den Mund zu legen Wie koumlmmt Saul unter die Propheten Dieses Sauls eigentliches Amt ist nidlt die AlltagsleyerMelodey sondern das innre Seelenstuumlckchen dichte- rischer Gestaltung Aber dabei grundet doch das eine auf dem anderen Was er anstimmt transponiert die alte Melodie in eine neue Tonart jenes Abbredlen wird zum Synonym einer weltlichen Kontrafaktur

Ich denke nicht heiszligt es im Vorbericht zur raquoIl i a slaquo-Obersetzung das Jemand die Umstaumlnde und das Aufheben welche ich hier mache uumlbertrieben abgeschmackt und laumlcherlich finden werde er muumlszligte denn anders die Kunst lebendiger Darstellung so wie das edle nicht Jedershymann von Gott verliehene Seelenvermoumlgen worauf sie sich gruumlndet und eins der wichtigsten Mittel deren sie sich bedient die Sprache die nie goumlttlich genug zu verehrende Sprache sie das theuerste heiligste Werkshyzeug des wirkenden Menschengeistes sie welche zu allen andern Wissenshyschaften spricht Ohne mich koumlnnet ihr nichts thun alles das muumlszligte er

( also fuumlr Lumpereien und unter der Wuumlrde maumlnnlicher Bemuumlhungen halten 8

Buumlrgers theoretische Schriften enthalten eine Fuumllle solcher Aumluszligerungen uumlber die Sprache und den dichterischen Umgang mit ihr die gekennshyzeichnet sind durch einen Anspruch dessen Unbedingheit den Bereich des wirkenden Menschengeistes auf das Religioumlse hin oumlffnet Literarische Taumltigkeit wird ins Heilige und Goumlttliche erhoumlht als edelste Bestimmung des Menschen uumlberhaupt und als Gnadengabe verstanden die nur den Auserwaumlhlten zuteil geworden Dichtung wird zum Gottesdienst der Wortverwaltung Das aber wird keineswegs als ein Obertragungsvorshygang begriffen und in seiner Problematik bedacht sondern erscheint als ein durchaus unreflektierter Akt und wird sichtbar allein als sprachlicher Vorgang Die aumlsthetischen Eroumlrterungen ziehen ihr Vokabular zu wesentshylichen Teilen aus den religioumlsen Texten nutzen gleichsam die Beglaubishygungskraft dieser Worte die ihnen von ihrem Ursprung her anhaftet shyohne daszlig dabei doch dieser Herkunftsbereich selber noch als Maszligstab und Bewertungsgrundlage gegenwaumlrtig bliebe Es geht nicht mehr um

8 Zitiert wird - von den GediChten abgesehen - nam Buumlrgers saumlmmtliche Werke hrsg A W Bohtz 1835 Abgekuumlrzt B hier S 184

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didaktische Verweisungen sondern um aumlsthetische Bereicherung Das Pfarrhaus wird abgebrochen damit was brauchbar und ansehnlich scheint unter den alten Steinen fuumlr den Bau des neuen Hauses verwendet werden kann Diesen Bezug auf die religioumlse Sprache auf den Luthertext insonderheit hat Buumlrger sich bis in stilistische Einzelheiten hinein bewuszligt gemacht In seinen raquoGedanken uumlber die Beschaffenheit einer Deutschen Uumlbersetzung des Homerlaquo etwa heigt es nachdem der Verfasser die von ihm bevorzugte Anfangsstellung des Hauptzeitwortes besprochen hat Ich habe keinen Platz zu Beispielen aber man wird ihrer genug finden welche dies Alles bestaumltigen Man schlage nur Luthers Bibel-uumlbersetzung und seine uumlbrigen Schriften nach auf jeder Seite sind weld1e Die poetischen Buumlcher der heiligen Schrift hat Luther mit dem besten Geschmacke fuumlr seine Zeiten so echt Deutsch und so feurig uumlbershysetzt daszlig man daruumlber erstaunen muszlig Ein fleiszligiger Sprachforscher muumlszligte unsere neuere Sprache mit den vortrefflichsten Schaumltzen aus den Schriften dieses bewundernswuumlrdigen Mannes wovor unseren Hominibus delicatulis so ekelt bereichern koumlnnen (B 137 L)

Die Stelle dessen was zwanzig Jahre lang dem Pfarrersohn als das Houmlchste und Heiligste vorgestellt und eingepraumlgt wurde was er hinter sidl lieszlig als er das Studium der Theologie in Halle abbrach vermochten die Jurisprudenz die Geschaumlfte des Amtsverwalters die Lehrtaumltigkeit des Dozenten keineswegs einzunehmen und auszufuumlllen Seine Berufstaumltigshykeit blieb fuumlr Buumlrger lebenslang eine Plage eine Quelle des Miszligmuts und der Verzweiflung Faumlhig dazu war allein die Po esie nur das innre Seelenstuumlckchen konnte die Klaumlnge der alten Melodie in sich aufnehmen und fortfuumlhren ~

Wie er uumlber Stolberg sagt Mich duumlnkt ich lese einen Propheten wenn ich seine Prosa lese 9 so schreibt er an Boie Uumlbrigens lebe und webe ich in den Reliques Sie sind meine Morgen und AbendAndacht 10 wie er von Shakespeare erklaumlrt Ihn kann man die Bibel der Dichter nenshynen 11 so urteilt er uumlber die unerwuumlnschten Rezensenten Und wenn der Engel Gabriel vom Himmel kaumlme und ihnen Poetik predigte so wuumlrde er dennoch nichts ausrichten 12 Mit voumllliger Unbefangenheit fast moumlchte man sagen mit der Unschuld des Selbstverstaumlndlichen wird das Vokabushylar beider Bereiche vermischt Die Aufloumlsung der Kodifikation kennt keine Grenzen mehr Denn die Saumlkularisation dient hier nicht dazu den religioumlsen Text als einen weltlicher Sprache integrierten Maszligstab fuumlr menschliches Reden und Handeln wirksam zu machen sondern sie nutzt ihn nur mehr als Mittel zu ihrer Erhoumlhung und Steigerung ein Buch

o Dt Museum Juli 1777 Zu FrLStolbergs raquouumlber die Fuumllle des Herzenslaquo 10 7477 Meint Percy Reliques of Ancient English Poctry London 1765 11 An Boie 15976 12 An Boie 31278

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wirft Licht auf das andere Buch aber - es ist nicht mehr das Licht der Erkenntnis dessen was gut und boumlse sei (Vgl S148 f)

Wie auf die Werke der Dichtkunst so faumlllt der Glanz dieses geborgten Lichtes auch auf die Dichter selbst Was Christus uumlber alle menschliche Macht und Groumlszlige erhebt wird jetzt auch dem Poeten zugesprochen sein Reich ist nicht von dieser Welt 13 und die Verheiszligungen die dem Chrishysten gegeben sind wandeln in der uumlbertragung ihre Formen nur gerade so viel wie noumltig ist um fuumlr den neuen Anwendungsbereidl braudlbar zu sein Einem unbekannten Empfaumlnger schreibt Buumlrger am 621772 meine Briefe sollen Ihnen hinfort wenigstens alle vier Wochen jenen biblischen Spruch parodieren Bleib den Musen getreuuml bis in den Tod so wird dir Apoll die Krone des ewigen Nachruhms geben Parodieren shydas meint hier nichtmiddotdie Entstellung den Entwurf eines scherzhaften oder boumlsartigen Gegenbildes sondern Akkomodation uumlbertragung und Anshypassung Es richtet sich nicht gegen den vorgegebenen Text aber es nimmt ihn auch nicht mehr ernst in seinem unbedingten und ausschlieszligenshyden Anspruch Schon deutet es in die Richtung einer uumlberarbeitung des Originals nach dem verbesserten Geschmack unsrer Zeit in einer neuen Einkleidung und Ordnung der Gedanken (v gl u S 269Anm 2) Dieser ) verbesserte Geschmack freilich ist kaum mehr als ein veraumlndertes thematisches Interesse In Wahrheit fehlt diesen uumlbertragungen geshylegentlich selbst der gute Geschmack und es kennzeichnet zugleich die

( uneingeschraumlnkte Verfuumlgbarkeit des religioumlsen Sprachgutes wenn Buumlrger auch auf betraumlchtliche Houmlhenunterschiede zwischen Ursprungs- und Anshywendungsbereich kaum mehr Ruumlcksicht nimmt An Goeckingk der ihm aus seiner fatalen aumluszligeren Situation heraushelfen will schreibt er anshystandslos wenn Sie mein Erloumlser seyn und mich den Musen wiedershyschenken koumlnnten - Sie wuumlrden mir das seyn was der Engel dem geshyfangenen Apostel in der Apostel Geschichte war 14 Ein gewisses Vershygnuumlgen am Miszligbrauch des Vorbildes und die ganz ernsthafte Absicht dem Sachverhalt Nachdrud und Gewicht zu geben sind hier wohl kaum zu trennen Aber ohne Zweifel steht dahinter ein Wertbewuszligtsein dem kein Preis zu hoch ist wenn es gilt den Anspruch und die Wuumlrde des poetischen Amtes zu verkuumlnden und durchzusetzen

So heiszligt es in den raquoGedanken uumlber die Beschaffenheit einer Deutschen uumlbersetzung des Homerlaquo Statt aller Untersuchunshygen uumlber diesen Punct koumlnnte der Streit wohl nicht angenehmer fuumlr den Zuschauer beigelegt werden als wenn der Genius unserer Literatur einen Mann von Genie und Kenntniszlig erweckte welcher zwischen die Zanshy

13 An Bollmann 22790 14 29675 Aus dem Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk hrsg A Sauer

Vjs f Litgesch III 1890 hier S 68

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kenden mit einer Uumlbersetzung traumlte uumlber welche man schreiben koumlnnte Der Nachwelt und der Ewigkeit heilig (B 135) Dem aufmerkshysamen Leser kann der Hintergrund der kleinen Szene nicht verborgen bleiben die hier entworfen wird Der Uumlbersetzer-Dichter er erscheint als ein neuer Moses welcher vom Gott seines Volkes erweckt unter die Israeliten tritt mit jenen Gebotstafeln die der christlichen Nachwelt und der Ewigkeit heilig sind (Selbst das Wort von den Zankenden die um die Homer-Uumlbersetzung miteinander im Streite liegen scheint auf den biblischen Bericht zu deuten Bei der Ruumlckkehr vom Sinai spricht Josua zu Moses Es ist ein Geschrei im Lager wie im Streit Er antshywortete Es ist nicht ein Geschrei gegen einander derer die obliegen und unterliegen sondern ich houmlre ein Geschrei eines Singetanzes Ex 3217 f)

Buumlrger selbst ist es der nach diesem Vorwort mit Proben seiner jamshybischen Lrbersetzung unter die Zankenden tritt - aber er zieht es vor dem Anspruch des Moses-Bildes auszuweichen Das bleibt dem Vollender uumlberlassen Fuumlr die eigene Person und das eigene Werk waumlhlt er ein anderes Modell Wenn ich gleich derjenige selbst nicht bin auf welchen unser Volk hoffet (denn ich muumlszligte den unversc~aumlmtesten Knabenstolz besitzen wenn ich mir einbildete daszlig ichs waumlre) so kann ich doch vielleicht zu der Ehre eines Vorlaumlufers dessen der kommen wird gelangen Auf den Worten des neutestamentlichen Vorlaumlufers Johannes des Taumlufers der die messianische Erwartung des Volkes von sich selber abweist und auf jenen Groumlszligeren lenkt der kommen wird gruumlndet die Haltung des raquoIliaslaquoshyObersetzers aus ihnen gewinnt sie dem eigenen Versuch dem Probestuumld~ Bedeutsamkeit und Gewicht Eine Entsprechung zur Saumlkularisationsform figuraler Gestaltung ist nicht zu verkennen Aber wenngleich hier wie dort eine dichterische Figur dem vorbildlichen Modell gleichgeformt wird J

geht es doch dort darum sie durchzusetzen und zu rechtfertigen auf der Grundlage des Imitatio-Denkens - hier aber sie zu steigern und zu ershyhoumlhen allein um ihrer selbst willen Der Dichter erscheint als Gottesmann weil er in dieser Gestalt dem Profanen enthoben ist

In der Behandlung aller Fragen die ihm wirklich am Herzen liegen greift Buumlrger zuruumlck auf den Sprach- und Formenschatz der ihm jahreshylang als Ausdrucksvorrat fuumlr das Wesentliche und Bedeutsame vermittelt wurde Bis in die Uumlberlegungen zum dichterischen Schaffensprozeszlig fuumlhrt das die deutlich unter der praumlgenden Kraft des Berichtes vom goumlttshylichen Schoumlpfungsakt stehen Jeder Kuumlnstler schreibt er an Schushybart sollte es sich daher zur Maxime madlen keines seiner Verke eher unter fremde Augen treten zu lassen als bis er nach Jahrelangem Anshyschauen alles dessen so er gemacht sagen koumlnnte Siehe da es ist alles sehr gut 15

15 12992 - Vgl die Goumlttliche Zufricdenhcits-Formel Geni 31

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Nichts anderes als eine uumlbertragung des reformatorischen Verhaumlltnisses zur Schrift und seine Anpassung an den Umgang mit dem dichterischen Vort ist sein Verantwortungsgefuumlhl und seine Treue gegenuumlber dem unshyverriickbaren Text ja der Glaube daszlig am Buchstaben das Heil haumlngen koumlnne Gleichguumlltig welcher Grad von bewuszligter Einsicht in diese Zushysammenhaumlnge auch vorgelegen haben mag Buumlrgers Aumluszligerungen uumlber solche Fragen speisen sich unablaumlssig aus der religioumlsen Sprachquelle So begleitet er Anfang 1784 die uumlbersendung eines Manuskriptes an Goeckingk mit der leidenschaftlichen Ermahnung Houmlrt ihr daszlig also nur nicht ein Puumlnctchen zu geschweige denn ein Buchstab oder gar ein Wort fehlt Ihr seht sonst Euumlres Ungluumlcks kein Ende weder hier zeitlich noch dort ewig

Die fuumlr Buumlrger so bezeichnende Neigung zur unermuumldlichen oft geradeshyzu kleinlich anmutenden uumlberarbeitung und Ausfeilung seiner Gedichte wird man in unmittelbarem Zusammenhang sehen muumlssen mit jener Heishyligung der Werktreue die der Protestantismus entwickelt hat und es ist charakteristisch fuumlr die Denkweise des ganzen Buumlrgerschen Freundesshykreises wenn Meyer ihm zu einigen Gedichten die er fuumlr den Musenshyalmanach schickt am 971793 entschuldigend schreibt sie haumltten noch Mangel der Feile die vor Gott und Menschen angenehm ist

Solche Einzelbeobachtungen und man koumlnnte sie beliebig vermehren machen deutlich wie folgerichtig der Weg von Molmerswende nach Halle seine Fortsetzung verlangt auch wenn er nun in andere Gefilde fuumlhrt wie tief der Erbzwang den Pfarrersohn bestimmt uumlberdem bin ich einmal ein Theologe gewesen schreibt er an Goeckingk und von der Zeit haumlngt mir illud Theologorum decantatissimum Dic et servasti animam immer noch an 16 Schon 1772 erklaumlrte er sich gegen seine bisherige wolshyluumlstige und taumlndelnde Dichtungsart von allen moralischen Sentimens entbloumlszligt weil er meinte damit verloumlre die Poesie ihr erhabenes Amt Lehrerin der Menschen zu seyn 17

Im engsten Zusammenhang damit muszlig nun Buumlrgers Glaubensartikel von der P 0 pul a ri t auml t der Poesie gesehen werden Denn wenn von der kirchlichen Wortverkuumlndigung her das Amt Lehrerin der Menschen zu seyn auf die Dichtung uumlbertragen wird so faumlllt ihr zugleich die Pflicht zu ins Breite zu wirken einem unbegrenzten Leserkreise zugaumlnglich und verstaumlndlich zu sein Buumlrger nennt als seine Maxime wenn nicht Alle n dennoch den Me ist e n - versteht sich ohne weder sich selbst noch der Dichtkunst etwas zu vergeben - zu gleicher Zeit zu gefallen 18 Nur

1G 3675 Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk S65 11 Brief an Boie 2 11 72 lB Die Problematik der Popularitaumlt die an dem eingeschobenen einschraumlnkenden

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dieGuumlnstlinge die dieses Ziel erreichen sind die gewaltigen Herzensshybezaumlhmer und Zauberer die ihre guumlldenen Staumlbe nie vergebens zucken und uumlber jedes Zei tal ter in immer lebendiger Kraft herrschen Nie verra uchen die Opfer auf ihren Altaumlren und unvergaumlnglich bluumlhen ihre Kraumlnze (B 178 f) Nur sie sprechen in Vollmacht Die Opferaltaumlre und der Bezug auf jene Staumlbe die vor dem Pharao von den aumlgyptischen Zauberern vergeblich dann aber von Moses und Aaron nie vergebens ausgereckt wurden 19

begruumlnden eine Priesterschaft der Wortverwaltung zu bestaumltigen die Wahrheit des Artikels woran ich festiglich glaube und welcher die Axe ist woherum meine ganze Poetik sich drehet Alle darstellende Bildshynerei kann und soll volksmaumlszligig seyn Denn das ist das Siegel ihrer Vollshykommenheit 20

Dieser Artikel von der Popularitaumlt der Dichtung Buumlrgers Glaubensshybekenntnis empfaumlngt in der Tat einen entscheidenden Anstoszlig aus der Predigt- und Seelsorgehaltung der er unter der vaumlterlichen Kanzel beshygegnete Wenn er scherzhaft an Meyer schreibt ein gottseliges Comite untersuche woher es wohl komme daszlig der Gottesdienst in der Unishyversitaumltskirche so sparsam besucht werde Ich denke mit Recht wird Euer gepredigtes Evangelium als eine der vornehmsten Ursachen oben an geshystellt werden (121 89) so liegt dem ganz der gleiche Gedanke zushygrunde der auch die Wirkungspoetik seiner Abhandlungen zur VolksshyPoesie bestimmt Es ist das saumlkularisierte Predigerethos das aus dem leishydenschaftlichen raquoHerzensausguszliglaquo spricht Durch Popularitaumlt mein ich soll die Poesie das wieder werden wozu sie Gott erschaffen und in die Seelen der Auserwaumlhlten gelegt hat Lebendiger Odem der uumlber aller Menschen Herzen und Sinnen hinweht Odem Gottes der vom Schlaf und Tod aufweckt Die Blinden sehend die Tauben houmlrend die Lahmen gehend und die Aussaumltzigen rein macht Und das Alles zum Heil und Frommen des Menschengeschlechts in diesem Jammerthaie (B 321) 21

Die Beobachtung solcher Umsetzungsvorgaumlnge die Buumlrgers theoretische Aumluszligerungen gedanklich und sprachlich bestimmen leitet zu unserer eigentlichen Frage nach der Bedeutung und Beschaffenheit der Saumlkularishysationsphaumlnomene in seinem d ich t e r i s c he n Werk

(wenn nicht gar aufhebenden) Satz zu entwickeln waumlre kann hier nicht ausgefuumlhrt werden Sie kommt in Schillers und A W Schlegels Buumlrger-Abhandlungen zur Sprache

Vgl Ex7-10 20 B S324 (Vorrede zur Ausgabe der Gedidlte 1778) 2 Ober eine ganz entsprechende neue Einstellung zum Volksganzen raquowelche die

seelsorgerliche Haltung des Vaters unmittelbar fortzusetzen scheint handelt H Schoumlffshyler Das literarische Zuumlrich 1925 S42f

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Unmittelbare und ausdruumlckliche biographische Zeugnisse fuumlr den Einshyfluszlig des religioumlsen Schrifttums gibt es kaum Immerhin finden sich einige Hinweise in den Aufzeichnungen Althofs die auf Buumlrgers eigenen freishylich sehr spaumlten muumlndlichen Auszligerungen beruhen Durch sie wird uumlbershyliefert daszlig der Junge bis in sein zehntes Lebensjahr hinein durchaus nicht mehr lernte als Lesen und Schreiben wohl aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse behielt was er sowohl in der Bibel als im Gesangshybuche las ja daszlig er wie er meinte das ganze Gesangbuch ohne Schwieshyrigkeit auswendig gelernt haben wuumlrde (B 431) Von den houmlchst aufshyschluszligreichen Einzelheiten dieser fruumlh gelegten Bibel- und Gesangbuch- kenntnisse muszlig spaumlter die Rede sein Hier wird zunaumlchst nur Althofs Mitteilung wichtig daszlig schon der Knabe ohne durch andere Muster als welche Bibel und Gesangbuch ihm lieferten dazu aufgefordert zu werden anfing Verse zu machen ehe er noch die allerersten Elemente der Grammatik erlernt hattelaquo (B 431) Das ist gewiszlig nicht so zu verstehen als habe der junge Verseschmied damals noch kein grammatisch fehlershyfreies Deutsch sprechen oder schreiben koumlnnen Grammatik lernte man an der Fremdsprache Buumlrger begegnete ihr also im lateinischen Untershyricht - und cr konnte ungeachtet aller Schlaumlge in zwei Jahren noch nicht Mensa decliniren (B 431) Diese Randbemerkung macht einsichtig

( daszlig es sich bei den poetischen Anregungen durch Bibel und Kirchenlied um ganz unreflektierte dem kontrollierenden Sprach- und Kunstbewuszligtshysein entzogene Vorgaumlnge handelt Das deckt sich voumlllig mit Althofs Aufshyzeichnung Buumlrger versicherte ferner So wenig diese Fertigkeiten als irgend eine andere Kenntniszlig seines nachfolgenden Lebens bis in sein maumlnnliches Alter haumltten ihm die geringste Anstrengung oder Muumlhe geshykostet es waumlre auch sehr wenig was er von Lehrern und aus Buumlchern geshylernt haumltte da es ihm immer in den Lehrstunden an Aufmerksamkeit und auszliger denselben an Geduld gefehlet ein Buch anhaltend aus zu lesen Er muumlszligte sich oft innerlich wundern wenn er einen Blick in die Vorrathsshykammer seiner Kenntnisse thaumlte wie und woher der Plunder alle hinein gekommen Das Meiste waumlre ihm hier und da und dort und uumlberall wie VOn selbst gleichsam angeflogen (B 431) Nichts konnte ihm so sehr von selbst anfliegen wie die Worte Bilder und Formen der heiligen Texte die von den Jugendjahren im vaumlterlichen Pfarrhaus bis zum Abbruch des theologischen Studiums in Halle sein taumlglicher Umgang waren Was aber fuumlr ihre Aufnahme gilt ist nicht weniger guumlltig fuumlr ihre Verwendung die Saumlkularisationsvorgaumlnge entziehen sich weithin dem Bewuszligtsein des Schreibenden Durch ihn hindurch aber oft ohne seine Absicht und ohne sein Dazutun wirkt hier die religioumlse Sprache auf das Kunstwerk ein

Der eigentliche Zugang zu diesen Phaumlnomenen kann deshalb nicht durch die Beschaumlftigung mit der Person des Autors gewonnen werden

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welches Forschers Geist hat Buumlrger selbst erklaumlrt kann sich immer so tief und innig in den Geist des Kuumlnstlers versenken um etwas mit Sicherheit auszumachen welches dieser oft selbst nicht recht weiszlig naumlmshylich was fuumlr Bestinunungsgruumlnde jeglichen seiner Schritte zum Ziele leitet haben 22 Nur im Ziele selbst im Zustandegekommenen WIrd wohl der eine oder andere Bestimmungsgrund erkennbar der Weg dahin fuumlhrt also nicht uumlber die Versenkung in den Geist des Kuumlnstlers sondern uumlber die Betrachtung des Kunstwerkes selbst

In dem 1782 entstandenen kleinen Gedicht raquoDer klug e Heldlaquo23 wird erzaumlhlt wie ein junger Soldat um der Gefahr zu entgehen am Tag vor der Schlacht einen Urlaub erbittet angeblich damit sein sterbender Vater ihm noch den Abschiedskuszlig geben koumlnne Die letzten Verse lauten

Sehr wohl versetzt der Chef und laumlchelt vor sich nieder Reis hurtig ab mein Sohn Denn nach der Bibel muszlig Dein Vater nach Gebuumlhr von dir geehret werden Auf daszlig dirs wohlergeh und du lang lebst auf Erden

Von verschiedenen Seiten aus wird einsichtig welch besonderes Gewicht dieser Schluszlig traumlgt ja daszlig das ganze Gedicht eigentlich auf ihn hin anshygelegt ist 24

bull Schon der Gespraumlchsablauf weckt eine Spannung auf die Beshygruumlndung fuumlr die Zustimmung des Chefs der den Vorwand ja durchshyschaut Zugleich trennt das Druckbild durch einen Gedankenstrich und folgenden Sinnabschnitt die hier angefuumlhrten letzten Zeilen von den vorshyangehenden und nachdem schon zuvor die wechselnd vier- und fuumlnfshyhebigen Jamben sich zweimal gleichsam praumlludierend ins alexandrinische Maszlig vorgewagt hatten gewinnt der Schluszligteil in dem die Alexandriner sich voumlllig durchgesetzt haben auch metrische Bedeutungssteigerung Entshyscheidend aber ist der Pointencharakter des Ausgangs und dessen eigentshylicher Uberraschungseffekt entsteht durch die ironische Beziehung des vierten Gebotes auf die Absichten des Soldaten Den wichtigsten Beitrag zur Schluszligbeschwerung des Gedichtes leisten diese beiden zitierenden len mit denen ein vorgeformtes und vorbelastetes Redestuumlck als schwerer Endakzent dem vorangehenden Berichte aufgesetzt wird

~2 Ueber die Wirkung des Schleiers in Werken der darstellenden Kunstlaquo TI S 340 23 Die Gedichte werden im folgenden zitiert nach der Ausgabe von E COllsentius

2 Bde 1914 Hier I S238 21 VgL E Staigers Begriff der nproblematischen Dichtung (Grundbegriffe der

Poetik LAufl 1951 S162ff)

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Schluszligbeschwerungen sind fuumlr Buumlrgers Lyrik charakteristisch Sie hershyvorzubringen erscheint die eben beobachtete Verbindung eines praumlforshymierten Sprachstuumlckes mit vorausgehenden freien Formationen beshysonders geeignet - und es ist bemerkenswert daszlig der strukturell so beshydeutsame pointierte Ausgang tatsaumlchlich in nahezu einem Drittel aller Gedichte Buumlrgers auf den christlichen Sprachbereich zuruumlckweist

Wo seine Gedichtausgaumlnge einen formelhaften Redeschluszlig woumlrtlich oder nur geringfuumlgig abgewandelt uumlbernehmen wird die Endbetonung am spuumlrbarsten Aus einer Fuumllle von Beispielen koumlnnte man dafuumlr nennen

Gott lass es dem Edlen doch wohl ergehn Das bet ich herzinniglich Amen (I 207)

Gott behuumlte liebe Seele Gott behuumlte dich davor (I 32)

o Paradiesesglaube Erhalt und staumlrke mich (I 38) Komm Von hinnen laszlig uns scheiden Eia waumlren wir schon da - (I 68) Dein Name sei gebenedeit Von nun an bis in Ewigkeit (I 45)

Der jeweilige Ursprungsort dieser Schluszligformeln bedarf keiner Erlaumluteshyrung Was sie - in einen neuen Zusammenhang versetzt - fuumlr den Aufshybau des Gedichtes leisten koumlnnen zeigt sich im ersten Beispiel (raquoDie Kuhlaquo) mit der Hervorhebung des Erzaumlhlers der diesen Epilog spricht und mit der Zusammenfassung des Gedichtes zur geschlossenen Form im letzten Beispiel (raquoDankliedlaquo) in dem die schlieszligenden Zeilen des Gedichtes die der Anfangsstrophe wieder aufnehmen und die preisende Aufreihung der Gottesgaben mit einer aus dem liturgischen Ursprungsort der Formel heruumlberwirkenden Kraft zusammengreifen und erfuumlllen im Benedeien des goumlttlichen Gebers Von solchen Leistungen wird noch die Rede sein

Aumlhnliche Wirkungen entfalten die Schluumlsse in denen Bibelzitate parashyphrasiert und auf die vorangehenden Verse bezogen werden In raquoSchoumln Suschenlaquo etwa geben die letzten Zeilen

Drum Lieb ist wohl wie Wind im Meer Sein Sausen ihr wohl houmlrt Allein ihr wisset nicht woher Wiszligt nicht wohin er faumlhrt (I 155)

die aus Joh 3 8 hervorgehen Antwort auf die Eingangsfrage des Geshydichtes durch sie erfuumlllt es sich in der inneren Form von Raumltselstellung und Raumltselloumlsung Vergleichbares bewirkt der Schluszlig von raquoDie Eleshy

13 7439 Schoumlne Saumlkularisation (Palaestra 226) 193

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mentelaquo nachdem die Liebe als allbewegende Triebkraft der Natur geshyschildert worden ist zieht der Ausgang die Lehre fuumlr den lieblos geshywordenen Menschen

Du bist ein eiteltoumlnend Erz Bist leerer Klingklang einer Schelle Und Tosen einer Wasserwelle (I 70)

Die auffallend haumlufige Verwendung solcher zusammenfassenden abshyrundenden aufloumlsenden erklaumlrenden pointierenden Schluszligbeschwerunshygen die der Dichter dem christlichen Sprachbereich entlehnt muszlig durchshyaus als Charakteristikum Buumlrgerseher Gedichtsstruktur verstanden werden

Ober die Bestimmung ihrer sprachlichen Herkunft hinaus sind diese beschwerten Ausgaumlnge in einigen Verwendungs faumlllen nun auch auf eine genauer bestimmbare Form des Sprechens zu beziehen Da endet etwa Die Entfuumlhrunglaquo mit den Versen

So segne dann der auf uns sieht Euch segne Gott von Glied zu Glied Auf Wechselt Ring und Haumlnde Und hiermit Lied am Ende (I 181)

Das ist die Spredlweise des Geistlichen und in der Tat nimmt ja hier am Ende des houmldlst wel dichen Balladengeschehens der Vater des entfuumlhrshyten Fraumluleins mit Segen und Ringwechsel eine priesterliche Handlung vor Diese personale Gleichung macht aufmerksam auf eine grundsaumltzliche typologische Entsprechung zwisdlen der Schluszligbeschwerung des Gedichshytes und geistlidler Redeweise Nicht nur das durchgehend religioumls beshystimmte liturgische Sprechen endet mit einer gewichtigen Schluszligformell des Gebetes Segens oder Lobpreises auch die nicht mehr formgebundene freie Rede das Gespraumlch die Ansprache so zu schlieszligen daszlig weltlidles Sprechen am Ende durch einen religioumlsen Bezug ein praumlformiertes Redeshystuumlck erhoumlht gekroumlnt gewichtig beschlossen wird ist fuumlr den Geistlichen offenbar bis heute bezeichnend

Diese durch vorgegebene Schluszligformeln charakterisierte Redeweise zeigt ganz die gleiche Grundform die in der Untersuchung der Buumlrgershysehen Gedichte sichtbar wird - wie ja jene Gepflogenheit an weltliche Rede einen oft geradezu gewaltsam angehaumlngten formelhaft-religioumlsen Schluszlig zu fuumlgen selbst in dem oben genannten Briefausgang noch spuumlrbar wird ich heuumlrathete wol ein Kuh wenn sie nur an der bewusten Vershynunft keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte didl bei dieser Philoshysophie Amen Amen GABuumlrger Unter diesem Blickwinkel gewinnt die Stelle geradezu karikierende Zuumlge

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Beispielhaft fuumlr eine solche Analogie der Sprechweisen scheinen etwa die Schluumlsse

Die Liebe segne dich und sie Mit ihrem besten Segen (148) Die Liebe sagt Verdammet nicht Daszlig man nicht Euch verdammet (I 187) Diesen Trinker gnade Gott Lass ihn nicht verderben (I 73)

Sie aber deuten auf eine Analogie-Antithese zwischen dem Pfarrer als dem Diener der christlichen Kirche und dem Poeten der eines seiner Geshydichte mit den Worten schlieszligt

Doch wisse du Apolls Religion Schenkt dir die Glaubenspflicht und dringt auf gute

Werke (I 248) Als Gottesdienst der Wortverwaltung hat Buumlrger sein dichterisd1cs Amt verstanden

Bin geweiht zum Priester des Apoll Mit des Gottes Kranz und goldnem Stabe Seines Geistes bin ich froh und voll Warum nicht auch frommer Wundergabe - (I 94)

Und am Ende des Gedichtes (raquoGeweih tes Ang ebind e zu Lo uis ens Geburtstagelaquo) tritt diese vaumlterliche Mitgift diese Sprechhaltung des Geistlichen ganz ausdruumlcklich ins Wort

Freud und Lust von keinem Harm vergaumlllt Sei durch dich Ihr in die Brust gegossen Freud an Gottes ganzer weiter Welt Mich den Priester auch mit eingeschlossen

shy

Die Beobachtung der Schluszligbeschwerung lenkt auf die Frage nach ihrer Integration in das Gesamtgefuumlge des Gedichtes und nach der Wirkung die sie dort entfaltet raquoDer kluge Heldlaquo kann darauf kaum schon ershyschoumlpfende Antwort geben die massive Pointicrung die hier durch den Endakzent zustande kommt ist nur eine unter vielen Moumlglichkeiten seiner Leistung Weit komplizierter liegen diese Verhaumlltnisse in Buumlrgers Nachshydichtung der raquoCo n f ess i 0laquo des Archipoeta 25

25 Das Gedicht war Buumlrger in einer dem Walter Mapes zugeschriebenen Fassung beshykannt geworden (vgl seinen Brief an Sprickmann vom 21077) deutliche Bezuumlge zeigen sich zu seinen Strophen 12 13 16-19 Zitiert wird die lat Vorlage nach dem auf 5 Strophen verkuumlrzten Abdruck den Buumlrger in der Ausgabe seiner Gedichte VOll

1778 auf S 290 f gegeben hat (Ausgenommen die beiden dort nicht mitgeteilten hier auf S199 zitierten Verse Voluptatis avidus laquo)

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Zechlied

Im will einst bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Alles meinen Wein nur nimt Lass im frohen Erben Nam der letzten Olung soll Hefen nom mim faumlrben Dann zertruumlmmre mein Pokal In zehntausend Smerben Jedermann hat von Natur Seine sondre Weise Mir gelinget jedes Werk Nur nam Trank und Speise Speis und Trank erhalten mim In dem remten Gleise Wer gut smmiert der faumlhrt aum gut Auf der Lebensreise Im bin gar ein armer Wimt Bin die feigste Memme Halten Durst und Hungerqual Mim in Angst und Klemme Smon ein Knaumlbchen smuumlttelt mim Was im aum mim stemme Einem Riesen halt im Stand Wann im zem und smlemme Aumlmter Wein ist aumlmtes 01 Zur Verstandeslampe Gibt der Seele Kraft und Schwung Bis zum Sternenkampe Witz und Weisheit dunsten auf Aus gefuumlllter Wampe Baszlig gluumlckt Harfenspiel und Sang Wann im brav smlampampe Nuumlchtern bin im immerdar Nur ein Harfenstuumlmper Mir erlahmen Hand und Griff Welken Haupt und Wimper Wann der Wein in Himmelsklang Wandelt mein Geklimper Sind Homer und Ossian Gegen mim nur Stuumlmper

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Nimmer hat durch meinen Mund Hoher Geist gesungen Bis ich meinen lieben Bauch Weidlich vollgeschlungen Wann mein Kapitolium Baechus Kraft erschwungen Sing und red ich wundersam Gar in fremden Zungen Drum will ich bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Nach der letzten oumllung soll Hefen noch mich faumlrben Engelchoumlre weihen dann Mich zum Nektarerben Diesen Trinker gnade Gott

Lass ihn nicht verderben (1 72 f)

Da wird mit der ersten Strophe das Bekenntnis zu einer Lebensfuumlhrung abgelegt und geradezu beschworen die selbst eingedenk des Todes noch ganz im Irdischen verharrt Fuumlnf folgende Strophen dann begruumlnden den Entschluszlig den die erste verkuumlndete auch ihre Aussagen bleiben durchshyaus im Bereiche des weingeweihten Diesseits Die letzte aber tritt nachshydem sie zunaumlchst das Bekenntnis der ersten aufgenommen in eine durchshyaus andere Sphaumlre Zwar setzt auch dort das irdische Trinkerleben sich fort aber der Spott der eben noch die letzte oumllung traf der Entschluszlig der ersten Strophe im Tode den Pokal zu zertruumlmmern lassen dieses Ende nicht erwarten

Ut dicant eum venerint angelorum chori Deus sit propitius huic potatori

heiszligt es in der raquoC 0 n fes s i 0laquo und solcher Gesang der Engelchoumlre beshyschlieszligt nun auch Buumlrgers koumlnigliches Sauflied 26 ein im religioumlsen Sprachbereich ausgebildetes Gebet um Gnade fuumlr den Suumlnder 27 - an dessen Stelle nun der Trinker steht - setzt den kraumlftigen Endakzent Wenn so unvermittelt das Sauflied in die Gebetsformel muumlndet scheint sich im Wortschatz in der Sprechhaltung im Hinblick auf die Geschehnisshyebene ein bruchhafter Wechsel zu vollziehen der die Einheitlichkeit des ganzen Gedichtes in Frage stellt Zwar folgen Vers- und Strophenbau zushygleich mit dem Reimschema der gtConfessiolaquo entlehnt ebenso wie die rhythmische Anlage des Liedes gleichbleibenden Aufbauprinzipien und stiften so eine formale Geschlossenheit des Ganzen aber gerade das treibt

28 Brief an Boie 18977 27 Vgl Lue1B 13 Deus propitius esto mihi peceatori

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den Umbruch der Schluszligbeschwerung nur um so kraumlftiger heraus Daszlig hier in Wahrheit keineswegs ein Bruch vorliegt daszlig dieser Sphaumlrenshywechsel durchaus nicht unvermittelt geschieht wird jedoch einsichtig sobald man die Sprache der Mittelstrophen schaumlrfer ins Auge faszligt Dann zeigt sich daszlig hinter der Bedeutungsoberflaumlche der Wortaussage vorshygeformtes Sprachgut aus eben der Sphaumlre wirksam ist zu der die schlieshyszligenden Verse sich erheben

Dem Wein dem der Sprechende selbst eingedenk des irdischen Endes noch sein Dasein verschreibt setzt die zweite Strophe die Speise zur Seite Beide Trank und Speise sind fuumlr das Leben noumltig - doch offenshybar nicht im Sinne notwendiger Ernaumlhrung Das erhalten meint kein einfad1es am-Leben-erhalten sondern ein im rechten Gleise im rechshyten Leben erhalten Das Schluszligwort der Strophe laumlszligt aufmerken Lebensreise erscheint als ein deutlich vorbelastetes vorgeformtes Sprad1stuumlck der religioumlsen Sphaumlre das (ausgehend von Gen 47 9) die christliche Deutung des Lebens als einer Reise durch die Weh zum jenshyseitigen Ziele in sich faszligt Trank und Speise in solchem Bedeutungsfeld als Hilfen die Lebensreise recht zu fuumlhren sie machen hinter dem lauten Gesang des Trinkers im fuumlnften Vers die liturgische Stimme vershynehmbar die Stimme des Geistlichen der die Hostie und den Wein reicht Nehmet hin und esset Nehmet hin und trinket das staumlrke und erhalte euch im rechten Glauben zum ewigen Leben Amenlaquo 28 Von andeshyrem Trank und anderer Speise als der vom Vater dargebotenen spricht der Sohn Doch im Bekenntnis des Zechlieds klingen noch immer jene Worte nach die von der Kraft des heiligen Mahles kuumlndeten weil das 11edium der Sprad1e die mit der Abendmahlsliturgie in sie eingeganshygenen Bedeutungsenergien bewahrt und fuumlr die Dichtung verfuumlgbar macht

Von der zweiten Strophe aufgerufen bleibt dieser Bezug auch in der dritten vierten und fuumlnften lebendig Hinter dem Zecher den Essen und Trinken der Angst und Schwaumld1e entheben so daszlig er einem Riesen standshyzuhalten vennag steigt das Bild des gottgestaumlrkten David herauf der dem Goliath standhaumllt Der aumlchte Wein und das aumldlte oumll derert Kraft die Seele zum Sternengewoumllbe erhebt gewinnen neue Bedeutung Hinter dem Harfenspieler und dem Himmelsklang seines Gesanges toumlnt leise der Psalm Davids zur Harfe zu singen und in der trunkseligen Prahshylerei der Erhebung uumlber Homer und Ossian mag damit eine verborgene Rechtfertigung solcher Selbsteinschaumltzung sich andeuten Sind die uumlbershytragenen Worte und Bilder hier dem Text des raquoZechlieds so weitshy

e8 In der Abendmahlsliturgie folgt diese in verschiedenen Fassungen gebraumluchliche Spclldeformc1 auf den Einsetzungsbericht Ausfuumlhrlich daruumlber P Graff Geschichte der Aufloumlsung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschshylands I 1937 S 197 ff

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gehend anverwandelt daszlig sie als fremdes Sprachgut kaum erkennbar werden heben sie sich in der sechsten Strophe doch wieder staumlrker ab erst der Abglanz der Erleuchtungsflammen des Pfingstwunders erhellt die Reden des Trunkenen als einwundersames Reden gar in fremden Zungen

Ein Vergleich mit dem Vorbild der lateinischen Beichtparodie der dies e Durchsichtigkeit auf den hinter der eigentlichen Aussage liegenden Sprach- und Bildbereich gaumlnzlich fehlt zeigt daszlig in Buumlrgers uumlbertragung eine sehr bewuszligte Absicht waltete Man halte gegen seine sechste Strophe etwa die Verse

Mihi nunquam spiritus prophetiae datur Non nisi cum fuerit venter bene satur Cum in arce cerebri Bacchus dominatur In me Phoebus irruit ac miranda fatur

Die Grundhaltung beider Gedichte unterscheidet sich wesentlich Mit den fuumlr die ganze raquoC 0 n fes s i 0laquo verbindlichen Versen

Voluptatis avidus magis quam salutis Mortuus in anima curam gero cutis

setzt der Archipoeta Diesseits und Jenseits gegeneinander und faumlllt seine klare Entscheidung fuumlr das eine gegen das andere Buumlrger aber verschmilzt die Bereiche Getragen von den sprachgebundenen Bedeutungsenergien die aus dem christlichen in einen houmlchst weltlichen Bereich des Sprechens uumlberfuumlhrt werden erhebt der bekenntnishafte Lebensbericht des Zechers sich zum Heilsbericht zum Preis einer uumlberirdischen und das Irdische vershywandelnden Macht die am Sprechenden wirksam wird Erst diese Spuren des weihevoll-heiligen Pathos dem Weine des schwoumlrenden protzenden singenden Zechers und Schlemmers beigemischt als ein verborgenes Arom bewirken jenes Entzuumlcken das Buumlrger mit der Lektuumlre des Gedichtes seinen Freunden verhieszlig29 Sie bereiten die schluszligbeschwerende Gebetsshyformel vor und bewirken daszlig statt eines Bruches hier der Aufschwung in jene Sphaumlre erfolgt die am inneren Aufbau des Liedes schon von Anshyfang an beteiligt war So vollendet sich das bekennende Sprechen des raquoZechliedslaquo am Ende in der inneren Form einer ihrer urspriinglichen Erfuumlllung mit christlichem Gehalt entleerten Heilsverkuumlndigung

i-

Mit jener Sprechweise des Geistlichen auf welche die Schluszligbeschweshyrung deutete haumlngt diese Form der He i I sv e r k uuml n d i gun g aufs engste zusammen Sie steht in Buumlrgers Werk durchaus nicht vereinzelt die im

29 Brief an Boie 18977

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religioumlsen Sprachgebrauch ausgebildeten Formmodelle finden hier zahlshyreiche und vielfaumlltige Entsprechungen die um so deutlicher erkennbar werden als sie noch immer merkliche Spuren auch des urspruumlnglichen Gehaltes tragen Sie erweisen sich als weltliche Kontrafakturen der relishygioumlsen Vorbilder 30 von denen sie nicht allein das organisierende Formshyprinzip beziehen sondern zugleich jenen Zuwachs an Bedeutungshaumlhe und Wirkungskraft den das Modell nur dann hergibt wenn es selbst noch als bedeutungshaltig und wirkungsfaumlhig intakt bleibt Die Annaumlherung auch der inhaltlichen Erfuumlllung dieser saumlkularisierten Formen an den christshylichen Denk- und Sprachbereich befoumlrdert ja begruumlndet ihre reichhaltige Erscheinung in Buumlrgers Lyrik

Ich glaube Luther wuumlrde dies Gedicht fuumlr ein wuumlrdiges Kirchenlied anerkannt haben schrieb AWSchlegel uumlber Die Elementelaquo (B 518) Schon mit dem Eingangsvers tritt es in die Form der Lehrvershykuumlndigung Horch Hohe Dinge lehr ich dich (I 68) Und diese Lehre vom Wesen der Elemente ist mehr als bloszlige Kundgabe Sie wird Maszligstab fuumlr den Belehrten Richtschnur Grundlage fuumlr das kommende Gericht Immer dringlicher wendet sie sich im Fortgang des Gedichtes an den Houmlrer selbst Sieh hin und her und Nun pruumlfe dich bis mit den oben (S 194) genannten Schluszligversen das lehrende Sprechen ins urteilende und verdammende uumlbergeht

Eine besondere Form der lehrhaft-bekennenden Rede macht das raquoDankl iedlaquo sichtbar (I 44ff) das Buumlrger urspruumlnglich Psalm nennen wollte und zu dem Boie ihm schrieb den denkenden Christen wird es entzuumlcken und erbauen aber den groumlszligten Haufen und Pastor Zuch - (12972) Es zeigt eine ganz symmetrische Anlage Die Eingangsstrophe wendet sich lobend an Gott den Schoumlpfer sechs folgende Strophen reihen auf was der Sprechende aus seiner Hand empfangen hat (daszlig es dabei ausgerechnet um die Liebe den Wein und den Gesang geht muszligte Pastor Zuch freilich wurmen) zwei Mittelstrophen bekennen daszlig die Fuumllle der Schoumlpfergaben nicht zu zaumlhlen sei (Wer zaumlhlt die Gaben alle Wer) und wenden sich auf den Sprecher selbst wieder sechs Strophen nennen dann die leiblichen und geistigen Eigenschaften die Gott ihm verliehen hat Hinter dieser Gaben Wunderschau aber wird Luthers Erklaumlrung zum 1 Artikel des Glaubensbekenntnisses sichtbar in der es nach der FrageWas ist das heiszligt Ich glaube daszlig mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mit Leib und Seele Augen Ohren und alle Glieshyder Vernunft und alle Sinne gegeben hat Gemaumlszlig den Schluszligworten der Erklaumlrung des alles ich ihm zu danken und zu loben schuldig bin muumlndet die letzte Strophe preisend und benedeiend in den liturgisch beshy

ao Zur Begriffsbestimmung dieser Saumlkularisationskategorie vgL S 289 ff

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

14 211

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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SAumlKULARISATION

ALS SPRACHBILDENDE KRAFT

Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersoumlhne

VON

ALBRECHT SCHOumlNE

Zweite uumlberarbeitete und ergaumlnzte Auflage

~ -GOumlTTINGEN VANDENHOECK amp RUPRECHTmiddot 1968

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copy Vandenboeck amp Ruprecht in Goumlttingen 1968 - Printed in Germany Ohne ausdruumlckliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustoshymechanischem Wege zu vervielfaumlltigen - Gesamtherstellung

Hubert amp Co Goumlttingen

7439

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INHALT

I

EINFuumlHRUNG 7

II

POSTFIGURALE GESTALTUNG 37

Andreas Gryphius

III

WIEDERHOLUNG DER EXEMPLARISCHEN BEGEBENHEIT 92

Jakob Michael Reinhold Lenz

IV

DIDAKTISCHE VERWEISUNG 139

Jeremias Gotthelf

V

WELTLICHE KONTRAFAKTUR 181

Gottfried August Buumlrger

VI

uumlBERDAUERNDE TEMPORALSTRUKTUR 225

Gottfried Benn

VII

ZUR TYPOLOGIE DER S~KULARISATIONSFORMEN 268

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v

WELTLICHE KONTRAFAKTUR

Gottfried August Buumlrger

Ins Kirchenbuch von Molmerswende im Mansfeldischen schrieb der dashymalige Prediger des kleinen Doumlrfchens daszlig ihm am letzten Tag des zu Ende gehenden Jahres am 31Dezember 1747 ein Kind geboren worden sei Gottfried August Buumlrger Und die Besonderheit dieser Geburtsstunde wohl hat spaumlter den Sohn versucht der Wahrheit ein wenig Dichtung beishyzumischen Denn er war ein Poet geworden und hielt sich nicht fuumlr einen Spaumltling sondern fuumlr einen Beginnenden So erzaumlhlte er dem Arzt Ludwig Christoph Althof er sei geboren worden in der ersten Stunde des Jahres 1748 unter den Gesaumlngen womit man nach alter Sitte das angekommene neue Jahr vom Kirchthurme herab zu begruumlszligen pflegte 1

In viele seiner Lebensbeschreibungen hattJiese kleine Geburtslegendesich eingeschlichen und es scheint als habe Buumlrger ohne das zu woilen mit ihr auf eine tiefere Wahrheit gedeutet als die der aumluszligeren Genauigshykeit das erste was das Kind von der Welt empfing was ihm gleichsam in die Wiege gelegt wurde sind Worte einer Dichtung gewesen Verse aus den groszligen Neujahrsliedern der christlichen Kirche

Die beiden Paten die ihn zur Taufe trugen waren Geistliche wie sein Vater In das Haus des einen der die benachbarte Pans felder Pfarre vershywaltete und den Buumlrger mit seinem raquoPfarrer von Taubenhainlaquo geshymeint haben soll kam der Junge eine Zeitlang jeden Tag uumlber die Asseshyburgschen Felder hinuumlber um zusammen mit den dortigen Pastorskindern von einem Informator unterrichtet zu werden Aber im uumlbrigen wuchs er zwoumllf Jahre lang im vaumlterlichen Pfarrhause heran lernte nur wenig anderes als solche Lieder wie seine Geburtslegende sie erwaumlhnt die Geshyschichten der Bibel und das Lesen und Schreiben das er an ihnen uumlbte Denn mit dem Lateinischen haperte es sehr seinen Vater einen Liebshyhaber von Tobak und Bequemlichkeit kam es hart an einmal ein Viertelshystuumlndchen auf den Unterricht des Sohnes zu verwenden zumal er ihn

lLChr Althof Einige Nachrichten von den vornehmsten Lebensumstaumlnden Gottshytried Auiu~ Buumlrg~rs nebst einem Beitrag zur Charakteristik desselben 1798 (Zit nach d Abdruck in Buumlrgers saumlmmtL Werke hrsg AWBohtz 1835 S429ff Hier 5430) - Selbst Buumlrgers Grabstein nennt als Geburtstag den 1 Januar 1748

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fuumlr einen Dummkopf hielt von dem ohnehin nicht viel zu erwarten waumlre Und die Mutter hatte selbst kaum gelernt leserlich zu schreiben

Der Zwoumllfjaumlhrige verlieszlig das Vaterhaus ging zum Groszligvater nach Aschersleben und besuchte dort die lateinische Schule lutherischer Konshyfession Auch hier klingen die alten Kirchenlieder wieder auf von Amts wegen hatten die Scholaren an den Leichenkondukten teilzunehmen woshybei es auszligerordentlich viel zu singen gab 2 1760 dann fuumlhrt man Buumlrshyger als Schuumller des Koumlniglichen Paumldagogiums zu flaUe das ein orthodoxes Luthertum mit pietistischem Einschlag vertritt Neben dem Religionsshyunterricht und zahlreichen Andachtsuumlbungen betreiben die Lehrer eine spezielle cura animarum auf den Schuumllerstuben es wird von haumlufiger Kommunion berichtet der rigorose Seelenpruumlfungen vorangehen noch bei Tische liest man aus geistlichen Buumlchern vor und des Schulinspektors scharfer Tadel ergeht selbst an die Praumlzeptoren wenn sie versuchen dashybei in eine Zeitung zu schielen a

Nach drei Jahren holt der Groszligvater den Jungen aus Halle zuruumld Es ist ein alter eigensinniger Mann schreibt der Inspektor am 5 Sepshytember 1763 in seine Akten~p~r kleine Engel sitzt in Prima ein Halbshyjahr und ist ohngefaumlhr 15 Jahr a1t~-Er-welntemiddotunc1middotmiddotl5at ich moumlchte doch seine Stelle noch nicht vergeben er wollte beim Groszligvater um Prolonshygation bitten Aber der alte Mann hats abgeschlagen 4

Im Jahr darauf bezieht der Sechzehn jaumlhrige die Universitaumlt Halle um Theologie zu studieren Althof hat erklaumlrt daszlig diese Studienrichtung seiner eigenen Neigung ganz entgegen gewesen und durch den groszligvaumltershylichen Willen bestimmt worden sei Buumlrger haumltte lieber jedes andere Fach gewaumlhlt aber der alte Mann von dem er zumal nach dem bald darauf erfolgten Tode seines Vaters gaumlnzlich abhing habe durchaus einen Geistlichen aus ihm machen wollen Inwieweit das auch im Willen des Vaters lag der selbst ja auch in Halle sein Theologiestudium absolviert hatte bleibt ungewiszlig Er war nicht mehr am Leben als der junge Theoshy

2 HProumlhle GABuumlrger Sein Leben u s Dichtungen 1856 S28 3 VgL ADaniel Buumlrger auf der Schule (Progr d kgL Paumldagogiums zu Halle 1845)

Wiederabdruck in Zerstreute Blaumltter 1886 S 47 f Althof berichtet (a a O S432) daszlig einer der Lehrer mit seinen Schuumllern uumlbungen im Versemachen veranstaltet habe indem er ihnen Anfangs Verse aus den besten Deutschen Dichtern in versetzter Ordshynung der Woumlrter aufgegeben um sie wieder in die metrische Ordnung zu bringen und daszlig sich bei Buumlrger schon damals die entschiedene Anlage zur Dichtkunst und die besondere Vorliebe fuumlr die Volks-Poesie deutlich verrathen haben Auch hier ist freishylich zu vermuten daszlig die Neigung des alternden Buumlrger und seines Biographen zur Leg~ndenbildung uumlber die Tatsachen hinweggeht Denn Danicl (a a O S68) der aus den Schulakten die genauen Lektionsplaumlne und Schuumllerlisten zusammensuchte hat festshygestellt daszlig bei dem betreffenden Praumlzeptor niemals oratorischen oder deutshyschen Unterricht gehabt hat in dem allein Raum fuumlr solche Versuumlbungen gewesen sein koumlnnte

4 A Daniel S 72 5 A a O S 432

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loge schon nach wenigen Semestern vom Groszligvater nach Aschersleben zuruumlckgerufen Halle wieder verlieszlig und die Gottesgelehrsamkeit aufshygab 1768 ging Buumlrger aufs neue zur Universitaumlt diesmal nach Goumlttingen - zum Studium der Jurisprudenz~

Von dieser Zeit an zeigen seine Briefe eine zunehmende Entfernung von der strengen lutherischen Orthodoxie die die ersten zwanzig Jahre seines Lebens bestimmt hatte Ein zuverlaumlssigeres Zeugnis als die sehr unterschiedlich gefaumlrbten Gelegenheitsaumluszligerungen uumlber sein Verhaumlltnis zum Christentum gibt dafuumlr die Art des Umgangs mit dem angestammshyten religioumlsen Sprachgut Bibelworte Verse des Kirchenliedes und liturshygische Formeln vor allem werden voumlllig unbedenklich aus dem geheiligten Kodex geloumlst und ohne die mindeste Ruumlcksicht auf ihren ehrwuumlrdigen Ursprung gaumlnzlich auszligerreligioumlsen ja vorzugsweise spielerischen und scherzhaften Zwecken dienstbar gemacht Sie sind gerade gut genug

6 Die Buumlrger-Biographen pflegen die Hallenser Studentenzeit in duumlsteren Farben zu malen Da ist der Umgang mit Chr A Klotz dem Professor der Beredsamkeit in dessen Hause ein junger Theologe sich eigentlich nicht haumltte bewegen sollen da wird berichtet von einem sittenlosen Bummelleben und dem Miszligfallen an der Theologie mit der sich Buumlrgers sinnliches Temperament nicht vertragen habe In Wahrheit weiszlig man uumlber das alles kaum Genaues Sicher ist nur daszlig Buumlrger verbotenerweise an der Gruumlndung einer niedersaumlchsischen Landsmannschaft beteiligt war auf eine Denunziashytion hin mit seinen Freunden beim Gruumlndungsschmaus vom Pedellen erwischt und zu einer Woche Karzer verurteilt wurde Wahrscheinlich hat dieser Vorfall fuumlr den alten

f eigensinnigen Mann in Aschersleben schon ausgereicht um seinen Enkel zuruumlckzushybeordern Zwar heiszlig~ es im y_erhoumlspItokltill PJ g~2Iilt~LsE~(LtilloLAger houmlret Collegia beiHerrn Prof Hansen und studirr jura aber einiges muszlig er in Halk_ -~wohl auch fuumlr sein Theologiestudium getaiihaben denn de~lgis~e Dekan --- ---dls ares 176768 vermer t l~ctrszligerltrm---ei111iDgaumln szeu nis ausgestent~-~

- a e V rouml e In As ers e en onnte Buumlrger den Groszligvater um--- - stimmen zu Ostern 1768 ging er nach Goumlttingen Er nahm Quartier in dem uumlbel beshy

leumdeten Haus einer Madame Sachse der Schwiegermutter des Professors Klotz in Halle ein Brief den er 1770 an den Goumlttinger Prorektor schreibt berichtet von einer Pruumlgelei zwischen ihm und einem Nebenbuhler im Schlafgemach der Witwe Bandmann einer der Toumlchter des Hauses Nach Madame Sachses Tod zog er 1771 schwer verschuldet in ein Kuumlrschnerhaus und jetzt setzt offenbar eine Vandlung ein Schon seit dem Winshyter 7071 ruumlhmen die Lehrer seine gruumlndlichen rechtswissenschaftlichen Kenntnisse seinen Eifer Fleiszlig und sittsam-bescheidenen Lebenswandel Es liegt zwar nahe auch die Halleshyschen Vorgaumlnge so zu erklaumlren wie Boie der am 281 71 an Gleim schreibt daszlig Buumlrgers freyes lustiges Leben die Herren Theologen verhindert haumltte ihm gute Zeugshynisse zu geben auf Grund der wenigen zuverlaumlssigen Nachrichten ist es aber viel wahrscheinlicher daszlig die Biographen von den ersten Goumlttinger Semestern auf die Hallenser Zeit zUfUumlckgeschlossen haben und also das wirklich zuumlgellose und verwilderte Leben erst einsetzte als der Zwanzigjaumlhrige die geradlinige Entwicklung die ihn vom Molmerswender Pfarrhaus uumlber die Lateinschule in Aschersleben und das Koumlnigliche Paumldagogium nadl Halle gefuumlhrt hatte abbrach und seinem Leben eine gaumlnzlich neue Wendung gab Goumlttingen bleibt fortan bestimmend fuumlr den spaumlteren Amtsverwalter im benachbarten Gelliehausen und den Dozenten an der Georgia Augusta Die Theoshylogie liegt hinter ihm

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einem Brief jene Wuumlrze zu geben die dem Bewuszligtsein unangemessener Verwendung dieser Sprache entspringt Vom Leichtfertigen fuumlhrt das zushymal in den spaumlteren Zeugnissen bis an den Rand des Blasphemischen auf eine Mitteilung H Chr Boies des Freundes in Goumlttingen er gedenke eine reiche Frau zu heiraten antwortet Buumlrger am 13881 7 Wenn ich noch einmal wieder in meinem Leben heuumlrathen sollte wahrhaftig ich heuumlrathete wol eine Kuh wenn sie nur an der bewusten Vernunft [naumlmshylich am Gelde] keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte dich bei dieser Philosophie Amen Amen GA Buumlrger Daszlig die Sprache sich in solcher Weise aus ihren alten Bindungen loumlst waumlre kaum denkbar ohne eine Distanzierung auch des Sprechenden selbst vom Geist des vaumltershylichen Pfarrhauses

Wir wenden uns diesen Vorgaumlngen nicht mit jener Ausfuumlhrlichkeit zu die sie verdienten wenn es um eine Darstellung der inneren Entwicklung Buumlrgers ginge Auch fuumlr unsere Fragestellung aber sind sie bedeutungsshyvoll als Voraussetzung als Ermoumlglichungsgrund dichterischer Gestaltungsshyweisen Denn daszlig hier ein Abfall vollzogen wurde daszlig Buumlrger sich geshyloumlst hat von dem Gesetz nach dem er angetreten war auch ihm selber sehr wohl bewuszligt Wenn er an Boie uumlber den Dr Pideritt schreibt raquoSo viel ich aber aus einer Recension seiner Vertheydigung des Kanons der heil Schrifft 2tes Stuumlck muthmaszlige so mag er wohl einen Bannstral auf meine gottlosen Gedichte geworfen haben indem es heiszligt daszlig er zum Beweise gegenwaumlrtiger irreligioumlser und sittenloser Zeiten verschiedene Gedidlte aus den MusenAlmanachen angefuumlhrt habe (11676) so wird unter den ironischen Toumlnen doch deutlich spuumlrbar daszlig er sich mit seinen Dichtungen in einem anderen Raume weiszlig als dem seines Ursprungs

Es gibt wohl kein Zeugnis das in dieser Hinsicht aufschluszligreicher ja verraumlterischer waumlre als die Stelle aus einem Brief vom Sommer 1775 an Goethe Wie behaumlglich von der bekannten AlltagsleyerMe10dey der um uns plaumlrrenden Christlichen Gemeine unterweilen abbrechen und sein innres Seelenstuumlckchen anstimmen zu koumlnnen

Das ist mit Entchristlichung nicht einfach gleichzusetzen der tiefere Bereich persoumlnlicher Glaubenshaltung entzieht sich unserer Einsid1t Aber es bezeugt eine Abwendung vom strengen Kirchenchristentum und macht deutlich daszlig der Schreiber seine eigentlid1e Bestimmung auszligerhalb des religioumls-dogmatischen Raumes sieht Immerhin AlltagsleyerMelodey und innres Seelenstuumlckchen plaumlrren und anstimmen zeigen unershyachtet der recht eindeutigen Bewertung doch noch die Verwandtschaft einys gemeinsamen Wortfeldes und werden durchaus in einem Atemzug genannt Das aufschluszligreich genug Denn es deutet auf ein Verhaumlltnis

7 Vfenn nicht anders angegeben stammen die Briefzitate stets aus der Sammlung Briefe von und an Gottfried August Buumlrger hrsg A Strodtmann 4 Bde 1874

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zwischen religioumlsem und dichterischem Wort (so darf man ohne Zweifel uumlbersetzen) in dem zwar das erste dem zweiten untergeordnet wird aber doch noch immer eines mit dem anderen verbunden bleibt

Auch das Woumlrtdlen unterweilen wird man dabei nicht ganz uumlbershysehen duumlrfen Unterweilen hat Buumlrger seinem Verleger Dieterich gegenshyuumlber (und es gibt andere aumlhnliche Faumllle) in einem Brief vom 1 81782 die Weisheit und Guumlte goumlttlicher Vorsehung die jenseits menschlicher Einshysichtsfaumlhigkeit liegt mit Nachdruck ja mit Leidenschaft verteidigt - um dann dem Freunde selbst die Frage in den Mund zu legen Wie koumlmmt Saul unter die Propheten Dieses Sauls eigentliches Amt ist nidlt die AlltagsleyerMelodey sondern das innre Seelenstuumlckchen dichte- rischer Gestaltung Aber dabei grundet doch das eine auf dem anderen Was er anstimmt transponiert die alte Melodie in eine neue Tonart jenes Abbredlen wird zum Synonym einer weltlichen Kontrafaktur

Ich denke nicht heiszligt es im Vorbericht zur raquoIl i a slaquo-Obersetzung das Jemand die Umstaumlnde und das Aufheben welche ich hier mache uumlbertrieben abgeschmackt und laumlcherlich finden werde er muumlszligte denn anders die Kunst lebendiger Darstellung so wie das edle nicht Jedershymann von Gott verliehene Seelenvermoumlgen worauf sie sich gruumlndet und eins der wichtigsten Mittel deren sie sich bedient die Sprache die nie goumlttlich genug zu verehrende Sprache sie das theuerste heiligste Werkshyzeug des wirkenden Menschengeistes sie welche zu allen andern Wissenshyschaften spricht Ohne mich koumlnnet ihr nichts thun alles das muumlszligte er

( also fuumlr Lumpereien und unter der Wuumlrde maumlnnlicher Bemuumlhungen halten 8

Buumlrgers theoretische Schriften enthalten eine Fuumllle solcher Aumluszligerungen uumlber die Sprache und den dichterischen Umgang mit ihr die gekennshyzeichnet sind durch einen Anspruch dessen Unbedingheit den Bereich des wirkenden Menschengeistes auf das Religioumlse hin oumlffnet Literarische Taumltigkeit wird ins Heilige und Goumlttliche erhoumlht als edelste Bestimmung des Menschen uumlberhaupt und als Gnadengabe verstanden die nur den Auserwaumlhlten zuteil geworden Dichtung wird zum Gottesdienst der Wortverwaltung Das aber wird keineswegs als ein Obertragungsvorshygang begriffen und in seiner Problematik bedacht sondern erscheint als ein durchaus unreflektierter Akt und wird sichtbar allein als sprachlicher Vorgang Die aumlsthetischen Eroumlrterungen ziehen ihr Vokabular zu wesentshylichen Teilen aus den religioumlsen Texten nutzen gleichsam die Beglaubishygungskraft dieser Worte die ihnen von ihrem Ursprung her anhaftet shyohne daszlig dabei doch dieser Herkunftsbereich selber noch als Maszligstab und Bewertungsgrundlage gegenwaumlrtig bliebe Es geht nicht mehr um

8 Zitiert wird - von den GediChten abgesehen - nam Buumlrgers saumlmmtliche Werke hrsg A W Bohtz 1835 Abgekuumlrzt B hier S 184

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didaktische Verweisungen sondern um aumlsthetische Bereicherung Das Pfarrhaus wird abgebrochen damit was brauchbar und ansehnlich scheint unter den alten Steinen fuumlr den Bau des neuen Hauses verwendet werden kann Diesen Bezug auf die religioumlse Sprache auf den Luthertext insonderheit hat Buumlrger sich bis in stilistische Einzelheiten hinein bewuszligt gemacht In seinen raquoGedanken uumlber die Beschaffenheit einer Deutschen Uumlbersetzung des Homerlaquo etwa heigt es nachdem der Verfasser die von ihm bevorzugte Anfangsstellung des Hauptzeitwortes besprochen hat Ich habe keinen Platz zu Beispielen aber man wird ihrer genug finden welche dies Alles bestaumltigen Man schlage nur Luthers Bibel-uumlbersetzung und seine uumlbrigen Schriften nach auf jeder Seite sind weld1e Die poetischen Buumlcher der heiligen Schrift hat Luther mit dem besten Geschmacke fuumlr seine Zeiten so echt Deutsch und so feurig uumlbershysetzt daszlig man daruumlber erstaunen muszlig Ein fleiszligiger Sprachforscher muumlszligte unsere neuere Sprache mit den vortrefflichsten Schaumltzen aus den Schriften dieses bewundernswuumlrdigen Mannes wovor unseren Hominibus delicatulis so ekelt bereichern koumlnnen (B 137 L)

Die Stelle dessen was zwanzig Jahre lang dem Pfarrersohn als das Houmlchste und Heiligste vorgestellt und eingepraumlgt wurde was er hinter sidl lieszlig als er das Studium der Theologie in Halle abbrach vermochten die Jurisprudenz die Geschaumlfte des Amtsverwalters die Lehrtaumltigkeit des Dozenten keineswegs einzunehmen und auszufuumlllen Seine Berufstaumltigshykeit blieb fuumlr Buumlrger lebenslang eine Plage eine Quelle des Miszligmuts und der Verzweiflung Faumlhig dazu war allein die Po esie nur das innre Seelenstuumlckchen konnte die Klaumlnge der alten Melodie in sich aufnehmen und fortfuumlhren ~

Wie er uumlber Stolberg sagt Mich duumlnkt ich lese einen Propheten wenn ich seine Prosa lese 9 so schreibt er an Boie Uumlbrigens lebe und webe ich in den Reliques Sie sind meine Morgen und AbendAndacht 10 wie er von Shakespeare erklaumlrt Ihn kann man die Bibel der Dichter nenshynen 11 so urteilt er uumlber die unerwuumlnschten Rezensenten Und wenn der Engel Gabriel vom Himmel kaumlme und ihnen Poetik predigte so wuumlrde er dennoch nichts ausrichten 12 Mit voumllliger Unbefangenheit fast moumlchte man sagen mit der Unschuld des Selbstverstaumlndlichen wird das Vokabushylar beider Bereiche vermischt Die Aufloumlsung der Kodifikation kennt keine Grenzen mehr Denn die Saumlkularisation dient hier nicht dazu den religioumlsen Text als einen weltlicher Sprache integrierten Maszligstab fuumlr menschliches Reden und Handeln wirksam zu machen sondern sie nutzt ihn nur mehr als Mittel zu ihrer Erhoumlhung und Steigerung ein Buch

o Dt Museum Juli 1777 Zu FrLStolbergs raquouumlber die Fuumllle des Herzenslaquo 10 7477 Meint Percy Reliques of Ancient English Poctry London 1765 11 An Boie 15976 12 An Boie 31278

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wirft Licht auf das andere Buch aber - es ist nicht mehr das Licht der Erkenntnis dessen was gut und boumlse sei (Vgl S148 f)

Wie auf die Werke der Dichtkunst so faumlllt der Glanz dieses geborgten Lichtes auch auf die Dichter selbst Was Christus uumlber alle menschliche Macht und Groumlszlige erhebt wird jetzt auch dem Poeten zugesprochen sein Reich ist nicht von dieser Welt 13 und die Verheiszligungen die dem Chrishysten gegeben sind wandeln in der uumlbertragung ihre Formen nur gerade so viel wie noumltig ist um fuumlr den neuen Anwendungsbereidl braudlbar zu sein Einem unbekannten Empfaumlnger schreibt Buumlrger am 621772 meine Briefe sollen Ihnen hinfort wenigstens alle vier Wochen jenen biblischen Spruch parodieren Bleib den Musen getreuuml bis in den Tod so wird dir Apoll die Krone des ewigen Nachruhms geben Parodieren shydas meint hier nichtmiddotdie Entstellung den Entwurf eines scherzhaften oder boumlsartigen Gegenbildes sondern Akkomodation uumlbertragung und Anshypassung Es richtet sich nicht gegen den vorgegebenen Text aber es nimmt ihn auch nicht mehr ernst in seinem unbedingten und ausschlieszligenshyden Anspruch Schon deutet es in die Richtung einer uumlberarbeitung des Originals nach dem verbesserten Geschmack unsrer Zeit in einer neuen Einkleidung und Ordnung der Gedanken (v gl u S 269Anm 2) Dieser ) verbesserte Geschmack freilich ist kaum mehr als ein veraumlndertes thematisches Interesse In Wahrheit fehlt diesen uumlbertragungen geshylegentlich selbst der gute Geschmack und es kennzeichnet zugleich die

( uneingeschraumlnkte Verfuumlgbarkeit des religioumlsen Sprachgutes wenn Buumlrger auch auf betraumlchtliche Houmlhenunterschiede zwischen Ursprungs- und Anshywendungsbereich kaum mehr Ruumlcksicht nimmt An Goeckingk der ihm aus seiner fatalen aumluszligeren Situation heraushelfen will schreibt er anshystandslos wenn Sie mein Erloumlser seyn und mich den Musen wiedershyschenken koumlnnten - Sie wuumlrden mir das seyn was der Engel dem geshyfangenen Apostel in der Apostel Geschichte war 14 Ein gewisses Vershygnuumlgen am Miszligbrauch des Vorbildes und die ganz ernsthafte Absicht dem Sachverhalt Nachdrud und Gewicht zu geben sind hier wohl kaum zu trennen Aber ohne Zweifel steht dahinter ein Wertbewuszligtsein dem kein Preis zu hoch ist wenn es gilt den Anspruch und die Wuumlrde des poetischen Amtes zu verkuumlnden und durchzusetzen

So heiszligt es in den raquoGedanken uumlber die Beschaffenheit einer Deutschen uumlbersetzung des Homerlaquo Statt aller Untersuchunshygen uumlber diesen Punct koumlnnte der Streit wohl nicht angenehmer fuumlr den Zuschauer beigelegt werden als wenn der Genius unserer Literatur einen Mann von Genie und Kenntniszlig erweckte welcher zwischen die Zanshy

13 An Bollmann 22790 14 29675 Aus dem Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk hrsg A Sauer

Vjs f Litgesch III 1890 hier S 68

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kenden mit einer Uumlbersetzung traumlte uumlber welche man schreiben koumlnnte Der Nachwelt und der Ewigkeit heilig (B 135) Dem aufmerkshysamen Leser kann der Hintergrund der kleinen Szene nicht verborgen bleiben die hier entworfen wird Der Uumlbersetzer-Dichter er erscheint als ein neuer Moses welcher vom Gott seines Volkes erweckt unter die Israeliten tritt mit jenen Gebotstafeln die der christlichen Nachwelt und der Ewigkeit heilig sind (Selbst das Wort von den Zankenden die um die Homer-Uumlbersetzung miteinander im Streite liegen scheint auf den biblischen Bericht zu deuten Bei der Ruumlckkehr vom Sinai spricht Josua zu Moses Es ist ein Geschrei im Lager wie im Streit Er antshywortete Es ist nicht ein Geschrei gegen einander derer die obliegen und unterliegen sondern ich houmlre ein Geschrei eines Singetanzes Ex 3217 f)

Buumlrger selbst ist es der nach diesem Vorwort mit Proben seiner jamshybischen Lrbersetzung unter die Zankenden tritt - aber er zieht es vor dem Anspruch des Moses-Bildes auszuweichen Das bleibt dem Vollender uumlberlassen Fuumlr die eigene Person und das eigene Werk waumlhlt er ein anderes Modell Wenn ich gleich derjenige selbst nicht bin auf welchen unser Volk hoffet (denn ich muumlszligte den unversc~aumlmtesten Knabenstolz besitzen wenn ich mir einbildete daszlig ichs waumlre) so kann ich doch vielleicht zu der Ehre eines Vorlaumlufers dessen der kommen wird gelangen Auf den Worten des neutestamentlichen Vorlaumlufers Johannes des Taumlufers der die messianische Erwartung des Volkes von sich selber abweist und auf jenen Groumlszligeren lenkt der kommen wird gruumlndet die Haltung des raquoIliaslaquoshyObersetzers aus ihnen gewinnt sie dem eigenen Versuch dem Probestuumld~ Bedeutsamkeit und Gewicht Eine Entsprechung zur Saumlkularisationsform figuraler Gestaltung ist nicht zu verkennen Aber wenngleich hier wie dort eine dichterische Figur dem vorbildlichen Modell gleichgeformt wird J

geht es doch dort darum sie durchzusetzen und zu rechtfertigen auf der Grundlage des Imitatio-Denkens - hier aber sie zu steigern und zu ershyhoumlhen allein um ihrer selbst willen Der Dichter erscheint als Gottesmann weil er in dieser Gestalt dem Profanen enthoben ist

In der Behandlung aller Fragen die ihm wirklich am Herzen liegen greift Buumlrger zuruumlck auf den Sprach- und Formenschatz der ihm jahreshylang als Ausdrucksvorrat fuumlr das Wesentliche und Bedeutsame vermittelt wurde Bis in die Uumlberlegungen zum dichterischen Schaffensprozeszlig fuumlhrt das die deutlich unter der praumlgenden Kraft des Berichtes vom goumlttshylichen Schoumlpfungsakt stehen Jeder Kuumlnstler schreibt er an Schushybart sollte es sich daher zur Maxime madlen keines seiner Verke eher unter fremde Augen treten zu lassen als bis er nach Jahrelangem Anshyschauen alles dessen so er gemacht sagen koumlnnte Siehe da es ist alles sehr gut 15

15 12992 - Vgl die Goumlttliche Zufricdenhcits-Formel Geni 31

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Nichts anderes als eine uumlbertragung des reformatorischen Verhaumlltnisses zur Schrift und seine Anpassung an den Umgang mit dem dichterischen Vort ist sein Verantwortungsgefuumlhl und seine Treue gegenuumlber dem unshyverriickbaren Text ja der Glaube daszlig am Buchstaben das Heil haumlngen koumlnne Gleichguumlltig welcher Grad von bewuszligter Einsicht in diese Zushysammenhaumlnge auch vorgelegen haben mag Buumlrgers Aumluszligerungen uumlber solche Fragen speisen sich unablaumlssig aus der religioumlsen Sprachquelle So begleitet er Anfang 1784 die uumlbersendung eines Manuskriptes an Goeckingk mit der leidenschaftlichen Ermahnung Houmlrt ihr daszlig also nur nicht ein Puumlnctchen zu geschweige denn ein Buchstab oder gar ein Wort fehlt Ihr seht sonst Euumlres Ungluumlcks kein Ende weder hier zeitlich noch dort ewig

Die fuumlr Buumlrger so bezeichnende Neigung zur unermuumldlichen oft geradeshyzu kleinlich anmutenden uumlberarbeitung und Ausfeilung seiner Gedichte wird man in unmittelbarem Zusammenhang sehen muumlssen mit jener Heishyligung der Werktreue die der Protestantismus entwickelt hat und es ist charakteristisch fuumlr die Denkweise des ganzen Buumlrgerschen Freundesshykreises wenn Meyer ihm zu einigen Gedichten die er fuumlr den Musenshyalmanach schickt am 971793 entschuldigend schreibt sie haumltten noch Mangel der Feile die vor Gott und Menschen angenehm ist

Solche Einzelbeobachtungen und man koumlnnte sie beliebig vermehren machen deutlich wie folgerichtig der Weg von Molmerswende nach Halle seine Fortsetzung verlangt auch wenn er nun in andere Gefilde fuumlhrt wie tief der Erbzwang den Pfarrersohn bestimmt uumlberdem bin ich einmal ein Theologe gewesen schreibt er an Goeckingk und von der Zeit haumlngt mir illud Theologorum decantatissimum Dic et servasti animam immer noch an 16 Schon 1772 erklaumlrte er sich gegen seine bisherige wolshyluumlstige und taumlndelnde Dichtungsart von allen moralischen Sentimens entbloumlszligt weil er meinte damit verloumlre die Poesie ihr erhabenes Amt Lehrerin der Menschen zu seyn 17

Im engsten Zusammenhang damit muszlig nun Buumlrgers Glaubensartikel von der P 0 pul a ri t auml t der Poesie gesehen werden Denn wenn von der kirchlichen Wortverkuumlndigung her das Amt Lehrerin der Menschen zu seyn auf die Dichtung uumlbertragen wird so faumlllt ihr zugleich die Pflicht zu ins Breite zu wirken einem unbegrenzten Leserkreise zugaumlnglich und verstaumlndlich zu sein Buumlrger nennt als seine Maxime wenn nicht Alle n dennoch den Me ist e n - versteht sich ohne weder sich selbst noch der Dichtkunst etwas zu vergeben - zu gleicher Zeit zu gefallen 18 Nur

1G 3675 Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk S65 11 Brief an Boie 2 11 72 lB Die Problematik der Popularitaumlt die an dem eingeschobenen einschraumlnkenden

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dieGuumlnstlinge die dieses Ziel erreichen sind die gewaltigen Herzensshybezaumlhmer und Zauberer die ihre guumlldenen Staumlbe nie vergebens zucken und uumlber jedes Zei tal ter in immer lebendiger Kraft herrschen Nie verra uchen die Opfer auf ihren Altaumlren und unvergaumlnglich bluumlhen ihre Kraumlnze (B 178 f) Nur sie sprechen in Vollmacht Die Opferaltaumlre und der Bezug auf jene Staumlbe die vor dem Pharao von den aumlgyptischen Zauberern vergeblich dann aber von Moses und Aaron nie vergebens ausgereckt wurden 19

begruumlnden eine Priesterschaft der Wortverwaltung zu bestaumltigen die Wahrheit des Artikels woran ich festiglich glaube und welcher die Axe ist woherum meine ganze Poetik sich drehet Alle darstellende Bildshynerei kann und soll volksmaumlszligig seyn Denn das ist das Siegel ihrer Vollshykommenheit 20

Dieser Artikel von der Popularitaumlt der Dichtung Buumlrgers Glaubensshybekenntnis empfaumlngt in der Tat einen entscheidenden Anstoszlig aus der Predigt- und Seelsorgehaltung der er unter der vaumlterlichen Kanzel beshygegnete Wenn er scherzhaft an Meyer schreibt ein gottseliges Comite untersuche woher es wohl komme daszlig der Gottesdienst in der Unishyversitaumltskirche so sparsam besucht werde Ich denke mit Recht wird Euer gepredigtes Evangelium als eine der vornehmsten Ursachen oben an geshystellt werden (121 89) so liegt dem ganz der gleiche Gedanke zushygrunde der auch die Wirkungspoetik seiner Abhandlungen zur VolksshyPoesie bestimmt Es ist das saumlkularisierte Predigerethos das aus dem leishydenschaftlichen raquoHerzensausguszliglaquo spricht Durch Popularitaumlt mein ich soll die Poesie das wieder werden wozu sie Gott erschaffen und in die Seelen der Auserwaumlhlten gelegt hat Lebendiger Odem der uumlber aller Menschen Herzen und Sinnen hinweht Odem Gottes der vom Schlaf und Tod aufweckt Die Blinden sehend die Tauben houmlrend die Lahmen gehend und die Aussaumltzigen rein macht Und das Alles zum Heil und Frommen des Menschengeschlechts in diesem Jammerthaie (B 321) 21

Die Beobachtung solcher Umsetzungsvorgaumlnge die Buumlrgers theoretische Aumluszligerungen gedanklich und sprachlich bestimmen leitet zu unserer eigentlichen Frage nach der Bedeutung und Beschaffenheit der Saumlkularishysationsphaumlnomene in seinem d ich t e r i s c he n Werk

(wenn nicht gar aufhebenden) Satz zu entwickeln waumlre kann hier nicht ausgefuumlhrt werden Sie kommt in Schillers und A W Schlegels Buumlrger-Abhandlungen zur Sprache

Vgl Ex7-10 20 B S324 (Vorrede zur Ausgabe der Gedidlte 1778) 2 Ober eine ganz entsprechende neue Einstellung zum Volksganzen raquowelche die

seelsorgerliche Haltung des Vaters unmittelbar fortzusetzen scheint handelt H Schoumlffshyler Das literarische Zuumlrich 1925 S42f

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Unmittelbare und ausdruumlckliche biographische Zeugnisse fuumlr den Einshyfluszlig des religioumlsen Schrifttums gibt es kaum Immerhin finden sich einige Hinweise in den Aufzeichnungen Althofs die auf Buumlrgers eigenen freishylich sehr spaumlten muumlndlichen Auszligerungen beruhen Durch sie wird uumlbershyliefert daszlig der Junge bis in sein zehntes Lebensjahr hinein durchaus nicht mehr lernte als Lesen und Schreiben wohl aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse behielt was er sowohl in der Bibel als im Gesangshybuche las ja daszlig er wie er meinte das ganze Gesangbuch ohne Schwieshyrigkeit auswendig gelernt haben wuumlrde (B 431) Von den houmlchst aufshyschluszligreichen Einzelheiten dieser fruumlh gelegten Bibel- und Gesangbuch- kenntnisse muszlig spaumlter die Rede sein Hier wird zunaumlchst nur Althofs Mitteilung wichtig daszlig schon der Knabe ohne durch andere Muster als welche Bibel und Gesangbuch ihm lieferten dazu aufgefordert zu werden anfing Verse zu machen ehe er noch die allerersten Elemente der Grammatik erlernt hattelaquo (B 431) Das ist gewiszlig nicht so zu verstehen als habe der junge Verseschmied damals noch kein grammatisch fehlershyfreies Deutsch sprechen oder schreiben koumlnnen Grammatik lernte man an der Fremdsprache Buumlrger begegnete ihr also im lateinischen Untershyricht - und cr konnte ungeachtet aller Schlaumlge in zwei Jahren noch nicht Mensa decliniren (B 431) Diese Randbemerkung macht einsichtig

( daszlig es sich bei den poetischen Anregungen durch Bibel und Kirchenlied um ganz unreflektierte dem kontrollierenden Sprach- und Kunstbewuszligtshysein entzogene Vorgaumlnge handelt Das deckt sich voumlllig mit Althofs Aufshyzeichnung Buumlrger versicherte ferner So wenig diese Fertigkeiten als irgend eine andere Kenntniszlig seines nachfolgenden Lebens bis in sein maumlnnliches Alter haumltten ihm die geringste Anstrengung oder Muumlhe geshykostet es waumlre auch sehr wenig was er von Lehrern und aus Buumlchern geshylernt haumltte da es ihm immer in den Lehrstunden an Aufmerksamkeit und auszliger denselben an Geduld gefehlet ein Buch anhaltend aus zu lesen Er muumlszligte sich oft innerlich wundern wenn er einen Blick in die Vorrathsshykammer seiner Kenntnisse thaumlte wie und woher der Plunder alle hinein gekommen Das Meiste waumlre ihm hier und da und dort und uumlberall wie VOn selbst gleichsam angeflogen (B 431) Nichts konnte ihm so sehr von selbst anfliegen wie die Worte Bilder und Formen der heiligen Texte die von den Jugendjahren im vaumlterlichen Pfarrhaus bis zum Abbruch des theologischen Studiums in Halle sein taumlglicher Umgang waren Was aber fuumlr ihre Aufnahme gilt ist nicht weniger guumlltig fuumlr ihre Verwendung die Saumlkularisationsvorgaumlnge entziehen sich weithin dem Bewuszligtsein des Schreibenden Durch ihn hindurch aber oft ohne seine Absicht und ohne sein Dazutun wirkt hier die religioumlse Sprache auf das Kunstwerk ein

Der eigentliche Zugang zu diesen Phaumlnomenen kann deshalb nicht durch die Beschaumlftigung mit der Person des Autors gewonnen werden

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welches Forschers Geist hat Buumlrger selbst erklaumlrt kann sich immer so tief und innig in den Geist des Kuumlnstlers versenken um etwas mit Sicherheit auszumachen welches dieser oft selbst nicht recht weiszlig naumlmshylich was fuumlr Bestinunungsgruumlnde jeglichen seiner Schritte zum Ziele leitet haben 22 Nur im Ziele selbst im Zustandegekommenen WIrd wohl der eine oder andere Bestimmungsgrund erkennbar der Weg dahin fuumlhrt also nicht uumlber die Versenkung in den Geist des Kuumlnstlers sondern uumlber die Betrachtung des Kunstwerkes selbst

In dem 1782 entstandenen kleinen Gedicht raquoDer klug e Heldlaquo23 wird erzaumlhlt wie ein junger Soldat um der Gefahr zu entgehen am Tag vor der Schlacht einen Urlaub erbittet angeblich damit sein sterbender Vater ihm noch den Abschiedskuszlig geben koumlnne Die letzten Verse lauten

Sehr wohl versetzt der Chef und laumlchelt vor sich nieder Reis hurtig ab mein Sohn Denn nach der Bibel muszlig Dein Vater nach Gebuumlhr von dir geehret werden Auf daszlig dirs wohlergeh und du lang lebst auf Erden

Von verschiedenen Seiten aus wird einsichtig welch besonderes Gewicht dieser Schluszlig traumlgt ja daszlig das ganze Gedicht eigentlich auf ihn hin anshygelegt ist 24

bull Schon der Gespraumlchsablauf weckt eine Spannung auf die Beshygruumlndung fuumlr die Zustimmung des Chefs der den Vorwand ja durchshyschaut Zugleich trennt das Druckbild durch einen Gedankenstrich und folgenden Sinnabschnitt die hier angefuumlhrten letzten Zeilen von den vorshyangehenden und nachdem schon zuvor die wechselnd vier- und fuumlnfshyhebigen Jamben sich zweimal gleichsam praumlludierend ins alexandrinische Maszlig vorgewagt hatten gewinnt der Schluszligteil in dem die Alexandriner sich voumlllig durchgesetzt haben auch metrische Bedeutungssteigerung Entshyscheidend aber ist der Pointencharakter des Ausgangs und dessen eigentshylicher Uberraschungseffekt entsteht durch die ironische Beziehung des vierten Gebotes auf die Absichten des Soldaten Den wichtigsten Beitrag zur Schluszligbeschwerung des Gedichtes leisten diese beiden zitierenden len mit denen ein vorgeformtes und vorbelastetes Redestuumlck als schwerer Endakzent dem vorangehenden Berichte aufgesetzt wird

~2 Ueber die Wirkung des Schleiers in Werken der darstellenden Kunstlaquo TI S 340 23 Die Gedichte werden im folgenden zitiert nach der Ausgabe von E COllsentius

2 Bde 1914 Hier I S238 21 VgL E Staigers Begriff der nproblematischen Dichtung (Grundbegriffe der

Poetik LAufl 1951 S162ff)

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Schluszligbeschwerungen sind fuumlr Buumlrgers Lyrik charakteristisch Sie hershyvorzubringen erscheint die eben beobachtete Verbindung eines praumlforshymierten Sprachstuumlckes mit vorausgehenden freien Formationen beshysonders geeignet - und es ist bemerkenswert daszlig der strukturell so beshydeutsame pointierte Ausgang tatsaumlchlich in nahezu einem Drittel aller Gedichte Buumlrgers auf den christlichen Sprachbereich zuruumlckweist

Wo seine Gedichtausgaumlnge einen formelhaften Redeschluszlig woumlrtlich oder nur geringfuumlgig abgewandelt uumlbernehmen wird die Endbetonung am spuumlrbarsten Aus einer Fuumllle von Beispielen koumlnnte man dafuumlr nennen

Gott lass es dem Edlen doch wohl ergehn Das bet ich herzinniglich Amen (I 207)

Gott behuumlte liebe Seele Gott behuumlte dich davor (I 32)

o Paradiesesglaube Erhalt und staumlrke mich (I 38) Komm Von hinnen laszlig uns scheiden Eia waumlren wir schon da - (I 68) Dein Name sei gebenedeit Von nun an bis in Ewigkeit (I 45)

Der jeweilige Ursprungsort dieser Schluszligformeln bedarf keiner Erlaumluteshyrung Was sie - in einen neuen Zusammenhang versetzt - fuumlr den Aufshybau des Gedichtes leisten koumlnnen zeigt sich im ersten Beispiel (raquoDie Kuhlaquo) mit der Hervorhebung des Erzaumlhlers der diesen Epilog spricht und mit der Zusammenfassung des Gedichtes zur geschlossenen Form im letzten Beispiel (raquoDankliedlaquo) in dem die schlieszligenden Zeilen des Gedichtes die der Anfangsstrophe wieder aufnehmen und die preisende Aufreihung der Gottesgaben mit einer aus dem liturgischen Ursprungsort der Formel heruumlberwirkenden Kraft zusammengreifen und erfuumlllen im Benedeien des goumlttlichen Gebers Von solchen Leistungen wird noch die Rede sein

Aumlhnliche Wirkungen entfalten die Schluumlsse in denen Bibelzitate parashyphrasiert und auf die vorangehenden Verse bezogen werden In raquoSchoumln Suschenlaquo etwa geben die letzten Zeilen

Drum Lieb ist wohl wie Wind im Meer Sein Sausen ihr wohl houmlrt Allein ihr wisset nicht woher Wiszligt nicht wohin er faumlhrt (I 155)

die aus Joh 3 8 hervorgehen Antwort auf die Eingangsfrage des Geshydichtes durch sie erfuumlllt es sich in der inneren Form von Raumltselstellung und Raumltselloumlsung Vergleichbares bewirkt der Schluszlig von raquoDie Eleshy

13 7439 Schoumlne Saumlkularisation (Palaestra 226) 193

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mentelaquo nachdem die Liebe als allbewegende Triebkraft der Natur geshyschildert worden ist zieht der Ausgang die Lehre fuumlr den lieblos geshywordenen Menschen

Du bist ein eiteltoumlnend Erz Bist leerer Klingklang einer Schelle Und Tosen einer Wasserwelle (I 70)

Die auffallend haumlufige Verwendung solcher zusammenfassenden abshyrundenden aufloumlsenden erklaumlrenden pointierenden Schluszligbeschwerunshygen die der Dichter dem christlichen Sprachbereich entlehnt muszlig durchshyaus als Charakteristikum Buumlrgerseher Gedichtsstruktur verstanden werden

Ober die Bestimmung ihrer sprachlichen Herkunft hinaus sind diese beschwerten Ausgaumlnge in einigen Verwendungs faumlllen nun auch auf eine genauer bestimmbare Form des Sprechens zu beziehen Da endet etwa Die Entfuumlhrunglaquo mit den Versen

So segne dann der auf uns sieht Euch segne Gott von Glied zu Glied Auf Wechselt Ring und Haumlnde Und hiermit Lied am Ende (I 181)

Das ist die Spredlweise des Geistlichen und in der Tat nimmt ja hier am Ende des houmldlst wel dichen Balladengeschehens der Vater des entfuumlhrshyten Fraumluleins mit Segen und Ringwechsel eine priesterliche Handlung vor Diese personale Gleichung macht aufmerksam auf eine grundsaumltzliche typologische Entsprechung zwisdlen der Schluszligbeschwerung des Gedichshytes und geistlidler Redeweise Nicht nur das durchgehend religioumls beshystimmte liturgische Sprechen endet mit einer gewichtigen Schluszligformell des Gebetes Segens oder Lobpreises auch die nicht mehr formgebundene freie Rede das Gespraumlch die Ansprache so zu schlieszligen daszlig weltlidles Sprechen am Ende durch einen religioumlsen Bezug ein praumlformiertes Redeshystuumlck erhoumlht gekroumlnt gewichtig beschlossen wird ist fuumlr den Geistlichen offenbar bis heute bezeichnend

Diese durch vorgegebene Schluszligformeln charakterisierte Redeweise zeigt ganz die gleiche Grundform die in der Untersuchung der Buumlrgershysehen Gedichte sichtbar wird - wie ja jene Gepflogenheit an weltliche Rede einen oft geradezu gewaltsam angehaumlngten formelhaft-religioumlsen Schluszlig zu fuumlgen selbst in dem oben genannten Briefausgang noch spuumlrbar wird ich heuumlrathete wol ein Kuh wenn sie nur an der bewusten Vershynunft keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte didl bei dieser Philoshysophie Amen Amen GABuumlrger Unter diesem Blickwinkel gewinnt die Stelle geradezu karikierende Zuumlge

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Beispielhaft fuumlr eine solche Analogie der Sprechweisen scheinen etwa die Schluumlsse

Die Liebe segne dich und sie Mit ihrem besten Segen (148) Die Liebe sagt Verdammet nicht Daszlig man nicht Euch verdammet (I 187) Diesen Trinker gnade Gott Lass ihn nicht verderben (I 73)

Sie aber deuten auf eine Analogie-Antithese zwischen dem Pfarrer als dem Diener der christlichen Kirche und dem Poeten der eines seiner Geshydichte mit den Worten schlieszligt

Doch wisse du Apolls Religion Schenkt dir die Glaubenspflicht und dringt auf gute

Werke (I 248) Als Gottesdienst der Wortverwaltung hat Buumlrger sein dichterisd1cs Amt verstanden

Bin geweiht zum Priester des Apoll Mit des Gottes Kranz und goldnem Stabe Seines Geistes bin ich froh und voll Warum nicht auch frommer Wundergabe - (I 94)

Und am Ende des Gedichtes (raquoGeweih tes Ang ebind e zu Lo uis ens Geburtstagelaquo) tritt diese vaumlterliche Mitgift diese Sprechhaltung des Geistlichen ganz ausdruumlcklich ins Wort

Freud und Lust von keinem Harm vergaumlllt Sei durch dich Ihr in die Brust gegossen Freud an Gottes ganzer weiter Welt Mich den Priester auch mit eingeschlossen

shy

Die Beobachtung der Schluszligbeschwerung lenkt auf die Frage nach ihrer Integration in das Gesamtgefuumlge des Gedichtes und nach der Wirkung die sie dort entfaltet raquoDer kluge Heldlaquo kann darauf kaum schon ershyschoumlpfende Antwort geben die massive Pointicrung die hier durch den Endakzent zustande kommt ist nur eine unter vielen Moumlglichkeiten seiner Leistung Weit komplizierter liegen diese Verhaumlltnisse in Buumlrgers Nachshydichtung der raquoCo n f ess i 0laquo des Archipoeta 25

25 Das Gedicht war Buumlrger in einer dem Walter Mapes zugeschriebenen Fassung beshykannt geworden (vgl seinen Brief an Sprickmann vom 21077) deutliche Bezuumlge zeigen sich zu seinen Strophen 12 13 16-19 Zitiert wird die lat Vorlage nach dem auf 5 Strophen verkuumlrzten Abdruck den Buumlrger in der Ausgabe seiner Gedichte VOll

1778 auf S 290 f gegeben hat (Ausgenommen die beiden dort nicht mitgeteilten hier auf S199 zitierten Verse Voluptatis avidus laquo)

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Zechlied

Im will einst bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Alles meinen Wein nur nimt Lass im frohen Erben Nam der letzten Olung soll Hefen nom mim faumlrben Dann zertruumlmmre mein Pokal In zehntausend Smerben Jedermann hat von Natur Seine sondre Weise Mir gelinget jedes Werk Nur nam Trank und Speise Speis und Trank erhalten mim In dem remten Gleise Wer gut smmiert der faumlhrt aum gut Auf der Lebensreise Im bin gar ein armer Wimt Bin die feigste Memme Halten Durst und Hungerqual Mim in Angst und Klemme Smon ein Knaumlbchen smuumlttelt mim Was im aum mim stemme Einem Riesen halt im Stand Wann im zem und smlemme Aumlmter Wein ist aumlmtes 01 Zur Verstandeslampe Gibt der Seele Kraft und Schwung Bis zum Sternenkampe Witz und Weisheit dunsten auf Aus gefuumlllter Wampe Baszlig gluumlckt Harfenspiel und Sang Wann im brav smlampampe Nuumlchtern bin im immerdar Nur ein Harfenstuumlmper Mir erlahmen Hand und Griff Welken Haupt und Wimper Wann der Wein in Himmelsklang Wandelt mein Geklimper Sind Homer und Ossian Gegen mim nur Stuumlmper

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Nimmer hat durch meinen Mund Hoher Geist gesungen Bis ich meinen lieben Bauch Weidlich vollgeschlungen Wann mein Kapitolium Baechus Kraft erschwungen Sing und red ich wundersam Gar in fremden Zungen Drum will ich bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Nach der letzten oumllung soll Hefen noch mich faumlrben Engelchoumlre weihen dann Mich zum Nektarerben Diesen Trinker gnade Gott

Lass ihn nicht verderben (1 72 f)

Da wird mit der ersten Strophe das Bekenntnis zu einer Lebensfuumlhrung abgelegt und geradezu beschworen die selbst eingedenk des Todes noch ganz im Irdischen verharrt Fuumlnf folgende Strophen dann begruumlnden den Entschluszlig den die erste verkuumlndete auch ihre Aussagen bleiben durchshyaus im Bereiche des weingeweihten Diesseits Die letzte aber tritt nachshydem sie zunaumlchst das Bekenntnis der ersten aufgenommen in eine durchshyaus andere Sphaumlre Zwar setzt auch dort das irdische Trinkerleben sich fort aber der Spott der eben noch die letzte oumllung traf der Entschluszlig der ersten Strophe im Tode den Pokal zu zertruumlmmern lassen dieses Ende nicht erwarten

Ut dicant eum venerint angelorum chori Deus sit propitius huic potatori

heiszligt es in der raquoC 0 n fes s i 0laquo und solcher Gesang der Engelchoumlre beshyschlieszligt nun auch Buumlrgers koumlnigliches Sauflied 26 ein im religioumlsen Sprachbereich ausgebildetes Gebet um Gnade fuumlr den Suumlnder 27 - an dessen Stelle nun der Trinker steht - setzt den kraumlftigen Endakzent Wenn so unvermittelt das Sauflied in die Gebetsformel muumlndet scheint sich im Wortschatz in der Sprechhaltung im Hinblick auf die Geschehnisshyebene ein bruchhafter Wechsel zu vollziehen der die Einheitlichkeit des ganzen Gedichtes in Frage stellt Zwar folgen Vers- und Strophenbau zushygleich mit dem Reimschema der gtConfessiolaquo entlehnt ebenso wie die rhythmische Anlage des Liedes gleichbleibenden Aufbauprinzipien und stiften so eine formale Geschlossenheit des Ganzen aber gerade das treibt

28 Brief an Boie 18977 27 Vgl Lue1B 13 Deus propitius esto mihi peceatori

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den Umbruch der Schluszligbeschwerung nur um so kraumlftiger heraus Daszlig hier in Wahrheit keineswegs ein Bruch vorliegt daszlig dieser Sphaumlrenshywechsel durchaus nicht unvermittelt geschieht wird jedoch einsichtig sobald man die Sprache der Mittelstrophen schaumlrfer ins Auge faszligt Dann zeigt sich daszlig hinter der Bedeutungsoberflaumlche der Wortaussage vorshygeformtes Sprachgut aus eben der Sphaumlre wirksam ist zu der die schlieshyszligenden Verse sich erheben

Dem Wein dem der Sprechende selbst eingedenk des irdischen Endes noch sein Dasein verschreibt setzt die zweite Strophe die Speise zur Seite Beide Trank und Speise sind fuumlr das Leben noumltig - doch offenshybar nicht im Sinne notwendiger Ernaumlhrung Das erhalten meint kein einfad1es am-Leben-erhalten sondern ein im rechten Gleise im rechshyten Leben erhalten Das Schluszligwort der Strophe laumlszligt aufmerken Lebensreise erscheint als ein deutlich vorbelastetes vorgeformtes Sprad1stuumlck der religioumlsen Sphaumlre das (ausgehend von Gen 47 9) die christliche Deutung des Lebens als einer Reise durch die Weh zum jenshyseitigen Ziele in sich faszligt Trank und Speise in solchem Bedeutungsfeld als Hilfen die Lebensreise recht zu fuumlhren sie machen hinter dem lauten Gesang des Trinkers im fuumlnften Vers die liturgische Stimme vershynehmbar die Stimme des Geistlichen der die Hostie und den Wein reicht Nehmet hin und esset Nehmet hin und trinket das staumlrke und erhalte euch im rechten Glauben zum ewigen Leben Amenlaquo 28 Von andeshyrem Trank und anderer Speise als der vom Vater dargebotenen spricht der Sohn Doch im Bekenntnis des Zechlieds klingen noch immer jene Worte nach die von der Kraft des heiligen Mahles kuumlndeten weil das 11edium der Sprad1e die mit der Abendmahlsliturgie in sie eingeganshygenen Bedeutungsenergien bewahrt und fuumlr die Dichtung verfuumlgbar macht

Von der zweiten Strophe aufgerufen bleibt dieser Bezug auch in der dritten vierten und fuumlnften lebendig Hinter dem Zecher den Essen und Trinken der Angst und Schwaumld1e entheben so daszlig er einem Riesen standshyzuhalten vennag steigt das Bild des gottgestaumlrkten David herauf der dem Goliath standhaumllt Der aumlchte Wein und das aumldlte oumll derert Kraft die Seele zum Sternengewoumllbe erhebt gewinnen neue Bedeutung Hinter dem Harfenspieler und dem Himmelsklang seines Gesanges toumlnt leise der Psalm Davids zur Harfe zu singen und in der trunkseligen Prahshylerei der Erhebung uumlber Homer und Ossian mag damit eine verborgene Rechtfertigung solcher Selbsteinschaumltzung sich andeuten Sind die uumlbershytragenen Worte und Bilder hier dem Text des raquoZechlieds so weitshy

e8 In der Abendmahlsliturgie folgt diese in verschiedenen Fassungen gebraumluchliche Spclldeformc1 auf den Einsetzungsbericht Ausfuumlhrlich daruumlber P Graff Geschichte der Aufloumlsung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschshylands I 1937 S 197 ff

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gehend anverwandelt daszlig sie als fremdes Sprachgut kaum erkennbar werden heben sie sich in der sechsten Strophe doch wieder staumlrker ab erst der Abglanz der Erleuchtungsflammen des Pfingstwunders erhellt die Reden des Trunkenen als einwundersames Reden gar in fremden Zungen

Ein Vergleich mit dem Vorbild der lateinischen Beichtparodie der dies e Durchsichtigkeit auf den hinter der eigentlichen Aussage liegenden Sprach- und Bildbereich gaumlnzlich fehlt zeigt daszlig in Buumlrgers uumlbertragung eine sehr bewuszligte Absicht waltete Man halte gegen seine sechste Strophe etwa die Verse

Mihi nunquam spiritus prophetiae datur Non nisi cum fuerit venter bene satur Cum in arce cerebri Bacchus dominatur In me Phoebus irruit ac miranda fatur

Die Grundhaltung beider Gedichte unterscheidet sich wesentlich Mit den fuumlr die ganze raquoC 0 n fes s i 0laquo verbindlichen Versen

Voluptatis avidus magis quam salutis Mortuus in anima curam gero cutis

setzt der Archipoeta Diesseits und Jenseits gegeneinander und faumlllt seine klare Entscheidung fuumlr das eine gegen das andere Buumlrger aber verschmilzt die Bereiche Getragen von den sprachgebundenen Bedeutungsenergien die aus dem christlichen in einen houmlchst weltlichen Bereich des Sprechens uumlberfuumlhrt werden erhebt der bekenntnishafte Lebensbericht des Zechers sich zum Heilsbericht zum Preis einer uumlberirdischen und das Irdische vershywandelnden Macht die am Sprechenden wirksam wird Erst diese Spuren des weihevoll-heiligen Pathos dem Weine des schwoumlrenden protzenden singenden Zechers und Schlemmers beigemischt als ein verborgenes Arom bewirken jenes Entzuumlcken das Buumlrger mit der Lektuumlre des Gedichtes seinen Freunden verhieszlig29 Sie bereiten die schluszligbeschwerende Gebetsshyformel vor und bewirken daszlig statt eines Bruches hier der Aufschwung in jene Sphaumlre erfolgt die am inneren Aufbau des Liedes schon von Anshyfang an beteiligt war So vollendet sich das bekennende Sprechen des raquoZechliedslaquo am Ende in der inneren Form einer ihrer urspriinglichen Erfuumlllung mit christlichem Gehalt entleerten Heilsverkuumlndigung

i-

Mit jener Sprechweise des Geistlichen auf welche die Schluszligbeschweshyrung deutete haumlngt diese Form der He i I sv e r k uuml n d i gun g aufs engste zusammen Sie steht in Buumlrgers Werk durchaus nicht vereinzelt die im

29 Brief an Boie 18977

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religioumlsen Sprachgebrauch ausgebildeten Formmodelle finden hier zahlshyreiche und vielfaumlltige Entsprechungen die um so deutlicher erkennbar werden als sie noch immer merkliche Spuren auch des urspruumlnglichen Gehaltes tragen Sie erweisen sich als weltliche Kontrafakturen der relishygioumlsen Vorbilder 30 von denen sie nicht allein das organisierende Formshyprinzip beziehen sondern zugleich jenen Zuwachs an Bedeutungshaumlhe und Wirkungskraft den das Modell nur dann hergibt wenn es selbst noch als bedeutungshaltig und wirkungsfaumlhig intakt bleibt Die Annaumlherung auch der inhaltlichen Erfuumlllung dieser saumlkularisierten Formen an den christshylichen Denk- und Sprachbereich befoumlrdert ja begruumlndet ihre reichhaltige Erscheinung in Buumlrgers Lyrik

Ich glaube Luther wuumlrde dies Gedicht fuumlr ein wuumlrdiges Kirchenlied anerkannt haben schrieb AWSchlegel uumlber Die Elementelaquo (B 518) Schon mit dem Eingangsvers tritt es in die Form der Lehrvershykuumlndigung Horch Hohe Dinge lehr ich dich (I 68) Und diese Lehre vom Wesen der Elemente ist mehr als bloszlige Kundgabe Sie wird Maszligstab fuumlr den Belehrten Richtschnur Grundlage fuumlr das kommende Gericht Immer dringlicher wendet sie sich im Fortgang des Gedichtes an den Houmlrer selbst Sieh hin und her und Nun pruumlfe dich bis mit den oben (S 194) genannten Schluszligversen das lehrende Sprechen ins urteilende und verdammende uumlbergeht

Eine besondere Form der lehrhaft-bekennenden Rede macht das raquoDankl iedlaquo sichtbar (I 44ff) das Buumlrger urspruumlnglich Psalm nennen wollte und zu dem Boie ihm schrieb den denkenden Christen wird es entzuumlcken und erbauen aber den groumlszligten Haufen und Pastor Zuch - (12972) Es zeigt eine ganz symmetrische Anlage Die Eingangsstrophe wendet sich lobend an Gott den Schoumlpfer sechs folgende Strophen reihen auf was der Sprechende aus seiner Hand empfangen hat (daszlig es dabei ausgerechnet um die Liebe den Wein und den Gesang geht muszligte Pastor Zuch freilich wurmen) zwei Mittelstrophen bekennen daszlig die Fuumllle der Schoumlpfergaben nicht zu zaumlhlen sei (Wer zaumlhlt die Gaben alle Wer) und wenden sich auf den Sprecher selbst wieder sechs Strophen nennen dann die leiblichen und geistigen Eigenschaften die Gott ihm verliehen hat Hinter dieser Gaben Wunderschau aber wird Luthers Erklaumlrung zum 1 Artikel des Glaubensbekenntnisses sichtbar in der es nach der FrageWas ist das heiszligt Ich glaube daszlig mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mit Leib und Seele Augen Ohren und alle Glieshyder Vernunft und alle Sinne gegeben hat Gemaumlszlig den Schluszligworten der Erklaumlrung des alles ich ihm zu danken und zu loben schuldig bin muumlndet die letzte Strophe preisend und benedeiend in den liturgisch beshy

ao Zur Begriffsbestimmung dieser Saumlkularisationskategorie vgL S 289 ff

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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copy Vandenboeck amp Ruprecht in Goumlttingen 1968 - Printed in Germany Ohne ausdruumlckliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustoshymechanischem Wege zu vervielfaumlltigen - Gesamtherstellung

Hubert amp Co Goumlttingen

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INHALT

I

EINFuumlHRUNG 7

II

POSTFIGURALE GESTALTUNG 37

Andreas Gryphius

III

WIEDERHOLUNG DER EXEMPLARISCHEN BEGEBENHEIT 92

Jakob Michael Reinhold Lenz

IV

DIDAKTISCHE VERWEISUNG 139

Jeremias Gotthelf

V

WELTLICHE KONTRAFAKTUR 181

Gottfried August Buumlrger

VI

uumlBERDAUERNDE TEMPORALSTRUKTUR 225

Gottfried Benn

VII

ZUR TYPOLOGIE DER S~KULARISATIONSFORMEN 268

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v

WELTLICHE KONTRAFAKTUR

Gottfried August Buumlrger

Ins Kirchenbuch von Molmerswende im Mansfeldischen schrieb der dashymalige Prediger des kleinen Doumlrfchens daszlig ihm am letzten Tag des zu Ende gehenden Jahres am 31Dezember 1747 ein Kind geboren worden sei Gottfried August Buumlrger Und die Besonderheit dieser Geburtsstunde wohl hat spaumlter den Sohn versucht der Wahrheit ein wenig Dichtung beishyzumischen Denn er war ein Poet geworden und hielt sich nicht fuumlr einen Spaumltling sondern fuumlr einen Beginnenden So erzaumlhlte er dem Arzt Ludwig Christoph Althof er sei geboren worden in der ersten Stunde des Jahres 1748 unter den Gesaumlngen womit man nach alter Sitte das angekommene neue Jahr vom Kirchthurme herab zu begruumlszligen pflegte 1

In viele seiner Lebensbeschreibungen hattJiese kleine Geburtslegendesich eingeschlichen und es scheint als habe Buumlrger ohne das zu woilen mit ihr auf eine tiefere Wahrheit gedeutet als die der aumluszligeren Genauigshykeit das erste was das Kind von der Welt empfing was ihm gleichsam in die Wiege gelegt wurde sind Worte einer Dichtung gewesen Verse aus den groszligen Neujahrsliedern der christlichen Kirche

Die beiden Paten die ihn zur Taufe trugen waren Geistliche wie sein Vater In das Haus des einen der die benachbarte Pans felder Pfarre vershywaltete und den Buumlrger mit seinem raquoPfarrer von Taubenhainlaquo geshymeint haben soll kam der Junge eine Zeitlang jeden Tag uumlber die Asseshyburgschen Felder hinuumlber um zusammen mit den dortigen Pastorskindern von einem Informator unterrichtet zu werden Aber im uumlbrigen wuchs er zwoumllf Jahre lang im vaumlterlichen Pfarrhause heran lernte nur wenig anderes als solche Lieder wie seine Geburtslegende sie erwaumlhnt die Geshyschichten der Bibel und das Lesen und Schreiben das er an ihnen uumlbte Denn mit dem Lateinischen haperte es sehr seinen Vater einen Liebshyhaber von Tobak und Bequemlichkeit kam es hart an einmal ein Viertelshystuumlndchen auf den Unterricht des Sohnes zu verwenden zumal er ihn

lLChr Althof Einige Nachrichten von den vornehmsten Lebensumstaumlnden Gottshytried Auiu~ Buumlrg~rs nebst einem Beitrag zur Charakteristik desselben 1798 (Zit nach d Abdruck in Buumlrgers saumlmmtL Werke hrsg AWBohtz 1835 S429ff Hier 5430) - Selbst Buumlrgers Grabstein nennt als Geburtstag den 1 Januar 1748

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fuumlr einen Dummkopf hielt von dem ohnehin nicht viel zu erwarten waumlre Und die Mutter hatte selbst kaum gelernt leserlich zu schreiben

Der Zwoumllfjaumlhrige verlieszlig das Vaterhaus ging zum Groszligvater nach Aschersleben und besuchte dort die lateinische Schule lutherischer Konshyfession Auch hier klingen die alten Kirchenlieder wieder auf von Amts wegen hatten die Scholaren an den Leichenkondukten teilzunehmen woshybei es auszligerordentlich viel zu singen gab 2 1760 dann fuumlhrt man Buumlrshyger als Schuumller des Koumlniglichen Paumldagogiums zu flaUe das ein orthodoxes Luthertum mit pietistischem Einschlag vertritt Neben dem Religionsshyunterricht und zahlreichen Andachtsuumlbungen betreiben die Lehrer eine spezielle cura animarum auf den Schuumllerstuben es wird von haumlufiger Kommunion berichtet der rigorose Seelenpruumlfungen vorangehen noch bei Tische liest man aus geistlichen Buumlchern vor und des Schulinspektors scharfer Tadel ergeht selbst an die Praumlzeptoren wenn sie versuchen dashybei in eine Zeitung zu schielen a

Nach drei Jahren holt der Groszligvater den Jungen aus Halle zuruumld Es ist ein alter eigensinniger Mann schreibt der Inspektor am 5 Sepshytember 1763 in seine Akten~p~r kleine Engel sitzt in Prima ein Halbshyjahr und ist ohngefaumlhr 15 Jahr a1t~-Er-welntemiddotunc1middotmiddotl5at ich moumlchte doch seine Stelle noch nicht vergeben er wollte beim Groszligvater um Prolonshygation bitten Aber der alte Mann hats abgeschlagen 4

Im Jahr darauf bezieht der Sechzehn jaumlhrige die Universitaumlt Halle um Theologie zu studieren Althof hat erklaumlrt daszlig diese Studienrichtung seiner eigenen Neigung ganz entgegen gewesen und durch den groszligvaumltershylichen Willen bestimmt worden sei Buumlrger haumltte lieber jedes andere Fach gewaumlhlt aber der alte Mann von dem er zumal nach dem bald darauf erfolgten Tode seines Vaters gaumlnzlich abhing habe durchaus einen Geistlichen aus ihm machen wollen Inwieweit das auch im Willen des Vaters lag der selbst ja auch in Halle sein Theologiestudium absolviert hatte bleibt ungewiszlig Er war nicht mehr am Leben als der junge Theoshy

2 HProumlhle GABuumlrger Sein Leben u s Dichtungen 1856 S28 3 VgL ADaniel Buumlrger auf der Schule (Progr d kgL Paumldagogiums zu Halle 1845)

Wiederabdruck in Zerstreute Blaumltter 1886 S 47 f Althof berichtet (a a O S432) daszlig einer der Lehrer mit seinen Schuumllern uumlbungen im Versemachen veranstaltet habe indem er ihnen Anfangs Verse aus den besten Deutschen Dichtern in versetzter Ordshynung der Woumlrter aufgegeben um sie wieder in die metrische Ordnung zu bringen und daszlig sich bei Buumlrger schon damals die entschiedene Anlage zur Dichtkunst und die besondere Vorliebe fuumlr die Volks-Poesie deutlich verrathen haben Auch hier ist freishylich zu vermuten daszlig die Neigung des alternden Buumlrger und seines Biographen zur Leg~ndenbildung uumlber die Tatsachen hinweggeht Denn Danicl (a a O S68) der aus den Schulakten die genauen Lektionsplaumlne und Schuumllerlisten zusammensuchte hat festshygestellt daszlig bei dem betreffenden Praumlzeptor niemals oratorischen oder deutshyschen Unterricht gehabt hat in dem allein Raum fuumlr solche Versuumlbungen gewesen sein koumlnnte

4 A Daniel S 72 5 A a O S 432

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loge schon nach wenigen Semestern vom Groszligvater nach Aschersleben zuruumlckgerufen Halle wieder verlieszlig und die Gottesgelehrsamkeit aufshygab 1768 ging Buumlrger aufs neue zur Universitaumlt diesmal nach Goumlttingen - zum Studium der Jurisprudenz~

Von dieser Zeit an zeigen seine Briefe eine zunehmende Entfernung von der strengen lutherischen Orthodoxie die die ersten zwanzig Jahre seines Lebens bestimmt hatte Ein zuverlaumlssigeres Zeugnis als die sehr unterschiedlich gefaumlrbten Gelegenheitsaumluszligerungen uumlber sein Verhaumlltnis zum Christentum gibt dafuumlr die Art des Umgangs mit dem angestammshyten religioumlsen Sprachgut Bibelworte Verse des Kirchenliedes und liturshygische Formeln vor allem werden voumlllig unbedenklich aus dem geheiligten Kodex geloumlst und ohne die mindeste Ruumlcksicht auf ihren ehrwuumlrdigen Ursprung gaumlnzlich auszligerreligioumlsen ja vorzugsweise spielerischen und scherzhaften Zwecken dienstbar gemacht Sie sind gerade gut genug

6 Die Buumlrger-Biographen pflegen die Hallenser Studentenzeit in duumlsteren Farben zu malen Da ist der Umgang mit Chr A Klotz dem Professor der Beredsamkeit in dessen Hause ein junger Theologe sich eigentlich nicht haumltte bewegen sollen da wird berichtet von einem sittenlosen Bummelleben und dem Miszligfallen an der Theologie mit der sich Buumlrgers sinnliches Temperament nicht vertragen habe In Wahrheit weiszlig man uumlber das alles kaum Genaues Sicher ist nur daszlig Buumlrger verbotenerweise an der Gruumlndung einer niedersaumlchsischen Landsmannschaft beteiligt war auf eine Denunziashytion hin mit seinen Freunden beim Gruumlndungsschmaus vom Pedellen erwischt und zu einer Woche Karzer verurteilt wurde Wahrscheinlich hat dieser Vorfall fuumlr den alten

f eigensinnigen Mann in Aschersleben schon ausgereicht um seinen Enkel zuruumlckzushybeordern Zwar heiszlig~ es im y_erhoumlspItokltill PJ g~2Iilt~LsE~(LtilloLAger houmlret Collegia beiHerrn Prof Hansen und studirr jura aber einiges muszlig er in Halk_ -~wohl auch fuumlr sein Theologiestudium getaiihaben denn de~lgis~e Dekan --- ---dls ares 176768 vermer t l~ctrszligerltrm---ei111iDgaumln szeu nis ausgestent~-~

- a e V rouml e In As ers e en onnte Buumlrger den Groszligvater um--- - stimmen zu Ostern 1768 ging er nach Goumlttingen Er nahm Quartier in dem uumlbel beshy

leumdeten Haus einer Madame Sachse der Schwiegermutter des Professors Klotz in Halle ein Brief den er 1770 an den Goumlttinger Prorektor schreibt berichtet von einer Pruumlgelei zwischen ihm und einem Nebenbuhler im Schlafgemach der Witwe Bandmann einer der Toumlchter des Hauses Nach Madame Sachses Tod zog er 1771 schwer verschuldet in ein Kuumlrschnerhaus und jetzt setzt offenbar eine Vandlung ein Schon seit dem Winshyter 7071 ruumlhmen die Lehrer seine gruumlndlichen rechtswissenschaftlichen Kenntnisse seinen Eifer Fleiszlig und sittsam-bescheidenen Lebenswandel Es liegt zwar nahe auch die Halleshyschen Vorgaumlnge so zu erklaumlren wie Boie der am 281 71 an Gleim schreibt daszlig Buumlrgers freyes lustiges Leben die Herren Theologen verhindert haumltte ihm gute Zeugshynisse zu geben auf Grund der wenigen zuverlaumlssigen Nachrichten ist es aber viel wahrscheinlicher daszlig die Biographen von den ersten Goumlttinger Semestern auf die Hallenser Zeit zUfUumlckgeschlossen haben und also das wirklich zuumlgellose und verwilderte Leben erst einsetzte als der Zwanzigjaumlhrige die geradlinige Entwicklung die ihn vom Molmerswender Pfarrhaus uumlber die Lateinschule in Aschersleben und das Koumlnigliche Paumldagogium nadl Halle gefuumlhrt hatte abbrach und seinem Leben eine gaumlnzlich neue Wendung gab Goumlttingen bleibt fortan bestimmend fuumlr den spaumlteren Amtsverwalter im benachbarten Gelliehausen und den Dozenten an der Georgia Augusta Die Theoshylogie liegt hinter ihm

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einem Brief jene Wuumlrze zu geben die dem Bewuszligtsein unangemessener Verwendung dieser Sprache entspringt Vom Leichtfertigen fuumlhrt das zushymal in den spaumlteren Zeugnissen bis an den Rand des Blasphemischen auf eine Mitteilung H Chr Boies des Freundes in Goumlttingen er gedenke eine reiche Frau zu heiraten antwortet Buumlrger am 13881 7 Wenn ich noch einmal wieder in meinem Leben heuumlrathen sollte wahrhaftig ich heuumlrathete wol eine Kuh wenn sie nur an der bewusten Vernunft [naumlmshylich am Gelde] keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte dich bei dieser Philosophie Amen Amen GA Buumlrger Daszlig die Sprache sich in solcher Weise aus ihren alten Bindungen loumlst waumlre kaum denkbar ohne eine Distanzierung auch des Sprechenden selbst vom Geist des vaumltershylichen Pfarrhauses

Wir wenden uns diesen Vorgaumlngen nicht mit jener Ausfuumlhrlichkeit zu die sie verdienten wenn es um eine Darstellung der inneren Entwicklung Buumlrgers ginge Auch fuumlr unsere Fragestellung aber sind sie bedeutungsshyvoll als Voraussetzung als Ermoumlglichungsgrund dichterischer Gestaltungsshyweisen Denn daszlig hier ein Abfall vollzogen wurde daszlig Buumlrger sich geshyloumlst hat von dem Gesetz nach dem er angetreten war auch ihm selber sehr wohl bewuszligt Wenn er an Boie uumlber den Dr Pideritt schreibt raquoSo viel ich aber aus einer Recension seiner Vertheydigung des Kanons der heil Schrifft 2tes Stuumlck muthmaszlige so mag er wohl einen Bannstral auf meine gottlosen Gedichte geworfen haben indem es heiszligt daszlig er zum Beweise gegenwaumlrtiger irreligioumlser und sittenloser Zeiten verschiedene Gedidlte aus den MusenAlmanachen angefuumlhrt habe (11676) so wird unter den ironischen Toumlnen doch deutlich spuumlrbar daszlig er sich mit seinen Dichtungen in einem anderen Raume weiszlig als dem seines Ursprungs

Es gibt wohl kein Zeugnis das in dieser Hinsicht aufschluszligreicher ja verraumlterischer waumlre als die Stelle aus einem Brief vom Sommer 1775 an Goethe Wie behaumlglich von der bekannten AlltagsleyerMe10dey der um uns plaumlrrenden Christlichen Gemeine unterweilen abbrechen und sein innres Seelenstuumlckchen anstimmen zu koumlnnen

Das ist mit Entchristlichung nicht einfach gleichzusetzen der tiefere Bereich persoumlnlicher Glaubenshaltung entzieht sich unserer Einsid1t Aber es bezeugt eine Abwendung vom strengen Kirchenchristentum und macht deutlich daszlig der Schreiber seine eigentlid1e Bestimmung auszligerhalb des religioumls-dogmatischen Raumes sieht Immerhin AlltagsleyerMelodey und innres Seelenstuumlckchen plaumlrren und anstimmen zeigen unershyachtet der recht eindeutigen Bewertung doch noch die Verwandtschaft einys gemeinsamen Wortfeldes und werden durchaus in einem Atemzug genannt Das aufschluszligreich genug Denn es deutet auf ein Verhaumlltnis

7 Vfenn nicht anders angegeben stammen die Briefzitate stets aus der Sammlung Briefe von und an Gottfried August Buumlrger hrsg A Strodtmann 4 Bde 1874

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zwischen religioumlsem und dichterischem Wort (so darf man ohne Zweifel uumlbersetzen) in dem zwar das erste dem zweiten untergeordnet wird aber doch noch immer eines mit dem anderen verbunden bleibt

Auch das Woumlrtdlen unterweilen wird man dabei nicht ganz uumlbershysehen duumlrfen Unterweilen hat Buumlrger seinem Verleger Dieterich gegenshyuumlber (und es gibt andere aumlhnliche Faumllle) in einem Brief vom 1 81782 die Weisheit und Guumlte goumlttlicher Vorsehung die jenseits menschlicher Einshysichtsfaumlhigkeit liegt mit Nachdruck ja mit Leidenschaft verteidigt - um dann dem Freunde selbst die Frage in den Mund zu legen Wie koumlmmt Saul unter die Propheten Dieses Sauls eigentliches Amt ist nidlt die AlltagsleyerMelodey sondern das innre Seelenstuumlckchen dichte- rischer Gestaltung Aber dabei grundet doch das eine auf dem anderen Was er anstimmt transponiert die alte Melodie in eine neue Tonart jenes Abbredlen wird zum Synonym einer weltlichen Kontrafaktur

Ich denke nicht heiszligt es im Vorbericht zur raquoIl i a slaquo-Obersetzung das Jemand die Umstaumlnde und das Aufheben welche ich hier mache uumlbertrieben abgeschmackt und laumlcherlich finden werde er muumlszligte denn anders die Kunst lebendiger Darstellung so wie das edle nicht Jedershymann von Gott verliehene Seelenvermoumlgen worauf sie sich gruumlndet und eins der wichtigsten Mittel deren sie sich bedient die Sprache die nie goumlttlich genug zu verehrende Sprache sie das theuerste heiligste Werkshyzeug des wirkenden Menschengeistes sie welche zu allen andern Wissenshyschaften spricht Ohne mich koumlnnet ihr nichts thun alles das muumlszligte er

( also fuumlr Lumpereien und unter der Wuumlrde maumlnnlicher Bemuumlhungen halten 8

Buumlrgers theoretische Schriften enthalten eine Fuumllle solcher Aumluszligerungen uumlber die Sprache und den dichterischen Umgang mit ihr die gekennshyzeichnet sind durch einen Anspruch dessen Unbedingheit den Bereich des wirkenden Menschengeistes auf das Religioumlse hin oumlffnet Literarische Taumltigkeit wird ins Heilige und Goumlttliche erhoumlht als edelste Bestimmung des Menschen uumlberhaupt und als Gnadengabe verstanden die nur den Auserwaumlhlten zuteil geworden Dichtung wird zum Gottesdienst der Wortverwaltung Das aber wird keineswegs als ein Obertragungsvorshygang begriffen und in seiner Problematik bedacht sondern erscheint als ein durchaus unreflektierter Akt und wird sichtbar allein als sprachlicher Vorgang Die aumlsthetischen Eroumlrterungen ziehen ihr Vokabular zu wesentshylichen Teilen aus den religioumlsen Texten nutzen gleichsam die Beglaubishygungskraft dieser Worte die ihnen von ihrem Ursprung her anhaftet shyohne daszlig dabei doch dieser Herkunftsbereich selber noch als Maszligstab und Bewertungsgrundlage gegenwaumlrtig bliebe Es geht nicht mehr um

8 Zitiert wird - von den GediChten abgesehen - nam Buumlrgers saumlmmtliche Werke hrsg A W Bohtz 1835 Abgekuumlrzt B hier S 184

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didaktische Verweisungen sondern um aumlsthetische Bereicherung Das Pfarrhaus wird abgebrochen damit was brauchbar und ansehnlich scheint unter den alten Steinen fuumlr den Bau des neuen Hauses verwendet werden kann Diesen Bezug auf die religioumlse Sprache auf den Luthertext insonderheit hat Buumlrger sich bis in stilistische Einzelheiten hinein bewuszligt gemacht In seinen raquoGedanken uumlber die Beschaffenheit einer Deutschen Uumlbersetzung des Homerlaquo etwa heigt es nachdem der Verfasser die von ihm bevorzugte Anfangsstellung des Hauptzeitwortes besprochen hat Ich habe keinen Platz zu Beispielen aber man wird ihrer genug finden welche dies Alles bestaumltigen Man schlage nur Luthers Bibel-uumlbersetzung und seine uumlbrigen Schriften nach auf jeder Seite sind weld1e Die poetischen Buumlcher der heiligen Schrift hat Luther mit dem besten Geschmacke fuumlr seine Zeiten so echt Deutsch und so feurig uumlbershysetzt daszlig man daruumlber erstaunen muszlig Ein fleiszligiger Sprachforscher muumlszligte unsere neuere Sprache mit den vortrefflichsten Schaumltzen aus den Schriften dieses bewundernswuumlrdigen Mannes wovor unseren Hominibus delicatulis so ekelt bereichern koumlnnen (B 137 L)

Die Stelle dessen was zwanzig Jahre lang dem Pfarrersohn als das Houmlchste und Heiligste vorgestellt und eingepraumlgt wurde was er hinter sidl lieszlig als er das Studium der Theologie in Halle abbrach vermochten die Jurisprudenz die Geschaumlfte des Amtsverwalters die Lehrtaumltigkeit des Dozenten keineswegs einzunehmen und auszufuumlllen Seine Berufstaumltigshykeit blieb fuumlr Buumlrger lebenslang eine Plage eine Quelle des Miszligmuts und der Verzweiflung Faumlhig dazu war allein die Po esie nur das innre Seelenstuumlckchen konnte die Klaumlnge der alten Melodie in sich aufnehmen und fortfuumlhren ~

Wie er uumlber Stolberg sagt Mich duumlnkt ich lese einen Propheten wenn ich seine Prosa lese 9 so schreibt er an Boie Uumlbrigens lebe und webe ich in den Reliques Sie sind meine Morgen und AbendAndacht 10 wie er von Shakespeare erklaumlrt Ihn kann man die Bibel der Dichter nenshynen 11 so urteilt er uumlber die unerwuumlnschten Rezensenten Und wenn der Engel Gabriel vom Himmel kaumlme und ihnen Poetik predigte so wuumlrde er dennoch nichts ausrichten 12 Mit voumllliger Unbefangenheit fast moumlchte man sagen mit der Unschuld des Selbstverstaumlndlichen wird das Vokabushylar beider Bereiche vermischt Die Aufloumlsung der Kodifikation kennt keine Grenzen mehr Denn die Saumlkularisation dient hier nicht dazu den religioumlsen Text als einen weltlicher Sprache integrierten Maszligstab fuumlr menschliches Reden und Handeln wirksam zu machen sondern sie nutzt ihn nur mehr als Mittel zu ihrer Erhoumlhung und Steigerung ein Buch

o Dt Museum Juli 1777 Zu FrLStolbergs raquouumlber die Fuumllle des Herzenslaquo 10 7477 Meint Percy Reliques of Ancient English Poctry London 1765 11 An Boie 15976 12 An Boie 31278

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wirft Licht auf das andere Buch aber - es ist nicht mehr das Licht der Erkenntnis dessen was gut und boumlse sei (Vgl S148 f)

Wie auf die Werke der Dichtkunst so faumlllt der Glanz dieses geborgten Lichtes auch auf die Dichter selbst Was Christus uumlber alle menschliche Macht und Groumlszlige erhebt wird jetzt auch dem Poeten zugesprochen sein Reich ist nicht von dieser Welt 13 und die Verheiszligungen die dem Chrishysten gegeben sind wandeln in der uumlbertragung ihre Formen nur gerade so viel wie noumltig ist um fuumlr den neuen Anwendungsbereidl braudlbar zu sein Einem unbekannten Empfaumlnger schreibt Buumlrger am 621772 meine Briefe sollen Ihnen hinfort wenigstens alle vier Wochen jenen biblischen Spruch parodieren Bleib den Musen getreuuml bis in den Tod so wird dir Apoll die Krone des ewigen Nachruhms geben Parodieren shydas meint hier nichtmiddotdie Entstellung den Entwurf eines scherzhaften oder boumlsartigen Gegenbildes sondern Akkomodation uumlbertragung und Anshypassung Es richtet sich nicht gegen den vorgegebenen Text aber es nimmt ihn auch nicht mehr ernst in seinem unbedingten und ausschlieszligenshyden Anspruch Schon deutet es in die Richtung einer uumlberarbeitung des Originals nach dem verbesserten Geschmack unsrer Zeit in einer neuen Einkleidung und Ordnung der Gedanken (v gl u S 269Anm 2) Dieser ) verbesserte Geschmack freilich ist kaum mehr als ein veraumlndertes thematisches Interesse In Wahrheit fehlt diesen uumlbertragungen geshylegentlich selbst der gute Geschmack und es kennzeichnet zugleich die

( uneingeschraumlnkte Verfuumlgbarkeit des religioumlsen Sprachgutes wenn Buumlrger auch auf betraumlchtliche Houmlhenunterschiede zwischen Ursprungs- und Anshywendungsbereich kaum mehr Ruumlcksicht nimmt An Goeckingk der ihm aus seiner fatalen aumluszligeren Situation heraushelfen will schreibt er anshystandslos wenn Sie mein Erloumlser seyn und mich den Musen wiedershyschenken koumlnnten - Sie wuumlrden mir das seyn was der Engel dem geshyfangenen Apostel in der Apostel Geschichte war 14 Ein gewisses Vershygnuumlgen am Miszligbrauch des Vorbildes und die ganz ernsthafte Absicht dem Sachverhalt Nachdrud und Gewicht zu geben sind hier wohl kaum zu trennen Aber ohne Zweifel steht dahinter ein Wertbewuszligtsein dem kein Preis zu hoch ist wenn es gilt den Anspruch und die Wuumlrde des poetischen Amtes zu verkuumlnden und durchzusetzen

So heiszligt es in den raquoGedanken uumlber die Beschaffenheit einer Deutschen uumlbersetzung des Homerlaquo Statt aller Untersuchunshygen uumlber diesen Punct koumlnnte der Streit wohl nicht angenehmer fuumlr den Zuschauer beigelegt werden als wenn der Genius unserer Literatur einen Mann von Genie und Kenntniszlig erweckte welcher zwischen die Zanshy

13 An Bollmann 22790 14 29675 Aus dem Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk hrsg A Sauer

Vjs f Litgesch III 1890 hier S 68

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kenden mit einer Uumlbersetzung traumlte uumlber welche man schreiben koumlnnte Der Nachwelt und der Ewigkeit heilig (B 135) Dem aufmerkshysamen Leser kann der Hintergrund der kleinen Szene nicht verborgen bleiben die hier entworfen wird Der Uumlbersetzer-Dichter er erscheint als ein neuer Moses welcher vom Gott seines Volkes erweckt unter die Israeliten tritt mit jenen Gebotstafeln die der christlichen Nachwelt und der Ewigkeit heilig sind (Selbst das Wort von den Zankenden die um die Homer-Uumlbersetzung miteinander im Streite liegen scheint auf den biblischen Bericht zu deuten Bei der Ruumlckkehr vom Sinai spricht Josua zu Moses Es ist ein Geschrei im Lager wie im Streit Er antshywortete Es ist nicht ein Geschrei gegen einander derer die obliegen und unterliegen sondern ich houmlre ein Geschrei eines Singetanzes Ex 3217 f)

Buumlrger selbst ist es der nach diesem Vorwort mit Proben seiner jamshybischen Lrbersetzung unter die Zankenden tritt - aber er zieht es vor dem Anspruch des Moses-Bildes auszuweichen Das bleibt dem Vollender uumlberlassen Fuumlr die eigene Person und das eigene Werk waumlhlt er ein anderes Modell Wenn ich gleich derjenige selbst nicht bin auf welchen unser Volk hoffet (denn ich muumlszligte den unversc~aumlmtesten Knabenstolz besitzen wenn ich mir einbildete daszlig ichs waumlre) so kann ich doch vielleicht zu der Ehre eines Vorlaumlufers dessen der kommen wird gelangen Auf den Worten des neutestamentlichen Vorlaumlufers Johannes des Taumlufers der die messianische Erwartung des Volkes von sich selber abweist und auf jenen Groumlszligeren lenkt der kommen wird gruumlndet die Haltung des raquoIliaslaquoshyObersetzers aus ihnen gewinnt sie dem eigenen Versuch dem Probestuumld~ Bedeutsamkeit und Gewicht Eine Entsprechung zur Saumlkularisationsform figuraler Gestaltung ist nicht zu verkennen Aber wenngleich hier wie dort eine dichterische Figur dem vorbildlichen Modell gleichgeformt wird J

geht es doch dort darum sie durchzusetzen und zu rechtfertigen auf der Grundlage des Imitatio-Denkens - hier aber sie zu steigern und zu ershyhoumlhen allein um ihrer selbst willen Der Dichter erscheint als Gottesmann weil er in dieser Gestalt dem Profanen enthoben ist

In der Behandlung aller Fragen die ihm wirklich am Herzen liegen greift Buumlrger zuruumlck auf den Sprach- und Formenschatz der ihm jahreshylang als Ausdrucksvorrat fuumlr das Wesentliche und Bedeutsame vermittelt wurde Bis in die Uumlberlegungen zum dichterischen Schaffensprozeszlig fuumlhrt das die deutlich unter der praumlgenden Kraft des Berichtes vom goumlttshylichen Schoumlpfungsakt stehen Jeder Kuumlnstler schreibt er an Schushybart sollte es sich daher zur Maxime madlen keines seiner Verke eher unter fremde Augen treten zu lassen als bis er nach Jahrelangem Anshyschauen alles dessen so er gemacht sagen koumlnnte Siehe da es ist alles sehr gut 15

15 12992 - Vgl die Goumlttliche Zufricdenhcits-Formel Geni 31

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Nichts anderes als eine uumlbertragung des reformatorischen Verhaumlltnisses zur Schrift und seine Anpassung an den Umgang mit dem dichterischen Vort ist sein Verantwortungsgefuumlhl und seine Treue gegenuumlber dem unshyverriickbaren Text ja der Glaube daszlig am Buchstaben das Heil haumlngen koumlnne Gleichguumlltig welcher Grad von bewuszligter Einsicht in diese Zushysammenhaumlnge auch vorgelegen haben mag Buumlrgers Aumluszligerungen uumlber solche Fragen speisen sich unablaumlssig aus der religioumlsen Sprachquelle So begleitet er Anfang 1784 die uumlbersendung eines Manuskriptes an Goeckingk mit der leidenschaftlichen Ermahnung Houmlrt ihr daszlig also nur nicht ein Puumlnctchen zu geschweige denn ein Buchstab oder gar ein Wort fehlt Ihr seht sonst Euumlres Ungluumlcks kein Ende weder hier zeitlich noch dort ewig

Die fuumlr Buumlrger so bezeichnende Neigung zur unermuumldlichen oft geradeshyzu kleinlich anmutenden uumlberarbeitung und Ausfeilung seiner Gedichte wird man in unmittelbarem Zusammenhang sehen muumlssen mit jener Heishyligung der Werktreue die der Protestantismus entwickelt hat und es ist charakteristisch fuumlr die Denkweise des ganzen Buumlrgerschen Freundesshykreises wenn Meyer ihm zu einigen Gedichten die er fuumlr den Musenshyalmanach schickt am 971793 entschuldigend schreibt sie haumltten noch Mangel der Feile die vor Gott und Menschen angenehm ist

Solche Einzelbeobachtungen und man koumlnnte sie beliebig vermehren machen deutlich wie folgerichtig der Weg von Molmerswende nach Halle seine Fortsetzung verlangt auch wenn er nun in andere Gefilde fuumlhrt wie tief der Erbzwang den Pfarrersohn bestimmt uumlberdem bin ich einmal ein Theologe gewesen schreibt er an Goeckingk und von der Zeit haumlngt mir illud Theologorum decantatissimum Dic et servasti animam immer noch an 16 Schon 1772 erklaumlrte er sich gegen seine bisherige wolshyluumlstige und taumlndelnde Dichtungsart von allen moralischen Sentimens entbloumlszligt weil er meinte damit verloumlre die Poesie ihr erhabenes Amt Lehrerin der Menschen zu seyn 17

Im engsten Zusammenhang damit muszlig nun Buumlrgers Glaubensartikel von der P 0 pul a ri t auml t der Poesie gesehen werden Denn wenn von der kirchlichen Wortverkuumlndigung her das Amt Lehrerin der Menschen zu seyn auf die Dichtung uumlbertragen wird so faumlllt ihr zugleich die Pflicht zu ins Breite zu wirken einem unbegrenzten Leserkreise zugaumlnglich und verstaumlndlich zu sein Buumlrger nennt als seine Maxime wenn nicht Alle n dennoch den Me ist e n - versteht sich ohne weder sich selbst noch der Dichtkunst etwas zu vergeben - zu gleicher Zeit zu gefallen 18 Nur

1G 3675 Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk S65 11 Brief an Boie 2 11 72 lB Die Problematik der Popularitaumlt die an dem eingeschobenen einschraumlnkenden

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dieGuumlnstlinge die dieses Ziel erreichen sind die gewaltigen Herzensshybezaumlhmer und Zauberer die ihre guumlldenen Staumlbe nie vergebens zucken und uumlber jedes Zei tal ter in immer lebendiger Kraft herrschen Nie verra uchen die Opfer auf ihren Altaumlren und unvergaumlnglich bluumlhen ihre Kraumlnze (B 178 f) Nur sie sprechen in Vollmacht Die Opferaltaumlre und der Bezug auf jene Staumlbe die vor dem Pharao von den aumlgyptischen Zauberern vergeblich dann aber von Moses und Aaron nie vergebens ausgereckt wurden 19

begruumlnden eine Priesterschaft der Wortverwaltung zu bestaumltigen die Wahrheit des Artikels woran ich festiglich glaube und welcher die Axe ist woherum meine ganze Poetik sich drehet Alle darstellende Bildshynerei kann und soll volksmaumlszligig seyn Denn das ist das Siegel ihrer Vollshykommenheit 20

Dieser Artikel von der Popularitaumlt der Dichtung Buumlrgers Glaubensshybekenntnis empfaumlngt in der Tat einen entscheidenden Anstoszlig aus der Predigt- und Seelsorgehaltung der er unter der vaumlterlichen Kanzel beshygegnete Wenn er scherzhaft an Meyer schreibt ein gottseliges Comite untersuche woher es wohl komme daszlig der Gottesdienst in der Unishyversitaumltskirche so sparsam besucht werde Ich denke mit Recht wird Euer gepredigtes Evangelium als eine der vornehmsten Ursachen oben an geshystellt werden (121 89) so liegt dem ganz der gleiche Gedanke zushygrunde der auch die Wirkungspoetik seiner Abhandlungen zur VolksshyPoesie bestimmt Es ist das saumlkularisierte Predigerethos das aus dem leishydenschaftlichen raquoHerzensausguszliglaquo spricht Durch Popularitaumlt mein ich soll die Poesie das wieder werden wozu sie Gott erschaffen und in die Seelen der Auserwaumlhlten gelegt hat Lebendiger Odem der uumlber aller Menschen Herzen und Sinnen hinweht Odem Gottes der vom Schlaf und Tod aufweckt Die Blinden sehend die Tauben houmlrend die Lahmen gehend und die Aussaumltzigen rein macht Und das Alles zum Heil und Frommen des Menschengeschlechts in diesem Jammerthaie (B 321) 21

Die Beobachtung solcher Umsetzungsvorgaumlnge die Buumlrgers theoretische Aumluszligerungen gedanklich und sprachlich bestimmen leitet zu unserer eigentlichen Frage nach der Bedeutung und Beschaffenheit der Saumlkularishysationsphaumlnomene in seinem d ich t e r i s c he n Werk

(wenn nicht gar aufhebenden) Satz zu entwickeln waumlre kann hier nicht ausgefuumlhrt werden Sie kommt in Schillers und A W Schlegels Buumlrger-Abhandlungen zur Sprache

Vgl Ex7-10 20 B S324 (Vorrede zur Ausgabe der Gedidlte 1778) 2 Ober eine ganz entsprechende neue Einstellung zum Volksganzen raquowelche die

seelsorgerliche Haltung des Vaters unmittelbar fortzusetzen scheint handelt H Schoumlffshyler Das literarische Zuumlrich 1925 S42f

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Unmittelbare und ausdruumlckliche biographische Zeugnisse fuumlr den Einshyfluszlig des religioumlsen Schrifttums gibt es kaum Immerhin finden sich einige Hinweise in den Aufzeichnungen Althofs die auf Buumlrgers eigenen freishylich sehr spaumlten muumlndlichen Auszligerungen beruhen Durch sie wird uumlbershyliefert daszlig der Junge bis in sein zehntes Lebensjahr hinein durchaus nicht mehr lernte als Lesen und Schreiben wohl aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse behielt was er sowohl in der Bibel als im Gesangshybuche las ja daszlig er wie er meinte das ganze Gesangbuch ohne Schwieshyrigkeit auswendig gelernt haben wuumlrde (B 431) Von den houmlchst aufshyschluszligreichen Einzelheiten dieser fruumlh gelegten Bibel- und Gesangbuch- kenntnisse muszlig spaumlter die Rede sein Hier wird zunaumlchst nur Althofs Mitteilung wichtig daszlig schon der Knabe ohne durch andere Muster als welche Bibel und Gesangbuch ihm lieferten dazu aufgefordert zu werden anfing Verse zu machen ehe er noch die allerersten Elemente der Grammatik erlernt hattelaquo (B 431) Das ist gewiszlig nicht so zu verstehen als habe der junge Verseschmied damals noch kein grammatisch fehlershyfreies Deutsch sprechen oder schreiben koumlnnen Grammatik lernte man an der Fremdsprache Buumlrger begegnete ihr also im lateinischen Untershyricht - und cr konnte ungeachtet aller Schlaumlge in zwei Jahren noch nicht Mensa decliniren (B 431) Diese Randbemerkung macht einsichtig

( daszlig es sich bei den poetischen Anregungen durch Bibel und Kirchenlied um ganz unreflektierte dem kontrollierenden Sprach- und Kunstbewuszligtshysein entzogene Vorgaumlnge handelt Das deckt sich voumlllig mit Althofs Aufshyzeichnung Buumlrger versicherte ferner So wenig diese Fertigkeiten als irgend eine andere Kenntniszlig seines nachfolgenden Lebens bis in sein maumlnnliches Alter haumltten ihm die geringste Anstrengung oder Muumlhe geshykostet es waumlre auch sehr wenig was er von Lehrern und aus Buumlchern geshylernt haumltte da es ihm immer in den Lehrstunden an Aufmerksamkeit und auszliger denselben an Geduld gefehlet ein Buch anhaltend aus zu lesen Er muumlszligte sich oft innerlich wundern wenn er einen Blick in die Vorrathsshykammer seiner Kenntnisse thaumlte wie und woher der Plunder alle hinein gekommen Das Meiste waumlre ihm hier und da und dort und uumlberall wie VOn selbst gleichsam angeflogen (B 431) Nichts konnte ihm so sehr von selbst anfliegen wie die Worte Bilder und Formen der heiligen Texte die von den Jugendjahren im vaumlterlichen Pfarrhaus bis zum Abbruch des theologischen Studiums in Halle sein taumlglicher Umgang waren Was aber fuumlr ihre Aufnahme gilt ist nicht weniger guumlltig fuumlr ihre Verwendung die Saumlkularisationsvorgaumlnge entziehen sich weithin dem Bewuszligtsein des Schreibenden Durch ihn hindurch aber oft ohne seine Absicht und ohne sein Dazutun wirkt hier die religioumlse Sprache auf das Kunstwerk ein

Der eigentliche Zugang zu diesen Phaumlnomenen kann deshalb nicht durch die Beschaumlftigung mit der Person des Autors gewonnen werden

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welches Forschers Geist hat Buumlrger selbst erklaumlrt kann sich immer so tief und innig in den Geist des Kuumlnstlers versenken um etwas mit Sicherheit auszumachen welches dieser oft selbst nicht recht weiszlig naumlmshylich was fuumlr Bestinunungsgruumlnde jeglichen seiner Schritte zum Ziele leitet haben 22 Nur im Ziele selbst im Zustandegekommenen WIrd wohl der eine oder andere Bestimmungsgrund erkennbar der Weg dahin fuumlhrt also nicht uumlber die Versenkung in den Geist des Kuumlnstlers sondern uumlber die Betrachtung des Kunstwerkes selbst

In dem 1782 entstandenen kleinen Gedicht raquoDer klug e Heldlaquo23 wird erzaumlhlt wie ein junger Soldat um der Gefahr zu entgehen am Tag vor der Schlacht einen Urlaub erbittet angeblich damit sein sterbender Vater ihm noch den Abschiedskuszlig geben koumlnne Die letzten Verse lauten

Sehr wohl versetzt der Chef und laumlchelt vor sich nieder Reis hurtig ab mein Sohn Denn nach der Bibel muszlig Dein Vater nach Gebuumlhr von dir geehret werden Auf daszlig dirs wohlergeh und du lang lebst auf Erden

Von verschiedenen Seiten aus wird einsichtig welch besonderes Gewicht dieser Schluszlig traumlgt ja daszlig das ganze Gedicht eigentlich auf ihn hin anshygelegt ist 24

bull Schon der Gespraumlchsablauf weckt eine Spannung auf die Beshygruumlndung fuumlr die Zustimmung des Chefs der den Vorwand ja durchshyschaut Zugleich trennt das Druckbild durch einen Gedankenstrich und folgenden Sinnabschnitt die hier angefuumlhrten letzten Zeilen von den vorshyangehenden und nachdem schon zuvor die wechselnd vier- und fuumlnfshyhebigen Jamben sich zweimal gleichsam praumlludierend ins alexandrinische Maszlig vorgewagt hatten gewinnt der Schluszligteil in dem die Alexandriner sich voumlllig durchgesetzt haben auch metrische Bedeutungssteigerung Entshyscheidend aber ist der Pointencharakter des Ausgangs und dessen eigentshylicher Uberraschungseffekt entsteht durch die ironische Beziehung des vierten Gebotes auf die Absichten des Soldaten Den wichtigsten Beitrag zur Schluszligbeschwerung des Gedichtes leisten diese beiden zitierenden len mit denen ein vorgeformtes und vorbelastetes Redestuumlck als schwerer Endakzent dem vorangehenden Berichte aufgesetzt wird

~2 Ueber die Wirkung des Schleiers in Werken der darstellenden Kunstlaquo TI S 340 23 Die Gedichte werden im folgenden zitiert nach der Ausgabe von E COllsentius

2 Bde 1914 Hier I S238 21 VgL E Staigers Begriff der nproblematischen Dichtung (Grundbegriffe der

Poetik LAufl 1951 S162ff)

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Schluszligbeschwerungen sind fuumlr Buumlrgers Lyrik charakteristisch Sie hershyvorzubringen erscheint die eben beobachtete Verbindung eines praumlforshymierten Sprachstuumlckes mit vorausgehenden freien Formationen beshysonders geeignet - und es ist bemerkenswert daszlig der strukturell so beshydeutsame pointierte Ausgang tatsaumlchlich in nahezu einem Drittel aller Gedichte Buumlrgers auf den christlichen Sprachbereich zuruumlckweist

Wo seine Gedichtausgaumlnge einen formelhaften Redeschluszlig woumlrtlich oder nur geringfuumlgig abgewandelt uumlbernehmen wird die Endbetonung am spuumlrbarsten Aus einer Fuumllle von Beispielen koumlnnte man dafuumlr nennen

Gott lass es dem Edlen doch wohl ergehn Das bet ich herzinniglich Amen (I 207)

Gott behuumlte liebe Seele Gott behuumlte dich davor (I 32)

o Paradiesesglaube Erhalt und staumlrke mich (I 38) Komm Von hinnen laszlig uns scheiden Eia waumlren wir schon da - (I 68) Dein Name sei gebenedeit Von nun an bis in Ewigkeit (I 45)

Der jeweilige Ursprungsort dieser Schluszligformeln bedarf keiner Erlaumluteshyrung Was sie - in einen neuen Zusammenhang versetzt - fuumlr den Aufshybau des Gedichtes leisten koumlnnen zeigt sich im ersten Beispiel (raquoDie Kuhlaquo) mit der Hervorhebung des Erzaumlhlers der diesen Epilog spricht und mit der Zusammenfassung des Gedichtes zur geschlossenen Form im letzten Beispiel (raquoDankliedlaquo) in dem die schlieszligenden Zeilen des Gedichtes die der Anfangsstrophe wieder aufnehmen und die preisende Aufreihung der Gottesgaben mit einer aus dem liturgischen Ursprungsort der Formel heruumlberwirkenden Kraft zusammengreifen und erfuumlllen im Benedeien des goumlttlichen Gebers Von solchen Leistungen wird noch die Rede sein

Aumlhnliche Wirkungen entfalten die Schluumlsse in denen Bibelzitate parashyphrasiert und auf die vorangehenden Verse bezogen werden In raquoSchoumln Suschenlaquo etwa geben die letzten Zeilen

Drum Lieb ist wohl wie Wind im Meer Sein Sausen ihr wohl houmlrt Allein ihr wisset nicht woher Wiszligt nicht wohin er faumlhrt (I 155)

die aus Joh 3 8 hervorgehen Antwort auf die Eingangsfrage des Geshydichtes durch sie erfuumlllt es sich in der inneren Form von Raumltselstellung und Raumltselloumlsung Vergleichbares bewirkt der Schluszlig von raquoDie Eleshy

13 7439 Schoumlne Saumlkularisation (Palaestra 226) 193

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mentelaquo nachdem die Liebe als allbewegende Triebkraft der Natur geshyschildert worden ist zieht der Ausgang die Lehre fuumlr den lieblos geshywordenen Menschen

Du bist ein eiteltoumlnend Erz Bist leerer Klingklang einer Schelle Und Tosen einer Wasserwelle (I 70)

Die auffallend haumlufige Verwendung solcher zusammenfassenden abshyrundenden aufloumlsenden erklaumlrenden pointierenden Schluszligbeschwerunshygen die der Dichter dem christlichen Sprachbereich entlehnt muszlig durchshyaus als Charakteristikum Buumlrgerseher Gedichtsstruktur verstanden werden

Ober die Bestimmung ihrer sprachlichen Herkunft hinaus sind diese beschwerten Ausgaumlnge in einigen Verwendungs faumlllen nun auch auf eine genauer bestimmbare Form des Sprechens zu beziehen Da endet etwa Die Entfuumlhrunglaquo mit den Versen

So segne dann der auf uns sieht Euch segne Gott von Glied zu Glied Auf Wechselt Ring und Haumlnde Und hiermit Lied am Ende (I 181)

Das ist die Spredlweise des Geistlichen und in der Tat nimmt ja hier am Ende des houmldlst wel dichen Balladengeschehens der Vater des entfuumlhrshyten Fraumluleins mit Segen und Ringwechsel eine priesterliche Handlung vor Diese personale Gleichung macht aufmerksam auf eine grundsaumltzliche typologische Entsprechung zwisdlen der Schluszligbeschwerung des Gedichshytes und geistlidler Redeweise Nicht nur das durchgehend religioumls beshystimmte liturgische Sprechen endet mit einer gewichtigen Schluszligformell des Gebetes Segens oder Lobpreises auch die nicht mehr formgebundene freie Rede das Gespraumlch die Ansprache so zu schlieszligen daszlig weltlidles Sprechen am Ende durch einen religioumlsen Bezug ein praumlformiertes Redeshystuumlck erhoumlht gekroumlnt gewichtig beschlossen wird ist fuumlr den Geistlichen offenbar bis heute bezeichnend

Diese durch vorgegebene Schluszligformeln charakterisierte Redeweise zeigt ganz die gleiche Grundform die in der Untersuchung der Buumlrgershysehen Gedichte sichtbar wird - wie ja jene Gepflogenheit an weltliche Rede einen oft geradezu gewaltsam angehaumlngten formelhaft-religioumlsen Schluszlig zu fuumlgen selbst in dem oben genannten Briefausgang noch spuumlrbar wird ich heuumlrathete wol ein Kuh wenn sie nur an der bewusten Vershynunft keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte didl bei dieser Philoshysophie Amen Amen GABuumlrger Unter diesem Blickwinkel gewinnt die Stelle geradezu karikierende Zuumlge

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Beispielhaft fuumlr eine solche Analogie der Sprechweisen scheinen etwa die Schluumlsse

Die Liebe segne dich und sie Mit ihrem besten Segen (148) Die Liebe sagt Verdammet nicht Daszlig man nicht Euch verdammet (I 187) Diesen Trinker gnade Gott Lass ihn nicht verderben (I 73)

Sie aber deuten auf eine Analogie-Antithese zwischen dem Pfarrer als dem Diener der christlichen Kirche und dem Poeten der eines seiner Geshydichte mit den Worten schlieszligt

Doch wisse du Apolls Religion Schenkt dir die Glaubenspflicht und dringt auf gute

Werke (I 248) Als Gottesdienst der Wortverwaltung hat Buumlrger sein dichterisd1cs Amt verstanden

Bin geweiht zum Priester des Apoll Mit des Gottes Kranz und goldnem Stabe Seines Geistes bin ich froh und voll Warum nicht auch frommer Wundergabe - (I 94)

Und am Ende des Gedichtes (raquoGeweih tes Ang ebind e zu Lo uis ens Geburtstagelaquo) tritt diese vaumlterliche Mitgift diese Sprechhaltung des Geistlichen ganz ausdruumlcklich ins Wort

Freud und Lust von keinem Harm vergaumlllt Sei durch dich Ihr in die Brust gegossen Freud an Gottes ganzer weiter Welt Mich den Priester auch mit eingeschlossen

shy

Die Beobachtung der Schluszligbeschwerung lenkt auf die Frage nach ihrer Integration in das Gesamtgefuumlge des Gedichtes und nach der Wirkung die sie dort entfaltet raquoDer kluge Heldlaquo kann darauf kaum schon ershyschoumlpfende Antwort geben die massive Pointicrung die hier durch den Endakzent zustande kommt ist nur eine unter vielen Moumlglichkeiten seiner Leistung Weit komplizierter liegen diese Verhaumlltnisse in Buumlrgers Nachshydichtung der raquoCo n f ess i 0laquo des Archipoeta 25

25 Das Gedicht war Buumlrger in einer dem Walter Mapes zugeschriebenen Fassung beshykannt geworden (vgl seinen Brief an Sprickmann vom 21077) deutliche Bezuumlge zeigen sich zu seinen Strophen 12 13 16-19 Zitiert wird die lat Vorlage nach dem auf 5 Strophen verkuumlrzten Abdruck den Buumlrger in der Ausgabe seiner Gedichte VOll

1778 auf S 290 f gegeben hat (Ausgenommen die beiden dort nicht mitgeteilten hier auf S199 zitierten Verse Voluptatis avidus laquo)

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Zechlied

Im will einst bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Alles meinen Wein nur nimt Lass im frohen Erben Nam der letzten Olung soll Hefen nom mim faumlrben Dann zertruumlmmre mein Pokal In zehntausend Smerben Jedermann hat von Natur Seine sondre Weise Mir gelinget jedes Werk Nur nam Trank und Speise Speis und Trank erhalten mim In dem remten Gleise Wer gut smmiert der faumlhrt aum gut Auf der Lebensreise Im bin gar ein armer Wimt Bin die feigste Memme Halten Durst und Hungerqual Mim in Angst und Klemme Smon ein Knaumlbchen smuumlttelt mim Was im aum mim stemme Einem Riesen halt im Stand Wann im zem und smlemme Aumlmter Wein ist aumlmtes 01 Zur Verstandeslampe Gibt der Seele Kraft und Schwung Bis zum Sternenkampe Witz und Weisheit dunsten auf Aus gefuumlllter Wampe Baszlig gluumlckt Harfenspiel und Sang Wann im brav smlampampe Nuumlchtern bin im immerdar Nur ein Harfenstuumlmper Mir erlahmen Hand und Griff Welken Haupt und Wimper Wann der Wein in Himmelsklang Wandelt mein Geklimper Sind Homer und Ossian Gegen mim nur Stuumlmper

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Nimmer hat durch meinen Mund Hoher Geist gesungen Bis ich meinen lieben Bauch Weidlich vollgeschlungen Wann mein Kapitolium Baechus Kraft erschwungen Sing und red ich wundersam Gar in fremden Zungen Drum will ich bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Nach der letzten oumllung soll Hefen noch mich faumlrben Engelchoumlre weihen dann Mich zum Nektarerben Diesen Trinker gnade Gott

Lass ihn nicht verderben (1 72 f)

Da wird mit der ersten Strophe das Bekenntnis zu einer Lebensfuumlhrung abgelegt und geradezu beschworen die selbst eingedenk des Todes noch ganz im Irdischen verharrt Fuumlnf folgende Strophen dann begruumlnden den Entschluszlig den die erste verkuumlndete auch ihre Aussagen bleiben durchshyaus im Bereiche des weingeweihten Diesseits Die letzte aber tritt nachshydem sie zunaumlchst das Bekenntnis der ersten aufgenommen in eine durchshyaus andere Sphaumlre Zwar setzt auch dort das irdische Trinkerleben sich fort aber der Spott der eben noch die letzte oumllung traf der Entschluszlig der ersten Strophe im Tode den Pokal zu zertruumlmmern lassen dieses Ende nicht erwarten

Ut dicant eum venerint angelorum chori Deus sit propitius huic potatori

heiszligt es in der raquoC 0 n fes s i 0laquo und solcher Gesang der Engelchoumlre beshyschlieszligt nun auch Buumlrgers koumlnigliches Sauflied 26 ein im religioumlsen Sprachbereich ausgebildetes Gebet um Gnade fuumlr den Suumlnder 27 - an dessen Stelle nun der Trinker steht - setzt den kraumlftigen Endakzent Wenn so unvermittelt das Sauflied in die Gebetsformel muumlndet scheint sich im Wortschatz in der Sprechhaltung im Hinblick auf die Geschehnisshyebene ein bruchhafter Wechsel zu vollziehen der die Einheitlichkeit des ganzen Gedichtes in Frage stellt Zwar folgen Vers- und Strophenbau zushygleich mit dem Reimschema der gtConfessiolaquo entlehnt ebenso wie die rhythmische Anlage des Liedes gleichbleibenden Aufbauprinzipien und stiften so eine formale Geschlossenheit des Ganzen aber gerade das treibt

28 Brief an Boie 18977 27 Vgl Lue1B 13 Deus propitius esto mihi peceatori

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den Umbruch der Schluszligbeschwerung nur um so kraumlftiger heraus Daszlig hier in Wahrheit keineswegs ein Bruch vorliegt daszlig dieser Sphaumlrenshywechsel durchaus nicht unvermittelt geschieht wird jedoch einsichtig sobald man die Sprache der Mittelstrophen schaumlrfer ins Auge faszligt Dann zeigt sich daszlig hinter der Bedeutungsoberflaumlche der Wortaussage vorshygeformtes Sprachgut aus eben der Sphaumlre wirksam ist zu der die schlieshyszligenden Verse sich erheben

Dem Wein dem der Sprechende selbst eingedenk des irdischen Endes noch sein Dasein verschreibt setzt die zweite Strophe die Speise zur Seite Beide Trank und Speise sind fuumlr das Leben noumltig - doch offenshybar nicht im Sinne notwendiger Ernaumlhrung Das erhalten meint kein einfad1es am-Leben-erhalten sondern ein im rechten Gleise im rechshyten Leben erhalten Das Schluszligwort der Strophe laumlszligt aufmerken Lebensreise erscheint als ein deutlich vorbelastetes vorgeformtes Sprad1stuumlck der religioumlsen Sphaumlre das (ausgehend von Gen 47 9) die christliche Deutung des Lebens als einer Reise durch die Weh zum jenshyseitigen Ziele in sich faszligt Trank und Speise in solchem Bedeutungsfeld als Hilfen die Lebensreise recht zu fuumlhren sie machen hinter dem lauten Gesang des Trinkers im fuumlnften Vers die liturgische Stimme vershynehmbar die Stimme des Geistlichen der die Hostie und den Wein reicht Nehmet hin und esset Nehmet hin und trinket das staumlrke und erhalte euch im rechten Glauben zum ewigen Leben Amenlaquo 28 Von andeshyrem Trank und anderer Speise als der vom Vater dargebotenen spricht der Sohn Doch im Bekenntnis des Zechlieds klingen noch immer jene Worte nach die von der Kraft des heiligen Mahles kuumlndeten weil das 11edium der Sprad1e die mit der Abendmahlsliturgie in sie eingeganshygenen Bedeutungsenergien bewahrt und fuumlr die Dichtung verfuumlgbar macht

Von der zweiten Strophe aufgerufen bleibt dieser Bezug auch in der dritten vierten und fuumlnften lebendig Hinter dem Zecher den Essen und Trinken der Angst und Schwaumld1e entheben so daszlig er einem Riesen standshyzuhalten vennag steigt das Bild des gottgestaumlrkten David herauf der dem Goliath standhaumllt Der aumlchte Wein und das aumldlte oumll derert Kraft die Seele zum Sternengewoumllbe erhebt gewinnen neue Bedeutung Hinter dem Harfenspieler und dem Himmelsklang seines Gesanges toumlnt leise der Psalm Davids zur Harfe zu singen und in der trunkseligen Prahshylerei der Erhebung uumlber Homer und Ossian mag damit eine verborgene Rechtfertigung solcher Selbsteinschaumltzung sich andeuten Sind die uumlbershytragenen Worte und Bilder hier dem Text des raquoZechlieds so weitshy

e8 In der Abendmahlsliturgie folgt diese in verschiedenen Fassungen gebraumluchliche Spclldeformc1 auf den Einsetzungsbericht Ausfuumlhrlich daruumlber P Graff Geschichte der Aufloumlsung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschshylands I 1937 S 197 ff

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gehend anverwandelt daszlig sie als fremdes Sprachgut kaum erkennbar werden heben sie sich in der sechsten Strophe doch wieder staumlrker ab erst der Abglanz der Erleuchtungsflammen des Pfingstwunders erhellt die Reden des Trunkenen als einwundersames Reden gar in fremden Zungen

Ein Vergleich mit dem Vorbild der lateinischen Beichtparodie der dies e Durchsichtigkeit auf den hinter der eigentlichen Aussage liegenden Sprach- und Bildbereich gaumlnzlich fehlt zeigt daszlig in Buumlrgers uumlbertragung eine sehr bewuszligte Absicht waltete Man halte gegen seine sechste Strophe etwa die Verse

Mihi nunquam spiritus prophetiae datur Non nisi cum fuerit venter bene satur Cum in arce cerebri Bacchus dominatur In me Phoebus irruit ac miranda fatur

Die Grundhaltung beider Gedichte unterscheidet sich wesentlich Mit den fuumlr die ganze raquoC 0 n fes s i 0laquo verbindlichen Versen

Voluptatis avidus magis quam salutis Mortuus in anima curam gero cutis

setzt der Archipoeta Diesseits und Jenseits gegeneinander und faumlllt seine klare Entscheidung fuumlr das eine gegen das andere Buumlrger aber verschmilzt die Bereiche Getragen von den sprachgebundenen Bedeutungsenergien die aus dem christlichen in einen houmlchst weltlichen Bereich des Sprechens uumlberfuumlhrt werden erhebt der bekenntnishafte Lebensbericht des Zechers sich zum Heilsbericht zum Preis einer uumlberirdischen und das Irdische vershywandelnden Macht die am Sprechenden wirksam wird Erst diese Spuren des weihevoll-heiligen Pathos dem Weine des schwoumlrenden protzenden singenden Zechers und Schlemmers beigemischt als ein verborgenes Arom bewirken jenes Entzuumlcken das Buumlrger mit der Lektuumlre des Gedichtes seinen Freunden verhieszlig29 Sie bereiten die schluszligbeschwerende Gebetsshyformel vor und bewirken daszlig statt eines Bruches hier der Aufschwung in jene Sphaumlre erfolgt die am inneren Aufbau des Liedes schon von Anshyfang an beteiligt war So vollendet sich das bekennende Sprechen des raquoZechliedslaquo am Ende in der inneren Form einer ihrer urspriinglichen Erfuumlllung mit christlichem Gehalt entleerten Heilsverkuumlndigung

i-

Mit jener Sprechweise des Geistlichen auf welche die Schluszligbeschweshyrung deutete haumlngt diese Form der He i I sv e r k uuml n d i gun g aufs engste zusammen Sie steht in Buumlrgers Werk durchaus nicht vereinzelt die im

29 Brief an Boie 18977

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religioumlsen Sprachgebrauch ausgebildeten Formmodelle finden hier zahlshyreiche und vielfaumlltige Entsprechungen die um so deutlicher erkennbar werden als sie noch immer merkliche Spuren auch des urspruumlnglichen Gehaltes tragen Sie erweisen sich als weltliche Kontrafakturen der relishygioumlsen Vorbilder 30 von denen sie nicht allein das organisierende Formshyprinzip beziehen sondern zugleich jenen Zuwachs an Bedeutungshaumlhe und Wirkungskraft den das Modell nur dann hergibt wenn es selbst noch als bedeutungshaltig und wirkungsfaumlhig intakt bleibt Die Annaumlherung auch der inhaltlichen Erfuumlllung dieser saumlkularisierten Formen an den christshylichen Denk- und Sprachbereich befoumlrdert ja begruumlndet ihre reichhaltige Erscheinung in Buumlrgers Lyrik

Ich glaube Luther wuumlrde dies Gedicht fuumlr ein wuumlrdiges Kirchenlied anerkannt haben schrieb AWSchlegel uumlber Die Elementelaquo (B 518) Schon mit dem Eingangsvers tritt es in die Form der Lehrvershykuumlndigung Horch Hohe Dinge lehr ich dich (I 68) Und diese Lehre vom Wesen der Elemente ist mehr als bloszlige Kundgabe Sie wird Maszligstab fuumlr den Belehrten Richtschnur Grundlage fuumlr das kommende Gericht Immer dringlicher wendet sie sich im Fortgang des Gedichtes an den Houmlrer selbst Sieh hin und her und Nun pruumlfe dich bis mit den oben (S 194) genannten Schluszligversen das lehrende Sprechen ins urteilende und verdammende uumlbergeht

Eine besondere Form der lehrhaft-bekennenden Rede macht das raquoDankl iedlaquo sichtbar (I 44ff) das Buumlrger urspruumlnglich Psalm nennen wollte und zu dem Boie ihm schrieb den denkenden Christen wird es entzuumlcken und erbauen aber den groumlszligten Haufen und Pastor Zuch - (12972) Es zeigt eine ganz symmetrische Anlage Die Eingangsstrophe wendet sich lobend an Gott den Schoumlpfer sechs folgende Strophen reihen auf was der Sprechende aus seiner Hand empfangen hat (daszlig es dabei ausgerechnet um die Liebe den Wein und den Gesang geht muszligte Pastor Zuch freilich wurmen) zwei Mittelstrophen bekennen daszlig die Fuumllle der Schoumlpfergaben nicht zu zaumlhlen sei (Wer zaumlhlt die Gaben alle Wer) und wenden sich auf den Sprecher selbst wieder sechs Strophen nennen dann die leiblichen und geistigen Eigenschaften die Gott ihm verliehen hat Hinter dieser Gaben Wunderschau aber wird Luthers Erklaumlrung zum 1 Artikel des Glaubensbekenntnisses sichtbar in der es nach der FrageWas ist das heiszligt Ich glaube daszlig mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mit Leib und Seele Augen Ohren und alle Glieshyder Vernunft und alle Sinne gegeben hat Gemaumlszlig den Schluszligworten der Erklaumlrung des alles ich ihm zu danken und zu loben schuldig bin muumlndet die letzte Strophe preisend und benedeiend in den liturgisch beshy

ao Zur Begriffsbestimmung dieser Saumlkularisationskategorie vgL S 289 ff

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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INHALT

I

EINFuumlHRUNG 7

II

POSTFIGURALE GESTALTUNG 37

Andreas Gryphius

III

WIEDERHOLUNG DER EXEMPLARISCHEN BEGEBENHEIT 92

Jakob Michael Reinhold Lenz

IV

DIDAKTISCHE VERWEISUNG 139

Jeremias Gotthelf

V

WELTLICHE KONTRAFAKTUR 181

Gottfried August Buumlrger

VI

uumlBERDAUERNDE TEMPORALSTRUKTUR 225

Gottfried Benn

VII

ZUR TYPOLOGIE DER S~KULARISATIONSFORMEN 268

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v

WELTLICHE KONTRAFAKTUR

Gottfried August Buumlrger

Ins Kirchenbuch von Molmerswende im Mansfeldischen schrieb der dashymalige Prediger des kleinen Doumlrfchens daszlig ihm am letzten Tag des zu Ende gehenden Jahres am 31Dezember 1747 ein Kind geboren worden sei Gottfried August Buumlrger Und die Besonderheit dieser Geburtsstunde wohl hat spaumlter den Sohn versucht der Wahrheit ein wenig Dichtung beishyzumischen Denn er war ein Poet geworden und hielt sich nicht fuumlr einen Spaumltling sondern fuumlr einen Beginnenden So erzaumlhlte er dem Arzt Ludwig Christoph Althof er sei geboren worden in der ersten Stunde des Jahres 1748 unter den Gesaumlngen womit man nach alter Sitte das angekommene neue Jahr vom Kirchthurme herab zu begruumlszligen pflegte 1

In viele seiner Lebensbeschreibungen hattJiese kleine Geburtslegendesich eingeschlichen und es scheint als habe Buumlrger ohne das zu woilen mit ihr auf eine tiefere Wahrheit gedeutet als die der aumluszligeren Genauigshykeit das erste was das Kind von der Welt empfing was ihm gleichsam in die Wiege gelegt wurde sind Worte einer Dichtung gewesen Verse aus den groszligen Neujahrsliedern der christlichen Kirche

Die beiden Paten die ihn zur Taufe trugen waren Geistliche wie sein Vater In das Haus des einen der die benachbarte Pans felder Pfarre vershywaltete und den Buumlrger mit seinem raquoPfarrer von Taubenhainlaquo geshymeint haben soll kam der Junge eine Zeitlang jeden Tag uumlber die Asseshyburgschen Felder hinuumlber um zusammen mit den dortigen Pastorskindern von einem Informator unterrichtet zu werden Aber im uumlbrigen wuchs er zwoumllf Jahre lang im vaumlterlichen Pfarrhause heran lernte nur wenig anderes als solche Lieder wie seine Geburtslegende sie erwaumlhnt die Geshyschichten der Bibel und das Lesen und Schreiben das er an ihnen uumlbte Denn mit dem Lateinischen haperte es sehr seinen Vater einen Liebshyhaber von Tobak und Bequemlichkeit kam es hart an einmal ein Viertelshystuumlndchen auf den Unterricht des Sohnes zu verwenden zumal er ihn

lLChr Althof Einige Nachrichten von den vornehmsten Lebensumstaumlnden Gottshytried Auiu~ Buumlrg~rs nebst einem Beitrag zur Charakteristik desselben 1798 (Zit nach d Abdruck in Buumlrgers saumlmmtL Werke hrsg AWBohtz 1835 S429ff Hier 5430) - Selbst Buumlrgers Grabstein nennt als Geburtstag den 1 Januar 1748

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fuumlr einen Dummkopf hielt von dem ohnehin nicht viel zu erwarten waumlre Und die Mutter hatte selbst kaum gelernt leserlich zu schreiben

Der Zwoumllfjaumlhrige verlieszlig das Vaterhaus ging zum Groszligvater nach Aschersleben und besuchte dort die lateinische Schule lutherischer Konshyfession Auch hier klingen die alten Kirchenlieder wieder auf von Amts wegen hatten die Scholaren an den Leichenkondukten teilzunehmen woshybei es auszligerordentlich viel zu singen gab 2 1760 dann fuumlhrt man Buumlrshyger als Schuumller des Koumlniglichen Paumldagogiums zu flaUe das ein orthodoxes Luthertum mit pietistischem Einschlag vertritt Neben dem Religionsshyunterricht und zahlreichen Andachtsuumlbungen betreiben die Lehrer eine spezielle cura animarum auf den Schuumllerstuben es wird von haumlufiger Kommunion berichtet der rigorose Seelenpruumlfungen vorangehen noch bei Tische liest man aus geistlichen Buumlchern vor und des Schulinspektors scharfer Tadel ergeht selbst an die Praumlzeptoren wenn sie versuchen dashybei in eine Zeitung zu schielen a

Nach drei Jahren holt der Groszligvater den Jungen aus Halle zuruumld Es ist ein alter eigensinniger Mann schreibt der Inspektor am 5 Sepshytember 1763 in seine Akten~p~r kleine Engel sitzt in Prima ein Halbshyjahr und ist ohngefaumlhr 15 Jahr a1t~-Er-welntemiddotunc1middotmiddotl5at ich moumlchte doch seine Stelle noch nicht vergeben er wollte beim Groszligvater um Prolonshygation bitten Aber der alte Mann hats abgeschlagen 4

Im Jahr darauf bezieht der Sechzehn jaumlhrige die Universitaumlt Halle um Theologie zu studieren Althof hat erklaumlrt daszlig diese Studienrichtung seiner eigenen Neigung ganz entgegen gewesen und durch den groszligvaumltershylichen Willen bestimmt worden sei Buumlrger haumltte lieber jedes andere Fach gewaumlhlt aber der alte Mann von dem er zumal nach dem bald darauf erfolgten Tode seines Vaters gaumlnzlich abhing habe durchaus einen Geistlichen aus ihm machen wollen Inwieweit das auch im Willen des Vaters lag der selbst ja auch in Halle sein Theologiestudium absolviert hatte bleibt ungewiszlig Er war nicht mehr am Leben als der junge Theoshy

2 HProumlhle GABuumlrger Sein Leben u s Dichtungen 1856 S28 3 VgL ADaniel Buumlrger auf der Schule (Progr d kgL Paumldagogiums zu Halle 1845)

Wiederabdruck in Zerstreute Blaumltter 1886 S 47 f Althof berichtet (a a O S432) daszlig einer der Lehrer mit seinen Schuumllern uumlbungen im Versemachen veranstaltet habe indem er ihnen Anfangs Verse aus den besten Deutschen Dichtern in versetzter Ordshynung der Woumlrter aufgegeben um sie wieder in die metrische Ordnung zu bringen und daszlig sich bei Buumlrger schon damals die entschiedene Anlage zur Dichtkunst und die besondere Vorliebe fuumlr die Volks-Poesie deutlich verrathen haben Auch hier ist freishylich zu vermuten daszlig die Neigung des alternden Buumlrger und seines Biographen zur Leg~ndenbildung uumlber die Tatsachen hinweggeht Denn Danicl (a a O S68) der aus den Schulakten die genauen Lektionsplaumlne und Schuumllerlisten zusammensuchte hat festshygestellt daszlig bei dem betreffenden Praumlzeptor niemals oratorischen oder deutshyschen Unterricht gehabt hat in dem allein Raum fuumlr solche Versuumlbungen gewesen sein koumlnnte

4 A Daniel S 72 5 A a O S 432

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loge schon nach wenigen Semestern vom Groszligvater nach Aschersleben zuruumlckgerufen Halle wieder verlieszlig und die Gottesgelehrsamkeit aufshygab 1768 ging Buumlrger aufs neue zur Universitaumlt diesmal nach Goumlttingen - zum Studium der Jurisprudenz~

Von dieser Zeit an zeigen seine Briefe eine zunehmende Entfernung von der strengen lutherischen Orthodoxie die die ersten zwanzig Jahre seines Lebens bestimmt hatte Ein zuverlaumlssigeres Zeugnis als die sehr unterschiedlich gefaumlrbten Gelegenheitsaumluszligerungen uumlber sein Verhaumlltnis zum Christentum gibt dafuumlr die Art des Umgangs mit dem angestammshyten religioumlsen Sprachgut Bibelworte Verse des Kirchenliedes und liturshygische Formeln vor allem werden voumlllig unbedenklich aus dem geheiligten Kodex geloumlst und ohne die mindeste Ruumlcksicht auf ihren ehrwuumlrdigen Ursprung gaumlnzlich auszligerreligioumlsen ja vorzugsweise spielerischen und scherzhaften Zwecken dienstbar gemacht Sie sind gerade gut genug

6 Die Buumlrger-Biographen pflegen die Hallenser Studentenzeit in duumlsteren Farben zu malen Da ist der Umgang mit Chr A Klotz dem Professor der Beredsamkeit in dessen Hause ein junger Theologe sich eigentlich nicht haumltte bewegen sollen da wird berichtet von einem sittenlosen Bummelleben und dem Miszligfallen an der Theologie mit der sich Buumlrgers sinnliches Temperament nicht vertragen habe In Wahrheit weiszlig man uumlber das alles kaum Genaues Sicher ist nur daszlig Buumlrger verbotenerweise an der Gruumlndung einer niedersaumlchsischen Landsmannschaft beteiligt war auf eine Denunziashytion hin mit seinen Freunden beim Gruumlndungsschmaus vom Pedellen erwischt und zu einer Woche Karzer verurteilt wurde Wahrscheinlich hat dieser Vorfall fuumlr den alten

f eigensinnigen Mann in Aschersleben schon ausgereicht um seinen Enkel zuruumlckzushybeordern Zwar heiszlig~ es im y_erhoumlspItokltill PJ g~2Iilt~LsE~(LtilloLAger houmlret Collegia beiHerrn Prof Hansen und studirr jura aber einiges muszlig er in Halk_ -~wohl auch fuumlr sein Theologiestudium getaiihaben denn de~lgis~e Dekan --- ---dls ares 176768 vermer t l~ctrszligerltrm---ei111iDgaumln szeu nis ausgestent~-~

- a e V rouml e In As ers e en onnte Buumlrger den Groszligvater um--- - stimmen zu Ostern 1768 ging er nach Goumlttingen Er nahm Quartier in dem uumlbel beshy

leumdeten Haus einer Madame Sachse der Schwiegermutter des Professors Klotz in Halle ein Brief den er 1770 an den Goumlttinger Prorektor schreibt berichtet von einer Pruumlgelei zwischen ihm und einem Nebenbuhler im Schlafgemach der Witwe Bandmann einer der Toumlchter des Hauses Nach Madame Sachses Tod zog er 1771 schwer verschuldet in ein Kuumlrschnerhaus und jetzt setzt offenbar eine Vandlung ein Schon seit dem Winshyter 7071 ruumlhmen die Lehrer seine gruumlndlichen rechtswissenschaftlichen Kenntnisse seinen Eifer Fleiszlig und sittsam-bescheidenen Lebenswandel Es liegt zwar nahe auch die Halleshyschen Vorgaumlnge so zu erklaumlren wie Boie der am 281 71 an Gleim schreibt daszlig Buumlrgers freyes lustiges Leben die Herren Theologen verhindert haumltte ihm gute Zeugshynisse zu geben auf Grund der wenigen zuverlaumlssigen Nachrichten ist es aber viel wahrscheinlicher daszlig die Biographen von den ersten Goumlttinger Semestern auf die Hallenser Zeit zUfUumlckgeschlossen haben und also das wirklich zuumlgellose und verwilderte Leben erst einsetzte als der Zwanzigjaumlhrige die geradlinige Entwicklung die ihn vom Molmerswender Pfarrhaus uumlber die Lateinschule in Aschersleben und das Koumlnigliche Paumldagogium nadl Halle gefuumlhrt hatte abbrach und seinem Leben eine gaumlnzlich neue Wendung gab Goumlttingen bleibt fortan bestimmend fuumlr den spaumlteren Amtsverwalter im benachbarten Gelliehausen und den Dozenten an der Georgia Augusta Die Theoshylogie liegt hinter ihm

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einem Brief jene Wuumlrze zu geben die dem Bewuszligtsein unangemessener Verwendung dieser Sprache entspringt Vom Leichtfertigen fuumlhrt das zushymal in den spaumlteren Zeugnissen bis an den Rand des Blasphemischen auf eine Mitteilung H Chr Boies des Freundes in Goumlttingen er gedenke eine reiche Frau zu heiraten antwortet Buumlrger am 13881 7 Wenn ich noch einmal wieder in meinem Leben heuumlrathen sollte wahrhaftig ich heuumlrathete wol eine Kuh wenn sie nur an der bewusten Vernunft [naumlmshylich am Gelde] keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte dich bei dieser Philosophie Amen Amen GA Buumlrger Daszlig die Sprache sich in solcher Weise aus ihren alten Bindungen loumlst waumlre kaum denkbar ohne eine Distanzierung auch des Sprechenden selbst vom Geist des vaumltershylichen Pfarrhauses

Wir wenden uns diesen Vorgaumlngen nicht mit jener Ausfuumlhrlichkeit zu die sie verdienten wenn es um eine Darstellung der inneren Entwicklung Buumlrgers ginge Auch fuumlr unsere Fragestellung aber sind sie bedeutungsshyvoll als Voraussetzung als Ermoumlglichungsgrund dichterischer Gestaltungsshyweisen Denn daszlig hier ein Abfall vollzogen wurde daszlig Buumlrger sich geshyloumlst hat von dem Gesetz nach dem er angetreten war auch ihm selber sehr wohl bewuszligt Wenn er an Boie uumlber den Dr Pideritt schreibt raquoSo viel ich aber aus einer Recension seiner Vertheydigung des Kanons der heil Schrifft 2tes Stuumlck muthmaszlige so mag er wohl einen Bannstral auf meine gottlosen Gedichte geworfen haben indem es heiszligt daszlig er zum Beweise gegenwaumlrtiger irreligioumlser und sittenloser Zeiten verschiedene Gedidlte aus den MusenAlmanachen angefuumlhrt habe (11676) so wird unter den ironischen Toumlnen doch deutlich spuumlrbar daszlig er sich mit seinen Dichtungen in einem anderen Raume weiszlig als dem seines Ursprungs

Es gibt wohl kein Zeugnis das in dieser Hinsicht aufschluszligreicher ja verraumlterischer waumlre als die Stelle aus einem Brief vom Sommer 1775 an Goethe Wie behaumlglich von der bekannten AlltagsleyerMe10dey der um uns plaumlrrenden Christlichen Gemeine unterweilen abbrechen und sein innres Seelenstuumlckchen anstimmen zu koumlnnen

Das ist mit Entchristlichung nicht einfach gleichzusetzen der tiefere Bereich persoumlnlicher Glaubenshaltung entzieht sich unserer Einsid1t Aber es bezeugt eine Abwendung vom strengen Kirchenchristentum und macht deutlich daszlig der Schreiber seine eigentlid1e Bestimmung auszligerhalb des religioumls-dogmatischen Raumes sieht Immerhin AlltagsleyerMelodey und innres Seelenstuumlckchen plaumlrren und anstimmen zeigen unershyachtet der recht eindeutigen Bewertung doch noch die Verwandtschaft einys gemeinsamen Wortfeldes und werden durchaus in einem Atemzug genannt Das aufschluszligreich genug Denn es deutet auf ein Verhaumlltnis

7 Vfenn nicht anders angegeben stammen die Briefzitate stets aus der Sammlung Briefe von und an Gottfried August Buumlrger hrsg A Strodtmann 4 Bde 1874

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zwischen religioumlsem und dichterischem Wort (so darf man ohne Zweifel uumlbersetzen) in dem zwar das erste dem zweiten untergeordnet wird aber doch noch immer eines mit dem anderen verbunden bleibt

Auch das Woumlrtdlen unterweilen wird man dabei nicht ganz uumlbershysehen duumlrfen Unterweilen hat Buumlrger seinem Verleger Dieterich gegenshyuumlber (und es gibt andere aumlhnliche Faumllle) in einem Brief vom 1 81782 die Weisheit und Guumlte goumlttlicher Vorsehung die jenseits menschlicher Einshysichtsfaumlhigkeit liegt mit Nachdruck ja mit Leidenschaft verteidigt - um dann dem Freunde selbst die Frage in den Mund zu legen Wie koumlmmt Saul unter die Propheten Dieses Sauls eigentliches Amt ist nidlt die AlltagsleyerMelodey sondern das innre Seelenstuumlckchen dichte- rischer Gestaltung Aber dabei grundet doch das eine auf dem anderen Was er anstimmt transponiert die alte Melodie in eine neue Tonart jenes Abbredlen wird zum Synonym einer weltlichen Kontrafaktur

Ich denke nicht heiszligt es im Vorbericht zur raquoIl i a slaquo-Obersetzung das Jemand die Umstaumlnde und das Aufheben welche ich hier mache uumlbertrieben abgeschmackt und laumlcherlich finden werde er muumlszligte denn anders die Kunst lebendiger Darstellung so wie das edle nicht Jedershymann von Gott verliehene Seelenvermoumlgen worauf sie sich gruumlndet und eins der wichtigsten Mittel deren sie sich bedient die Sprache die nie goumlttlich genug zu verehrende Sprache sie das theuerste heiligste Werkshyzeug des wirkenden Menschengeistes sie welche zu allen andern Wissenshyschaften spricht Ohne mich koumlnnet ihr nichts thun alles das muumlszligte er

( also fuumlr Lumpereien und unter der Wuumlrde maumlnnlicher Bemuumlhungen halten 8

Buumlrgers theoretische Schriften enthalten eine Fuumllle solcher Aumluszligerungen uumlber die Sprache und den dichterischen Umgang mit ihr die gekennshyzeichnet sind durch einen Anspruch dessen Unbedingheit den Bereich des wirkenden Menschengeistes auf das Religioumlse hin oumlffnet Literarische Taumltigkeit wird ins Heilige und Goumlttliche erhoumlht als edelste Bestimmung des Menschen uumlberhaupt und als Gnadengabe verstanden die nur den Auserwaumlhlten zuteil geworden Dichtung wird zum Gottesdienst der Wortverwaltung Das aber wird keineswegs als ein Obertragungsvorshygang begriffen und in seiner Problematik bedacht sondern erscheint als ein durchaus unreflektierter Akt und wird sichtbar allein als sprachlicher Vorgang Die aumlsthetischen Eroumlrterungen ziehen ihr Vokabular zu wesentshylichen Teilen aus den religioumlsen Texten nutzen gleichsam die Beglaubishygungskraft dieser Worte die ihnen von ihrem Ursprung her anhaftet shyohne daszlig dabei doch dieser Herkunftsbereich selber noch als Maszligstab und Bewertungsgrundlage gegenwaumlrtig bliebe Es geht nicht mehr um

8 Zitiert wird - von den GediChten abgesehen - nam Buumlrgers saumlmmtliche Werke hrsg A W Bohtz 1835 Abgekuumlrzt B hier S 184

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didaktische Verweisungen sondern um aumlsthetische Bereicherung Das Pfarrhaus wird abgebrochen damit was brauchbar und ansehnlich scheint unter den alten Steinen fuumlr den Bau des neuen Hauses verwendet werden kann Diesen Bezug auf die religioumlse Sprache auf den Luthertext insonderheit hat Buumlrger sich bis in stilistische Einzelheiten hinein bewuszligt gemacht In seinen raquoGedanken uumlber die Beschaffenheit einer Deutschen Uumlbersetzung des Homerlaquo etwa heigt es nachdem der Verfasser die von ihm bevorzugte Anfangsstellung des Hauptzeitwortes besprochen hat Ich habe keinen Platz zu Beispielen aber man wird ihrer genug finden welche dies Alles bestaumltigen Man schlage nur Luthers Bibel-uumlbersetzung und seine uumlbrigen Schriften nach auf jeder Seite sind weld1e Die poetischen Buumlcher der heiligen Schrift hat Luther mit dem besten Geschmacke fuumlr seine Zeiten so echt Deutsch und so feurig uumlbershysetzt daszlig man daruumlber erstaunen muszlig Ein fleiszligiger Sprachforscher muumlszligte unsere neuere Sprache mit den vortrefflichsten Schaumltzen aus den Schriften dieses bewundernswuumlrdigen Mannes wovor unseren Hominibus delicatulis so ekelt bereichern koumlnnen (B 137 L)

Die Stelle dessen was zwanzig Jahre lang dem Pfarrersohn als das Houmlchste und Heiligste vorgestellt und eingepraumlgt wurde was er hinter sidl lieszlig als er das Studium der Theologie in Halle abbrach vermochten die Jurisprudenz die Geschaumlfte des Amtsverwalters die Lehrtaumltigkeit des Dozenten keineswegs einzunehmen und auszufuumlllen Seine Berufstaumltigshykeit blieb fuumlr Buumlrger lebenslang eine Plage eine Quelle des Miszligmuts und der Verzweiflung Faumlhig dazu war allein die Po esie nur das innre Seelenstuumlckchen konnte die Klaumlnge der alten Melodie in sich aufnehmen und fortfuumlhren ~

Wie er uumlber Stolberg sagt Mich duumlnkt ich lese einen Propheten wenn ich seine Prosa lese 9 so schreibt er an Boie Uumlbrigens lebe und webe ich in den Reliques Sie sind meine Morgen und AbendAndacht 10 wie er von Shakespeare erklaumlrt Ihn kann man die Bibel der Dichter nenshynen 11 so urteilt er uumlber die unerwuumlnschten Rezensenten Und wenn der Engel Gabriel vom Himmel kaumlme und ihnen Poetik predigte so wuumlrde er dennoch nichts ausrichten 12 Mit voumllliger Unbefangenheit fast moumlchte man sagen mit der Unschuld des Selbstverstaumlndlichen wird das Vokabushylar beider Bereiche vermischt Die Aufloumlsung der Kodifikation kennt keine Grenzen mehr Denn die Saumlkularisation dient hier nicht dazu den religioumlsen Text als einen weltlicher Sprache integrierten Maszligstab fuumlr menschliches Reden und Handeln wirksam zu machen sondern sie nutzt ihn nur mehr als Mittel zu ihrer Erhoumlhung und Steigerung ein Buch

o Dt Museum Juli 1777 Zu FrLStolbergs raquouumlber die Fuumllle des Herzenslaquo 10 7477 Meint Percy Reliques of Ancient English Poctry London 1765 11 An Boie 15976 12 An Boie 31278

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wirft Licht auf das andere Buch aber - es ist nicht mehr das Licht der Erkenntnis dessen was gut und boumlse sei (Vgl S148 f)

Wie auf die Werke der Dichtkunst so faumlllt der Glanz dieses geborgten Lichtes auch auf die Dichter selbst Was Christus uumlber alle menschliche Macht und Groumlszlige erhebt wird jetzt auch dem Poeten zugesprochen sein Reich ist nicht von dieser Welt 13 und die Verheiszligungen die dem Chrishysten gegeben sind wandeln in der uumlbertragung ihre Formen nur gerade so viel wie noumltig ist um fuumlr den neuen Anwendungsbereidl braudlbar zu sein Einem unbekannten Empfaumlnger schreibt Buumlrger am 621772 meine Briefe sollen Ihnen hinfort wenigstens alle vier Wochen jenen biblischen Spruch parodieren Bleib den Musen getreuuml bis in den Tod so wird dir Apoll die Krone des ewigen Nachruhms geben Parodieren shydas meint hier nichtmiddotdie Entstellung den Entwurf eines scherzhaften oder boumlsartigen Gegenbildes sondern Akkomodation uumlbertragung und Anshypassung Es richtet sich nicht gegen den vorgegebenen Text aber es nimmt ihn auch nicht mehr ernst in seinem unbedingten und ausschlieszligenshyden Anspruch Schon deutet es in die Richtung einer uumlberarbeitung des Originals nach dem verbesserten Geschmack unsrer Zeit in einer neuen Einkleidung und Ordnung der Gedanken (v gl u S 269Anm 2) Dieser ) verbesserte Geschmack freilich ist kaum mehr als ein veraumlndertes thematisches Interesse In Wahrheit fehlt diesen uumlbertragungen geshylegentlich selbst der gute Geschmack und es kennzeichnet zugleich die

( uneingeschraumlnkte Verfuumlgbarkeit des religioumlsen Sprachgutes wenn Buumlrger auch auf betraumlchtliche Houmlhenunterschiede zwischen Ursprungs- und Anshywendungsbereich kaum mehr Ruumlcksicht nimmt An Goeckingk der ihm aus seiner fatalen aumluszligeren Situation heraushelfen will schreibt er anshystandslos wenn Sie mein Erloumlser seyn und mich den Musen wiedershyschenken koumlnnten - Sie wuumlrden mir das seyn was der Engel dem geshyfangenen Apostel in der Apostel Geschichte war 14 Ein gewisses Vershygnuumlgen am Miszligbrauch des Vorbildes und die ganz ernsthafte Absicht dem Sachverhalt Nachdrud und Gewicht zu geben sind hier wohl kaum zu trennen Aber ohne Zweifel steht dahinter ein Wertbewuszligtsein dem kein Preis zu hoch ist wenn es gilt den Anspruch und die Wuumlrde des poetischen Amtes zu verkuumlnden und durchzusetzen

So heiszligt es in den raquoGedanken uumlber die Beschaffenheit einer Deutschen uumlbersetzung des Homerlaquo Statt aller Untersuchunshygen uumlber diesen Punct koumlnnte der Streit wohl nicht angenehmer fuumlr den Zuschauer beigelegt werden als wenn der Genius unserer Literatur einen Mann von Genie und Kenntniszlig erweckte welcher zwischen die Zanshy

13 An Bollmann 22790 14 29675 Aus dem Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk hrsg A Sauer

Vjs f Litgesch III 1890 hier S 68

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kenden mit einer Uumlbersetzung traumlte uumlber welche man schreiben koumlnnte Der Nachwelt und der Ewigkeit heilig (B 135) Dem aufmerkshysamen Leser kann der Hintergrund der kleinen Szene nicht verborgen bleiben die hier entworfen wird Der Uumlbersetzer-Dichter er erscheint als ein neuer Moses welcher vom Gott seines Volkes erweckt unter die Israeliten tritt mit jenen Gebotstafeln die der christlichen Nachwelt und der Ewigkeit heilig sind (Selbst das Wort von den Zankenden die um die Homer-Uumlbersetzung miteinander im Streite liegen scheint auf den biblischen Bericht zu deuten Bei der Ruumlckkehr vom Sinai spricht Josua zu Moses Es ist ein Geschrei im Lager wie im Streit Er antshywortete Es ist nicht ein Geschrei gegen einander derer die obliegen und unterliegen sondern ich houmlre ein Geschrei eines Singetanzes Ex 3217 f)

Buumlrger selbst ist es der nach diesem Vorwort mit Proben seiner jamshybischen Lrbersetzung unter die Zankenden tritt - aber er zieht es vor dem Anspruch des Moses-Bildes auszuweichen Das bleibt dem Vollender uumlberlassen Fuumlr die eigene Person und das eigene Werk waumlhlt er ein anderes Modell Wenn ich gleich derjenige selbst nicht bin auf welchen unser Volk hoffet (denn ich muumlszligte den unversc~aumlmtesten Knabenstolz besitzen wenn ich mir einbildete daszlig ichs waumlre) so kann ich doch vielleicht zu der Ehre eines Vorlaumlufers dessen der kommen wird gelangen Auf den Worten des neutestamentlichen Vorlaumlufers Johannes des Taumlufers der die messianische Erwartung des Volkes von sich selber abweist und auf jenen Groumlszligeren lenkt der kommen wird gruumlndet die Haltung des raquoIliaslaquoshyObersetzers aus ihnen gewinnt sie dem eigenen Versuch dem Probestuumld~ Bedeutsamkeit und Gewicht Eine Entsprechung zur Saumlkularisationsform figuraler Gestaltung ist nicht zu verkennen Aber wenngleich hier wie dort eine dichterische Figur dem vorbildlichen Modell gleichgeformt wird J

geht es doch dort darum sie durchzusetzen und zu rechtfertigen auf der Grundlage des Imitatio-Denkens - hier aber sie zu steigern und zu ershyhoumlhen allein um ihrer selbst willen Der Dichter erscheint als Gottesmann weil er in dieser Gestalt dem Profanen enthoben ist

In der Behandlung aller Fragen die ihm wirklich am Herzen liegen greift Buumlrger zuruumlck auf den Sprach- und Formenschatz der ihm jahreshylang als Ausdrucksvorrat fuumlr das Wesentliche und Bedeutsame vermittelt wurde Bis in die Uumlberlegungen zum dichterischen Schaffensprozeszlig fuumlhrt das die deutlich unter der praumlgenden Kraft des Berichtes vom goumlttshylichen Schoumlpfungsakt stehen Jeder Kuumlnstler schreibt er an Schushybart sollte es sich daher zur Maxime madlen keines seiner Verke eher unter fremde Augen treten zu lassen als bis er nach Jahrelangem Anshyschauen alles dessen so er gemacht sagen koumlnnte Siehe da es ist alles sehr gut 15

15 12992 - Vgl die Goumlttliche Zufricdenhcits-Formel Geni 31

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Nichts anderes als eine uumlbertragung des reformatorischen Verhaumlltnisses zur Schrift und seine Anpassung an den Umgang mit dem dichterischen Vort ist sein Verantwortungsgefuumlhl und seine Treue gegenuumlber dem unshyverriickbaren Text ja der Glaube daszlig am Buchstaben das Heil haumlngen koumlnne Gleichguumlltig welcher Grad von bewuszligter Einsicht in diese Zushysammenhaumlnge auch vorgelegen haben mag Buumlrgers Aumluszligerungen uumlber solche Fragen speisen sich unablaumlssig aus der religioumlsen Sprachquelle So begleitet er Anfang 1784 die uumlbersendung eines Manuskriptes an Goeckingk mit der leidenschaftlichen Ermahnung Houmlrt ihr daszlig also nur nicht ein Puumlnctchen zu geschweige denn ein Buchstab oder gar ein Wort fehlt Ihr seht sonst Euumlres Ungluumlcks kein Ende weder hier zeitlich noch dort ewig

Die fuumlr Buumlrger so bezeichnende Neigung zur unermuumldlichen oft geradeshyzu kleinlich anmutenden uumlberarbeitung und Ausfeilung seiner Gedichte wird man in unmittelbarem Zusammenhang sehen muumlssen mit jener Heishyligung der Werktreue die der Protestantismus entwickelt hat und es ist charakteristisch fuumlr die Denkweise des ganzen Buumlrgerschen Freundesshykreises wenn Meyer ihm zu einigen Gedichten die er fuumlr den Musenshyalmanach schickt am 971793 entschuldigend schreibt sie haumltten noch Mangel der Feile die vor Gott und Menschen angenehm ist

Solche Einzelbeobachtungen und man koumlnnte sie beliebig vermehren machen deutlich wie folgerichtig der Weg von Molmerswende nach Halle seine Fortsetzung verlangt auch wenn er nun in andere Gefilde fuumlhrt wie tief der Erbzwang den Pfarrersohn bestimmt uumlberdem bin ich einmal ein Theologe gewesen schreibt er an Goeckingk und von der Zeit haumlngt mir illud Theologorum decantatissimum Dic et servasti animam immer noch an 16 Schon 1772 erklaumlrte er sich gegen seine bisherige wolshyluumlstige und taumlndelnde Dichtungsart von allen moralischen Sentimens entbloumlszligt weil er meinte damit verloumlre die Poesie ihr erhabenes Amt Lehrerin der Menschen zu seyn 17

Im engsten Zusammenhang damit muszlig nun Buumlrgers Glaubensartikel von der P 0 pul a ri t auml t der Poesie gesehen werden Denn wenn von der kirchlichen Wortverkuumlndigung her das Amt Lehrerin der Menschen zu seyn auf die Dichtung uumlbertragen wird so faumlllt ihr zugleich die Pflicht zu ins Breite zu wirken einem unbegrenzten Leserkreise zugaumlnglich und verstaumlndlich zu sein Buumlrger nennt als seine Maxime wenn nicht Alle n dennoch den Me ist e n - versteht sich ohne weder sich selbst noch der Dichtkunst etwas zu vergeben - zu gleicher Zeit zu gefallen 18 Nur

1G 3675 Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk S65 11 Brief an Boie 2 11 72 lB Die Problematik der Popularitaumlt die an dem eingeschobenen einschraumlnkenden

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dieGuumlnstlinge die dieses Ziel erreichen sind die gewaltigen Herzensshybezaumlhmer und Zauberer die ihre guumlldenen Staumlbe nie vergebens zucken und uumlber jedes Zei tal ter in immer lebendiger Kraft herrschen Nie verra uchen die Opfer auf ihren Altaumlren und unvergaumlnglich bluumlhen ihre Kraumlnze (B 178 f) Nur sie sprechen in Vollmacht Die Opferaltaumlre und der Bezug auf jene Staumlbe die vor dem Pharao von den aumlgyptischen Zauberern vergeblich dann aber von Moses und Aaron nie vergebens ausgereckt wurden 19

begruumlnden eine Priesterschaft der Wortverwaltung zu bestaumltigen die Wahrheit des Artikels woran ich festiglich glaube und welcher die Axe ist woherum meine ganze Poetik sich drehet Alle darstellende Bildshynerei kann und soll volksmaumlszligig seyn Denn das ist das Siegel ihrer Vollshykommenheit 20

Dieser Artikel von der Popularitaumlt der Dichtung Buumlrgers Glaubensshybekenntnis empfaumlngt in der Tat einen entscheidenden Anstoszlig aus der Predigt- und Seelsorgehaltung der er unter der vaumlterlichen Kanzel beshygegnete Wenn er scherzhaft an Meyer schreibt ein gottseliges Comite untersuche woher es wohl komme daszlig der Gottesdienst in der Unishyversitaumltskirche so sparsam besucht werde Ich denke mit Recht wird Euer gepredigtes Evangelium als eine der vornehmsten Ursachen oben an geshystellt werden (121 89) so liegt dem ganz der gleiche Gedanke zushygrunde der auch die Wirkungspoetik seiner Abhandlungen zur VolksshyPoesie bestimmt Es ist das saumlkularisierte Predigerethos das aus dem leishydenschaftlichen raquoHerzensausguszliglaquo spricht Durch Popularitaumlt mein ich soll die Poesie das wieder werden wozu sie Gott erschaffen und in die Seelen der Auserwaumlhlten gelegt hat Lebendiger Odem der uumlber aller Menschen Herzen und Sinnen hinweht Odem Gottes der vom Schlaf und Tod aufweckt Die Blinden sehend die Tauben houmlrend die Lahmen gehend und die Aussaumltzigen rein macht Und das Alles zum Heil und Frommen des Menschengeschlechts in diesem Jammerthaie (B 321) 21

Die Beobachtung solcher Umsetzungsvorgaumlnge die Buumlrgers theoretische Aumluszligerungen gedanklich und sprachlich bestimmen leitet zu unserer eigentlichen Frage nach der Bedeutung und Beschaffenheit der Saumlkularishysationsphaumlnomene in seinem d ich t e r i s c he n Werk

(wenn nicht gar aufhebenden) Satz zu entwickeln waumlre kann hier nicht ausgefuumlhrt werden Sie kommt in Schillers und A W Schlegels Buumlrger-Abhandlungen zur Sprache

Vgl Ex7-10 20 B S324 (Vorrede zur Ausgabe der Gedidlte 1778) 2 Ober eine ganz entsprechende neue Einstellung zum Volksganzen raquowelche die

seelsorgerliche Haltung des Vaters unmittelbar fortzusetzen scheint handelt H Schoumlffshyler Das literarische Zuumlrich 1925 S42f

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Unmittelbare und ausdruumlckliche biographische Zeugnisse fuumlr den Einshyfluszlig des religioumlsen Schrifttums gibt es kaum Immerhin finden sich einige Hinweise in den Aufzeichnungen Althofs die auf Buumlrgers eigenen freishylich sehr spaumlten muumlndlichen Auszligerungen beruhen Durch sie wird uumlbershyliefert daszlig der Junge bis in sein zehntes Lebensjahr hinein durchaus nicht mehr lernte als Lesen und Schreiben wohl aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse behielt was er sowohl in der Bibel als im Gesangshybuche las ja daszlig er wie er meinte das ganze Gesangbuch ohne Schwieshyrigkeit auswendig gelernt haben wuumlrde (B 431) Von den houmlchst aufshyschluszligreichen Einzelheiten dieser fruumlh gelegten Bibel- und Gesangbuch- kenntnisse muszlig spaumlter die Rede sein Hier wird zunaumlchst nur Althofs Mitteilung wichtig daszlig schon der Knabe ohne durch andere Muster als welche Bibel und Gesangbuch ihm lieferten dazu aufgefordert zu werden anfing Verse zu machen ehe er noch die allerersten Elemente der Grammatik erlernt hattelaquo (B 431) Das ist gewiszlig nicht so zu verstehen als habe der junge Verseschmied damals noch kein grammatisch fehlershyfreies Deutsch sprechen oder schreiben koumlnnen Grammatik lernte man an der Fremdsprache Buumlrger begegnete ihr also im lateinischen Untershyricht - und cr konnte ungeachtet aller Schlaumlge in zwei Jahren noch nicht Mensa decliniren (B 431) Diese Randbemerkung macht einsichtig

( daszlig es sich bei den poetischen Anregungen durch Bibel und Kirchenlied um ganz unreflektierte dem kontrollierenden Sprach- und Kunstbewuszligtshysein entzogene Vorgaumlnge handelt Das deckt sich voumlllig mit Althofs Aufshyzeichnung Buumlrger versicherte ferner So wenig diese Fertigkeiten als irgend eine andere Kenntniszlig seines nachfolgenden Lebens bis in sein maumlnnliches Alter haumltten ihm die geringste Anstrengung oder Muumlhe geshykostet es waumlre auch sehr wenig was er von Lehrern und aus Buumlchern geshylernt haumltte da es ihm immer in den Lehrstunden an Aufmerksamkeit und auszliger denselben an Geduld gefehlet ein Buch anhaltend aus zu lesen Er muumlszligte sich oft innerlich wundern wenn er einen Blick in die Vorrathsshykammer seiner Kenntnisse thaumlte wie und woher der Plunder alle hinein gekommen Das Meiste waumlre ihm hier und da und dort und uumlberall wie VOn selbst gleichsam angeflogen (B 431) Nichts konnte ihm so sehr von selbst anfliegen wie die Worte Bilder und Formen der heiligen Texte die von den Jugendjahren im vaumlterlichen Pfarrhaus bis zum Abbruch des theologischen Studiums in Halle sein taumlglicher Umgang waren Was aber fuumlr ihre Aufnahme gilt ist nicht weniger guumlltig fuumlr ihre Verwendung die Saumlkularisationsvorgaumlnge entziehen sich weithin dem Bewuszligtsein des Schreibenden Durch ihn hindurch aber oft ohne seine Absicht und ohne sein Dazutun wirkt hier die religioumlse Sprache auf das Kunstwerk ein

Der eigentliche Zugang zu diesen Phaumlnomenen kann deshalb nicht durch die Beschaumlftigung mit der Person des Autors gewonnen werden

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welches Forschers Geist hat Buumlrger selbst erklaumlrt kann sich immer so tief und innig in den Geist des Kuumlnstlers versenken um etwas mit Sicherheit auszumachen welches dieser oft selbst nicht recht weiszlig naumlmshylich was fuumlr Bestinunungsgruumlnde jeglichen seiner Schritte zum Ziele leitet haben 22 Nur im Ziele selbst im Zustandegekommenen WIrd wohl der eine oder andere Bestimmungsgrund erkennbar der Weg dahin fuumlhrt also nicht uumlber die Versenkung in den Geist des Kuumlnstlers sondern uumlber die Betrachtung des Kunstwerkes selbst

In dem 1782 entstandenen kleinen Gedicht raquoDer klug e Heldlaquo23 wird erzaumlhlt wie ein junger Soldat um der Gefahr zu entgehen am Tag vor der Schlacht einen Urlaub erbittet angeblich damit sein sterbender Vater ihm noch den Abschiedskuszlig geben koumlnne Die letzten Verse lauten

Sehr wohl versetzt der Chef und laumlchelt vor sich nieder Reis hurtig ab mein Sohn Denn nach der Bibel muszlig Dein Vater nach Gebuumlhr von dir geehret werden Auf daszlig dirs wohlergeh und du lang lebst auf Erden

Von verschiedenen Seiten aus wird einsichtig welch besonderes Gewicht dieser Schluszlig traumlgt ja daszlig das ganze Gedicht eigentlich auf ihn hin anshygelegt ist 24

bull Schon der Gespraumlchsablauf weckt eine Spannung auf die Beshygruumlndung fuumlr die Zustimmung des Chefs der den Vorwand ja durchshyschaut Zugleich trennt das Druckbild durch einen Gedankenstrich und folgenden Sinnabschnitt die hier angefuumlhrten letzten Zeilen von den vorshyangehenden und nachdem schon zuvor die wechselnd vier- und fuumlnfshyhebigen Jamben sich zweimal gleichsam praumlludierend ins alexandrinische Maszlig vorgewagt hatten gewinnt der Schluszligteil in dem die Alexandriner sich voumlllig durchgesetzt haben auch metrische Bedeutungssteigerung Entshyscheidend aber ist der Pointencharakter des Ausgangs und dessen eigentshylicher Uberraschungseffekt entsteht durch die ironische Beziehung des vierten Gebotes auf die Absichten des Soldaten Den wichtigsten Beitrag zur Schluszligbeschwerung des Gedichtes leisten diese beiden zitierenden len mit denen ein vorgeformtes und vorbelastetes Redestuumlck als schwerer Endakzent dem vorangehenden Berichte aufgesetzt wird

~2 Ueber die Wirkung des Schleiers in Werken der darstellenden Kunstlaquo TI S 340 23 Die Gedichte werden im folgenden zitiert nach der Ausgabe von E COllsentius

2 Bde 1914 Hier I S238 21 VgL E Staigers Begriff der nproblematischen Dichtung (Grundbegriffe der

Poetik LAufl 1951 S162ff)

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Schluszligbeschwerungen sind fuumlr Buumlrgers Lyrik charakteristisch Sie hershyvorzubringen erscheint die eben beobachtete Verbindung eines praumlforshymierten Sprachstuumlckes mit vorausgehenden freien Formationen beshysonders geeignet - und es ist bemerkenswert daszlig der strukturell so beshydeutsame pointierte Ausgang tatsaumlchlich in nahezu einem Drittel aller Gedichte Buumlrgers auf den christlichen Sprachbereich zuruumlckweist

Wo seine Gedichtausgaumlnge einen formelhaften Redeschluszlig woumlrtlich oder nur geringfuumlgig abgewandelt uumlbernehmen wird die Endbetonung am spuumlrbarsten Aus einer Fuumllle von Beispielen koumlnnte man dafuumlr nennen

Gott lass es dem Edlen doch wohl ergehn Das bet ich herzinniglich Amen (I 207)

Gott behuumlte liebe Seele Gott behuumlte dich davor (I 32)

o Paradiesesglaube Erhalt und staumlrke mich (I 38) Komm Von hinnen laszlig uns scheiden Eia waumlren wir schon da - (I 68) Dein Name sei gebenedeit Von nun an bis in Ewigkeit (I 45)

Der jeweilige Ursprungsort dieser Schluszligformeln bedarf keiner Erlaumluteshyrung Was sie - in einen neuen Zusammenhang versetzt - fuumlr den Aufshybau des Gedichtes leisten koumlnnen zeigt sich im ersten Beispiel (raquoDie Kuhlaquo) mit der Hervorhebung des Erzaumlhlers der diesen Epilog spricht und mit der Zusammenfassung des Gedichtes zur geschlossenen Form im letzten Beispiel (raquoDankliedlaquo) in dem die schlieszligenden Zeilen des Gedichtes die der Anfangsstrophe wieder aufnehmen und die preisende Aufreihung der Gottesgaben mit einer aus dem liturgischen Ursprungsort der Formel heruumlberwirkenden Kraft zusammengreifen und erfuumlllen im Benedeien des goumlttlichen Gebers Von solchen Leistungen wird noch die Rede sein

Aumlhnliche Wirkungen entfalten die Schluumlsse in denen Bibelzitate parashyphrasiert und auf die vorangehenden Verse bezogen werden In raquoSchoumln Suschenlaquo etwa geben die letzten Zeilen

Drum Lieb ist wohl wie Wind im Meer Sein Sausen ihr wohl houmlrt Allein ihr wisset nicht woher Wiszligt nicht wohin er faumlhrt (I 155)

die aus Joh 3 8 hervorgehen Antwort auf die Eingangsfrage des Geshydichtes durch sie erfuumlllt es sich in der inneren Form von Raumltselstellung und Raumltselloumlsung Vergleichbares bewirkt der Schluszlig von raquoDie Eleshy

13 7439 Schoumlne Saumlkularisation (Palaestra 226) 193

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mentelaquo nachdem die Liebe als allbewegende Triebkraft der Natur geshyschildert worden ist zieht der Ausgang die Lehre fuumlr den lieblos geshywordenen Menschen

Du bist ein eiteltoumlnend Erz Bist leerer Klingklang einer Schelle Und Tosen einer Wasserwelle (I 70)

Die auffallend haumlufige Verwendung solcher zusammenfassenden abshyrundenden aufloumlsenden erklaumlrenden pointierenden Schluszligbeschwerunshygen die der Dichter dem christlichen Sprachbereich entlehnt muszlig durchshyaus als Charakteristikum Buumlrgerseher Gedichtsstruktur verstanden werden

Ober die Bestimmung ihrer sprachlichen Herkunft hinaus sind diese beschwerten Ausgaumlnge in einigen Verwendungs faumlllen nun auch auf eine genauer bestimmbare Form des Sprechens zu beziehen Da endet etwa Die Entfuumlhrunglaquo mit den Versen

So segne dann der auf uns sieht Euch segne Gott von Glied zu Glied Auf Wechselt Ring und Haumlnde Und hiermit Lied am Ende (I 181)

Das ist die Spredlweise des Geistlichen und in der Tat nimmt ja hier am Ende des houmldlst wel dichen Balladengeschehens der Vater des entfuumlhrshyten Fraumluleins mit Segen und Ringwechsel eine priesterliche Handlung vor Diese personale Gleichung macht aufmerksam auf eine grundsaumltzliche typologische Entsprechung zwisdlen der Schluszligbeschwerung des Gedichshytes und geistlidler Redeweise Nicht nur das durchgehend religioumls beshystimmte liturgische Sprechen endet mit einer gewichtigen Schluszligformell des Gebetes Segens oder Lobpreises auch die nicht mehr formgebundene freie Rede das Gespraumlch die Ansprache so zu schlieszligen daszlig weltlidles Sprechen am Ende durch einen religioumlsen Bezug ein praumlformiertes Redeshystuumlck erhoumlht gekroumlnt gewichtig beschlossen wird ist fuumlr den Geistlichen offenbar bis heute bezeichnend

Diese durch vorgegebene Schluszligformeln charakterisierte Redeweise zeigt ganz die gleiche Grundform die in der Untersuchung der Buumlrgershysehen Gedichte sichtbar wird - wie ja jene Gepflogenheit an weltliche Rede einen oft geradezu gewaltsam angehaumlngten formelhaft-religioumlsen Schluszlig zu fuumlgen selbst in dem oben genannten Briefausgang noch spuumlrbar wird ich heuumlrathete wol ein Kuh wenn sie nur an der bewusten Vershynunft keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte didl bei dieser Philoshysophie Amen Amen GABuumlrger Unter diesem Blickwinkel gewinnt die Stelle geradezu karikierende Zuumlge

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Beispielhaft fuumlr eine solche Analogie der Sprechweisen scheinen etwa die Schluumlsse

Die Liebe segne dich und sie Mit ihrem besten Segen (148) Die Liebe sagt Verdammet nicht Daszlig man nicht Euch verdammet (I 187) Diesen Trinker gnade Gott Lass ihn nicht verderben (I 73)

Sie aber deuten auf eine Analogie-Antithese zwischen dem Pfarrer als dem Diener der christlichen Kirche und dem Poeten der eines seiner Geshydichte mit den Worten schlieszligt

Doch wisse du Apolls Religion Schenkt dir die Glaubenspflicht und dringt auf gute

Werke (I 248) Als Gottesdienst der Wortverwaltung hat Buumlrger sein dichterisd1cs Amt verstanden

Bin geweiht zum Priester des Apoll Mit des Gottes Kranz und goldnem Stabe Seines Geistes bin ich froh und voll Warum nicht auch frommer Wundergabe - (I 94)

Und am Ende des Gedichtes (raquoGeweih tes Ang ebind e zu Lo uis ens Geburtstagelaquo) tritt diese vaumlterliche Mitgift diese Sprechhaltung des Geistlichen ganz ausdruumlcklich ins Wort

Freud und Lust von keinem Harm vergaumlllt Sei durch dich Ihr in die Brust gegossen Freud an Gottes ganzer weiter Welt Mich den Priester auch mit eingeschlossen

shy

Die Beobachtung der Schluszligbeschwerung lenkt auf die Frage nach ihrer Integration in das Gesamtgefuumlge des Gedichtes und nach der Wirkung die sie dort entfaltet raquoDer kluge Heldlaquo kann darauf kaum schon ershyschoumlpfende Antwort geben die massive Pointicrung die hier durch den Endakzent zustande kommt ist nur eine unter vielen Moumlglichkeiten seiner Leistung Weit komplizierter liegen diese Verhaumlltnisse in Buumlrgers Nachshydichtung der raquoCo n f ess i 0laquo des Archipoeta 25

25 Das Gedicht war Buumlrger in einer dem Walter Mapes zugeschriebenen Fassung beshykannt geworden (vgl seinen Brief an Sprickmann vom 21077) deutliche Bezuumlge zeigen sich zu seinen Strophen 12 13 16-19 Zitiert wird die lat Vorlage nach dem auf 5 Strophen verkuumlrzten Abdruck den Buumlrger in der Ausgabe seiner Gedichte VOll

1778 auf S 290 f gegeben hat (Ausgenommen die beiden dort nicht mitgeteilten hier auf S199 zitierten Verse Voluptatis avidus laquo)

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Zechlied

Im will einst bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Alles meinen Wein nur nimt Lass im frohen Erben Nam der letzten Olung soll Hefen nom mim faumlrben Dann zertruumlmmre mein Pokal In zehntausend Smerben Jedermann hat von Natur Seine sondre Weise Mir gelinget jedes Werk Nur nam Trank und Speise Speis und Trank erhalten mim In dem remten Gleise Wer gut smmiert der faumlhrt aum gut Auf der Lebensreise Im bin gar ein armer Wimt Bin die feigste Memme Halten Durst und Hungerqual Mim in Angst und Klemme Smon ein Knaumlbchen smuumlttelt mim Was im aum mim stemme Einem Riesen halt im Stand Wann im zem und smlemme Aumlmter Wein ist aumlmtes 01 Zur Verstandeslampe Gibt der Seele Kraft und Schwung Bis zum Sternenkampe Witz und Weisheit dunsten auf Aus gefuumlllter Wampe Baszlig gluumlckt Harfenspiel und Sang Wann im brav smlampampe Nuumlchtern bin im immerdar Nur ein Harfenstuumlmper Mir erlahmen Hand und Griff Welken Haupt und Wimper Wann der Wein in Himmelsklang Wandelt mein Geklimper Sind Homer und Ossian Gegen mim nur Stuumlmper

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Nimmer hat durch meinen Mund Hoher Geist gesungen Bis ich meinen lieben Bauch Weidlich vollgeschlungen Wann mein Kapitolium Baechus Kraft erschwungen Sing und red ich wundersam Gar in fremden Zungen Drum will ich bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Nach der letzten oumllung soll Hefen noch mich faumlrben Engelchoumlre weihen dann Mich zum Nektarerben Diesen Trinker gnade Gott

Lass ihn nicht verderben (1 72 f)

Da wird mit der ersten Strophe das Bekenntnis zu einer Lebensfuumlhrung abgelegt und geradezu beschworen die selbst eingedenk des Todes noch ganz im Irdischen verharrt Fuumlnf folgende Strophen dann begruumlnden den Entschluszlig den die erste verkuumlndete auch ihre Aussagen bleiben durchshyaus im Bereiche des weingeweihten Diesseits Die letzte aber tritt nachshydem sie zunaumlchst das Bekenntnis der ersten aufgenommen in eine durchshyaus andere Sphaumlre Zwar setzt auch dort das irdische Trinkerleben sich fort aber der Spott der eben noch die letzte oumllung traf der Entschluszlig der ersten Strophe im Tode den Pokal zu zertruumlmmern lassen dieses Ende nicht erwarten

Ut dicant eum venerint angelorum chori Deus sit propitius huic potatori

heiszligt es in der raquoC 0 n fes s i 0laquo und solcher Gesang der Engelchoumlre beshyschlieszligt nun auch Buumlrgers koumlnigliches Sauflied 26 ein im religioumlsen Sprachbereich ausgebildetes Gebet um Gnade fuumlr den Suumlnder 27 - an dessen Stelle nun der Trinker steht - setzt den kraumlftigen Endakzent Wenn so unvermittelt das Sauflied in die Gebetsformel muumlndet scheint sich im Wortschatz in der Sprechhaltung im Hinblick auf die Geschehnisshyebene ein bruchhafter Wechsel zu vollziehen der die Einheitlichkeit des ganzen Gedichtes in Frage stellt Zwar folgen Vers- und Strophenbau zushygleich mit dem Reimschema der gtConfessiolaquo entlehnt ebenso wie die rhythmische Anlage des Liedes gleichbleibenden Aufbauprinzipien und stiften so eine formale Geschlossenheit des Ganzen aber gerade das treibt

28 Brief an Boie 18977 27 Vgl Lue1B 13 Deus propitius esto mihi peceatori

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den Umbruch der Schluszligbeschwerung nur um so kraumlftiger heraus Daszlig hier in Wahrheit keineswegs ein Bruch vorliegt daszlig dieser Sphaumlrenshywechsel durchaus nicht unvermittelt geschieht wird jedoch einsichtig sobald man die Sprache der Mittelstrophen schaumlrfer ins Auge faszligt Dann zeigt sich daszlig hinter der Bedeutungsoberflaumlche der Wortaussage vorshygeformtes Sprachgut aus eben der Sphaumlre wirksam ist zu der die schlieshyszligenden Verse sich erheben

Dem Wein dem der Sprechende selbst eingedenk des irdischen Endes noch sein Dasein verschreibt setzt die zweite Strophe die Speise zur Seite Beide Trank und Speise sind fuumlr das Leben noumltig - doch offenshybar nicht im Sinne notwendiger Ernaumlhrung Das erhalten meint kein einfad1es am-Leben-erhalten sondern ein im rechten Gleise im rechshyten Leben erhalten Das Schluszligwort der Strophe laumlszligt aufmerken Lebensreise erscheint als ein deutlich vorbelastetes vorgeformtes Sprad1stuumlck der religioumlsen Sphaumlre das (ausgehend von Gen 47 9) die christliche Deutung des Lebens als einer Reise durch die Weh zum jenshyseitigen Ziele in sich faszligt Trank und Speise in solchem Bedeutungsfeld als Hilfen die Lebensreise recht zu fuumlhren sie machen hinter dem lauten Gesang des Trinkers im fuumlnften Vers die liturgische Stimme vershynehmbar die Stimme des Geistlichen der die Hostie und den Wein reicht Nehmet hin und esset Nehmet hin und trinket das staumlrke und erhalte euch im rechten Glauben zum ewigen Leben Amenlaquo 28 Von andeshyrem Trank und anderer Speise als der vom Vater dargebotenen spricht der Sohn Doch im Bekenntnis des Zechlieds klingen noch immer jene Worte nach die von der Kraft des heiligen Mahles kuumlndeten weil das 11edium der Sprad1e die mit der Abendmahlsliturgie in sie eingeganshygenen Bedeutungsenergien bewahrt und fuumlr die Dichtung verfuumlgbar macht

Von der zweiten Strophe aufgerufen bleibt dieser Bezug auch in der dritten vierten und fuumlnften lebendig Hinter dem Zecher den Essen und Trinken der Angst und Schwaumld1e entheben so daszlig er einem Riesen standshyzuhalten vennag steigt das Bild des gottgestaumlrkten David herauf der dem Goliath standhaumllt Der aumlchte Wein und das aumldlte oumll derert Kraft die Seele zum Sternengewoumllbe erhebt gewinnen neue Bedeutung Hinter dem Harfenspieler und dem Himmelsklang seines Gesanges toumlnt leise der Psalm Davids zur Harfe zu singen und in der trunkseligen Prahshylerei der Erhebung uumlber Homer und Ossian mag damit eine verborgene Rechtfertigung solcher Selbsteinschaumltzung sich andeuten Sind die uumlbershytragenen Worte und Bilder hier dem Text des raquoZechlieds so weitshy

e8 In der Abendmahlsliturgie folgt diese in verschiedenen Fassungen gebraumluchliche Spclldeformc1 auf den Einsetzungsbericht Ausfuumlhrlich daruumlber P Graff Geschichte der Aufloumlsung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschshylands I 1937 S 197 ff

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gehend anverwandelt daszlig sie als fremdes Sprachgut kaum erkennbar werden heben sie sich in der sechsten Strophe doch wieder staumlrker ab erst der Abglanz der Erleuchtungsflammen des Pfingstwunders erhellt die Reden des Trunkenen als einwundersames Reden gar in fremden Zungen

Ein Vergleich mit dem Vorbild der lateinischen Beichtparodie der dies e Durchsichtigkeit auf den hinter der eigentlichen Aussage liegenden Sprach- und Bildbereich gaumlnzlich fehlt zeigt daszlig in Buumlrgers uumlbertragung eine sehr bewuszligte Absicht waltete Man halte gegen seine sechste Strophe etwa die Verse

Mihi nunquam spiritus prophetiae datur Non nisi cum fuerit venter bene satur Cum in arce cerebri Bacchus dominatur In me Phoebus irruit ac miranda fatur

Die Grundhaltung beider Gedichte unterscheidet sich wesentlich Mit den fuumlr die ganze raquoC 0 n fes s i 0laquo verbindlichen Versen

Voluptatis avidus magis quam salutis Mortuus in anima curam gero cutis

setzt der Archipoeta Diesseits und Jenseits gegeneinander und faumlllt seine klare Entscheidung fuumlr das eine gegen das andere Buumlrger aber verschmilzt die Bereiche Getragen von den sprachgebundenen Bedeutungsenergien die aus dem christlichen in einen houmlchst weltlichen Bereich des Sprechens uumlberfuumlhrt werden erhebt der bekenntnishafte Lebensbericht des Zechers sich zum Heilsbericht zum Preis einer uumlberirdischen und das Irdische vershywandelnden Macht die am Sprechenden wirksam wird Erst diese Spuren des weihevoll-heiligen Pathos dem Weine des schwoumlrenden protzenden singenden Zechers und Schlemmers beigemischt als ein verborgenes Arom bewirken jenes Entzuumlcken das Buumlrger mit der Lektuumlre des Gedichtes seinen Freunden verhieszlig29 Sie bereiten die schluszligbeschwerende Gebetsshyformel vor und bewirken daszlig statt eines Bruches hier der Aufschwung in jene Sphaumlre erfolgt die am inneren Aufbau des Liedes schon von Anshyfang an beteiligt war So vollendet sich das bekennende Sprechen des raquoZechliedslaquo am Ende in der inneren Form einer ihrer urspriinglichen Erfuumlllung mit christlichem Gehalt entleerten Heilsverkuumlndigung

i-

Mit jener Sprechweise des Geistlichen auf welche die Schluszligbeschweshyrung deutete haumlngt diese Form der He i I sv e r k uuml n d i gun g aufs engste zusammen Sie steht in Buumlrgers Werk durchaus nicht vereinzelt die im

29 Brief an Boie 18977

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religioumlsen Sprachgebrauch ausgebildeten Formmodelle finden hier zahlshyreiche und vielfaumlltige Entsprechungen die um so deutlicher erkennbar werden als sie noch immer merkliche Spuren auch des urspruumlnglichen Gehaltes tragen Sie erweisen sich als weltliche Kontrafakturen der relishygioumlsen Vorbilder 30 von denen sie nicht allein das organisierende Formshyprinzip beziehen sondern zugleich jenen Zuwachs an Bedeutungshaumlhe und Wirkungskraft den das Modell nur dann hergibt wenn es selbst noch als bedeutungshaltig und wirkungsfaumlhig intakt bleibt Die Annaumlherung auch der inhaltlichen Erfuumlllung dieser saumlkularisierten Formen an den christshylichen Denk- und Sprachbereich befoumlrdert ja begruumlndet ihre reichhaltige Erscheinung in Buumlrgers Lyrik

Ich glaube Luther wuumlrde dies Gedicht fuumlr ein wuumlrdiges Kirchenlied anerkannt haben schrieb AWSchlegel uumlber Die Elementelaquo (B 518) Schon mit dem Eingangsvers tritt es in die Form der Lehrvershykuumlndigung Horch Hohe Dinge lehr ich dich (I 68) Und diese Lehre vom Wesen der Elemente ist mehr als bloszlige Kundgabe Sie wird Maszligstab fuumlr den Belehrten Richtschnur Grundlage fuumlr das kommende Gericht Immer dringlicher wendet sie sich im Fortgang des Gedichtes an den Houmlrer selbst Sieh hin und her und Nun pruumlfe dich bis mit den oben (S 194) genannten Schluszligversen das lehrende Sprechen ins urteilende und verdammende uumlbergeht

Eine besondere Form der lehrhaft-bekennenden Rede macht das raquoDankl iedlaquo sichtbar (I 44ff) das Buumlrger urspruumlnglich Psalm nennen wollte und zu dem Boie ihm schrieb den denkenden Christen wird es entzuumlcken und erbauen aber den groumlszligten Haufen und Pastor Zuch - (12972) Es zeigt eine ganz symmetrische Anlage Die Eingangsstrophe wendet sich lobend an Gott den Schoumlpfer sechs folgende Strophen reihen auf was der Sprechende aus seiner Hand empfangen hat (daszlig es dabei ausgerechnet um die Liebe den Wein und den Gesang geht muszligte Pastor Zuch freilich wurmen) zwei Mittelstrophen bekennen daszlig die Fuumllle der Schoumlpfergaben nicht zu zaumlhlen sei (Wer zaumlhlt die Gaben alle Wer) und wenden sich auf den Sprecher selbst wieder sechs Strophen nennen dann die leiblichen und geistigen Eigenschaften die Gott ihm verliehen hat Hinter dieser Gaben Wunderschau aber wird Luthers Erklaumlrung zum 1 Artikel des Glaubensbekenntnisses sichtbar in der es nach der FrageWas ist das heiszligt Ich glaube daszlig mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mit Leib und Seele Augen Ohren und alle Glieshyder Vernunft und alle Sinne gegeben hat Gemaumlszlig den Schluszligworten der Erklaumlrung des alles ich ihm zu danken und zu loben schuldig bin muumlndet die letzte Strophe preisend und benedeiend in den liturgisch beshy

ao Zur Begriffsbestimmung dieser Saumlkularisationskategorie vgL S 289 ff

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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WELTLICHE KONTRAFAKTUR

Gottfried August Buumlrger

Ins Kirchenbuch von Molmerswende im Mansfeldischen schrieb der dashymalige Prediger des kleinen Doumlrfchens daszlig ihm am letzten Tag des zu Ende gehenden Jahres am 31Dezember 1747 ein Kind geboren worden sei Gottfried August Buumlrger Und die Besonderheit dieser Geburtsstunde wohl hat spaumlter den Sohn versucht der Wahrheit ein wenig Dichtung beishyzumischen Denn er war ein Poet geworden und hielt sich nicht fuumlr einen Spaumltling sondern fuumlr einen Beginnenden So erzaumlhlte er dem Arzt Ludwig Christoph Althof er sei geboren worden in der ersten Stunde des Jahres 1748 unter den Gesaumlngen womit man nach alter Sitte das angekommene neue Jahr vom Kirchthurme herab zu begruumlszligen pflegte 1

In viele seiner Lebensbeschreibungen hattJiese kleine Geburtslegendesich eingeschlichen und es scheint als habe Buumlrger ohne das zu woilen mit ihr auf eine tiefere Wahrheit gedeutet als die der aumluszligeren Genauigshykeit das erste was das Kind von der Welt empfing was ihm gleichsam in die Wiege gelegt wurde sind Worte einer Dichtung gewesen Verse aus den groszligen Neujahrsliedern der christlichen Kirche

Die beiden Paten die ihn zur Taufe trugen waren Geistliche wie sein Vater In das Haus des einen der die benachbarte Pans felder Pfarre vershywaltete und den Buumlrger mit seinem raquoPfarrer von Taubenhainlaquo geshymeint haben soll kam der Junge eine Zeitlang jeden Tag uumlber die Asseshyburgschen Felder hinuumlber um zusammen mit den dortigen Pastorskindern von einem Informator unterrichtet zu werden Aber im uumlbrigen wuchs er zwoumllf Jahre lang im vaumlterlichen Pfarrhause heran lernte nur wenig anderes als solche Lieder wie seine Geburtslegende sie erwaumlhnt die Geshyschichten der Bibel und das Lesen und Schreiben das er an ihnen uumlbte Denn mit dem Lateinischen haperte es sehr seinen Vater einen Liebshyhaber von Tobak und Bequemlichkeit kam es hart an einmal ein Viertelshystuumlndchen auf den Unterricht des Sohnes zu verwenden zumal er ihn

lLChr Althof Einige Nachrichten von den vornehmsten Lebensumstaumlnden Gottshytried Auiu~ Buumlrg~rs nebst einem Beitrag zur Charakteristik desselben 1798 (Zit nach d Abdruck in Buumlrgers saumlmmtL Werke hrsg AWBohtz 1835 S429ff Hier 5430) - Selbst Buumlrgers Grabstein nennt als Geburtstag den 1 Januar 1748

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fuumlr einen Dummkopf hielt von dem ohnehin nicht viel zu erwarten waumlre Und die Mutter hatte selbst kaum gelernt leserlich zu schreiben

Der Zwoumllfjaumlhrige verlieszlig das Vaterhaus ging zum Groszligvater nach Aschersleben und besuchte dort die lateinische Schule lutherischer Konshyfession Auch hier klingen die alten Kirchenlieder wieder auf von Amts wegen hatten die Scholaren an den Leichenkondukten teilzunehmen woshybei es auszligerordentlich viel zu singen gab 2 1760 dann fuumlhrt man Buumlrshyger als Schuumller des Koumlniglichen Paumldagogiums zu flaUe das ein orthodoxes Luthertum mit pietistischem Einschlag vertritt Neben dem Religionsshyunterricht und zahlreichen Andachtsuumlbungen betreiben die Lehrer eine spezielle cura animarum auf den Schuumllerstuben es wird von haumlufiger Kommunion berichtet der rigorose Seelenpruumlfungen vorangehen noch bei Tische liest man aus geistlichen Buumlchern vor und des Schulinspektors scharfer Tadel ergeht selbst an die Praumlzeptoren wenn sie versuchen dashybei in eine Zeitung zu schielen a

Nach drei Jahren holt der Groszligvater den Jungen aus Halle zuruumld Es ist ein alter eigensinniger Mann schreibt der Inspektor am 5 Sepshytember 1763 in seine Akten~p~r kleine Engel sitzt in Prima ein Halbshyjahr und ist ohngefaumlhr 15 Jahr a1t~-Er-welntemiddotunc1middotmiddotl5at ich moumlchte doch seine Stelle noch nicht vergeben er wollte beim Groszligvater um Prolonshygation bitten Aber der alte Mann hats abgeschlagen 4

Im Jahr darauf bezieht der Sechzehn jaumlhrige die Universitaumlt Halle um Theologie zu studieren Althof hat erklaumlrt daszlig diese Studienrichtung seiner eigenen Neigung ganz entgegen gewesen und durch den groszligvaumltershylichen Willen bestimmt worden sei Buumlrger haumltte lieber jedes andere Fach gewaumlhlt aber der alte Mann von dem er zumal nach dem bald darauf erfolgten Tode seines Vaters gaumlnzlich abhing habe durchaus einen Geistlichen aus ihm machen wollen Inwieweit das auch im Willen des Vaters lag der selbst ja auch in Halle sein Theologiestudium absolviert hatte bleibt ungewiszlig Er war nicht mehr am Leben als der junge Theoshy

2 HProumlhle GABuumlrger Sein Leben u s Dichtungen 1856 S28 3 VgL ADaniel Buumlrger auf der Schule (Progr d kgL Paumldagogiums zu Halle 1845)

Wiederabdruck in Zerstreute Blaumltter 1886 S 47 f Althof berichtet (a a O S432) daszlig einer der Lehrer mit seinen Schuumllern uumlbungen im Versemachen veranstaltet habe indem er ihnen Anfangs Verse aus den besten Deutschen Dichtern in versetzter Ordshynung der Woumlrter aufgegeben um sie wieder in die metrische Ordnung zu bringen und daszlig sich bei Buumlrger schon damals die entschiedene Anlage zur Dichtkunst und die besondere Vorliebe fuumlr die Volks-Poesie deutlich verrathen haben Auch hier ist freishylich zu vermuten daszlig die Neigung des alternden Buumlrger und seines Biographen zur Leg~ndenbildung uumlber die Tatsachen hinweggeht Denn Danicl (a a O S68) der aus den Schulakten die genauen Lektionsplaumlne und Schuumllerlisten zusammensuchte hat festshygestellt daszlig bei dem betreffenden Praumlzeptor niemals oratorischen oder deutshyschen Unterricht gehabt hat in dem allein Raum fuumlr solche Versuumlbungen gewesen sein koumlnnte

4 A Daniel S 72 5 A a O S 432

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loge schon nach wenigen Semestern vom Groszligvater nach Aschersleben zuruumlckgerufen Halle wieder verlieszlig und die Gottesgelehrsamkeit aufshygab 1768 ging Buumlrger aufs neue zur Universitaumlt diesmal nach Goumlttingen - zum Studium der Jurisprudenz~

Von dieser Zeit an zeigen seine Briefe eine zunehmende Entfernung von der strengen lutherischen Orthodoxie die die ersten zwanzig Jahre seines Lebens bestimmt hatte Ein zuverlaumlssigeres Zeugnis als die sehr unterschiedlich gefaumlrbten Gelegenheitsaumluszligerungen uumlber sein Verhaumlltnis zum Christentum gibt dafuumlr die Art des Umgangs mit dem angestammshyten religioumlsen Sprachgut Bibelworte Verse des Kirchenliedes und liturshygische Formeln vor allem werden voumlllig unbedenklich aus dem geheiligten Kodex geloumlst und ohne die mindeste Ruumlcksicht auf ihren ehrwuumlrdigen Ursprung gaumlnzlich auszligerreligioumlsen ja vorzugsweise spielerischen und scherzhaften Zwecken dienstbar gemacht Sie sind gerade gut genug

6 Die Buumlrger-Biographen pflegen die Hallenser Studentenzeit in duumlsteren Farben zu malen Da ist der Umgang mit Chr A Klotz dem Professor der Beredsamkeit in dessen Hause ein junger Theologe sich eigentlich nicht haumltte bewegen sollen da wird berichtet von einem sittenlosen Bummelleben und dem Miszligfallen an der Theologie mit der sich Buumlrgers sinnliches Temperament nicht vertragen habe In Wahrheit weiszlig man uumlber das alles kaum Genaues Sicher ist nur daszlig Buumlrger verbotenerweise an der Gruumlndung einer niedersaumlchsischen Landsmannschaft beteiligt war auf eine Denunziashytion hin mit seinen Freunden beim Gruumlndungsschmaus vom Pedellen erwischt und zu einer Woche Karzer verurteilt wurde Wahrscheinlich hat dieser Vorfall fuumlr den alten

f eigensinnigen Mann in Aschersleben schon ausgereicht um seinen Enkel zuruumlckzushybeordern Zwar heiszlig~ es im y_erhoumlspItokltill PJ g~2Iilt~LsE~(LtilloLAger houmlret Collegia beiHerrn Prof Hansen und studirr jura aber einiges muszlig er in Halk_ -~wohl auch fuumlr sein Theologiestudium getaiihaben denn de~lgis~e Dekan --- ---dls ares 176768 vermer t l~ctrszligerltrm---ei111iDgaumln szeu nis ausgestent~-~

- a e V rouml e In As ers e en onnte Buumlrger den Groszligvater um--- - stimmen zu Ostern 1768 ging er nach Goumlttingen Er nahm Quartier in dem uumlbel beshy

leumdeten Haus einer Madame Sachse der Schwiegermutter des Professors Klotz in Halle ein Brief den er 1770 an den Goumlttinger Prorektor schreibt berichtet von einer Pruumlgelei zwischen ihm und einem Nebenbuhler im Schlafgemach der Witwe Bandmann einer der Toumlchter des Hauses Nach Madame Sachses Tod zog er 1771 schwer verschuldet in ein Kuumlrschnerhaus und jetzt setzt offenbar eine Vandlung ein Schon seit dem Winshyter 7071 ruumlhmen die Lehrer seine gruumlndlichen rechtswissenschaftlichen Kenntnisse seinen Eifer Fleiszlig und sittsam-bescheidenen Lebenswandel Es liegt zwar nahe auch die Halleshyschen Vorgaumlnge so zu erklaumlren wie Boie der am 281 71 an Gleim schreibt daszlig Buumlrgers freyes lustiges Leben die Herren Theologen verhindert haumltte ihm gute Zeugshynisse zu geben auf Grund der wenigen zuverlaumlssigen Nachrichten ist es aber viel wahrscheinlicher daszlig die Biographen von den ersten Goumlttinger Semestern auf die Hallenser Zeit zUfUumlckgeschlossen haben und also das wirklich zuumlgellose und verwilderte Leben erst einsetzte als der Zwanzigjaumlhrige die geradlinige Entwicklung die ihn vom Molmerswender Pfarrhaus uumlber die Lateinschule in Aschersleben und das Koumlnigliche Paumldagogium nadl Halle gefuumlhrt hatte abbrach und seinem Leben eine gaumlnzlich neue Wendung gab Goumlttingen bleibt fortan bestimmend fuumlr den spaumlteren Amtsverwalter im benachbarten Gelliehausen und den Dozenten an der Georgia Augusta Die Theoshylogie liegt hinter ihm

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einem Brief jene Wuumlrze zu geben die dem Bewuszligtsein unangemessener Verwendung dieser Sprache entspringt Vom Leichtfertigen fuumlhrt das zushymal in den spaumlteren Zeugnissen bis an den Rand des Blasphemischen auf eine Mitteilung H Chr Boies des Freundes in Goumlttingen er gedenke eine reiche Frau zu heiraten antwortet Buumlrger am 13881 7 Wenn ich noch einmal wieder in meinem Leben heuumlrathen sollte wahrhaftig ich heuumlrathete wol eine Kuh wenn sie nur an der bewusten Vernunft [naumlmshylich am Gelde] keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte dich bei dieser Philosophie Amen Amen GA Buumlrger Daszlig die Sprache sich in solcher Weise aus ihren alten Bindungen loumlst waumlre kaum denkbar ohne eine Distanzierung auch des Sprechenden selbst vom Geist des vaumltershylichen Pfarrhauses

Wir wenden uns diesen Vorgaumlngen nicht mit jener Ausfuumlhrlichkeit zu die sie verdienten wenn es um eine Darstellung der inneren Entwicklung Buumlrgers ginge Auch fuumlr unsere Fragestellung aber sind sie bedeutungsshyvoll als Voraussetzung als Ermoumlglichungsgrund dichterischer Gestaltungsshyweisen Denn daszlig hier ein Abfall vollzogen wurde daszlig Buumlrger sich geshyloumlst hat von dem Gesetz nach dem er angetreten war auch ihm selber sehr wohl bewuszligt Wenn er an Boie uumlber den Dr Pideritt schreibt raquoSo viel ich aber aus einer Recension seiner Vertheydigung des Kanons der heil Schrifft 2tes Stuumlck muthmaszlige so mag er wohl einen Bannstral auf meine gottlosen Gedichte geworfen haben indem es heiszligt daszlig er zum Beweise gegenwaumlrtiger irreligioumlser und sittenloser Zeiten verschiedene Gedidlte aus den MusenAlmanachen angefuumlhrt habe (11676) so wird unter den ironischen Toumlnen doch deutlich spuumlrbar daszlig er sich mit seinen Dichtungen in einem anderen Raume weiszlig als dem seines Ursprungs

Es gibt wohl kein Zeugnis das in dieser Hinsicht aufschluszligreicher ja verraumlterischer waumlre als die Stelle aus einem Brief vom Sommer 1775 an Goethe Wie behaumlglich von der bekannten AlltagsleyerMe10dey der um uns plaumlrrenden Christlichen Gemeine unterweilen abbrechen und sein innres Seelenstuumlckchen anstimmen zu koumlnnen

Das ist mit Entchristlichung nicht einfach gleichzusetzen der tiefere Bereich persoumlnlicher Glaubenshaltung entzieht sich unserer Einsid1t Aber es bezeugt eine Abwendung vom strengen Kirchenchristentum und macht deutlich daszlig der Schreiber seine eigentlid1e Bestimmung auszligerhalb des religioumls-dogmatischen Raumes sieht Immerhin AlltagsleyerMelodey und innres Seelenstuumlckchen plaumlrren und anstimmen zeigen unershyachtet der recht eindeutigen Bewertung doch noch die Verwandtschaft einys gemeinsamen Wortfeldes und werden durchaus in einem Atemzug genannt Das aufschluszligreich genug Denn es deutet auf ein Verhaumlltnis

7 Vfenn nicht anders angegeben stammen die Briefzitate stets aus der Sammlung Briefe von und an Gottfried August Buumlrger hrsg A Strodtmann 4 Bde 1874

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zwischen religioumlsem und dichterischem Wort (so darf man ohne Zweifel uumlbersetzen) in dem zwar das erste dem zweiten untergeordnet wird aber doch noch immer eines mit dem anderen verbunden bleibt

Auch das Woumlrtdlen unterweilen wird man dabei nicht ganz uumlbershysehen duumlrfen Unterweilen hat Buumlrger seinem Verleger Dieterich gegenshyuumlber (und es gibt andere aumlhnliche Faumllle) in einem Brief vom 1 81782 die Weisheit und Guumlte goumlttlicher Vorsehung die jenseits menschlicher Einshysichtsfaumlhigkeit liegt mit Nachdruck ja mit Leidenschaft verteidigt - um dann dem Freunde selbst die Frage in den Mund zu legen Wie koumlmmt Saul unter die Propheten Dieses Sauls eigentliches Amt ist nidlt die AlltagsleyerMelodey sondern das innre Seelenstuumlckchen dichte- rischer Gestaltung Aber dabei grundet doch das eine auf dem anderen Was er anstimmt transponiert die alte Melodie in eine neue Tonart jenes Abbredlen wird zum Synonym einer weltlichen Kontrafaktur

Ich denke nicht heiszligt es im Vorbericht zur raquoIl i a slaquo-Obersetzung das Jemand die Umstaumlnde und das Aufheben welche ich hier mache uumlbertrieben abgeschmackt und laumlcherlich finden werde er muumlszligte denn anders die Kunst lebendiger Darstellung so wie das edle nicht Jedershymann von Gott verliehene Seelenvermoumlgen worauf sie sich gruumlndet und eins der wichtigsten Mittel deren sie sich bedient die Sprache die nie goumlttlich genug zu verehrende Sprache sie das theuerste heiligste Werkshyzeug des wirkenden Menschengeistes sie welche zu allen andern Wissenshyschaften spricht Ohne mich koumlnnet ihr nichts thun alles das muumlszligte er

( also fuumlr Lumpereien und unter der Wuumlrde maumlnnlicher Bemuumlhungen halten 8

Buumlrgers theoretische Schriften enthalten eine Fuumllle solcher Aumluszligerungen uumlber die Sprache und den dichterischen Umgang mit ihr die gekennshyzeichnet sind durch einen Anspruch dessen Unbedingheit den Bereich des wirkenden Menschengeistes auf das Religioumlse hin oumlffnet Literarische Taumltigkeit wird ins Heilige und Goumlttliche erhoumlht als edelste Bestimmung des Menschen uumlberhaupt und als Gnadengabe verstanden die nur den Auserwaumlhlten zuteil geworden Dichtung wird zum Gottesdienst der Wortverwaltung Das aber wird keineswegs als ein Obertragungsvorshygang begriffen und in seiner Problematik bedacht sondern erscheint als ein durchaus unreflektierter Akt und wird sichtbar allein als sprachlicher Vorgang Die aumlsthetischen Eroumlrterungen ziehen ihr Vokabular zu wesentshylichen Teilen aus den religioumlsen Texten nutzen gleichsam die Beglaubishygungskraft dieser Worte die ihnen von ihrem Ursprung her anhaftet shyohne daszlig dabei doch dieser Herkunftsbereich selber noch als Maszligstab und Bewertungsgrundlage gegenwaumlrtig bliebe Es geht nicht mehr um

8 Zitiert wird - von den GediChten abgesehen - nam Buumlrgers saumlmmtliche Werke hrsg A W Bohtz 1835 Abgekuumlrzt B hier S 184

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didaktische Verweisungen sondern um aumlsthetische Bereicherung Das Pfarrhaus wird abgebrochen damit was brauchbar und ansehnlich scheint unter den alten Steinen fuumlr den Bau des neuen Hauses verwendet werden kann Diesen Bezug auf die religioumlse Sprache auf den Luthertext insonderheit hat Buumlrger sich bis in stilistische Einzelheiten hinein bewuszligt gemacht In seinen raquoGedanken uumlber die Beschaffenheit einer Deutschen Uumlbersetzung des Homerlaquo etwa heigt es nachdem der Verfasser die von ihm bevorzugte Anfangsstellung des Hauptzeitwortes besprochen hat Ich habe keinen Platz zu Beispielen aber man wird ihrer genug finden welche dies Alles bestaumltigen Man schlage nur Luthers Bibel-uumlbersetzung und seine uumlbrigen Schriften nach auf jeder Seite sind weld1e Die poetischen Buumlcher der heiligen Schrift hat Luther mit dem besten Geschmacke fuumlr seine Zeiten so echt Deutsch und so feurig uumlbershysetzt daszlig man daruumlber erstaunen muszlig Ein fleiszligiger Sprachforscher muumlszligte unsere neuere Sprache mit den vortrefflichsten Schaumltzen aus den Schriften dieses bewundernswuumlrdigen Mannes wovor unseren Hominibus delicatulis so ekelt bereichern koumlnnen (B 137 L)

Die Stelle dessen was zwanzig Jahre lang dem Pfarrersohn als das Houmlchste und Heiligste vorgestellt und eingepraumlgt wurde was er hinter sidl lieszlig als er das Studium der Theologie in Halle abbrach vermochten die Jurisprudenz die Geschaumlfte des Amtsverwalters die Lehrtaumltigkeit des Dozenten keineswegs einzunehmen und auszufuumlllen Seine Berufstaumltigshykeit blieb fuumlr Buumlrger lebenslang eine Plage eine Quelle des Miszligmuts und der Verzweiflung Faumlhig dazu war allein die Po esie nur das innre Seelenstuumlckchen konnte die Klaumlnge der alten Melodie in sich aufnehmen und fortfuumlhren ~

Wie er uumlber Stolberg sagt Mich duumlnkt ich lese einen Propheten wenn ich seine Prosa lese 9 so schreibt er an Boie Uumlbrigens lebe und webe ich in den Reliques Sie sind meine Morgen und AbendAndacht 10 wie er von Shakespeare erklaumlrt Ihn kann man die Bibel der Dichter nenshynen 11 so urteilt er uumlber die unerwuumlnschten Rezensenten Und wenn der Engel Gabriel vom Himmel kaumlme und ihnen Poetik predigte so wuumlrde er dennoch nichts ausrichten 12 Mit voumllliger Unbefangenheit fast moumlchte man sagen mit der Unschuld des Selbstverstaumlndlichen wird das Vokabushylar beider Bereiche vermischt Die Aufloumlsung der Kodifikation kennt keine Grenzen mehr Denn die Saumlkularisation dient hier nicht dazu den religioumlsen Text als einen weltlicher Sprache integrierten Maszligstab fuumlr menschliches Reden und Handeln wirksam zu machen sondern sie nutzt ihn nur mehr als Mittel zu ihrer Erhoumlhung und Steigerung ein Buch

o Dt Museum Juli 1777 Zu FrLStolbergs raquouumlber die Fuumllle des Herzenslaquo 10 7477 Meint Percy Reliques of Ancient English Poctry London 1765 11 An Boie 15976 12 An Boie 31278

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wirft Licht auf das andere Buch aber - es ist nicht mehr das Licht der Erkenntnis dessen was gut und boumlse sei (Vgl S148 f)

Wie auf die Werke der Dichtkunst so faumlllt der Glanz dieses geborgten Lichtes auch auf die Dichter selbst Was Christus uumlber alle menschliche Macht und Groumlszlige erhebt wird jetzt auch dem Poeten zugesprochen sein Reich ist nicht von dieser Welt 13 und die Verheiszligungen die dem Chrishysten gegeben sind wandeln in der uumlbertragung ihre Formen nur gerade so viel wie noumltig ist um fuumlr den neuen Anwendungsbereidl braudlbar zu sein Einem unbekannten Empfaumlnger schreibt Buumlrger am 621772 meine Briefe sollen Ihnen hinfort wenigstens alle vier Wochen jenen biblischen Spruch parodieren Bleib den Musen getreuuml bis in den Tod so wird dir Apoll die Krone des ewigen Nachruhms geben Parodieren shydas meint hier nichtmiddotdie Entstellung den Entwurf eines scherzhaften oder boumlsartigen Gegenbildes sondern Akkomodation uumlbertragung und Anshypassung Es richtet sich nicht gegen den vorgegebenen Text aber es nimmt ihn auch nicht mehr ernst in seinem unbedingten und ausschlieszligenshyden Anspruch Schon deutet es in die Richtung einer uumlberarbeitung des Originals nach dem verbesserten Geschmack unsrer Zeit in einer neuen Einkleidung und Ordnung der Gedanken (v gl u S 269Anm 2) Dieser ) verbesserte Geschmack freilich ist kaum mehr als ein veraumlndertes thematisches Interesse In Wahrheit fehlt diesen uumlbertragungen geshylegentlich selbst der gute Geschmack und es kennzeichnet zugleich die

( uneingeschraumlnkte Verfuumlgbarkeit des religioumlsen Sprachgutes wenn Buumlrger auch auf betraumlchtliche Houmlhenunterschiede zwischen Ursprungs- und Anshywendungsbereich kaum mehr Ruumlcksicht nimmt An Goeckingk der ihm aus seiner fatalen aumluszligeren Situation heraushelfen will schreibt er anshystandslos wenn Sie mein Erloumlser seyn und mich den Musen wiedershyschenken koumlnnten - Sie wuumlrden mir das seyn was der Engel dem geshyfangenen Apostel in der Apostel Geschichte war 14 Ein gewisses Vershygnuumlgen am Miszligbrauch des Vorbildes und die ganz ernsthafte Absicht dem Sachverhalt Nachdrud und Gewicht zu geben sind hier wohl kaum zu trennen Aber ohne Zweifel steht dahinter ein Wertbewuszligtsein dem kein Preis zu hoch ist wenn es gilt den Anspruch und die Wuumlrde des poetischen Amtes zu verkuumlnden und durchzusetzen

So heiszligt es in den raquoGedanken uumlber die Beschaffenheit einer Deutschen uumlbersetzung des Homerlaquo Statt aller Untersuchunshygen uumlber diesen Punct koumlnnte der Streit wohl nicht angenehmer fuumlr den Zuschauer beigelegt werden als wenn der Genius unserer Literatur einen Mann von Genie und Kenntniszlig erweckte welcher zwischen die Zanshy

13 An Bollmann 22790 14 29675 Aus dem Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk hrsg A Sauer

Vjs f Litgesch III 1890 hier S 68

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kenden mit einer Uumlbersetzung traumlte uumlber welche man schreiben koumlnnte Der Nachwelt und der Ewigkeit heilig (B 135) Dem aufmerkshysamen Leser kann der Hintergrund der kleinen Szene nicht verborgen bleiben die hier entworfen wird Der Uumlbersetzer-Dichter er erscheint als ein neuer Moses welcher vom Gott seines Volkes erweckt unter die Israeliten tritt mit jenen Gebotstafeln die der christlichen Nachwelt und der Ewigkeit heilig sind (Selbst das Wort von den Zankenden die um die Homer-Uumlbersetzung miteinander im Streite liegen scheint auf den biblischen Bericht zu deuten Bei der Ruumlckkehr vom Sinai spricht Josua zu Moses Es ist ein Geschrei im Lager wie im Streit Er antshywortete Es ist nicht ein Geschrei gegen einander derer die obliegen und unterliegen sondern ich houmlre ein Geschrei eines Singetanzes Ex 3217 f)

Buumlrger selbst ist es der nach diesem Vorwort mit Proben seiner jamshybischen Lrbersetzung unter die Zankenden tritt - aber er zieht es vor dem Anspruch des Moses-Bildes auszuweichen Das bleibt dem Vollender uumlberlassen Fuumlr die eigene Person und das eigene Werk waumlhlt er ein anderes Modell Wenn ich gleich derjenige selbst nicht bin auf welchen unser Volk hoffet (denn ich muumlszligte den unversc~aumlmtesten Knabenstolz besitzen wenn ich mir einbildete daszlig ichs waumlre) so kann ich doch vielleicht zu der Ehre eines Vorlaumlufers dessen der kommen wird gelangen Auf den Worten des neutestamentlichen Vorlaumlufers Johannes des Taumlufers der die messianische Erwartung des Volkes von sich selber abweist und auf jenen Groumlszligeren lenkt der kommen wird gruumlndet die Haltung des raquoIliaslaquoshyObersetzers aus ihnen gewinnt sie dem eigenen Versuch dem Probestuumld~ Bedeutsamkeit und Gewicht Eine Entsprechung zur Saumlkularisationsform figuraler Gestaltung ist nicht zu verkennen Aber wenngleich hier wie dort eine dichterische Figur dem vorbildlichen Modell gleichgeformt wird J

geht es doch dort darum sie durchzusetzen und zu rechtfertigen auf der Grundlage des Imitatio-Denkens - hier aber sie zu steigern und zu ershyhoumlhen allein um ihrer selbst willen Der Dichter erscheint als Gottesmann weil er in dieser Gestalt dem Profanen enthoben ist

In der Behandlung aller Fragen die ihm wirklich am Herzen liegen greift Buumlrger zuruumlck auf den Sprach- und Formenschatz der ihm jahreshylang als Ausdrucksvorrat fuumlr das Wesentliche und Bedeutsame vermittelt wurde Bis in die Uumlberlegungen zum dichterischen Schaffensprozeszlig fuumlhrt das die deutlich unter der praumlgenden Kraft des Berichtes vom goumlttshylichen Schoumlpfungsakt stehen Jeder Kuumlnstler schreibt er an Schushybart sollte es sich daher zur Maxime madlen keines seiner Verke eher unter fremde Augen treten zu lassen als bis er nach Jahrelangem Anshyschauen alles dessen so er gemacht sagen koumlnnte Siehe da es ist alles sehr gut 15

15 12992 - Vgl die Goumlttliche Zufricdenhcits-Formel Geni 31

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Nichts anderes als eine uumlbertragung des reformatorischen Verhaumlltnisses zur Schrift und seine Anpassung an den Umgang mit dem dichterischen Vort ist sein Verantwortungsgefuumlhl und seine Treue gegenuumlber dem unshyverriickbaren Text ja der Glaube daszlig am Buchstaben das Heil haumlngen koumlnne Gleichguumlltig welcher Grad von bewuszligter Einsicht in diese Zushysammenhaumlnge auch vorgelegen haben mag Buumlrgers Aumluszligerungen uumlber solche Fragen speisen sich unablaumlssig aus der religioumlsen Sprachquelle So begleitet er Anfang 1784 die uumlbersendung eines Manuskriptes an Goeckingk mit der leidenschaftlichen Ermahnung Houmlrt ihr daszlig also nur nicht ein Puumlnctchen zu geschweige denn ein Buchstab oder gar ein Wort fehlt Ihr seht sonst Euumlres Ungluumlcks kein Ende weder hier zeitlich noch dort ewig

Die fuumlr Buumlrger so bezeichnende Neigung zur unermuumldlichen oft geradeshyzu kleinlich anmutenden uumlberarbeitung und Ausfeilung seiner Gedichte wird man in unmittelbarem Zusammenhang sehen muumlssen mit jener Heishyligung der Werktreue die der Protestantismus entwickelt hat und es ist charakteristisch fuumlr die Denkweise des ganzen Buumlrgerschen Freundesshykreises wenn Meyer ihm zu einigen Gedichten die er fuumlr den Musenshyalmanach schickt am 971793 entschuldigend schreibt sie haumltten noch Mangel der Feile die vor Gott und Menschen angenehm ist

Solche Einzelbeobachtungen und man koumlnnte sie beliebig vermehren machen deutlich wie folgerichtig der Weg von Molmerswende nach Halle seine Fortsetzung verlangt auch wenn er nun in andere Gefilde fuumlhrt wie tief der Erbzwang den Pfarrersohn bestimmt uumlberdem bin ich einmal ein Theologe gewesen schreibt er an Goeckingk und von der Zeit haumlngt mir illud Theologorum decantatissimum Dic et servasti animam immer noch an 16 Schon 1772 erklaumlrte er sich gegen seine bisherige wolshyluumlstige und taumlndelnde Dichtungsart von allen moralischen Sentimens entbloumlszligt weil er meinte damit verloumlre die Poesie ihr erhabenes Amt Lehrerin der Menschen zu seyn 17

Im engsten Zusammenhang damit muszlig nun Buumlrgers Glaubensartikel von der P 0 pul a ri t auml t der Poesie gesehen werden Denn wenn von der kirchlichen Wortverkuumlndigung her das Amt Lehrerin der Menschen zu seyn auf die Dichtung uumlbertragen wird so faumlllt ihr zugleich die Pflicht zu ins Breite zu wirken einem unbegrenzten Leserkreise zugaumlnglich und verstaumlndlich zu sein Buumlrger nennt als seine Maxime wenn nicht Alle n dennoch den Me ist e n - versteht sich ohne weder sich selbst noch der Dichtkunst etwas zu vergeben - zu gleicher Zeit zu gefallen 18 Nur

1G 3675 Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk S65 11 Brief an Boie 2 11 72 lB Die Problematik der Popularitaumlt die an dem eingeschobenen einschraumlnkenden

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dieGuumlnstlinge die dieses Ziel erreichen sind die gewaltigen Herzensshybezaumlhmer und Zauberer die ihre guumlldenen Staumlbe nie vergebens zucken und uumlber jedes Zei tal ter in immer lebendiger Kraft herrschen Nie verra uchen die Opfer auf ihren Altaumlren und unvergaumlnglich bluumlhen ihre Kraumlnze (B 178 f) Nur sie sprechen in Vollmacht Die Opferaltaumlre und der Bezug auf jene Staumlbe die vor dem Pharao von den aumlgyptischen Zauberern vergeblich dann aber von Moses und Aaron nie vergebens ausgereckt wurden 19

begruumlnden eine Priesterschaft der Wortverwaltung zu bestaumltigen die Wahrheit des Artikels woran ich festiglich glaube und welcher die Axe ist woherum meine ganze Poetik sich drehet Alle darstellende Bildshynerei kann und soll volksmaumlszligig seyn Denn das ist das Siegel ihrer Vollshykommenheit 20

Dieser Artikel von der Popularitaumlt der Dichtung Buumlrgers Glaubensshybekenntnis empfaumlngt in der Tat einen entscheidenden Anstoszlig aus der Predigt- und Seelsorgehaltung der er unter der vaumlterlichen Kanzel beshygegnete Wenn er scherzhaft an Meyer schreibt ein gottseliges Comite untersuche woher es wohl komme daszlig der Gottesdienst in der Unishyversitaumltskirche so sparsam besucht werde Ich denke mit Recht wird Euer gepredigtes Evangelium als eine der vornehmsten Ursachen oben an geshystellt werden (121 89) so liegt dem ganz der gleiche Gedanke zushygrunde der auch die Wirkungspoetik seiner Abhandlungen zur VolksshyPoesie bestimmt Es ist das saumlkularisierte Predigerethos das aus dem leishydenschaftlichen raquoHerzensausguszliglaquo spricht Durch Popularitaumlt mein ich soll die Poesie das wieder werden wozu sie Gott erschaffen und in die Seelen der Auserwaumlhlten gelegt hat Lebendiger Odem der uumlber aller Menschen Herzen und Sinnen hinweht Odem Gottes der vom Schlaf und Tod aufweckt Die Blinden sehend die Tauben houmlrend die Lahmen gehend und die Aussaumltzigen rein macht Und das Alles zum Heil und Frommen des Menschengeschlechts in diesem Jammerthaie (B 321) 21

Die Beobachtung solcher Umsetzungsvorgaumlnge die Buumlrgers theoretische Aumluszligerungen gedanklich und sprachlich bestimmen leitet zu unserer eigentlichen Frage nach der Bedeutung und Beschaffenheit der Saumlkularishysationsphaumlnomene in seinem d ich t e r i s c he n Werk

(wenn nicht gar aufhebenden) Satz zu entwickeln waumlre kann hier nicht ausgefuumlhrt werden Sie kommt in Schillers und A W Schlegels Buumlrger-Abhandlungen zur Sprache

Vgl Ex7-10 20 B S324 (Vorrede zur Ausgabe der Gedidlte 1778) 2 Ober eine ganz entsprechende neue Einstellung zum Volksganzen raquowelche die

seelsorgerliche Haltung des Vaters unmittelbar fortzusetzen scheint handelt H Schoumlffshyler Das literarische Zuumlrich 1925 S42f

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Unmittelbare und ausdruumlckliche biographische Zeugnisse fuumlr den Einshyfluszlig des religioumlsen Schrifttums gibt es kaum Immerhin finden sich einige Hinweise in den Aufzeichnungen Althofs die auf Buumlrgers eigenen freishylich sehr spaumlten muumlndlichen Auszligerungen beruhen Durch sie wird uumlbershyliefert daszlig der Junge bis in sein zehntes Lebensjahr hinein durchaus nicht mehr lernte als Lesen und Schreiben wohl aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse behielt was er sowohl in der Bibel als im Gesangshybuche las ja daszlig er wie er meinte das ganze Gesangbuch ohne Schwieshyrigkeit auswendig gelernt haben wuumlrde (B 431) Von den houmlchst aufshyschluszligreichen Einzelheiten dieser fruumlh gelegten Bibel- und Gesangbuch- kenntnisse muszlig spaumlter die Rede sein Hier wird zunaumlchst nur Althofs Mitteilung wichtig daszlig schon der Knabe ohne durch andere Muster als welche Bibel und Gesangbuch ihm lieferten dazu aufgefordert zu werden anfing Verse zu machen ehe er noch die allerersten Elemente der Grammatik erlernt hattelaquo (B 431) Das ist gewiszlig nicht so zu verstehen als habe der junge Verseschmied damals noch kein grammatisch fehlershyfreies Deutsch sprechen oder schreiben koumlnnen Grammatik lernte man an der Fremdsprache Buumlrger begegnete ihr also im lateinischen Untershyricht - und cr konnte ungeachtet aller Schlaumlge in zwei Jahren noch nicht Mensa decliniren (B 431) Diese Randbemerkung macht einsichtig

( daszlig es sich bei den poetischen Anregungen durch Bibel und Kirchenlied um ganz unreflektierte dem kontrollierenden Sprach- und Kunstbewuszligtshysein entzogene Vorgaumlnge handelt Das deckt sich voumlllig mit Althofs Aufshyzeichnung Buumlrger versicherte ferner So wenig diese Fertigkeiten als irgend eine andere Kenntniszlig seines nachfolgenden Lebens bis in sein maumlnnliches Alter haumltten ihm die geringste Anstrengung oder Muumlhe geshykostet es waumlre auch sehr wenig was er von Lehrern und aus Buumlchern geshylernt haumltte da es ihm immer in den Lehrstunden an Aufmerksamkeit und auszliger denselben an Geduld gefehlet ein Buch anhaltend aus zu lesen Er muumlszligte sich oft innerlich wundern wenn er einen Blick in die Vorrathsshykammer seiner Kenntnisse thaumlte wie und woher der Plunder alle hinein gekommen Das Meiste waumlre ihm hier und da und dort und uumlberall wie VOn selbst gleichsam angeflogen (B 431) Nichts konnte ihm so sehr von selbst anfliegen wie die Worte Bilder und Formen der heiligen Texte die von den Jugendjahren im vaumlterlichen Pfarrhaus bis zum Abbruch des theologischen Studiums in Halle sein taumlglicher Umgang waren Was aber fuumlr ihre Aufnahme gilt ist nicht weniger guumlltig fuumlr ihre Verwendung die Saumlkularisationsvorgaumlnge entziehen sich weithin dem Bewuszligtsein des Schreibenden Durch ihn hindurch aber oft ohne seine Absicht und ohne sein Dazutun wirkt hier die religioumlse Sprache auf das Kunstwerk ein

Der eigentliche Zugang zu diesen Phaumlnomenen kann deshalb nicht durch die Beschaumlftigung mit der Person des Autors gewonnen werden

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welches Forschers Geist hat Buumlrger selbst erklaumlrt kann sich immer so tief und innig in den Geist des Kuumlnstlers versenken um etwas mit Sicherheit auszumachen welches dieser oft selbst nicht recht weiszlig naumlmshylich was fuumlr Bestinunungsgruumlnde jeglichen seiner Schritte zum Ziele leitet haben 22 Nur im Ziele selbst im Zustandegekommenen WIrd wohl der eine oder andere Bestimmungsgrund erkennbar der Weg dahin fuumlhrt also nicht uumlber die Versenkung in den Geist des Kuumlnstlers sondern uumlber die Betrachtung des Kunstwerkes selbst

In dem 1782 entstandenen kleinen Gedicht raquoDer klug e Heldlaquo23 wird erzaumlhlt wie ein junger Soldat um der Gefahr zu entgehen am Tag vor der Schlacht einen Urlaub erbittet angeblich damit sein sterbender Vater ihm noch den Abschiedskuszlig geben koumlnne Die letzten Verse lauten

Sehr wohl versetzt der Chef und laumlchelt vor sich nieder Reis hurtig ab mein Sohn Denn nach der Bibel muszlig Dein Vater nach Gebuumlhr von dir geehret werden Auf daszlig dirs wohlergeh und du lang lebst auf Erden

Von verschiedenen Seiten aus wird einsichtig welch besonderes Gewicht dieser Schluszlig traumlgt ja daszlig das ganze Gedicht eigentlich auf ihn hin anshygelegt ist 24

bull Schon der Gespraumlchsablauf weckt eine Spannung auf die Beshygruumlndung fuumlr die Zustimmung des Chefs der den Vorwand ja durchshyschaut Zugleich trennt das Druckbild durch einen Gedankenstrich und folgenden Sinnabschnitt die hier angefuumlhrten letzten Zeilen von den vorshyangehenden und nachdem schon zuvor die wechselnd vier- und fuumlnfshyhebigen Jamben sich zweimal gleichsam praumlludierend ins alexandrinische Maszlig vorgewagt hatten gewinnt der Schluszligteil in dem die Alexandriner sich voumlllig durchgesetzt haben auch metrische Bedeutungssteigerung Entshyscheidend aber ist der Pointencharakter des Ausgangs und dessen eigentshylicher Uberraschungseffekt entsteht durch die ironische Beziehung des vierten Gebotes auf die Absichten des Soldaten Den wichtigsten Beitrag zur Schluszligbeschwerung des Gedichtes leisten diese beiden zitierenden len mit denen ein vorgeformtes und vorbelastetes Redestuumlck als schwerer Endakzent dem vorangehenden Berichte aufgesetzt wird

~2 Ueber die Wirkung des Schleiers in Werken der darstellenden Kunstlaquo TI S 340 23 Die Gedichte werden im folgenden zitiert nach der Ausgabe von E COllsentius

2 Bde 1914 Hier I S238 21 VgL E Staigers Begriff der nproblematischen Dichtung (Grundbegriffe der

Poetik LAufl 1951 S162ff)

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Schluszligbeschwerungen sind fuumlr Buumlrgers Lyrik charakteristisch Sie hershyvorzubringen erscheint die eben beobachtete Verbindung eines praumlforshymierten Sprachstuumlckes mit vorausgehenden freien Formationen beshysonders geeignet - und es ist bemerkenswert daszlig der strukturell so beshydeutsame pointierte Ausgang tatsaumlchlich in nahezu einem Drittel aller Gedichte Buumlrgers auf den christlichen Sprachbereich zuruumlckweist

Wo seine Gedichtausgaumlnge einen formelhaften Redeschluszlig woumlrtlich oder nur geringfuumlgig abgewandelt uumlbernehmen wird die Endbetonung am spuumlrbarsten Aus einer Fuumllle von Beispielen koumlnnte man dafuumlr nennen

Gott lass es dem Edlen doch wohl ergehn Das bet ich herzinniglich Amen (I 207)

Gott behuumlte liebe Seele Gott behuumlte dich davor (I 32)

o Paradiesesglaube Erhalt und staumlrke mich (I 38) Komm Von hinnen laszlig uns scheiden Eia waumlren wir schon da - (I 68) Dein Name sei gebenedeit Von nun an bis in Ewigkeit (I 45)

Der jeweilige Ursprungsort dieser Schluszligformeln bedarf keiner Erlaumluteshyrung Was sie - in einen neuen Zusammenhang versetzt - fuumlr den Aufshybau des Gedichtes leisten koumlnnen zeigt sich im ersten Beispiel (raquoDie Kuhlaquo) mit der Hervorhebung des Erzaumlhlers der diesen Epilog spricht und mit der Zusammenfassung des Gedichtes zur geschlossenen Form im letzten Beispiel (raquoDankliedlaquo) in dem die schlieszligenden Zeilen des Gedichtes die der Anfangsstrophe wieder aufnehmen und die preisende Aufreihung der Gottesgaben mit einer aus dem liturgischen Ursprungsort der Formel heruumlberwirkenden Kraft zusammengreifen und erfuumlllen im Benedeien des goumlttlichen Gebers Von solchen Leistungen wird noch die Rede sein

Aumlhnliche Wirkungen entfalten die Schluumlsse in denen Bibelzitate parashyphrasiert und auf die vorangehenden Verse bezogen werden In raquoSchoumln Suschenlaquo etwa geben die letzten Zeilen

Drum Lieb ist wohl wie Wind im Meer Sein Sausen ihr wohl houmlrt Allein ihr wisset nicht woher Wiszligt nicht wohin er faumlhrt (I 155)

die aus Joh 3 8 hervorgehen Antwort auf die Eingangsfrage des Geshydichtes durch sie erfuumlllt es sich in der inneren Form von Raumltselstellung und Raumltselloumlsung Vergleichbares bewirkt der Schluszlig von raquoDie Eleshy

13 7439 Schoumlne Saumlkularisation (Palaestra 226) 193

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mentelaquo nachdem die Liebe als allbewegende Triebkraft der Natur geshyschildert worden ist zieht der Ausgang die Lehre fuumlr den lieblos geshywordenen Menschen

Du bist ein eiteltoumlnend Erz Bist leerer Klingklang einer Schelle Und Tosen einer Wasserwelle (I 70)

Die auffallend haumlufige Verwendung solcher zusammenfassenden abshyrundenden aufloumlsenden erklaumlrenden pointierenden Schluszligbeschwerunshygen die der Dichter dem christlichen Sprachbereich entlehnt muszlig durchshyaus als Charakteristikum Buumlrgerseher Gedichtsstruktur verstanden werden

Ober die Bestimmung ihrer sprachlichen Herkunft hinaus sind diese beschwerten Ausgaumlnge in einigen Verwendungs faumlllen nun auch auf eine genauer bestimmbare Form des Sprechens zu beziehen Da endet etwa Die Entfuumlhrunglaquo mit den Versen

So segne dann der auf uns sieht Euch segne Gott von Glied zu Glied Auf Wechselt Ring und Haumlnde Und hiermit Lied am Ende (I 181)

Das ist die Spredlweise des Geistlichen und in der Tat nimmt ja hier am Ende des houmldlst wel dichen Balladengeschehens der Vater des entfuumlhrshyten Fraumluleins mit Segen und Ringwechsel eine priesterliche Handlung vor Diese personale Gleichung macht aufmerksam auf eine grundsaumltzliche typologische Entsprechung zwisdlen der Schluszligbeschwerung des Gedichshytes und geistlidler Redeweise Nicht nur das durchgehend religioumls beshystimmte liturgische Sprechen endet mit einer gewichtigen Schluszligformell des Gebetes Segens oder Lobpreises auch die nicht mehr formgebundene freie Rede das Gespraumlch die Ansprache so zu schlieszligen daszlig weltlidles Sprechen am Ende durch einen religioumlsen Bezug ein praumlformiertes Redeshystuumlck erhoumlht gekroumlnt gewichtig beschlossen wird ist fuumlr den Geistlichen offenbar bis heute bezeichnend

Diese durch vorgegebene Schluszligformeln charakterisierte Redeweise zeigt ganz die gleiche Grundform die in der Untersuchung der Buumlrgershysehen Gedichte sichtbar wird - wie ja jene Gepflogenheit an weltliche Rede einen oft geradezu gewaltsam angehaumlngten formelhaft-religioumlsen Schluszlig zu fuumlgen selbst in dem oben genannten Briefausgang noch spuumlrbar wird ich heuumlrathete wol ein Kuh wenn sie nur an der bewusten Vershynunft keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte didl bei dieser Philoshysophie Amen Amen GABuumlrger Unter diesem Blickwinkel gewinnt die Stelle geradezu karikierende Zuumlge

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Beispielhaft fuumlr eine solche Analogie der Sprechweisen scheinen etwa die Schluumlsse

Die Liebe segne dich und sie Mit ihrem besten Segen (148) Die Liebe sagt Verdammet nicht Daszlig man nicht Euch verdammet (I 187) Diesen Trinker gnade Gott Lass ihn nicht verderben (I 73)

Sie aber deuten auf eine Analogie-Antithese zwischen dem Pfarrer als dem Diener der christlichen Kirche und dem Poeten der eines seiner Geshydichte mit den Worten schlieszligt

Doch wisse du Apolls Religion Schenkt dir die Glaubenspflicht und dringt auf gute

Werke (I 248) Als Gottesdienst der Wortverwaltung hat Buumlrger sein dichterisd1cs Amt verstanden

Bin geweiht zum Priester des Apoll Mit des Gottes Kranz und goldnem Stabe Seines Geistes bin ich froh und voll Warum nicht auch frommer Wundergabe - (I 94)

Und am Ende des Gedichtes (raquoGeweih tes Ang ebind e zu Lo uis ens Geburtstagelaquo) tritt diese vaumlterliche Mitgift diese Sprechhaltung des Geistlichen ganz ausdruumlcklich ins Wort

Freud und Lust von keinem Harm vergaumlllt Sei durch dich Ihr in die Brust gegossen Freud an Gottes ganzer weiter Welt Mich den Priester auch mit eingeschlossen

shy

Die Beobachtung der Schluszligbeschwerung lenkt auf die Frage nach ihrer Integration in das Gesamtgefuumlge des Gedichtes und nach der Wirkung die sie dort entfaltet raquoDer kluge Heldlaquo kann darauf kaum schon ershyschoumlpfende Antwort geben die massive Pointicrung die hier durch den Endakzent zustande kommt ist nur eine unter vielen Moumlglichkeiten seiner Leistung Weit komplizierter liegen diese Verhaumlltnisse in Buumlrgers Nachshydichtung der raquoCo n f ess i 0laquo des Archipoeta 25

25 Das Gedicht war Buumlrger in einer dem Walter Mapes zugeschriebenen Fassung beshykannt geworden (vgl seinen Brief an Sprickmann vom 21077) deutliche Bezuumlge zeigen sich zu seinen Strophen 12 13 16-19 Zitiert wird die lat Vorlage nach dem auf 5 Strophen verkuumlrzten Abdruck den Buumlrger in der Ausgabe seiner Gedichte VOll

1778 auf S 290 f gegeben hat (Ausgenommen die beiden dort nicht mitgeteilten hier auf S199 zitierten Verse Voluptatis avidus laquo)

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Zechlied

Im will einst bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Alles meinen Wein nur nimt Lass im frohen Erben Nam der letzten Olung soll Hefen nom mim faumlrben Dann zertruumlmmre mein Pokal In zehntausend Smerben Jedermann hat von Natur Seine sondre Weise Mir gelinget jedes Werk Nur nam Trank und Speise Speis und Trank erhalten mim In dem remten Gleise Wer gut smmiert der faumlhrt aum gut Auf der Lebensreise Im bin gar ein armer Wimt Bin die feigste Memme Halten Durst und Hungerqual Mim in Angst und Klemme Smon ein Knaumlbchen smuumlttelt mim Was im aum mim stemme Einem Riesen halt im Stand Wann im zem und smlemme Aumlmter Wein ist aumlmtes 01 Zur Verstandeslampe Gibt der Seele Kraft und Schwung Bis zum Sternenkampe Witz und Weisheit dunsten auf Aus gefuumlllter Wampe Baszlig gluumlckt Harfenspiel und Sang Wann im brav smlampampe Nuumlchtern bin im immerdar Nur ein Harfenstuumlmper Mir erlahmen Hand und Griff Welken Haupt und Wimper Wann der Wein in Himmelsklang Wandelt mein Geklimper Sind Homer und Ossian Gegen mim nur Stuumlmper

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Nimmer hat durch meinen Mund Hoher Geist gesungen Bis ich meinen lieben Bauch Weidlich vollgeschlungen Wann mein Kapitolium Baechus Kraft erschwungen Sing und red ich wundersam Gar in fremden Zungen Drum will ich bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Nach der letzten oumllung soll Hefen noch mich faumlrben Engelchoumlre weihen dann Mich zum Nektarerben Diesen Trinker gnade Gott

Lass ihn nicht verderben (1 72 f)

Da wird mit der ersten Strophe das Bekenntnis zu einer Lebensfuumlhrung abgelegt und geradezu beschworen die selbst eingedenk des Todes noch ganz im Irdischen verharrt Fuumlnf folgende Strophen dann begruumlnden den Entschluszlig den die erste verkuumlndete auch ihre Aussagen bleiben durchshyaus im Bereiche des weingeweihten Diesseits Die letzte aber tritt nachshydem sie zunaumlchst das Bekenntnis der ersten aufgenommen in eine durchshyaus andere Sphaumlre Zwar setzt auch dort das irdische Trinkerleben sich fort aber der Spott der eben noch die letzte oumllung traf der Entschluszlig der ersten Strophe im Tode den Pokal zu zertruumlmmern lassen dieses Ende nicht erwarten

Ut dicant eum venerint angelorum chori Deus sit propitius huic potatori

heiszligt es in der raquoC 0 n fes s i 0laquo und solcher Gesang der Engelchoumlre beshyschlieszligt nun auch Buumlrgers koumlnigliches Sauflied 26 ein im religioumlsen Sprachbereich ausgebildetes Gebet um Gnade fuumlr den Suumlnder 27 - an dessen Stelle nun der Trinker steht - setzt den kraumlftigen Endakzent Wenn so unvermittelt das Sauflied in die Gebetsformel muumlndet scheint sich im Wortschatz in der Sprechhaltung im Hinblick auf die Geschehnisshyebene ein bruchhafter Wechsel zu vollziehen der die Einheitlichkeit des ganzen Gedichtes in Frage stellt Zwar folgen Vers- und Strophenbau zushygleich mit dem Reimschema der gtConfessiolaquo entlehnt ebenso wie die rhythmische Anlage des Liedes gleichbleibenden Aufbauprinzipien und stiften so eine formale Geschlossenheit des Ganzen aber gerade das treibt

28 Brief an Boie 18977 27 Vgl Lue1B 13 Deus propitius esto mihi peceatori

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den Umbruch der Schluszligbeschwerung nur um so kraumlftiger heraus Daszlig hier in Wahrheit keineswegs ein Bruch vorliegt daszlig dieser Sphaumlrenshywechsel durchaus nicht unvermittelt geschieht wird jedoch einsichtig sobald man die Sprache der Mittelstrophen schaumlrfer ins Auge faszligt Dann zeigt sich daszlig hinter der Bedeutungsoberflaumlche der Wortaussage vorshygeformtes Sprachgut aus eben der Sphaumlre wirksam ist zu der die schlieshyszligenden Verse sich erheben

Dem Wein dem der Sprechende selbst eingedenk des irdischen Endes noch sein Dasein verschreibt setzt die zweite Strophe die Speise zur Seite Beide Trank und Speise sind fuumlr das Leben noumltig - doch offenshybar nicht im Sinne notwendiger Ernaumlhrung Das erhalten meint kein einfad1es am-Leben-erhalten sondern ein im rechten Gleise im rechshyten Leben erhalten Das Schluszligwort der Strophe laumlszligt aufmerken Lebensreise erscheint als ein deutlich vorbelastetes vorgeformtes Sprad1stuumlck der religioumlsen Sphaumlre das (ausgehend von Gen 47 9) die christliche Deutung des Lebens als einer Reise durch die Weh zum jenshyseitigen Ziele in sich faszligt Trank und Speise in solchem Bedeutungsfeld als Hilfen die Lebensreise recht zu fuumlhren sie machen hinter dem lauten Gesang des Trinkers im fuumlnften Vers die liturgische Stimme vershynehmbar die Stimme des Geistlichen der die Hostie und den Wein reicht Nehmet hin und esset Nehmet hin und trinket das staumlrke und erhalte euch im rechten Glauben zum ewigen Leben Amenlaquo 28 Von andeshyrem Trank und anderer Speise als der vom Vater dargebotenen spricht der Sohn Doch im Bekenntnis des Zechlieds klingen noch immer jene Worte nach die von der Kraft des heiligen Mahles kuumlndeten weil das 11edium der Sprad1e die mit der Abendmahlsliturgie in sie eingeganshygenen Bedeutungsenergien bewahrt und fuumlr die Dichtung verfuumlgbar macht

Von der zweiten Strophe aufgerufen bleibt dieser Bezug auch in der dritten vierten und fuumlnften lebendig Hinter dem Zecher den Essen und Trinken der Angst und Schwaumld1e entheben so daszlig er einem Riesen standshyzuhalten vennag steigt das Bild des gottgestaumlrkten David herauf der dem Goliath standhaumllt Der aumlchte Wein und das aumldlte oumll derert Kraft die Seele zum Sternengewoumllbe erhebt gewinnen neue Bedeutung Hinter dem Harfenspieler und dem Himmelsklang seines Gesanges toumlnt leise der Psalm Davids zur Harfe zu singen und in der trunkseligen Prahshylerei der Erhebung uumlber Homer und Ossian mag damit eine verborgene Rechtfertigung solcher Selbsteinschaumltzung sich andeuten Sind die uumlbershytragenen Worte und Bilder hier dem Text des raquoZechlieds so weitshy

e8 In der Abendmahlsliturgie folgt diese in verschiedenen Fassungen gebraumluchliche Spclldeformc1 auf den Einsetzungsbericht Ausfuumlhrlich daruumlber P Graff Geschichte der Aufloumlsung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschshylands I 1937 S 197 ff

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gehend anverwandelt daszlig sie als fremdes Sprachgut kaum erkennbar werden heben sie sich in der sechsten Strophe doch wieder staumlrker ab erst der Abglanz der Erleuchtungsflammen des Pfingstwunders erhellt die Reden des Trunkenen als einwundersames Reden gar in fremden Zungen

Ein Vergleich mit dem Vorbild der lateinischen Beichtparodie der dies e Durchsichtigkeit auf den hinter der eigentlichen Aussage liegenden Sprach- und Bildbereich gaumlnzlich fehlt zeigt daszlig in Buumlrgers uumlbertragung eine sehr bewuszligte Absicht waltete Man halte gegen seine sechste Strophe etwa die Verse

Mihi nunquam spiritus prophetiae datur Non nisi cum fuerit venter bene satur Cum in arce cerebri Bacchus dominatur In me Phoebus irruit ac miranda fatur

Die Grundhaltung beider Gedichte unterscheidet sich wesentlich Mit den fuumlr die ganze raquoC 0 n fes s i 0laquo verbindlichen Versen

Voluptatis avidus magis quam salutis Mortuus in anima curam gero cutis

setzt der Archipoeta Diesseits und Jenseits gegeneinander und faumlllt seine klare Entscheidung fuumlr das eine gegen das andere Buumlrger aber verschmilzt die Bereiche Getragen von den sprachgebundenen Bedeutungsenergien die aus dem christlichen in einen houmlchst weltlichen Bereich des Sprechens uumlberfuumlhrt werden erhebt der bekenntnishafte Lebensbericht des Zechers sich zum Heilsbericht zum Preis einer uumlberirdischen und das Irdische vershywandelnden Macht die am Sprechenden wirksam wird Erst diese Spuren des weihevoll-heiligen Pathos dem Weine des schwoumlrenden protzenden singenden Zechers und Schlemmers beigemischt als ein verborgenes Arom bewirken jenes Entzuumlcken das Buumlrger mit der Lektuumlre des Gedichtes seinen Freunden verhieszlig29 Sie bereiten die schluszligbeschwerende Gebetsshyformel vor und bewirken daszlig statt eines Bruches hier der Aufschwung in jene Sphaumlre erfolgt die am inneren Aufbau des Liedes schon von Anshyfang an beteiligt war So vollendet sich das bekennende Sprechen des raquoZechliedslaquo am Ende in der inneren Form einer ihrer urspriinglichen Erfuumlllung mit christlichem Gehalt entleerten Heilsverkuumlndigung

i-

Mit jener Sprechweise des Geistlichen auf welche die Schluszligbeschweshyrung deutete haumlngt diese Form der He i I sv e r k uuml n d i gun g aufs engste zusammen Sie steht in Buumlrgers Werk durchaus nicht vereinzelt die im

29 Brief an Boie 18977

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religioumlsen Sprachgebrauch ausgebildeten Formmodelle finden hier zahlshyreiche und vielfaumlltige Entsprechungen die um so deutlicher erkennbar werden als sie noch immer merkliche Spuren auch des urspruumlnglichen Gehaltes tragen Sie erweisen sich als weltliche Kontrafakturen der relishygioumlsen Vorbilder 30 von denen sie nicht allein das organisierende Formshyprinzip beziehen sondern zugleich jenen Zuwachs an Bedeutungshaumlhe und Wirkungskraft den das Modell nur dann hergibt wenn es selbst noch als bedeutungshaltig und wirkungsfaumlhig intakt bleibt Die Annaumlherung auch der inhaltlichen Erfuumlllung dieser saumlkularisierten Formen an den christshylichen Denk- und Sprachbereich befoumlrdert ja begruumlndet ihre reichhaltige Erscheinung in Buumlrgers Lyrik

Ich glaube Luther wuumlrde dies Gedicht fuumlr ein wuumlrdiges Kirchenlied anerkannt haben schrieb AWSchlegel uumlber Die Elementelaquo (B 518) Schon mit dem Eingangsvers tritt es in die Form der Lehrvershykuumlndigung Horch Hohe Dinge lehr ich dich (I 68) Und diese Lehre vom Wesen der Elemente ist mehr als bloszlige Kundgabe Sie wird Maszligstab fuumlr den Belehrten Richtschnur Grundlage fuumlr das kommende Gericht Immer dringlicher wendet sie sich im Fortgang des Gedichtes an den Houmlrer selbst Sieh hin und her und Nun pruumlfe dich bis mit den oben (S 194) genannten Schluszligversen das lehrende Sprechen ins urteilende und verdammende uumlbergeht

Eine besondere Form der lehrhaft-bekennenden Rede macht das raquoDankl iedlaquo sichtbar (I 44ff) das Buumlrger urspruumlnglich Psalm nennen wollte und zu dem Boie ihm schrieb den denkenden Christen wird es entzuumlcken und erbauen aber den groumlszligten Haufen und Pastor Zuch - (12972) Es zeigt eine ganz symmetrische Anlage Die Eingangsstrophe wendet sich lobend an Gott den Schoumlpfer sechs folgende Strophen reihen auf was der Sprechende aus seiner Hand empfangen hat (daszlig es dabei ausgerechnet um die Liebe den Wein und den Gesang geht muszligte Pastor Zuch freilich wurmen) zwei Mittelstrophen bekennen daszlig die Fuumllle der Schoumlpfergaben nicht zu zaumlhlen sei (Wer zaumlhlt die Gaben alle Wer) und wenden sich auf den Sprecher selbst wieder sechs Strophen nennen dann die leiblichen und geistigen Eigenschaften die Gott ihm verliehen hat Hinter dieser Gaben Wunderschau aber wird Luthers Erklaumlrung zum 1 Artikel des Glaubensbekenntnisses sichtbar in der es nach der FrageWas ist das heiszligt Ich glaube daszlig mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mit Leib und Seele Augen Ohren und alle Glieshyder Vernunft und alle Sinne gegeben hat Gemaumlszlig den Schluszligworten der Erklaumlrung des alles ich ihm zu danken und zu loben schuldig bin muumlndet die letzte Strophe preisend und benedeiend in den liturgisch beshy

ao Zur Begriffsbestimmung dieser Saumlkularisationskategorie vgL S 289 ff

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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fuumlr einen Dummkopf hielt von dem ohnehin nicht viel zu erwarten waumlre Und die Mutter hatte selbst kaum gelernt leserlich zu schreiben

Der Zwoumllfjaumlhrige verlieszlig das Vaterhaus ging zum Groszligvater nach Aschersleben und besuchte dort die lateinische Schule lutherischer Konshyfession Auch hier klingen die alten Kirchenlieder wieder auf von Amts wegen hatten die Scholaren an den Leichenkondukten teilzunehmen woshybei es auszligerordentlich viel zu singen gab 2 1760 dann fuumlhrt man Buumlrshyger als Schuumller des Koumlniglichen Paumldagogiums zu flaUe das ein orthodoxes Luthertum mit pietistischem Einschlag vertritt Neben dem Religionsshyunterricht und zahlreichen Andachtsuumlbungen betreiben die Lehrer eine spezielle cura animarum auf den Schuumllerstuben es wird von haumlufiger Kommunion berichtet der rigorose Seelenpruumlfungen vorangehen noch bei Tische liest man aus geistlichen Buumlchern vor und des Schulinspektors scharfer Tadel ergeht selbst an die Praumlzeptoren wenn sie versuchen dashybei in eine Zeitung zu schielen a

Nach drei Jahren holt der Groszligvater den Jungen aus Halle zuruumld Es ist ein alter eigensinniger Mann schreibt der Inspektor am 5 Sepshytember 1763 in seine Akten~p~r kleine Engel sitzt in Prima ein Halbshyjahr und ist ohngefaumlhr 15 Jahr a1t~-Er-welntemiddotunc1middotmiddotl5at ich moumlchte doch seine Stelle noch nicht vergeben er wollte beim Groszligvater um Prolonshygation bitten Aber der alte Mann hats abgeschlagen 4

Im Jahr darauf bezieht der Sechzehn jaumlhrige die Universitaumlt Halle um Theologie zu studieren Althof hat erklaumlrt daszlig diese Studienrichtung seiner eigenen Neigung ganz entgegen gewesen und durch den groszligvaumltershylichen Willen bestimmt worden sei Buumlrger haumltte lieber jedes andere Fach gewaumlhlt aber der alte Mann von dem er zumal nach dem bald darauf erfolgten Tode seines Vaters gaumlnzlich abhing habe durchaus einen Geistlichen aus ihm machen wollen Inwieweit das auch im Willen des Vaters lag der selbst ja auch in Halle sein Theologiestudium absolviert hatte bleibt ungewiszlig Er war nicht mehr am Leben als der junge Theoshy

2 HProumlhle GABuumlrger Sein Leben u s Dichtungen 1856 S28 3 VgL ADaniel Buumlrger auf der Schule (Progr d kgL Paumldagogiums zu Halle 1845)

Wiederabdruck in Zerstreute Blaumltter 1886 S 47 f Althof berichtet (a a O S432) daszlig einer der Lehrer mit seinen Schuumllern uumlbungen im Versemachen veranstaltet habe indem er ihnen Anfangs Verse aus den besten Deutschen Dichtern in versetzter Ordshynung der Woumlrter aufgegeben um sie wieder in die metrische Ordnung zu bringen und daszlig sich bei Buumlrger schon damals die entschiedene Anlage zur Dichtkunst und die besondere Vorliebe fuumlr die Volks-Poesie deutlich verrathen haben Auch hier ist freishylich zu vermuten daszlig die Neigung des alternden Buumlrger und seines Biographen zur Leg~ndenbildung uumlber die Tatsachen hinweggeht Denn Danicl (a a O S68) der aus den Schulakten die genauen Lektionsplaumlne und Schuumllerlisten zusammensuchte hat festshygestellt daszlig bei dem betreffenden Praumlzeptor niemals oratorischen oder deutshyschen Unterricht gehabt hat in dem allein Raum fuumlr solche Versuumlbungen gewesen sein koumlnnte

4 A Daniel S 72 5 A a O S 432

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loge schon nach wenigen Semestern vom Groszligvater nach Aschersleben zuruumlckgerufen Halle wieder verlieszlig und die Gottesgelehrsamkeit aufshygab 1768 ging Buumlrger aufs neue zur Universitaumlt diesmal nach Goumlttingen - zum Studium der Jurisprudenz~

Von dieser Zeit an zeigen seine Briefe eine zunehmende Entfernung von der strengen lutherischen Orthodoxie die die ersten zwanzig Jahre seines Lebens bestimmt hatte Ein zuverlaumlssigeres Zeugnis als die sehr unterschiedlich gefaumlrbten Gelegenheitsaumluszligerungen uumlber sein Verhaumlltnis zum Christentum gibt dafuumlr die Art des Umgangs mit dem angestammshyten religioumlsen Sprachgut Bibelworte Verse des Kirchenliedes und liturshygische Formeln vor allem werden voumlllig unbedenklich aus dem geheiligten Kodex geloumlst und ohne die mindeste Ruumlcksicht auf ihren ehrwuumlrdigen Ursprung gaumlnzlich auszligerreligioumlsen ja vorzugsweise spielerischen und scherzhaften Zwecken dienstbar gemacht Sie sind gerade gut genug

6 Die Buumlrger-Biographen pflegen die Hallenser Studentenzeit in duumlsteren Farben zu malen Da ist der Umgang mit Chr A Klotz dem Professor der Beredsamkeit in dessen Hause ein junger Theologe sich eigentlich nicht haumltte bewegen sollen da wird berichtet von einem sittenlosen Bummelleben und dem Miszligfallen an der Theologie mit der sich Buumlrgers sinnliches Temperament nicht vertragen habe In Wahrheit weiszlig man uumlber das alles kaum Genaues Sicher ist nur daszlig Buumlrger verbotenerweise an der Gruumlndung einer niedersaumlchsischen Landsmannschaft beteiligt war auf eine Denunziashytion hin mit seinen Freunden beim Gruumlndungsschmaus vom Pedellen erwischt und zu einer Woche Karzer verurteilt wurde Wahrscheinlich hat dieser Vorfall fuumlr den alten

f eigensinnigen Mann in Aschersleben schon ausgereicht um seinen Enkel zuruumlckzushybeordern Zwar heiszlig~ es im y_erhoumlspItokltill PJ g~2Iilt~LsE~(LtilloLAger houmlret Collegia beiHerrn Prof Hansen und studirr jura aber einiges muszlig er in Halk_ -~wohl auch fuumlr sein Theologiestudium getaiihaben denn de~lgis~e Dekan --- ---dls ares 176768 vermer t l~ctrszligerltrm---ei111iDgaumln szeu nis ausgestent~-~

- a e V rouml e In As ers e en onnte Buumlrger den Groszligvater um--- - stimmen zu Ostern 1768 ging er nach Goumlttingen Er nahm Quartier in dem uumlbel beshy

leumdeten Haus einer Madame Sachse der Schwiegermutter des Professors Klotz in Halle ein Brief den er 1770 an den Goumlttinger Prorektor schreibt berichtet von einer Pruumlgelei zwischen ihm und einem Nebenbuhler im Schlafgemach der Witwe Bandmann einer der Toumlchter des Hauses Nach Madame Sachses Tod zog er 1771 schwer verschuldet in ein Kuumlrschnerhaus und jetzt setzt offenbar eine Vandlung ein Schon seit dem Winshyter 7071 ruumlhmen die Lehrer seine gruumlndlichen rechtswissenschaftlichen Kenntnisse seinen Eifer Fleiszlig und sittsam-bescheidenen Lebenswandel Es liegt zwar nahe auch die Halleshyschen Vorgaumlnge so zu erklaumlren wie Boie der am 281 71 an Gleim schreibt daszlig Buumlrgers freyes lustiges Leben die Herren Theologen verhindert haumltte ihm gute Zeugshynisse zu geben auf Grund der wenigen zuverlaumlssigen Nachrichten ist es aber viel wahrscheinlicher daszlig die Biographen von den ersten Goumlttinger Semestern auf die Hallenser Zeit zUfUumlckgeschlossen haben und also das wirklich zuumlgellose und verwilderte Leben erst einsetzte als der Zwanzigjaumlhrige die geradlinige Entwicklung die ihn vom Molmerswender Pfarrhaus uumlber die Lateinschule in Aschersleben und das Koumlnigliche Paumldagogium nadl Halle gefuumlhrt hatte abbrach und seinem Leben eine gaumlnzlich neue Wendung gab Goumlttingen bleibt fortan bestimmend fuumlr den spaumlteren Amtsverwalter im benachbarten Gelliehausen und den Dozenten an der Georgia Augusta Die Theoshylogie liegt hinter ihm

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einem Brief jene Wuumlrze zu geben die dem Bewuszligtsein unangemessener Verwendung dieser Sprache entspringt Vom Leichtfertigen fuumlhrt das zushymal in den spaumlteren Zeugnissen bis an den Rand des Blasphemischen auf eine Mitteilung H Chr Boies des Freundes in Goumlttingen er gedenke eine reiche Frau zu heiraten antwortet Buumlrger am 13881 7 Wenn ich noch einmal wieder in meinem Leben heuumlrathen sollte wahrhaftig ich heuumlrathete wol eine Kuh wenn sie nur an der bewusten Vernunft [naumlmshylich am Gelde] keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte dich bei dieser Philosophie Amen Amen GA Buumlrger Daszlig die Sprache sich in solcher Weise aus ihren alten Bindungen loumlst waumlre kaum denkbar ohne eine Distanzierung auch des Sprechenden selbst vom Geist des vaumltershylichen Pfarrhauses

Wir wenden uns diesen Vorgaumlngen nicht mit jener Ausfuumlhrlichkeit zu die sie verdienten wenn es um eine Darstellung der inneren Entwicklung Buumlrgers ginge Auch fuumlr unsere Fragestellung aber sind sie bedeutungsshyvoll als Voraussetzung als Ermoumlglichungsgrund dichterischer Gestaltungsshyweisen Denn daszlig hier ein Abfall vollzogen wurde daszlig Buumlrger sich geshyloumlst hat von dem Gesetz nach dem er angetreten war auch ihm selber sehr wohl bewuszligt Wenn er an Boie uumlber den Dr Pideritt schreibt raquoSo viel ich aber aus einer Recension seiner Vertheydigung des Kanons der heil Schrifft 2tes Stuumlck muthmaszlige so mag er wohl einen Bannstral auf meine gottlosen Gedichte geworfen haben indem es heiszligt daszlig er zum Beweise gegenwaumlrtiger irreligioumlser und sittenloser Zeiten verschiedene Gedidlte aus den MusenAlmanachen angefuumlhrt habe (11676) so wird unter den ironischen Toumlnen doch deutlich spuumlrbar daszlig er sich mit seinen Dichtungen in einem anderen Raume weiszlig als dem seines Ursprungs

Es gibt wohl kein Zeugnis das in dieser Hinsicht aufschluszligreicher ja verraumlterischer waumlre als die Stelle aus einem Brief vom Sommer 1775 an Goethe Wie behaumlglich von der bekannten AlltagsleyerMe10dey der um uns plaumlrrenden Christlichen Gemeine unterweilen abbrechen und sein innres Seelenstuumlckchen anstimmen zu koumlnnen

Das ist mit Entchristlichung nicht einfach gleichzusetzen der tiefere Bereich persoumlnlicher Glaubenshaltung entzieht sich unserer Einsid1t Aber es bezeugt eine Abwendung vom strengen Kirchenchristentum und macht deutlich daszlig der Schreiber seine eigentlid1e Bestimmung auszligerhalb des religioumls-dogmatischen Raumes sieht Immerhin AlltagsleyerMelodey und innres Seelenstuumlckchen plaumlrren und anstimmen zeigen unershyachtet der recht eindeutigen Bewertung doch noch die Verwandtschaft einys gemeinsamen Wortfeldes und werden durchaus in einem Atemzug genannt Das aufschluszligreich genug Denn es deutet auf ein Verhaumlltnis

7 Vfenn nicht anders angegeben stammen die Briefzitate stets aus der Sammlung Briefe von und an Gottfried August Buumlrger hrsg A Strodtmann 4 Bde 1874

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zwischen religioumlsem und dichterischem Wort (so darf man ohne Zweifel uumlbersetzen) in dem zwar das erste dem zweiten untergeordnet wird aber doch noch immer eines mit dem anderen verbunden bleibt

Auch das Woumlrtdlen unterweilen wird man dabei nicht ganz uumlbershysehen duumlrfen Unterweilen hat Buumlrger seinem Verleger Dieterich gegenshyuumlber (und es gibt andere aumlhnliche Faumllle) in einem Brief vom 1 81782 die Weisheit und Guumlte goumlttlicher Vorsehung die jenseits menschlicher Einshysichtsfaumlhigkeit liegt mit Nachdruck ja mit Leidenschaft verteidigt - um dann dem Freunde selbst die Frage in den Mund zu legen Wie koumlmmt Saul unter die Propheten Dieses Sauls eigentliches Amt ist nidlt die AlltagsleyerMelodey sondern das innre Seelenstuumlckchen dichte- rischer Gestaltung Aber dabei grundet doch das eine auf dem anderen Was er anstimmt transponiert die alte Melodie in eine neue Tonart jenes Abbredlen wird zum Synonym einer weltlichen Kontrafaktur

Ich denke nicht heiszligt es im Vorbericht zur raquoIl i a slaquo-Obersetzung das Jemand die Umstaumlnde und das Aufheben welche ich hier mache uumlbertrieben abgeschmackt und laumlcherlich finden werde er muumlszligte denn anders die Kunst lebendiger Darstellung so wie das edle nicht Jedershymann von Gott verliehene Seelenvermoumlgen worauf sie sich gruumlndet und eins der wichtigsten Mittel deren sie sich bedient die Sprache die nie goumlttlich genug zu verehrende Sprache sie das theuerste heiligste Werkshyzeug des wirkenden Menschengeistes sie welche zu allen andern Wissenshyschaften spricht Ohne mich koumlnnet ihr nichts thun alles das muumlszligte er

( also fuumlr Lumpereien und unter der Wuumlrde maumlnnlicher Bemuumlhungen halten 8

Buumlrgers theoretische Schriften enthalten eine Fuumllle solcher Aumluszligerungen uumlber die Sprache und den dichterischen Umgang mit ihr die gekennshyzeichnet sind durch einen Anspruch dessen Unbedingheit den Bereich des wirkenden Menschengeistes auf das Religioumlse hin oumlffnet Literarische Taumltigkeit wird ins Heilige und Goumlttliche erhoumlht als edelste Bestimmung des Menschen uumlberhaupt und als Gnadengabe verstanden die nur den Auserwaumlhlten zuteil geworden Dichtung wird zum Gottesdienst der Wortverwaltung Das aber wird keineswegs als ein Obertragungsvorshygang begriffen und in seiner Problematik bedacht sondern erscheint als ein durchaus unreflektierter Akt und wird sichtbar allein als sprachlicher Vorgang Die aumlsthetischen Eroumlrterungen ziehen ihr Vokabular zu wesentshylichen Teilen aus den religioumlsen Texten nutzen gleichsam die Beglaubishygungskraft dieser Worte die ihnen von ihrem Ursprung her anhaftet shyohne daszlig dabei doch dieser Herkunftsbereich selber noch als Maszligstab und Bewertungsgrundlage gegenwaumlrtig bliebe Es geht nicht mehr um

8 Zitiert wird - von den GediChten abgesehen - nam Buumlrgers saumlmmtliche Werke hrsg A W Bohtz 1835 Abgekuumlrzt B hier S 184

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didaktische Verweisungen sondern um aumlsthetische Bereicherung Das Pfarrhaus wird abgebrochen damit was brauchbar und ansehnlich scheint unter den alten Steinen fuumlr den Bau des neuen Hauses verwendet werden kann Diesen Bezug auf die religioumlse Sprache auf den Luthertext insonderheit hat Buumlrger sich bis in stilistische Einzelheiten hinein bewuszligt gemacht In seinen raquoGedanken uumlber die Beschaffenheit einer Deutschen Uumlbersetzung des Homerlaquo etwa heigt es nachdem der Verfasser die von ihm bevorzugte Anfangsstellung des Hauptzeitwortes besprochen hat Ich habe keinen Platz zu Beispielen aber man wird ihrer genug finden welche dies Alles bestaumltigen Man schlage nur Luthers Bibel-uumlbersetzung und seine uumlbrigen Schriften nach auf jeder Seite sind weld1e Die poetischen Buumlcher der heiligen Schrift hat Luther mit dem besten Geschmacke fuumlr seine Zeiten so echt Deutsch und so feurig uumlbershysetzt daszlig man daruumlber erstaunen muszlig Ein fleiszligiger Sprachforscher muumlszligte unsere neuere Sprache mit den vortrefflichsten Schaumltzen aus den Schriften dieses bewundernswuumlrdigen Mannes wovor unseren Hominibus delicatulis so ekelt bereichern koumlnnen (B 137 L)

Die Stelle dessen was zwanzig Jahre lang dem Pfarrersohn als das Houmlchste und Heiligste vorgestellt und eingepraumlgt wurde was er hinter sidl lieszlig als er das Studium der Theologie in Halle abbrach vermochten die Jurisprudenz die Geschaumlfte des Amtsverwalters die Lehrtaumltigkeit des Dozenten keineswegs einzunehmen und auszufuumlllen Seine Berufstaumltigshykeit blieb fuumlr Buumlrger lebenslang eine Plage eine Quelle des Miszligmuts und der Verzweiflung Faumlhig dazu war allein die Po esie nur das innre Seelenstuumlckchen konnte die Klaumlnge der alten Melodie in sich aufnehmen und fortfuumlhren ~

Wie er uumlber Stolberg sagt Mich duumlnkt ich lese einen Propheten wenn ich seine Prosa lese 9 so schreibt er an Boie Uumlbrigens lebe und webe ich in den Reliques Sie sind meine Morgen und AbendAndacht 10 wie er von Shakespeare erklaumlrt Ihn kann man die Bibel der Dichter nenshynen 11 so urteilt er uumlber die unerwuumlnschten Rezensenten Und wenn der Engel Gabriel vom Himmel kaumlme und ihnen Poetik predigte so wuumlrde er dennoch nichts ausrichten 12 Mit voumllliger Unbefangenheit fast moumlchte man sagen mit der Unschuld des Selbstverstaumlndlichen wird das Vokabushylar beider Bereiche vermischt Die Aufloumlsung der Kodifikation kennt keine Grenzen mehr Denn die Saumlkularisation dient hier nicht dazu den religioumlsen Text als einen weltlicher Sprache integrierten Maszligstab fuumlr menschliches Reden und Handeln wirksam zu machen sondern sie nutzt ihn nur mehr als Mittel zu ihrer Erhoumlhung und Steigerung ein Buch

o Dt Museum Juli 1777 Zu FrLStolbergs raquouumlber die Fuumllle des Herzenslaquo 10 7477 Meint Percy Reliques of Ancient English Poctry London 1765 11 An Boie 15976 12 An Boie 31278

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wirft Licht auf das andere Buch aber - es ist nicht mehr das Licht der Erkenntnis dessen was gut und boumlse sei (Vgl S148 f)

Wie auf die Werke der Dichtkunst so faumlllt der Glanz dieses geborgten Lichtes auch auf die Dichter selbst Was Christus uumlber alle menschliche Macht und Groumlszlige erhebt wird jetzt auch dem Poeten zugesprochen sein Reich ist nicht von dieser Welt 13 und die Verheiszligungen die dem Chrishysten gegeben sind wandeln in der uumlbertragung ihre Formen nur gerade so viel wie noumltig ist um fuumlr den neuen Anwendungsbereidl braudlbar zu sein Einem unbekannten Empfaumlnger schreibt Buumlrger am 621772 meine Briefe sollen Ihnen hinfort wenigstens alle vier Wochen jenen biblischen Spruch parodieren Bleib den Musen getreuuml bis in den Tod so wird dir Apoll die Krone des ewigen Nachruhms geben Parodieren shydas meint hier nichtmiddotdie Entstellung den Entwurf eines scherzhaften oder boumlsartigen Gegenbildes sondern Akkomodation uumlbertragung und Anshypassung Es richtet sich nicht gegen den vorgegebenen Text aber es nimmt ihn auch nicht mehr ernst in seinem unbedingten und ausschlieszligenshyden Anspruch Schon deutet es in die Richtung einer uumlberarbeitung des Originals nach dem verbesserten Geschmack unsrer Zeit in einer neuen Einkleidung und Ordnung der Gedanken (v gl u S 269Anm 2) Dieser ) verbesserte Geschmack freilich ist kaum mehr als ein veraumlndertes thematisches Interesse In Wahrheit fehlt diesen uumlbertragungen geshylegentlich selbst der gute Geschmack und es kennzeichnet zugleich die

( uneingeschraumlnkte Verfuumlgbarkeit des religioumlsen Sprachgutes wenn Buumlrger auch auf betraumlchtliche Houmlhenunterschiede zwischen Ursprungs- und Anshywendungsbereich kaum mehr Ruumlcksicht nimmt An Goeckingk der ihm aus seiner fatalen aumluszligeren Situation heraushelfen will schreibt er anshystandslos wenn Sie mein Erloumlser seyn und mich den Musen wiedershyschenken koumlnnten - Sie wuumlrden mir das seyn was der Engel dem geshyfangenen Apostel in der Apostel Geschichte war 14 Ein gewisses Vershygnuumlgen am Miszligbrauch des Vorbildes und die ganz ernsthafte Absicht dem Sachverhalt Nachdrud und Gewicht zu geben sind hier wohl kaum zu trennen Aber ohne Zweifel steht dahinter ein Wertbewuszligtsein dem kein Preis zu hoch ist wenn es gilt den Anspruch und die Wuumlrde des poetischen Amtes zu verkuumlnden und durchzusetzen

So heiszligt es in den raquoGedanken uumlber die Beschaffenheit einer Deutschen uumlbersetzung des Homerlaquo Statt aller Untersuchunshygen uumlber diesen Punct koumlnnte der Streit wohl nicht angenehmer fuumlr den Zuschauer beigelegt werden als wenn der Genius unserer Literatur einen Mann von Genie und Kenntniszlig erweckte welcher zwischen die Zanshy

13 An Bollmann 22790 14 29675 Aus dem Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk hrsg A Sauer

Vjs f Litgesch III 1890 hier S 68

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kenden mit einer Uumlbersetzung traumlte uumlber welche man schreiben koumlnnte Der Nachwelt und der Ewigkeit heilig (B 135) Dem aufmerkshysamen Leser kann der Hintergrund der kleinen Szene nicht verborgen bleiben die hier entworfen wird Der Uumlbersetzer-Dichter er erscheint als ein neuer Moses welcher vom Gott seines Volkes erweckt unter die Israeliten tritt mit jenen Gebotstafeln die der christlichen Nachwelt und der Ewigkeit heilig sind (Selbst das Wort von den Zankenden die um die Homer-Uumlbersetzung miteinander im Streite liegen scheint auf den biblischen Bericht zu deuten Bei der Ruumlckkehr vom Sinai spricht Josua zu Moses Es ist ein Geschrei im Lager wie im Streit Er antshywortete Es ist nicht ein Geschrei gegen einander derer die obliegen und unterliegen sondern ich houmlre ein Geschrei eines Singetanzes Ex 3217 f)

Buumlrger selbst ist es der nach diesem Vorwort mit Proben seiner jamshybischen Lrbersetzung unter die Zankenden tritt - aber er zieht es vor dem Anspruch des Moses-Bildes auszuweichen Das bleibt dem Vollender uumlberlassen Fuumlr die eigene Person und das eigene Werk waumlhlt er ein anderes Modell Wenn ich gleich derjenige selbst nicht bin auf welchen unser Volk hoffet (denn ich muumlszligte den unversc~aumlmtesten Knabenstolz besitzen wenn ich mir einbildete daszlig ichs waumlre) so kann ich doch vielleicht zu der Ehre eines Vorlaumlufers dessen der kommen wird gelangen Auf den Worten des neutestamentlichen Vorlaumlufers Johannes des Taumlufers der die messianische Erwartung des Volkes von sich selber abweist und auf jenen Groumlszligeren lenkt der kommen wird gruumlndet die Haltung des raquoIliaslaquoshyObersetzers aus ihnen gewinnt sie dem eigenen Versuch dem Probestuumld~ Bedeutsamkeit und Gewicht Eine Entsprechung zur Saumlkularisationsform figuraler Gestaltung ist nicht zu verkennen Aber wenngleich hier wie dort eine dichterische Figur dem vorbildlichen Modell gleichgeformt wird J

geht es doch dort darum sie durchzusetzen und zu rechtfertigen auf der Grundlage des Imitatio-Denkens - hier aber sie zu steigern und zu ershyhoumlhen allein um ihrer selbst willen Der Dichter erscheint als Gottesmann weil er in dieser Gestalt dem Profanen enthoben ist

In der Behandlung aller Fragen die ihm wirklich am Herzen liegen greift Buumlrger zuruumlck auf den Sprach- und Formenschatz der ihm jahreshylang als Ausdrucksvorrat fuumlr das Wesentliche und Bedeutsame vermittelt wurde Bis in die Uumlberlegungen zum dichterischen Schaffensprozeszlig fuumlhrt das die deutlich unter der praumlgenden Kraft des Berichtes vom goumlttshylichen Schoumlpfungsakt stehen Jeder Kuumlnstler schreibt er an Schushybart sollte es sich daher zur Maxime madlen keines seiner Verke eher unter fremde Augen treten zu lassen als bis er nach Jahrelangem Anshyschauen alles dessen so er gemacht sagen koumlnnte Siehe da es ist alles sehr gut 15

15 12992 - Vgl die Goumlttliche Zufricdenhcits-Formel Geni 31

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Nichts anderes als eine uumlbertragung des reformatorischen Verhaumlltnisses zur Schrift und seine Anpassung an den Umgang mit dem dichterischen Vort ist sein Verantwortungsgefuumlhl und seine Treue gegenuumlber dem unshyverriickbaren Text ja der Glaube daszlig am Buchstaben das Heil haumlngen koumlnne Gleichguumlltig welcher Grad von bewuszligter Einsicht in diese Zushysammenhaumlnge auch vorgelegen haben mag Buumlrgers Aumluszligerungen uumlber solche Fragen speisen sich unablaumlssig aus der religioumlsen Sprachquelle So begleitet er Anfang 1784 die uumlbersendung eines Manuskriptes an Goeckingk mit der leidenschaftlichen Ermahnung Houmlrt ihr daszlig also nur nicht ein Puumlnctchen zu geschweige denn ein Buchstab oder gar ein Wort fehlt Ihr seht sonst Euumlres Ungluumlcks kein Ende weder hier zeitlich noch dort ewig

Die fuumlr Buumlrger so bezeichnende Neigung zur unermuumldlichen oft geradeshyzu kleinlich anmutenden uumlberarbeitung und Ausfeilung seiner Gedichte wird man in unmittelbarem Zusammenhang sehen muumlssen mit jener Heishyligung der Werktreue die der Protestantismus entwickelt hat und es ist charakteristisch fuumlr die Denkweise des ganzen Buumlrgerschen Freundesshykreises wenn Meyer ihm zu einigen Gedichten die er fuumlr den Musenshyalmanach schickt am 971793 entschuldigend schreibt sie haumltten noch Mangel der Feile die vor Gott und Menschen angenehm ist

Solche Einzelbeobachtungen und man koumlnnte sie beliebig vermehren machen deutlich wie folgerichtig der Weg von Molmerswende nach Halle seine Fortsetzung verlangt auch wenn er nun in andere Gefilde fuumlhrt wie tief der Erbzwang den Pfarrersohn bestimmt uumlberdem bin ich einmal ein Theologe gewesen schreibt er an Goeckingk und von der Zeit haumlngt mir illud Theologorum decantatissimum Dic et servasti animam immer noch an 16 Schon 1772 erklaumlrte er sich gegen seine bisherige wolshyluumlstige und taumlndelnde Dichtungsart von allen moralischen Sentimens entbloumlszligt weil er meinte damit verloumlre die Poesie ihr erhabenes Amt Lehrerin der Menschen zu seyn 17

Im engsten Zusammenhang damit muszlig nun Buumlrgers Glaubensartikel von der P 0 pul a ri t auml t der Poesie gesehen werden Denn wenn von der kirchlichen Wortverkuumlndigung her das Amt Lehrerin der Menschen zu seyn auf die Dichtung uumlbertragen wird so faumlllt ihr zugleich die Pflicht zu ins Breite zu wirken einem unbegrenzten Leserkreise zugaumlnglich und verstaumlndlich zu sein Buumlrger nennt als seine Maxime wenn nicht Alle n dennoch den Me ist e n - versteht sich ohne weder sich selbst noch der Dichtkunst etwas zu vergeben - zu gleicher Zeit zu gefallen 18 Nur

1G 3675 Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk S65 11 Brief an Boie 2 11 72 lB Die Problematik der Popularitaumlt die an dem eingeschobenen einschraumlnkenden

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dieGuumlnstlinge die dieses Ziel erreichen sind die gewaltigen Herzensshybezaumlhmer und Zauberer die ihre guumlldenen Staumlbe nie vergebens zucken und uumlber jedes Zei tal ter in immer lebendiger Kraft herrschen Nie verra uchen die Opfer auf ihren Altaumlren und unvergaumlnglich bluumlhen ihre Kraumlnze (B 178 f) Nur sie sprechen in Vollmacht Die Opferaltaumlre und der Bezug auf jene Staumlbe die vor dem Pharao von den aumlgyptischen Zauberern vergeblich dann aber von Moses und Aaron nie vergebens ausgereckt wurden 19

begruumlnden eine Priesterschaft der Wortverwaltung zu bestaumltigen die Wahrheit des Artikels woran ich festiglich glaube und welcher die Axe ist woherum meine ganze Poetik sich drehet Alle darstellende Bildshynerei kann und soll volksmaumlszligig seyn Denn das ist das Siegel ihrer Vollshykommenheit 20

Dieser Artikel von der Popularitaumlt der Dichtung Buumlrgers Glaubensshybekenntnis empfaumlngt in der Tat einen entscheidenden Anstoszlig aus der Predigt- und Seelsorgehaltung der er unter der vaumlterlichen Kanzel beshygegnete Wenn er scherzhaft an Meyer schreibt ein gottseliges Comite untersuche woher es wohl komme daszlig der Gottesdienst in der Unishyversitaumltskirche so sparsam besucht werde Ich denke mit Recht wird Euer gepredigtes Evangelium als eine der vornehmsten Ursachen oben an geshystellt werden (121 89) so liegt dem ganz der gleiche Gedanke zushygrunde der auch die Wirkungspoetik seiner Abhandlungen zur VolksshyPoesie bestimmt Es ist das saumlkularisierte Predigerethos das aus dem leishydenschaftlichen raquoHerzensausguszliglaquo spricht Durch Popularitaumlt mein ich soll die Poesie das wieder werden wozu sie Gott erschaffen und in die Seelen der Auserwaumlhlten gelegt hat Lebendiger Odem der uumlber aller Menschen Herzen und Sinnen hinweht Odem Gottes der vom Schlaf und Tod aufweckt Die Blinden sehend die Tauben houmlrend die Lahmen gehend und die Aussaumltzigen rein macht Und das Alles zum Heil und Frommen des Menschengeschlechts in diesem Jammerthaie (B 321) 21

Die Beobachtung solcher Umsetzungsvorgaumlnge die Buumlrgers theoretische Aumluszligerungen gedanklich und sprachlich bestimmen leitet zu unserer eigentlichen Frage nach der Bedeutung und Beschaffenheit der Saumlkularishysationsphaumlnomene in seinem d ich t e r i s c he n Werk

(wenn nicht gar aufhebenden) Satz zu entwickeln waumlre kann hier nicht ausgefuumlhrt werden Sie kommt in Schillers und A W Schlegels Buumlrger-Abhandlungen zur Sprache

Vgl Ex7-10 20 B S324 (Vorrede zur Ausgabe der Gedidlte 1778) 2 Ober eine ganz entsprechende neue Einstellung zum Volksganzen raquowelche die

seelsorgerliche Haltung des Vaters unmittelbar fortzusetzen scheint handelt H Schoumlffshyler Das literarische Zuumlrich 1925 S42f

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Unmittelbare und ausdruumlckliche biographische Zeugnisse fuumlr den Einshyfluszlig des religioumlsen Schrifttums gibt es kaum Immerhin finden sich einige Hinweise in den Aufzeichnungen Althofs die auf Buumlrgers eigenen freishylich sehr spaumlten muumlndlichen Auszligerungen beruhen Durch sie wird uumlbershyliefert daszlig der Junge bis in sein zehntes Lebensjahr hinein durchaus nicht mehr lernte als Lesen und Schreiben wohl aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse behielt was er sowohl in der Bibel als im Gesangshybuche las ja daszlig er wie er meinte das ganze Gesangbuch ohne Schwieshyrigkeit auswendig gelernt haben wuumlrde (B 431) Von den houmlchst aufshyschluszligreichen Einzelheiten dieser fruumlh gelegten Bibel- und Gesangbuch- kenntnisse muszlig spaumlter die Rede sein Hier wird zunaumlchst nur Althofs Mitteilung wichtig daszlig schon der Knabe ohne durch andere Muster als welche Bibel und Gesangbuch ihm lieferten dazu aufgefordert zu werden anfing Verse zu machen ehe er noch die allerersten Elemente der Grammatik erlernt hattelaquo (B 431) Das ist gewiszlig nicht so zu verstehen als habe der junge Verseschmied damals noch kein grammatisch fehlershyfreies Deutsch sprechen oder schreiben koumlnnen Grammatik lernte man an der Fremdsprache Buumlrger begegnete ihr also im lateinischen Untershyricht - und cr konnte ungeachtet aller Schlaumlge in zwei Jahren noch nicht Mensa decliniren (B 431) Diese Randbemerkung macht einsichtig

( daszlig es sich bei den poetischen Anregungen durch Bibel und Kirchenlied um ganz unreflektierte dem kontrollierenden Sprach- und Kunstbewuszligtshysein entzogene Vorgaumlnge handelt Das deckt sich voumlllig mit Althofs Aufshyzeichnung Buumlrger versicherte ferner So wenig diese Fertigkeiten als irgend eine andere Kenntniszlig seines nachfolgenden Lebens bis in sein maumlnnliches Alter haumltten ihm die geringste Anstrengung oder Muumlhe geshykostet es waumlre auch sehr wenig was er von Lehrern und aus Buumlchern geshylernt haumltte da es ihm immer in den Lehrstunden an Aufmerksamkeit und auszliger denselben an Geduld gefehlet ein Buch anhaltend aus zu lesen Er muumlszligte sich oft innerlich wundern wenn er einen Blick in die Vorrathsshykammer seiner Kenntnisse thaumlte wie und woher der Plunder alle hinein gekommen Das Meiste waumlre ihm hier und da und dort und uumlberall wie VOn selbst gleichsam angeflogen (B 431) Nichts konnte ihm so sehr von selbst anfliegen wie die Worte Bilder und Formen der heiligen Texte die von den Jugendjahren im vaumlterlichen Pfarrhaus bis zum Abbruch des theologischen Studiums in Halle sein taumlglicher Umgang waren Was aber fuumlr ihre Aufnahme gilt ist nicht weniger guumlltig fuumlr ihre Verwendung die Saumlkularisationsvorgaumlnge entziehen sich weithin dem Bewuszligtsein des Schreibenden Durch ihn hindurch aber oft ohne seine Absicht und ohne sein Dazutun wirkt hier die religioumlse Sprache auf das Kunstwerk ein

Der eigentliche Zugang zu diesen Phaumlnomenen kann deshalb nicht durch die Beschaumlftigung mit der Person des Autors gewonnen werden

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welches Forschers Geist hat Buumlrger selbst erklaumlrt kann sich immer so tief und innig in den Geist des Kuumlnstlers versenken um etwas mit Sicherheit auszumachen welches dieser oft selbst nicht recht weiszlig naumlmshylich was fuumlr Bestinunungsgruumlnde jeglichen seiner Schritte zum Ziele leitet haben 22 Nur im Ziele selbst im Zustandegekommenen WIrd wohl der eine oder andere Bestimmungsgrund erkennbar der Weg dahin fuumlhrt also nicht uumlber die Versenkung in den Geist des Kuumlnstlers sondern uumlber die Betrachtung des Kunstwerkes selbst

In dem 1782 entstandenen kleinen Gedicht raquoDer klug e Heldlaquo23 wird erzaumlhlt wie ein junger Soldat um der Gefahr zu entgehen am Tag vor der Schlacht einen Urlaub erbittet angeblich damit sein sterbender Vater ihm noch den Abschiedskuszlig geben koumlnne Die letzten Verse lauten

Sehr wohl versetzt der Chef und laumlchelt vor sich nieder Reis hurtig ab mein Sohn Denn nach der Bibel muszlig Dein Vater nach Gebuumlhr von dir geehret werden Auf daszlig dirs wohlergeh und du lang lebst auf Erden

Von verschiedenen Seiten aus wird einsichtig welch besonderes Gewicht dieser Schluszlig traumlgt ja daszlig das ganze Gedicht eigentlich auf ihn hin anshygelegt ist 24

bull Schon der Gespraumlchsablauf weckt eine Spannung auf die Beshygruumlndung fuumlr die Zustimmung des Chefs der den Vorwand ja durchshyschaut Zugleich trennt das Druckbild durch einen Gedankenstrich und folgenden Sinnabschnitt die hier angefuumlhrten letzten Zeilen von den vorshyangehenden und nachdem schon zuvor die wechselnd vier- und fuumlnfshyhebigen Jamben sich zweimal gleichsam praumlludierend ins alexandrinische Maszlig vorgewagt hatten gewinnt der Schluszligteil in dem die Alexandriner sich voumlllig durchgesetzt haben auch metrische Bedeutungssteigerung Entshyscheidend aber ist der Pointencharakter des Ausgangs und dessen eigentshylicher Uberraschungseffekt entsteht durch die ironische Beziehung des vierten Gebotes auf die Absichten des Soldaten Den wichtigsten Beitrag zur Schluszligbeschwerung des Gedichtes leisten diese beiden zitierenden len mit denen ein vorgeformtes und vorbelastetes Redestuumlck als schwerer Endakzent dem vorangehenden Berichte aufgesetzt wird

~2 Ueber die Wirkung des Schleiers in Werken der darstellenden Kunstlaquo TI S 340 23 Die Gedichte werden im folgenden zitiert nach der Ausgabe von E COllsentius

2 Bde 1914 Hier I S238 21 VgL E Staigers Begriff der nproblematischen Dichtung (Grundbegriffe der

Poetik LAufl 1951 S162ff)

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Schluszligbeschwerungen sind fuumlr Buumlrgers Lyrik charakteristisch Sie hershyvorzubringen erscheint die eben beobachtete Verbindung eines praumlforshymierten Sprachstuumlckes mit vorausgehenden freien Formationen beshysonders geeignet - und es ist bemerkenswert daszlig der strukturell so beshydeutsame pointierte Ausgang tatsaumlchlich in nahezu einem Drittel aller Gedichte Buumlrgers auf den christlichen Sprachbereich zuruumlckweist

Wo seine Gedichtausgaumlnge einen formelhaften Redeschluszlig woumlrtlich oder nur geringfuumlgig abgewandelt uumlbernehmen wird die Endbetonung am spuumlrbarsten Aus einer Fuumllle von Beispielen koumlnnte man dafuumlr nennen

Gott lass es dem Edlen doch wohl ergehn Das bet ich herzinniglich Amen (I 207)

Gott behuumlte liebe Seele Gott behuumlte dich davor (I 32)

o Paradiesesglaube Erhalt und staumlrke mich (I 38) Komm Von hinnen laszlig uns scheiden Eia waumlren wir schon da - (I 68) Dein Name sei gebenedeit Von nun an bis in Ewigkeit (I 45)

Der jeweilige Ursprungsort dieser Schluszligformeln bedarf keiner Erlaumluteshyrung Was sie - in einen neuen Zusammenhang versetzt - fuumlr den Aufshybau des Gedichtes leisten koumlnnen zeigt sich im ersten Beispiel (raquoDie Kuhlaquo) mit der Hervorhebung des Erzaumlhlers der diesen Epilog spricht und mit der Zusammenfassung des Gedichtes zur geschlossenen Form im letzten Beispiel (raquoDankliedlaquo) in dem die schlieszligenden Zeilen des Gedichtes die der Anfangsstrophe wieder aufnehmen und die preisende Aufreihung der Gottesgaben mit einer aus dem liturgischen Ursprungsort der Formel heruumlberwirkenden Kraft zusammengreifen und erfuumlllen im Benedeien des goumlttlichen Gebers Von solchen Leistungen wird noch die Rede sein

Aumlhnliche Wirkungen entfalten die Schluumlsse in denen Bibelzitate parashyphrasiert und auf die vorangehenden Verse bezogen werden In raquoSchoumln Suschenlaquo etwa geben die letzten Zeilen

Drum Lieb ist wohl wie Wind im Meer Sein Sausen ihr wohl houmlrt Allein ihr wisset nicht woher Wiszligt nicht wohin er faumlhrt (I 155)

die aus Joh 3 8 hervorgehen Antwort auf die Eingangsfrage des Geshydichtes durch sie erfuumlllt es sich in der inneren Form von Raumltselstellung und Raumltselloumlsung Vergleichbares bewirkt der Schluszlig von raquoDie Eleshy

13 7439 Schoumlne Saumlkularisation (Palaestra 226) 193

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mentelaquo nachdem die Liebe als allbewegende Triebkraft der Natur geshyschildert worden ist zieht der Ausgang die Lehre fuumlr den lieblos geshywordenen Menschen

Du bist ein eiteltoumlnend Erz Bist leerer Klingklang einer Schelle Und Tosen einer Wasserwelle (I 70)

Die auffallend haumlufige Verwendung solcher zusammenfassenden abshyrundenden aufloumlsenden erklaumlrenden pointierenden Schluszligbeschwerunshygen die der Dichter dem christlichen Sprachbereich entlehnt muszlig durchshyaus als Charakteristikum Buumlrgerseher Gedichtsstruktur verstanden werden

Ober die Bestimmung ihrer sprachlichen Herkunft hinaus sind diese beschwerten Ausgaumlnge in einigen Verwendungs faumlllen nun auch auf eine genauer bestimmbare Form des Sprechens zu beziehen Da endet etwa Die Entfuumlhrunglaquo mit den Versen

So segne dann der auf uns sieht Euch segne Gott von Glied zu Glied Auf Wechselt Ring und Haumlnde Und hiermit Lied am Ende (I 181)

Das ist die Spredlweise des Geistlichen und in der Tat nimmt ja hier am Ende des houmldlst wel dichen Balladengeschehens der Vater des entfuumlhrshyten Fraumluleins mit Segen und Ringwechsel eine priesterliche Handlung vor Diese personale Gleichung macht aufmerksam auf eine grundsaumltzliche typologische Entsprechung zwisdlen der Schluszligbeschwerung des Gedichshytes und geistlidler Redeweise Nicht nur das durchgehend religioumls beshystimmte liturgische Sprechen endet mit einer gewichtigen Schluszligformell des Gebetes Segens oder Lobpreises auch die nicht mehr formgebundene freie Rede das Gespraumlch die Ansprache so zu schlieszligen daszlig weltlidles Sprechen am Ende durch einen religioumlsen Bezug ein praumlformiertes Redeshystuumlck erhoumlht gekroumlnt gewichtig beschlossen wird ist fuumlr den Geistlichen offenbar bis heute bezeichnend

Diese durch vorgegebene Schluszligformeln charakterisierte Redeweise zeigt ganz die gleiche Grundform die in der Untersuchung der Buumlrgershysehen Gedichte sichtbar wird - wie ja jene Gepflogenheit an weltliche Rede einen oft geradezu gewaltsam angehaumlngten formelhaft-religioumlsen Schluszlig zu fuumlgen selbst in dem oben genannten Briefausgang noch spuumlrbar wird ich heuumlrathete wol ein Kuh wenn sie nur an der bewusten Vershynunft keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte didl bei dieser Philoshysophie Amen Amen GABuumlrger Unter diesem Blickwinkel gewinnt die Stelle geradezu karikierende Zuumlge

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Beispielhaft fuumlr eine solche Analogie der Sprechweisen scheinen etwa die Schluumlsse

Die Liebe segne dich und sie Mit ihrem besten Segen (148) Die Liebe sagt Verdammet nicht Daszlig man nicht Euch verdammet (I 187) Diesen Trinker gnade Gott Lass ihn nicht verderben (I 73)

Sie aber deuten auf eine Analogie-Antithese zwischen dem Pfarrer als dem Diener der christlichen Kirche und dem Poeten der eines seiner Geshydichte mit den Worten schlieszligt

Doch wisse du Apolls Religion Schenkt dir die Glaubenspflicht und dringt auf gute

Werke (I 248) Als Gottesdienst der Wortverwaltung hat Buumlrger sein dichterisd1cs Amt verstanden

Bin geweiht zum Priester des Apoll Mit des Gottes Kranz und goldnem Stabe Seines Geistes bin ich froh und voll Warum nicht auch frommer Wundergabe - (I 94)

Und am Ende des Gedichtes (raquoGeweih tes Ang ebind e zu Lo uis ens Geburtstagelaquo) tritt diese vaumlterliche Mitgift diese Sprechhaltung des Geistlichen ganz ausdruumlcklich ins Wort

Freud und Lust von keinem Harm vergaumlllt Sei durch dich Ihr in die Brust gegossen Freud an Gottes ganzer weiter Welt Mich den Priester auch mit eingeschlossen

shy

Die Beobachtung der Schluszligbeschwerung lenkt auf die Frage nach ihrer Integration in das Gesamtgefuumlge des Gedichtes und nach der Wirkung die sie dort entfaltet raquoDer kluge Heldlaquo kann darauf kaum schon ershyschoumlpfende Antwort geben die massive Pointicrung die hier durch den Endakzent zustande kommt ist nur eine unter vielen Moumlglichkeiten seiner Leistung Weit komplizierter liegen diese Verhaumlltnisse in Buumlrgers Nachshydichtung der raquoCo n f ess i 0laquo des Archipoeta 25

25 Das Gedicht war Buumlrger in einer dem Walter Mapes zugeschriebenen Fassung beshykannt geworden (vgl seinen Brief an Sprickmann vom 21077) deutliche Bezuumlge zeigen sich zu seinen Strophen 12 13 16-19 Zitiert wird die lat Vorlage nach dem auf 5 Strophen verkuumlrzten Abdruck den Buumlrger in der Ausgabe seiner Gedichte VOll

1778 auf S 290 f gegeben hat (Ausgenommen die beiden dort nicht mitgeteilten hier auf S199 zitierten Verse Voluptatis avidus laquo)

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Zechlied

Im will einst bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Alles meinen Wein nur nimt Lass im frohen Erben Nam der letzten Olung soll Hefen nom mim faumlrben Dann zertruumlmmre mein Pokal In zehntausend Smerben Jedermann hat von Natur Seine sondre Weise Mir gelinget jedes Werk Nur nam Trank und Speise Speis und Trank erhalten mim In dem remten Gleise Wer gut smmiert der faumlhrt aum gut Auf der Lebensreise Im bin gar ein armer Wimt Bin die feigste Memme Halten Durst und Hungerqual Mim in Angst und Klemme Smon ein Knaumlbchen smuumlttelt mim Was im aum mim stemme Einem Riesen halt im Stand Wann im zem und smlemme Aumlmter Wein ist aumlmtes 01 Zur Verstandeslampe Gibt der Seele Kraft und Schwung Bis zum Sternenkampe Witz und Weisheit dunsten auf Aus gefuumlllter Wampe Baszlig gluumlckt Harfenspiel und Sang Wann im brav smlampampe Nuumlchtern bin im immerdar Nur ein Harfenstuumlmper Mir erlahmen Hand und Griff Welken Haupt und Wimper Wann der Wein in Himmelsklang Wandelt mein Geklimper Sind Homer und Ossian Gegen mim nur Stuumlmper

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Nimmer hat durch meinen Mund Hoher Geist gesungen Bis ich meinen lieben Bauch Weidlich vollgeschlungen Wann mein Kapitolium Baechus Kraft erschwungen Sing und red ich wundersam Gar in fremden Zungen Drum will ich bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Nach der letzten oumllung soll Hefen noch mich faumlrben Engelchoumlre weihen dann Mich zum Nektarerben Diesen Trinker gnade Gott

Lass ihn nicht verderben (1 72 f)

Da wird mit der ersten Strophe das Bekenntnis zu einer Lebensfuumlhrung abgelegt und geradezu beschworen die selbst eingedenk des Todes noch ganz im Irdischen verharrt Fuumlnf folgende Strophen dann begruumlnden den Entschluszlig den die erste verkuumlndete auch ihre Aussagen bleiben durchshyaus im Bereiche des weingeweihten Diesseits Die letzte aber tritt nachshydem sie zunaumlchst das Bekenntnis der ersten aufgenommen in eine durchshyaus andere Sphaumlre Zwar setzt auch dort das irdische Trinkerleben sich fort aber der Spott der eben noch die letzte oumllung traf der Entschluszlig der ersten Strophe im Tode den Pokal zu zertruumlmmern lassen dieses Ende nicht erwarten

Ut dicant eum venerint angelorum chori Deus sit propitius huic potatori

heiszligt es in der raquoC 0 n fes s i 0laquo und solcher Gesang der Engelchoumlre beshyschlieszligt nun auch Buumlrgers koumlnigliches Sauflied 26 ein im religioumlsen Sprachbereich ausgebildetes Gebet um Gnade fuumlr den Suumlnder 27 - an dessen Stelle nun der Trinker steht - setzt den kraumlftigen Endakzent Wenn so unvermittelt das Sauflied in die Gebetsformel muumlndet scheint sich im Wortschatz in der Sprechhaltung im Hinblick auf die Geschehnisshyebene ein bruchhafter Wechsel zu vollziehen der die Einheitlichkeit des ganzen Gedichtes in Frage stellt Zwar folgen Vers- und Strophenbau zushygleich mit dem Reimschema der gtConfessiolaquo entlehnt ebenso wie die rhythmische Anlage des Liedes gleichbleibenden Aufbauprinzipien und stiften so eine formale Geschlossenheit des Ganzen aber gerade das treibt

28 Brief an Boie 18977 27 Vgl Lue1B 13 Deus propitius esto mihi peceatori

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den Umbruch der Schluszligbeschwerung nur um so kraumlftiger heraus Daszlig hier in Wahrheit keineswegs ein Bruch vorliegt daszlig dieser Sphaumlrenshywechsel durchaus nicht unvermittelt geschieht wird jedoch einsichtig sobald man die Sprache der Mittelstrophen schaumlrfer ins Auge faszligt Dann zeigt sich daszlig hinter der Bedeutungsoberflaumlche der Wortaussage vorshygeformtes Sprachgut aus eben der Sphaumlre wirksam ist zu der die schlieshyszligenden Verse sich erheben

Dem Wein dem der Sprechende selbst eingedenk des irdischen Endes noch sein Dasein verschreibt setzt die zweite Strophe die Speise zur Seite Beide Trank und Speise sind fuumlr das Leben noumltig - doch offenshybar nicht im Sinne notwendiger Ernaumlhrung Das erhalten meint kein einfad1es am-Leben-erhalten sondern ein im rechten Gleise im rechshyten Leben erhalten Das Schluszligwort der Strophe laumlszligt aufmerken Lebensreise erscheint als ein deutlich vorbelastetes vorgeformtes Sprad1stuumlck der religioumlsen Sphaumlre das (ausgehend von Gen 47 9) die christliche Deutung des Lebens als einer Reise durch die Weh zum jenshyseitigen Ziele in sich faszligt Trank und Speise in solchem Bedeutungsfeld als Hilfen die Lebensreise recht zu fuumlhren sie machen hinter dem lauten Gesang des Trinkers im fuumlnften Vers die liturgische Stimme vershynehmbar die Stimme des Geistlichen der die Hostie und den Wein reicht Nehmet hin und esset Nehmet hin und trinket das staumlrke und erhalte euch im rechten Glauben zum ewigen Leben Amenlaquo 28 Von andeshyrem Trank und anderer Speise als der vom Vater dargebotenen spricht der Sohn Doch im Bekenntnis des Zechlieds klingen noch immer jene Worte nach die von der Kraft des heiligen Mahles kuumlndeten weil das 11edium der Sprad1e die mit der Abendmahlsliturgie in sie eingeganshygenen Bedeutungsenergien bewahrt und fuumlr die Dichtung verfuumlgbar macht

Von der zweiten Strophe aufgerufen bleibt dieser Bezug auch in der dritten vierten und fuumlnften lebendig Hinter dem Zecher den Essen und Trinken der Angst und Schwaumld1e entheben so daszlig er einem Riesen standshyzuhalten vennag steigt das Bild des gottgestaumlrkten David herauf der dem Goliath standhaumllt Der aumlchte Wein und das aumldlte oumll derert Kraft die Seele zum Sternengewoumllbe erhebt gewinnen neue Bedeutung Hinter dem Harfenspieler und dem Himmelsklang seines Gesanges toumlnt leise der Psalm Davids zur Harfe zu singen und in der trunkseligen Prahshylerei der Erhebung uumlber Homer und Ossian mag damit eine verborgene Rechtfertigung solcher Selbsteinschaumltzung sich andeuten Sind die uumlbershytragenen Worte und Bilder hier dem Text des raquoZechlieds so weitshy

e8 In der Abendmahlsliturgie folgt diese in verschiedenen Fassungen gebraumluchliche Spclldeformc1 auf den Einsetzungsbericht Ausfuumlhrlich daruumlber P Graff Geschichte der Aufloumlsung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschshylands I 1937 S 197 ff

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gehend anverwandelt daszlig sie als fremdes Sprachgut kaum erkennbar werden heben sie sich in der sechsten Strophe doch wieder staumlrker ab erst der Abglanz der Erleuchtungsflammen des Pfingstwunders erhellt die Reden des Trunkenen als einwundersames Reden gar in fremden Zungen

Ein Vergleich mit dem Vorbild der lateinischen Beichtparodie der dies e Durchsichtigkeit auf den hinter der eigentlichen Aussage liegenden Sprach- und Bildbereich gaumlnzlich fehlt zeigt daszlig in Buumlrgers uumlbertragung eine sehr bewuszligte Absicht waltete Man halte gegen seine sechste Strophe etwa die Verse

Mihi nunquam spiritus prophetiae datur Non nisi cum fuerit venter bene satur Cum in arce cerebri Bacchus dominatur In me Phoebus irruit ac miranda fatur

Die Grundhaltung beider Gedichte unterscheidet sich wesentlich Mit den fuumlr die ganze raquoC 0 n fes s i 0laquo verbindlichen Versen

Voluptatis avidus magis quam salutis Mortuus in anima curam gero cutis

setzt der Archipoeta Diesseits und Jenseits gegeneinander und faumlllt seine klare Entscheidung fuumlr das eine gegen das andere Buumlrger aber verschmilzt die Bereiche Getragen von den sprachgebundenen Bedeutungsenergien die aus dem christlichen in einen houmlchst weltlichen Bereich des Sprechens uumlberfuumlhrt werden erhebt der bekenntnishafte Lebensbericht des Zechers sich zum Heilsbericht zum Preis einer uumlberirdischen und das Irdische vershywandelnden Macht die am Sprechenden wirksam wird Erst diese Spuren des weihevoll-heiligen Pathos dem Weine des schwoumlrenden protzenden singenden Zechers und Schlemmers beigemischt als ein verborgenes Arom bewirken jenes Entzuumlcken das Buumlrger mit der Lektuumlre des Gedichtes seinen Freunden verhieszlig29 Sie bereiten die schluszligbeschwerende Gebetsshyformel vor und bewirken daszlig statt eines Bruches hier der Aufschwung in jene Sphaumlre erfolgt die am inneren Aufbau des Liedes schon von Anshyfang an beteiligt war So vollendet sich das bekennende Sprechen des raquoZechliedslaquo am Ende in der inneren Form einer ihrer urspriinglichen Erfuumlllung mit christlichem Gehalt entleerten Heilsverkuumlndigung

i-

Mit jener Sprechweise des Geistlichen auf welche die Schluszligbeschweshyrung deutete haumlngt diese Form der He i I sv e r k uuml n d i gun g aufs engste zusammen Sie steht in Buumlrgers Werk durchaus nicht vereinzelt die im

29 Brief an Boie 18977

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religioumlsen Sprachgebrauch ausgebildeten Formmodelle finden hier zahlshyreiche und vielfaumlltige Entsprechungen die um so deutlicher erkennbar werden als sie noch immer merkliche Spuren auch des urspruumlnglichen Gehaltes tragen Sie erweisen sich als weltliche Kontrafakturen der relishygioumlsen Vorbilder 30 von denen sie nicht allein das organisierende Formshyprinzip beziehen sondern zugleich jenen Zuwachs an Bedeutungshaumlhe und Wirkungskraft den das Modell nur dann hergibt wenn es selbst noch als bedeutungshaltig und wirkungsfaumlhig intakt bleibt Die Annaumlherung auch der inhaltlichen Erfuumlllung dieser saumlkularisierten Formen an den christshylichen Denk- und Sprachbereich befoumlrdert ja begruumlndet ihre reichhaltige Erscheinung in Buumlrgers Lyrik

Ich glaube Luther wuumlrde dies Gedicht fuumlr ein wuumlrdiges Kirchenlied anerkannt haben schrieb AWSchlegel uumlber Die Elementelaquo (B 518) Schon mit dem Eingangsvers tritt es in die Form der Lehrvershykuumlndigung Horch Hohe Dinge lehr ich dich (I 68) Und diese Lehre vom Wesen der Elemente ist mehr als bloszlige Kundgabe Sie wird Maszligstab fuumlr den Belehrten Richtschnur Grundlage fuumlr das kommende Gericht Immer dringlicher wendet sie sich im Fortgang des Gedichtes an den Houmlrer selbst Sieh hin und her und Nun pruumlfe dich bis mit den oben (S 194) genannten Schluszligversen das lehrende Sprechen ins urteilende und verdammende uumlbergeht

Eine besondere Form der lehrhaft-bekennenden Rede macht das raquoDankl iedlaquo sichtbar (I 44ff) das Buumlrger urspruumlnglich Psalm nennen wollte und zu dem Boie ihm schrieb den denkenden Christen wird es entzuumlcken und erbauen aber den groumlszligten Haufen und Pastor Zuch - (12972) Es zeigt eine ganz symmetrische Anlage Die Eingangsstrophe wendet sich lobend an Gott den Schoumlpfer sechs folgende Strophen reihen auf was der Sprechende aus seiner Hand empfangen hat (daszlig es dabei ausgerechnet um die Liebe den Wein und den Gesang geht muszligte Pastor Zuch freilich wurmen) zwei Mittelstrophen bekennen daszlig die Fuumllle der Schoumlpfergaben nicht zu zaumlhlen sei (Wer zaumlhlt die Gaben alle Wer) und wenden sich auf den Sprecher selbst wieder sechs Strophen nennen dann die leiblichen und geistigen Eigenschaften die Gott ihm verliehen hat Hinter dieser Gaben Wunderschau aber wird Luthers Erklaumlrung zum 1 Artikel des Glaubensbekenntnisses sichtbar in der es nach der FrageWas ist das heiszligt Ich glaube daszlig mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mit Leib und Seele Augen Ohren und alle Glieshyder Vernunft und alle Sinne gegeben hat Gemaumlszlig den Schluszligworten der Erklaumlrung des alles ich ihm zu danken und zu loben schuldig bin muumlndet die letzte Strophe preisend und benedeiend in den liturgisch beshy

ao Zur Begriffsbestimmung dieser Saumlkularisationskategorie vgL S 289 ff

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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loge schon nach wenigen Semestern vom Groszligvater nach Aschersleben zuruumlckgerufen Halle wieder verlieszlig und die Gottesgelehrsamkeit aufshygab 1768 ging Buumlrger aufs neue zur Universitaumlt diesmal nach Goumlttingen - zum Studium der Jurisprudenz~

Von dieser Zeit an zeigen seine Briefe eine zunehmende Entfernung von der strengen lutherischen Orthodoxie die die ersten zwanzig Jahre seines Lebens bestimmt hatte Ein zuverlaumlssigeres Zeugnis als die sehr unterschiedlich gefaumlrbten Gelegenheitsaumluszligerungen uumlber sein Verhaumlltnis zum Christentum gibt dafuumlr die Art des Umgangs mit dem angestammshyten religioumlsen Sprachgut Bibelworte Verse des Kirchenliedes und liturshygische Formeln vor allem werden voumlllig unbedenklich aus dem geheiligten Kodex geloumlst und ohne die mindeste Ruumlcksicht auf ihren ehrwuumlrdigen Ursprung gaumlnzlich auszligerreligioumlsen ja vorzugsweise spielerischen und scherzhaften Zwecken dienstbar gemacht Sie sind gerade gut genug

6 Die Buumlrger-Biographen pflegen die Hallenser Studentenzeit in duumlsteren Farben zu malen Da ist der Umgang mit Chr A Klotz dem Professor der Beredsamkeit in dessen Hause ein junger Theologe sich eigentlich nicht haumltte bewegen sollen da wird berichtet von einem sittenlosen Bummelleben und dem Miszligfallen an der Theologie mit der sich Buumlrgers sinnliches Temperament nicht vertragen habe In Wahrheit weiszlig man uumlber das alles kaum Genaues Sicher ist nur daszlig Buumlrger verbotenerweise an der Gruumlndung einer niedersaumlchsischen Landsmannschaft beteiligt war auf eine Denunziashytion hin mit seinen Freunden beim Gruumlndungsschmaus vom Pedellen erwischt und zu einer Woche Karzer verurteilt wurde Wahrscheinlich hat dieser Vorfall fuumlr den alten

f eigensinnigen Mann in Aschersleben schon ausgereicht um seinen Enkel zuruumlckzushybeordern Zwar heiszlig~ es im y_erhoumlspItokltill PJ g~2Iilt~LsE~(LtilloLAger houmlret Collegia beiHerrn Prof Hansen und studirr jura aber einiges muszlig er in Halk_ -~wohl auch fuumlr sein Theologiestudium getaiihaben denn de~lgis~e Dekan --- ---dls ares 176768 vermer t l~ctrszligerltrm---ei111iDgaumln szeu nis ausgestent~-~

- a e V rouml e In As ers e en onnte Buumlrger den Groszligvater um--- - stimmen zu Ostern 1768 ging er nach Goumlttingen Er nahm Quartier in dem uumlbel beshy

leumdeten Haus einer Madame Sachse der Schwiegermutter des Professors Klotz in Halle ein Brief den er 1770 an den Goumlttinger Prorektor schreibt berichtet von einer Pruumlgelei zwischen ihm und einem Nebenbuhler im Schlafgemach der Witwe Bandmann einer der Toumlchter des Hauses Nach Madame Sachses Tod zog er 1771 schwer verschuldet in ein Kuumlrschnerhaus und jetzt setzt offenbar eine Vandlung ein Schon seit dem Winshyter 7071 ruumlhmen die Lehrer seine gruumlndlichen rechtswissenschaftlichen Kenntnisse seinen Eifer Fleiszlig und sittsam-bescheidenen Lebenswandel Es liegt zwar nahe auch die Halleshyschen Vorgaumlnge so zu erklaumlren wie Boie der am 281 71 an Gleim schreibt daszlig Buumlrgers freyes lustiges Leben die Herren Theologen verhindert haumltte ihm gute Zeugshynisse zu geben auf Grund der wenigen zuverlaumlssigen Nachrichten ist es aber viel wahrscheinlicher daszlig die Biographen von den ersten Goumlttinger Semestern auf die Hallenser Zeit zUfUumlckgeschlossen haben und also das wirklich zuumlgellose und verwilderte Leben erst einsetzte als der Zwanzigjaumlhrige die geradlinige Entwicklung die ihn vom Molmerswender Pfarrhaus uumlber die Lateinschule in Aschersleben und das Koumlnigliche Paumldagogium nadl Halle gefuumlhrt hatte abbrach und seinem Leben eine gaumlnzlich neue Wendung gab Goumlttingen bleibt fortan bestimmend fuumlr den spaumlteren Amtsverwalter im benachbarten Gelliehausen und den Dozenten an der Georgia Augusta Die Theoshylogie liegt hinter ihm

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einem Brief jene Wuumlrze zu geben die dem Bewuszligtsein unangemessener Verwendung dieser Sprache entspringt Vom Leichtfertigen fuumlhrt das zushymal in den spaumlteren Zeugnissen bis an den Rand des Blasphemischen auf eine Mitteilung H Chr Boies des Freundes in Goumlttingen er gedenke eine reiche Frau zu heiraten antwortet Buumlrger am 13881 7 Wenn ich noch einmal wieder in meinem Leben heuumlrathen sollte wahrhaftig ich heuumlrathete wol eine Kuh wenn sie nur an der bewusten Vernunft [naumlmshylich am Gelde] keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte dich bei dieser Philosophie Amen Amen GA Buumlrger Daszlig die Sprache sich in solcher Weise aus ihren alten Bindungen loumlst waumlre kaum denkbar ohne eine Distanzierung auch des Sprechenden selbst vom Geist des vaumltershylichen Pfarrhauses

Wir wenden uns diesen Vorgaumlngen nicht mit jener Ausfuumlhrlichkeit zu die sie verdienten wenn es um eine Darstellung der inneren Entwicklung Buumlrgers ginge Auch fuumlr unsere Fragestellung aber sind sie bedeutungsshyvoll als Voraussetzung als Ermoumlglichungsgrund dichterischer Gestaltungsshyweisen Denn daszlig hier ein Abfall vollzogen wurde daszlig Buumlrger sich geshyloumlst hat von dem Gesetz nach dem er angetreten war auch ihm selber sehr wohl bewuszligt Wenn er an Boie uumlber den Dr Pideritt schreibt raquoSo viel ich aber aus einer Recension seiner Vertheydigung des Kanons der heil Schrifft 2tes Stuumlck muthmaszlige so mag er wohl einen Bannstral auf meine gottlosen Gedichte geworfen haben indem es heiszligt daszlig er zum Beweise gegenwaumlrtiger irreligioumlser und sittenloser Zeiten verschiedene Gedidlte aus den MusenAlmanachen angefuumlhrt habe (11676) so wird unter den ironischen Toumlnen doch deutlich spuumlrbar daszlig er sich mit seinen Dichtungen in einem anderen Raume weiszlig als dem seines Ursprungs

Es gibt wohl kein Zeugnis das in dieser Hinsicht aufschluszligreicher ja verraumlterischer waumlre als die Stelle aus einem Brief vom Sommer 1775 an Goethe Wie behaumlglich von der bekannten AlltagsleyerMe10dey der um uns plaumlrrenden Christlichen Gemeine unterweilen abbrechen und sein innres Seelenstuumlckchen anstimmen zu koumlnnen

Das ist mit Entchristlichung nicht einfach gleichzusetzen der tiefere Bereich persoumlnlicher Glaubenshaltung entzieht sich unserer Einsid1t Aber es bezeugt eine Abwendung vom strengen Kirchenchristentum und macht deutlich daszlig der Schreiber seine eigentlid1e Bestimmung auszligerhalb des religioumls-dogmatischen Raumes sieht Immerhin AlltagsleyerMelodey und innres Seelenstuumlckchen plaumlrren und anstimmen zeigen unershyachtet der recht eindeutigen Bewertung doch noch die Verwandtschaft einys gemeinsamen Wortfeldes und werden durchaus in einem Atemzug genannt Das aufschluszligreich genug Denn es deutet auf ein Verhaumlltnis

7 Vfenn nicht anders angegeben stammen die Briefzitate stets aus der Sammlung Briefe von und an Gottfried August Buumlrger hrsg A Strodtmann 4 Bde 1874

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zwischen religioumlsem und dichterischem Wort (so darf man ohne Zweifel uumlbersetzen) in dem zwar das erste dem zweiten untergeordnet wird aber doch noch immer eines mit dem anderen verbunden bleibt

Auch das Woumlrtdlen unterweilen wird man dabei nicht ganz uumlbershysehen duumlrfen Unterweilen hat Buumlrger seinem Verleger Dieterich gegenshyuumlber (und es gibt andere aumlhnliche Faumllle) in einem Brief vom 1 81782 die Weisheit und Guumlte goumlttlicher Vorsehung die jenseits menschlicher Einshysichtsfaumlhigkeit liegt mit Nachdruck ja mit Leidenschaft verteidigt - um dann dem Freunde selbst die Frage in den Mund zu legen Wie koumlmmt Saul unter die Propheten Dieses Sauls eigentliches Amt ist nidlt die AlltagsleyerMelodey sondern das innre Seelenstuumlckchen dichte- rischer Gestaltung Aber dabei grundet doch das eine auf dem anderen Was er anstimmt transponiert die alte Melodie in eine neue Tonart jenes Abbredlen wird zum Synonym einer weltlichen Kontrafaktur

Ich denke nicht heiszligt es im Vorbericht zur raquoIl i a slaquo-Obersetzung das Jemand die Umstaumlnde und das Aufheben welche ich hier mache uumlbertrieben abgeschmackt und laumlcherlich finden werde er muumlszligte denn anders die Kunst lebendiger Darstellung so wie das edle nicht Jedershymann von Gott verliehene Seelenvermoumlgen worauf sie sich gruumlndet und eins der wichtigsten Mittel deren sie sich bedient die Sprache die nie goumlttlich genug zu verehrende Sprache sie das theuerste heiligste Werkshyzeug des wirkenden Menschengeistes sie welche zu allen andern Wissenshyschaften spricht Ohne mich koumlnnet ihr nichts thun alles das muumlszligte er

( also fuumlr Lumpereien und unter der Wuumlrde maumlnnlicher Bemuumlhungen halten 8

Buumlrgers theoretische Schriften enthalten eine Fuumllle solcher Aumluszligerungen uumlber die Sprache und den dichterischen Umgang mit ihr die gekennshyzeichnet sind durch einen Anspruch dessen Unbedingheit den Bereich des wirkenden Menschengeistes auf das Religioumlse hin oumlffnet Literarische Taumltigkeit wird ins Heilige und Goumlttliche erhoumlht als edelste Bestimmung des Menschen uumlberhaupt und als Gnadengabe verstanden die nur den Auserwaumlhlten zuteil geworden Dichtung wird zum Gottesdienst der Wortverwaltung Das aber wird keineswegs als ein Obertragungsvorshygang begriffen und in seiner Problematik bedacht sondern erscheint als ein durchaus unreflektierter Akt und wird sichtbar allein als sprachlicher Vorgang Die aumlsthetischen Eroumlrterungen ziehen ihr Vokabular zu wesentshylichen Teilen aus den religioumlsen Texten nutzen gleichsam die Beglaubishygungskraft dieser Worte die ihnen von ihrem Ursprung her anhaftet shyohne daszlig dabei doch dieser Herkunftsbereich selber noch als Maszligstab und Bewertungsgrundlage gegenwaumlrtig bliebe Es geht nicht mehr um

8 Zitiert wird - von den GediChten abgesehen - nam Buumlrgers saumlmmtliche Werke hrsg A W Bohtz 1835 Abgekuumlrzt B hier S 184

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didaktische Verweisungen sondern um aumlsthetische Bereicherung Das Pfarrhaus wird abgebrochen damit was brauchbar und ansehnlich scheint unter den alten Steinen fuumlr den Bau des neuen Hauses verwendet werden kann Diesen Bezug auf die religioumlse Sprache auf den Luthertext insonderheit hat Buumlrger sich bis in stilistische Einzelheiten hinein bewuszligt gemacht In seinen raquoGedanken uumlber die Beschaffenheit einer Deutschen Uumlbersetzung des Homerlaquo etwa heigt es nachdem der Verfasser die von ihm bevorzugte Anfangsstellung des Hauptzeitwortes besprochen hat Ich habe keinen Platz zu Beispielen aber man wird ihrer genug finden welche dies Alles bestaumltigen Man schlage nur Luthers Bibel-uumlbersetzung und seine uumlbrigen Schriften nach auf jeder Seite sind weld1e Die poetischen Buumlcher der heiligen Schrift hat Luther mit dem besten Geschmacke fuumlr seine Zeiten so echt Deutsch und so feurig uumlbershysetzt daszlig man daruumlber erstaunen muszlig Ein fleiszligiger Sprachforscher muumlszligte unsere neuere Sprache mit den vortrefflichsten Schaumltzen aus den Schriften dieses bewundernswuumlrdigen Mannes wovor unseren Hominibus delicatulis so ekelt bereichern koumlnnen (B 137 L)

Die Stelle dessen was zwanzig Jahre lang dem Pfarrersohn als das Houmlchste und Heiligste vorgestellt und eingepraumlgt wurde was er hinter sidl lieszlig als er das Studium der Theologie in Halle abbrach vermochten die Jurisprudenz die Geschaumlfte des Amtsverwalters die Lehrtaumltigkeit des Dozenten keineswegs einzunehmen und auszufuumlllen Seine Berufstaumltigshykeit blieb fuumlr Buumlrger lebenslang eine Plage eine Quelle des Miszligmuts und der Verzweiflung Faumlhig dazu war allein die Po esie nur das innre Seelenstuumlckchen konnte die Klaumlnge der alten Melodie in sich aufnehmen und fortfuumlhren ~

Wie er uumlber Stolberg sagt Mich duumlnkt ich lese einen Propheten wenn ich seine Prosa lese 9 so schreibt er an Boie Uumlbrigens lebe und webe ich in den Reliques Sie sind meine Morgen und AbendAndacht 10 wie er von Shakespeare erklaumlrt Ihn kann man die Bibel der Dichter nenshynen 11 so urteilt er uumlber die unerwuumlnschten Rezensenten Und wenn der Engel Gabriel vom Himmel kaumlme und ihnen Poetik predigte so wuumlrde er dennoch nichts ausrichten 12 Mit voumllliger Unbefangenheit fast moumlchte man sagen mit der Unschuld des Selbstverstaumlndlichen wird das Vokabushylar beider Bereiche vermischt Die Aufloumlsung der Kodifikation kennt keine Grenzen mehr Denn die Saumlkularisation dient hier nicht dazu den religioumlsen Text als einen weltlicher Sprache integrierten Maszligstab fuumlr menschliches Reden und Handeln wirksam zu machen sondern sie nutzt ihn nur mehr als Mittel zu ihrer Erhoumlhung und Steigerung ein Buch

o Dt Museum Juli 1777 Zu FrLStolbergs raquouumlber die Fuumllle des Herzenslaquo 10 7477 Meint Percy Reliques of Ancient English Poctry London 1765 11 An Boie 15976 12 An Boie 31278

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wirft Licht auf das andere Buch aber - es ist nicht mehr das Licht der Erkenntnis dessen was gut und boumlse sei (Vgl S148 f)

Wie auf die Werke der Dichtkunst so faumlllt der Glanz dieses geborgten Lichtes auch auf die Dichter selbst Was Christus uumlber alle menschliche Macht und Groumlszlige erhebt wird jetzt auch dem Poeten zugesprochen sein Reich ist nicht von dieser Welt 13 und die Verheiszligungen die dem Chrishysten gegeben sind wandeln in der uumlbertragung ihre Formen nur gerade so viel wie noumltig ist um fuumlr den neuen Anwendungsbereidl braudlbar zu sein Einem unbekannten Empfaumlnger schreibt Buumlrger am 621772 meine Briefe sollen Ihnen hinfort wenigstens alle vier Wochen jenen biblischen Spruch parodieren Bleib den Musen getreuuml bis in den Tod so wird dir Apoll die Krone des ewigen Nachruhms geben Parodieren shydas meint hier nichtmiddotdie Entstellung den Entwurf eines scherzhaften oder boumlsartigen Gegenbildes sondern Akkomodation uumlbertragung und Anshypassung Es richtet sich nicht gegen den vorgegebenen Text aber es nimmt ihn auch nicht mehr ernst in seinem unbedingten und ausschlieszligenshyden Anspruch Schon deutet es in die Richtung einer uumlberarbeitung des Originals nach dem verbesserten Geschmack unsrer Zeit in einer neuen Einkleidung und Ordnung der Gedanken (v gl u S 269Anm 2) Dieser ) verbesserte Geschmack freilich ist kaum mehr als ein veraumlndertes thematisches Interesse In Wahrheit fehlt diesen uumlbertragungen geshylegentlich selbst der gute Geschmack und es kennzeichnet zugleich die

( uneingeschraumlnkte Verfuumlgbarkeit des religioumlsen Sprachgutes wenn Buumlrger auch auf betraumlchtliche Houmlhenunterschiede zwischen Ursprungs- und Anshywendungsbereich kaum mehr Ruumlcksicht nimmt An Goeckingk der ihm aus seiner fatalen aumluszligeren Situation heraushelfen will schreibt er anshystandslos wenn Sie mein Erloumlser seyn und mich den Musen wiedershyschenken koumlnnten - Sie wuumlrden mir das seyn was der Engel dem geshyfangenen Apostel in der Apostel Geschichte war 14 Ein gewisses Vershygnuumlgen am Miszligbrauch des Vorbildes und die ganz ernsthafte Absicht dem Sachverhalt Nachdrud und Gewicht zu geben sind hier wohl kaum zu trennen Aber ohne Zweifel steht dahinter ein Wertbewuszligtsein dem kein Preis zu hoch ist wenn es gilt den Anspruch und die Wuumlrde des poetischen Amtes zu verkuumlnden und durchzusetzen

So heiszligt es in den raquoGedanken uumlber die Beschaffenheit einer Deutschen uumlbersetzung des Homerlaquo Statt aller Untersuchunshygen uumlber diesen Punct koumlnnte der Streit wohl nicht angenehmer fuumlr den Zuschauer beigelegt werden als wenn der Genius unserer Literatur einen Mann von Genie und Kenntniszlig erweckte welcher zwischen die Zanshy

13 An Bollmann 22790 14 29675 Aus dem Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk hrsg A Sauer

Vjs f Litgesch III 1890 hier S 68

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kenden mit einer Uumlbersetzung traumlte uumlber welche man schreiben koumlnnte Der Nachwelt und der Ewigkeit heilig (B 135) Dem aufmerkshysamen Leser kann der Hintergrund der kleinen Szene nicht verborgen bleiben die hier entworfen wird Der Uumlbersetzer-Dichter er erscheint als ein neuer Moses welcher vom Gott seines Volkes erweckt unter die Israeliten tritt mit jenen Gebotstafeln die der christlichen Nachwelt und der Ewigkeit heilig sind (Selbst das Wort von den Zankenden die um die Homer-Uumlbersetzung miteinander im Streite liegen scheint auf den biblischen Bericht zu deuten Bei der Ruumlckkehr vom Sinai spricht Josua zu Moses Es ist ein Geschrei im Lager wie im Streit Er antshywortete Es ist nicht ein Geschrei gegen einander derer die obliegen und unterliegen sondern ich houmlre ein Geschrei eines Singetanzes Ex 3217 f)

Buumlrger selbst ist es der nach diesem Vorwort mit Proben seiner jamshybischen Lrbersetzung unter die Zankenden tritt - aber er zieht es vor dem Anspruch des Moses-Bildes auszuweichen Das bleibt dem Vollender uumlberlassen Fuumlr die eigene Person und das eigene Werk waumlhlt er ein anderes Modell Wenn ich gleich derjenige selbst nicht bin auf welchen unser Volk hoffet (denn ich muumlszligte den unversc~aumlmtesten Knabenstolz besitzen wenn ich mir einbildete daszlig ichs waumlre) so kann ich doch vielleicht zu der Ehre eines Vorlaumlufers dessen der kommen wird gelangen Auf den Worten des neutestamentlichen Vorlaumlufers Johannes des Taumlufers der die messianische Erwartung des Volkes von sich selber abweist und auf jenen Groumlszligeren lenkt der kommen wird gruumlndet die Haltung des raquoIliaslaquoshyObersetzers aus ihnen gewinnt sie dem eigenen Versuch dem Probestuumld~ Bedeutsamkeit und Gewicht Eine Entsprechung zur Saumlkularisationsform figuraler Gestaltung ist nicht zu verkennen Aber wenngleich hier wie dort eine dichterische Figur dem vorbildlichen Modell gleichgeformt wird J

geht es doch dort darum sie durchzusetzen und zu rechtfertigen auf der Grundlage des Imitatio-Denkens - hier aber sie zu steigern und zu ershyhoumlhen allein um ihrer selbst willen Der Dichter erscheint als Gottesmann weil er in dieser Gestalt dem Profanen enthoben ist

In der Behandlung aller Fragen die ihm wirklich am Herzen liegen greift Buumlrger zuruumlck auf den Sprach- und Formenschatz der ihm jahreshylang als Ausdrucksvorrat fuumlr das Wesentliche und Bedeutsame vermittelt wurde Bis in die Uumlberlegungen zum dichterischen Schaffensprozeszlig fuumlhrt das die deutlich unter der praumlgenden Kraft des Berichtes vom goumlttshylichen Schoumlpfungsakt stehen Jeder Kuumlnstler schreibt er an Schushybart sollte es sich daher zur Maxime madlen keines seiner Verke eher unter fremde Augen treten zu lassen als bis er nach Jahrelangem Anshyschauen alles dessen so er gemacht sagen koumlnnte Siehe da es ist alles sehr gut 15

15 12992 - Vgl die Goumlttliche Zufricdenhcits-Formel Geni 31

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Nichts anderes als eine uumlbertragung des reformatorischen Verhaumlltnisses zur Schrift und seine Anpassung an den Umgang mit dem dichterischen Vort ist sein Verantwortungsgefuumlhl und seine Treue gegenuumlber dem unshyverriickbaren Text ja der Glaube daszlig am Buchstaben das Heil haumlngen koumlnne Gleichguumlltig welcher Grad von bewuszligter Einsicht in diese Zushysammenhaumlnge auch vorgelegen haben mag Buumlrgers Aumluszligerungen uumlber solche Fragen speisen sich unablaumlssig aus der religioumlsen Sprachquelle So begleitet er Anfang 1784 die uumlbersendung eines Manuskriptes an Goeckingk mit der leidenschaftlichen Ermahnung Houmlrt ihr daszlig also nur nicht ein Puumlnctchen zu geschweige denn ein Buchstab oder gar ein Wort fehlt Ihr seht sonst Euumlres Ungluumlcks kein Ende weder hier zeitlich noch dort ewig

Die fuumlr Buumlrger so bezeichnende Neigung zur unermuumldlichen oft geradeshyzu kleinlich anmutenden uumlberarbeitung und Ausfeilung seiner Gedichte wird man in unmittelbarem Zusammenhang sehen muumlssen mit jener Heishyligung der Werktreue die der Protestantismus entwickelt hat und es ist charakteristisch fuumlr die Denkweise des ganzen Buumlrgerschen Freundesshykreises wenn Meyer ihm zu einigen Gedichten die er fuumlr den Musenshyalmanach schickt am 971793 entschuldigend schreibt sie haumltten noch Mangel der Feile die vor Gott und Menschen angenehm ist

Solche Einzelbeobachtungen und man koumlnnte sie beliebig vermehren machen deutlich wie folgerichtig der Weg von Molmerswende nach Halle seine Fortsetzung verlangt auch wenn er nun in andere Gefilde fuumlhrt wie tief der Erbzwang den Pfarrersohn bestimmt uumlberdem bin ich einmal ein Theologe gewesen schreibt er an Goeckingk und von der Zeit haumlngt mir illud Theologorum decantatissimum Dic et servasti animam immer noch an 16 Schon 1772 erklaumlrte er sich gegen seine bisherige wolshyluumlstige und taumlndelnde Dichtungsart von allen moralischen Sentimens entbloumlszligt weil er meinte damit verloumlre die Poesie ihr erhabenes Amt Lehrerin der Menschen zu seyn 17

Im engsten Zusammenhang damit muszlig nun Buumlrgers Glaubensartikel von der P 0 pul a ri t auml t der Poesie gesehen werden Denn wenn von der kirchlichen Wortverkuumlndigung her das Amt Lehrerin der Menschen zu seyn auf die Dichtung uumlbertragen wird so faumlllt ihr zugleich die Pflicht zu ins Breite zu wirken einem unbegrenzten Leserkreise zugaumlnglich und verstaumlndlich zu sein Buumlrger nennt als seine Maxime wenn nicht Alle n dennoch den Me ist e n - versteht sich ohne weder sich selbst noch der Dichtkunst etwas zu vergeben - zu gleicher Zeit zu gefallen 18 Nur

1G 3675 Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk S65 11 Brief an Boie 2 11 72 lB Die Problematik der Popularitaumlt die an dem eingeschobenen einschraumlnkenden

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dieGuumlnstlinge die dieses Ziel erreichen sind die gewaltigen Herzensshybezaumlhmer und Zauberer die ihre guumlldenen Staumlbe nie vergebens zucken und uumlber jedes Zei tal ter in immer lebendiger Kraft herrschen Nie verra uchen die Opfer auf ihren Altaumlren und unvergaumlnglich bluumlhen ihre Kraumlnze (B 178 f) Nur sie sprechen in Vollmacht Die Opferaltaumlre und der Bezug auf jene Staumlbe die vor dem Pharao von den aumlgyptischen Zauberern vergeblich dann aber von Moses und Aaron nie vergebens ausgereckt wurden 19

begruumlnden eine Priesterschaft der Wortverwaltung zu bestaumltigen die Wahrheit des Artikels woran ich festiglich glaube und welcher die Axe ist woherum meine ganze Poetik sich drehet Alle darstellende Bildshynerei kann und soll volksmaumlszligig seyn Denn das ist das Siegel ihrer Vollshykommenheit 20

Dieser Artikel von der Popularitaumlt der Dichtung Buumlrgers Glaubensshybekenntnis empfaumlngt in der Tat einen entscheidenden Anstoszlig aus der Predigt- und Seelsorgehaltung der er unter der vaumlterlichen Kanzel beshygegnete Wenn er scherzhaft an Meyer schreibt ein gottseliges Comite untersuche woher es wohl komme daszlig der Gottesdienst in der Unishyversitaumltskirche so sparsam besucht werde Ich denke mit Recht wird Euer gepredigtes Evangelium als eine der vornehmsten Ursachen oben an geshystellt werden (121 89) so liegt dem ganz der gleiche Gedanke zushygrunde der auch die Wirkungspoetik seiner Abhandlungen zur VolksshyPoesie bestimmt Es ist das saumlkularisierte Predigerethos das aus dem leishydenschaftlichen raquoHerzensausguszliglaquo spricht Durch Popularitaumlt mein ich soll die Poesie das wieder werden wozu sie Gott erschaffen und in die Seelen der Auserwaumlhlten gelegt hat Lebendiger Odem der uumlber aller Menschen Herzen und Sinnen hinweht Odem Gottes der vom Schlaf und Tod aufweckt Die Blinden sehend die Tauben houmlrend die Lahmen gehend und die Aussaumltzigen rein macht Und das Alles zum Heil und Frommen des Menschengeschlechts in diesem Jammerthaie (B 321) 21

Die Beobachtung solcher Umsetzungsvorgaumlnge die Buumlrgers theoretische Aumluszligerungen gedanklich und sprachlich bestimmen leitet zu unserer eigentlichen Frage nach der Bedeutung und Beschaffenheit der Saumlkularishysationsphaumlnomene in seinem d ich t e r i s c he n Werk

(wenn nicht gar aufhebenden) Satz zu entwickeln waumlre kann hier nicht ausgefuumlhrt werden Sie kommt in Schillers und A W Schlegels Buumlrger-Abhandlungen zur Sprache

Vgl Ex7-10 20 B S324 (Vorrede zur Ausgabe der Gedidlte 1778) 2 Ober eine ganz entsprechende neue Einstellung zum Volksganzen raquowelche die

seelsorgerliche Haltung des Vaters unmittelbar fortzusetzen scheint handelt H Schoumlffshyler Das literarische Zuumlrich 1925 S42f

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Unmittelbare und ausdruumlckliche biographische Zeugnisse fuumlr den Einshyfluszlig des religioumlsen Schrifttums gibt es kaum Immerhin finden sich einige Hinweise in den Aufzeichnungen Althofs die auf Buumlrgers eigenen freishylich sehr spaumlten muumlndlichen Auszligerungen beruhen Durch sie wird uumlbershyliefert daszlig der Junge bis in sein zehntes Lebensjahr hinein durchaus nicht mehr lernte als Lesen und Schreiben wohl aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse behielt was er sowohl in der Bibel als im Gesangshybuche las ja daszlig er wie er meinte das ganze Gesangbuch ohne Schwieshyrigkeit auswendig gelernt haben wuumlrde (B 431) Von den houmlchst aufshyschluszligreichen Einzelheiten dieser fruumlh gelegten Bibel- und Gesangbuch- kenntnisse muszlig spaumlter die Rede sein Hier wird zunaumlchst nur Althofs Mitteilung wichtig daszlig schon der Knabe ohne durch andere Muster als welche Bibel und Gesangbuch ihm lieferten dazu aufgefordert zu werden anfing Verse zu machen ehe er noch die allerersten Elemente der Grammatik erlernt hattelaquo (B 431) Das ist gewiszlig nicht so zu verstehen als habe der junge Verseschmied damals noch kein grammatisch fehlershyfreies Deutsch sprechen oder schreiben koumlnnen Grammatik lernte man an der Fremdsprache Buumlrger begegnete ihr also im lateinischen Untershyricht - und cr konnte ungeachtet aller Schlaumlge in zwei Jahren noch nicht Mensa decliniren (B 431) Diese Randbemerkung macht einsichtig

( daszlig es sich bei den poetischen Anregungen durch Bibel und Kirchenlied um ganz unreflektierte dem kontrollierenden Sprach- und Kunstbewuszligtshysein entzogene Vorgaumlnge handelt Das deckt sich voumlllig mit Althofs Aufshyzeichnung Buumlrger versicherte ferner So wenig diese Fertigkeiten als irgend eine andere Kenntniszlig seines nachfolgenden Lebens bis in sein maumlnnliches Alter haumltten ihm die geringste Anstrengung oder Muumlhe geshykostet es waumlre auch sehr wenig was er von Lehrern und aus Buumlchern geshylernt haumltte da es ihm immer in den Lehrstunden an Aufmerksamkeit und auszliger denselben an Geduld gefehlet ein Buch anhaltend aus zu lesen Er muumlszligte sich oft innerlich wundern wenn er einen Blick in die Vorrathsshykammer seiner Kenntnisse thaumlte wie und woher der Plunder alle hinein gekommen Das Meiste waumlre ihm hier und da und dort und uumlberall wie VOn selbst gleichsam angeflogen (B 431) Nichts konnte ihm so sehr von selbst anfliegen wie die Worte Bilder und Formen der heiligen Texte die von den Jugendjahren im vaumlterlichen Pfarrhaus bis zum Abbruch des theologischen Studiums in Halle sein taumlglicher Umgang waren Was aber fuumlr ihre Aufnahme gilt ist nicht weniger guumlltig fuumlr ihre Verwendung die Saumlkularisationsvorgaumlnge entziehen sich weithin dem Bewuszligtsein des Schreibenden Durch ihn hindurch aber oft ohne seine Absicht und ohne sein Dazutun wirkt hier die religioumlse Sprache auf das Kunstwerk ein

Der eigentliche Zugang zu diesen Phaumlnomenen kann deshalb nicht durch die Beschaumlftigung mit der Person des Autors gewonnen werden

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welches Forschers Geist hat Buumlrger selbst erklaumlrt kann sich immer so tief und innig in den Geist des Kuumlnstlers versenken um etwas mit Sicherheit auszumachen welches dieser oft selbst nicht recht weiszlig naumlmshylich was fuumlr Bestinunungsgruumlnde jeglichen seiner Schritte zum Ziele leitet haben 22 Nur im Ziele selbst im Zustandegekommenen WIrd wohl der eine oder andere Bestimmungsgrund erkennbar der Weg dahin fuumlhrt also nicht uumlber die Versenkung in den Geist des Kuumlnstlers sondern uumlber die Betrachtung des Kunstwerkes selbst

In dem 1782 entstandenen kleinen Gedicht raquoDer klug e Heldlaquo23 wird erzaumlhlt wie ein junger Soldat um der Gefahr zu entgehen am Tag vor der Schlacht einen Urlaub erbittet angeblich damit sein sterbender Vater ihm noch den Abschiedskuszlig geben koumlnne Die letzten Verse lauten

Sehr wohl versetzt der Chef und laumlchelt vor sich nieder Reis hurtig ab mein Sohn Denn nach der Bibel muszlig Dein Vater nach Gebuumlhr von dir geehret werden Auf daszlig dirs wohlergeh und du lang lebst auf Erden

Von verschiedenen Seiten aus wird einsichtig welch besonderes Gewicht dieser Schluszlig traumlgt ja daszlig das ganze Gedicht eigentlich auf ihn hin anshygelegt ist 24

bull Schon der Gespraumlchsablauf weckt eine Spannung auf die Beshygruumlndung fuumlr die Zustimmung des Chefs der den Vorwand ja durchshyschaut Zugleich trennt das Druckbild durch einen Gedankenstrich und folgenden Sinnabschnitt die hier angefuumlhrten letzten Zeilen von den vorshyangehenden und nachdem schon zuvor die wechselnd vier- und fuumlnfshyhebigen Jamben sich zweimal gleichsam praumlludierend ins alexandrinische Maszlig vorgewagt hatten gewinnt der Schluszligteil in dem die Alexandriner sich voumlllig durchgesetzt haben auch metrische Bedeutungssteigerung Entshyscheidend aber ist der Pointencharakter des Ausgangs und dessen eigentshylicher Uberraschungseffekt entsteht durch die ironische Beziehung des vierten Gebotes auf die Absichten des Soldaten Den wichtigsten Beitrag zur Schluszligbeschwerung des Gedichtes leisten diese beiden zitierenden len mit denen ein vorgeformtes und vorbelastetes Redestuumlck als schwerer Endakzent dem vorangehenden Berichte aufgesetzt wird

~2 Ueber die Wirkung des Schleiers in Werken der darstellenden Kunstlaquo TI S 340 23 Die Gedichte werden im folgenden zitiert nach der Ausgabe von E COllsentius

2 Bde 1914 Hier I S238 21 VgL E Staigers Begriff der nproblematischen Dichtung (Grundbegriffe der

Poetik LAufl 1951 S162ff)

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Schluszligbeschwerungen sind fuumlr Buumlrgers Lyrik charakteristisch Sie hershyvorzubringen erscheint die eben beobachtete Verbindung eines praumlforshymierten Sprachstuumlckes mit vorausgehenden freien Formationen beshysonders geeignet - und es ist bemerkenswert daszlig der strukturell so beshydeutsame pointierte Ausgang tatsaumlchlich in nahezu einem Drittel aller Gedichte Buumlrgers auf den christlichen Sprachbereich zuruumlckweist

Wo seine Gedichtausgaumlnge einen formelhaften Redeschluszlig woumlrtlich oder nur geringfuumlgig abgewandelt uumlbernehmen wird die Endbetonung am spuumlrbarsten Aus einer Fuumllle von Beispielen koumlnnte man dafuumlr nennen

Gott lass es dem Edlen doch wohl ergehn Das bet ich herzinniglich Amen (I 207)

Gott behuumlte liebe Seele Gott behuumlte dich davor (I 32)

o Paradiesesglaube Erhalt und staumlrke mich (I 38) Komm Von hinnen laszlig uns scheiden Eia waumlren wir schon da - (I 68) Dein Name sei gebenedeit Von nun an bis in Ewigkeit (I 45)

Der jeweilige Ursprungsort dieser Schluszligformeln bedarf keiner Erlaumluteshyrung Was sie - in einen neuen Zusammenhang versetzt - fuumlr den Aufshybau des Gedichtes leisten koumlnnen zeigt sich im ersten Beispiel (raquoDie Kuhlaquo) mit der Hervorhebung des Erzaumlhlers der diesen Epilog spricht und mit der Zusammenfassung des Gedichtes zur geschlossenen Form im letzten Beispiel (raquoDankliedlaquo) in dem die schlieszligenden Zeilen des Gedichtes die der Anfangsstrophe wieder aufnehmen und die preisende Aufreihung der Gottesgaben mit einer aus dem liturgischen Ursprungsort der Formel heruumlberwirkenden Kraft zusammengreifen und erfuumlllen im Benedeien des goumlttlichen Gebers Von solchen Leistungen wird noch die Rede sein

Aumlhnliche Wirkungen entfalten die Schluumlsse in denen Bibelzitate parashyphrasiert und auf die vorangehenden Verse bezogen werden In raquoSchoumln Suschenlaquo etwa geben die letzten Zeilen

Drum Lieb ist wohl wie Wind im Meer Sein Sausen ihr wohl houmlrt Allein ihr wisset nicht woher Wiszligt nicht wohin er faumlhrt (I 155)

die aus Joh 3 8 hervorgehen Antwort auf die Eingangsfrage des Geshydichtes durch sie erfuumlllt es sich in der inneren Form von Raumltselstellung und Raumltselloumlsung Vergleichbares bewirkt der Schluszlig von raquoDie Eleshy

13 7439 Schoumlne Saumlkularisation (Palaestra 226) 193

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mentelaquo nachdem die Liebe als allbewegende Triebkraft der Natur geshyschildert worden ist zieht der Ausgang die Lehre fuumlr den lieblos geshywordenen Menschen

Du bist ein eiteltoumlnend Erz Bist leerer Klingklang einer Schelle Und Tosen einer Wasserwelle (I 70)

Die auffallend haumlufige Verwendung solcher zusammenfassenden abshyrundenden aufloumlsenden erklaumlrenden pointierenden Schluszligbeschwerunshygen die der Dichter dem christlichen Sprachbereich entlehnt muszlig durchshyaus als Charakteristikum Buumlrgerseher Gedichtsstruktur verstanden werden

Ober die Bestimmung ihrer sprachlichen Herkunft hinaus sind diese beschwerten Ausgaumlnge in einigen Verwendungs faumlllen nun auch auf eine genauer bestimmbare Form des Sprechens zu beziehen Da endet etwa Die Entfuumlhrunglaquo mit den Versen

So segne dann der auf uns sieht Euch segne Gott von Glied zu Glied Auf Wechselt Ring und Haumlnde Und hiermit Lied am Ende (I 181)

Das ist die Spredlweise des Geistlichen und in der Tat nimmt ja hier am Ende des houmldlst wel dichen Balladengeschehens der Vater des entfuumlhrshyten Fraumluleins mit Segen und Ringwechsel eine priesterliche Handlung vor Diese personale Gleichung macht aufmerksam auf eine grundsaumltzliche typologische Entsprechung zwisdlen der Schluszligbeschwerung des Gedichshytes und geistlidler Redeweise Nicht nur das durchgehend religioumls beshystimmte liturgische Sprechen endet mit einer gewichtigen Schluszligformell des Gebetes Segens oder Lobpreises auch die nicht mehr formgebundene freie Rede das Gespraumlch die Ansprache so zu schlieszligen daszlig weltlidles Sprechen am Ende durch einen religioumlsen Bezug ein praumlformiertes Redeshystuumlck erhoumlht gekroumlnt gewichtig beschlossen wird ist fuumlr den Geistlichen offenbar bis heute bezeichnend

Diese durch vorgegebene Schluszligformeln charakterisierte Redeweise zeigt ganz die gleiche Grundform die in der Untersuchung der Buumlrgershysehen Gedichte sichtbar wird - wie ja jene Gepflogenheit an weltliche Rede einen oft geradezu gewaltsam angehaumlngten formelhaft-religioumlsen Schluszlig zu fuumlgen selbst in dem oben genannten Briefausgang noch spuumlrbar wird ich heuumlrathete wol ein Kuh wenn sie nur an der bewusten Vershynunft keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte didl bei dieser Philoshysophie Amen Amen GABuumlrger Unter diesem Blickwinkel gewinnt die Stelle geradezu karikierende Zuumlge

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Beispielhaft fuumlr eine solche Analogie der Sprechweisen scheinen etwa die Schluumlsse

Die Liebe segne dich und sie Mit ihrem besten Segen (148) Die Liebe sagt Verdammet nicht Daszlig man nicht Euch verdammet (I 187) Diesen Trinker gnade Gott Lass ihn nicht verderben (I 73)

Sie aber deuten auf eine Analogie-Antithese zwischen dem Pfarrer als dem Diener der christlichen Kirche und dem Poeten der eines seiner Geshydichte mit den Worten schlieszligt

Doch wisse du Apolls Religion Schenkt dir die Glaubenspflicht und dringt auf gute

Werke (I 248) Als Gottesdienst der Wortverwaltung hat Buumlrger sein dichterisd1cs Amt verstanden

Bin geweiht zum Priester des Apoll Mit des Gottes Kranz und goldnem Stabe Seines Geistes bin ich froh und voll Warum nicht auch frommer Wundergabe - (I 94)

Und am Ende des Gedichtes (raquoGeweih tes Ang ebind e zu Lo uis ens Geburtstagelaquo) tritt diese vaumlterliche Mitgift diese Sprechhaltung des Geistlichen ganz ausdruumlcklich ins Wort

Freud und Lust von keinem Harm vergaumlllt Sei durch dich Ihr in die Brust gegossen Freud an Gottes ganzer weiter Welt Mich den Priester auch mit eingeschlossen

shy

Die Beobachtung der Schluszligbeschwerung lenkt auf die Frage nach ihrer Integration in das Gesamtgefuumlge des Gedichtes und nach der Wirkung die sie dort entfaltet raquoDer kluge Heldlaquo kann darauf kaum schon ershyschoumlpfende Antwort geben die massive Pointicrung die hier durch den Endakzent zustande kommt ist nur eine unter vielen Moumlglichkeiten seiner Leistung Weit komplizierter liegen diese Verhaumlltnisse in Buumlrgers Nachshydichtung der raquoCo n f ess i 0laquo des Archipoeta 25

25 Das Gedicht war Buumlrger in einer dem Walter Mapes zugeschriebenen Fassung beshykannt geworden (vgl seinen Brief an Sprickmann vom 21077) deutliche Bezuumlge zeigen sich zu seinen Strophen 12 13 16-19 Zitiert wird die lat Vorlage nach dem auf 5 Strophen verkuumlrzten Abdruck den Buumlrger in der Ausgabe seiner Gedichte VOll

1778 auf S 290 f gegeben hat (Ausgenommen die beiden dort nicht mitgeteilten hier auf S199 zitierten Verse Voluptatis avidus laquo)

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Zechlied

Im will einst bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Alles meinen Wein nur nimt Lass im frohen Erben Nam der letzten Olung soll Hefen nom mim faumlrben Dann zertruumlmmre mein Pokal In zehntausend Smerben Jedermann hat von Natur Seine sondre Weise Mir gelinget jedes Werk Nur nam Trank und Speise Speis und Trank erhalten mim In dem remten Gleise Wer gut smmiert der faumlhrt aum gut Auf der Lebensreise Im bin gar ein armer Wimt Bin die feigste Memme Halten Durst und Hungerqual Mim in Angst und Klemme Smon ein Knaumlbchen smuumlttelt mim Was im aum mim stemme Einem Riesen halt im Stand Wann im zem und smlemme Aumlmter Wein ist aumlmtes 01 Zur Verstandeslampe Gibt der Seele Kraft und Schwung Bis zum Sternenkampe Witz und Weisheit dunsten auf Aus gefuumlllter Wampe Baszlig gluumlckt Harfenspiel und Sang Wann im brav smlampampe Nuumlchtern bin im immerdar Nur ein Harfenstuumlmper Mir erlahmen Hand und Griff Welken Haupt und Wimper Wann der Wein in Himmelsklang Wandelt mein Geklimper Sind Homer und Ossian Gegen mim nur Stuumlmper

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Nimmer hat durch meinen Mund Hoher Geist gesungen Bis ich meinen lieben Bauch Weidlich vollgeschlungen Wann mein Kapitolium Baechus Kraft erschwungen Sing und red ich wundersam Gar in fremden Zungen Drum will ich bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Nach der letzten oumllung soll Hefen noch mich faumlrben Engelchoumlre weihen dann Mich zum Nektarerben Diesen Trinker gnade Gott

Lass ihn nicht verderben (1 72 f)

Da wird mit der ersten Strophe das Bekenntnis zu einer Lebensfuumlhrung abgelegt und geradezu beschworen die selbst eingedenk des Todes noch ganz im Irdischen verharrt Fuumlnf folgende Strophen dann begruumlnden den Entschluszlig den die erste verkuumlndete auch ihre Aussagen bleiben durchshyaus im Bereiche des weingeweihten Diesseits Die letzte aber tritt nachshydem sie zunaumlchst das Bekenntnis der ersten aufgenommen in eine durchshyaus andere Sphaumlre Zwar setzt auch dort das irdische Trinkerleben sich fort aber der Spott der eben noch die letzte oumllung traf der Entschluszlig der ersten Strophe im Tode den Pokal zu zertruumlmmern lassen dieses Ende nicht erwarten

Ut dicant eum venerint angelorum chori Deus sit propitius huic potatori

heiszligt es in der raquoC 0 n fes s i 0laquo und solcher Gesang der Engelchoumlre beshyschlieszligt nun auch Buumlrgers koumlnigliches Sauflied 26 ein im religioumlsen Sprachbereich ausgebildetes Gebet um Gnade fuumlr den Suumlnder 27 - an dessen Stelle nun der Trinker steht - setzt den kraumlftigen Endakzent Wenn so unvermittelt das Sauflied in die Gebetsformel muumlndet scheint sich im Wortschatz in der Sprechhaltung im Hinblick auf die Geschehnisshyebene ein bruchhafter Wechsel zu vollziehen der die Einheitlichkeit des ganzen Gedichtes in Frage stellt Zwar folgen Vers- und Strophenbau zushygleich mit dem Reimschema der gtConfessiolaquo entlehnt ebenso wie die rhythmische Anlage des Liedes gleichbleibenden Aufbauprinzipien und stiften so eine formale Geschlossenheit des Ganzen aber gerade das treibt

28 Brief an Boie 18977 27 Vgl Lue1B 13 Deus propitius esto mihi peceatori

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den Umbruch der Schluszligbeschwerung nur um so kraumlftiger heraus Daszlig hier in Wahrheit keineswegs ein Bruch vorliegt daszlig dieser Sphaumlrenshywechsel durchaus nicht unvermittelt geschieht wird jedoch einsichtig sobald man die Sprache der Mittelstrophen schaumlrfer ins Auge faszligt Dann zeigt sich daszlig hinter der Bedeutungsoberflaumlche der Wortaussage vorshygeformtes Sprachgut aus eben der Sphaumlre wirksam ist zu der die schlieshyszligenden Verse sich erheben

Dem Wein dem der Sprechende selbst eingedenk des irdischen Endes noch sein Dasein verschreibt setzt die zweite Strophe die Speise zur Seite Beide Trank und Speise sind fuumlr das Leben noumltig - doch offenshybar nicht im Sinne notwendiger Ernaumlhrung Das erhalten meint kein einfad1es am-Leben-erhalten sondern ein im rechten Gleise im rechshyten Leben erhalten Das Schluszligwort der Strophe laumlszligt aufmerken Lebensreise erscheint als ein deutlich vorbelastetes vorgeformtes Sprad1stuumlck der religioumlsen Sphaumlre das (ausgehend von Gen 47 9) die christliche Deutung des Lebens als einer Reise durch die Weh zum jenshyseitigen Ziele in sich faszligt Trank und Speise in solchem Bedeutungsfeld als Hilfen die Lebensreise recht zu fuumlhren sie machen hinter dem lauten Gesang des Trinkers im fuumlnften Vers die liturgische Stimme vershynehmbar die Stimme des Geistlichen der die Hostie und den Wein reicht Nehmet hin und esset Nehmet hin und trinket das staumlrke und erhalte euch im rechten Glauben zum ewigen Leben Amenlaquo 28 Von andeshyrem Trank und anderer Speise als der vom Vater dargebotenen spricht der Sohn Doch im Bekenntnis des Zechlieds klingen noch immer jene Worte nach die von der Kraft des heiligen Mahles kuumlndeten weil das 11edium der Sprad1e die mit der Abendmahlsliturgie in sie eingeganshygenen Bedeutungsenergien bewahrt und fuumlr die Dichtung verfuumlgbar macht

Von der zweiten Strophe aufgerufen bleibt dieser Bezug auch in der dritten vierten und fuumlnften lebendig Hinter dem Zecher den Essen und Trinken der Angst und Schwaumld1e entheben so daszlig er einem Riesen standshyzuhalten vennag steigt das Bild des gottgestaumlrkten David herauf der dem Goliath standhaumllt Der aumlchte Wein und das aumldlte oumll derert Kraft die Seele zum Sternengewoumllbe erhebt gewinnen neue Bedeutung Hinter dem Harfenspieler und dem Himmelsklang seines Gesanges toumlnt leise der Psalm Davids zur Harfe zu singen und in der trunkseligen Prahshylerei der Erhebung uumlber Homer und Ossian mag damit eine verborgene Rechtfertigung solcher Selbsteinschaumltzung sich andeuten Sind die uumlbershytragenen Worte und Bilder hier dem Text des raquoZechlieds so weitshy

e8 In der Abendmahlsliturgie folgt diese in verschiedenen Fassungen gebraumluchliche Spclldeformc1 auf den Einsetzungsbericht Ausfuumlhrlich daruumlber P Graff Geschichte der Aufloumlsung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschshylands I 1937 S 197 ff

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gehend anverwandelt daszlig sie als fremdes Sprachgut kaum erkennbar werden heben sie sich in der sechsten Strophe doch wieder staumlrker ab erst der Abglanz der Erleuchtungsflammen des Pfingstwunders erhellt die Reden des Trunkenen als einwundersames Reden gar in fremden Zungen

Ein Vergleich mit dem Vorbild der lateinischen Beichtparodie der dies e Durchsichtigkeit auf den hinter der eigentlichen Aussage liegenden Sprach- und Bildbereich gaumlnzlich fehlt zeigt daszlig in Buumlrgers uumlbertragung eine sehr bewuszligte Absicht waltete Man halte gegen seine sechste Strophe etwa die Verse

Mihi nunquam spiritus prophetiae datur Non nisi cum fuerit venter bene satur Cum in arce cerebri Bacchus dominatur In me Phoebus irruit ac miranda fatur

Die Grundhaltung beider Gedichte unterscheidet sich wesentlich Mit den fuumlr die ganze raquoC 0 n fes s i 0laquo verbindlichen Versen

Voluptatis avidus magis quam salutis Mortuus in anima curam gero cutis

setzt der Archipoeta Diesseits und Jenseits gegeneinander und faumlllt seine klare Entscheidung fuumlr das eine gegen das andere Buumlrger aber verschmilzt die Bereiche Getragen von den sprachgebundenen Bedeutungsenergien die aus dem christlichen in einen houmlchst weltlichen Bereich des Sprechens uumlberfuumlhrt werden erhebt der bekenntnishafte Lebensbericht des Zechers sich zum Heilsbericht zum Preis einer uumlberirdischen und das Irdische vershywandelnden Macht die am Sprechenden wirksam wird Erst diese Spuren des weihevoll-heiligen Pathos dem Weine des schwoumlrenden protzenden singenden Zechers und Schlemmers beigemischt als ein verborgenes Arom bewirken jenes Entzuumlcken das Buumlrger mit der Lektuumlre des Gedichtes seinen Freunden verhieszlig29 Sie bereiten die schluszligbeschwerende Gebetsshyformel vor und bewirken daszlig statt eines Bruches hier der Aufschwung in jene Sphaumlre erfolgt die am inneren Aufbau des Liedes schon von Anshyfang an beteiligt war So vollendet sich das bekennende Sprechen des raquoZechliedslaquo am Ende in der inneren Form einer ihrer urspriinglichen Erfuumlllung mit christlichem Gehalt entleerten Heilsverkuumlndigung

i-

Mit jener Sprechweise des Geistlichen auf welche die Schluszligbeschweshyrung deutete haumlngt diese Form der He i I sv e r k uuml n d i gun g aufs engste zusammen Sie steht in Buumlrgers Werk durchaus nicht vereinzelt die im

29 Brief an Boie 18977

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religioumlsen Sprachgebrauch ausgebildeten Formmodelle finden hier zahlshyreiche und vielfaumlltige Entsprechungen die um so deutlicher erkennbar werden als sie noch immer merkliche Spuren auch des urspruumlnglichen Gehaltes tragen Sie erweisen sich als weltliche Kontrafakturen der relishygioumlsen Vorbilder 30 von denen sie nicht allein das organisierende Formshyprinzip beziehen sondern zugleich jenen Zuwachs an Bedeutungshaumlhe und Wirkungskraft den das Modell nur dann hergibt wenn es selbst noch als bedeutungshaltig und wirkungsfaumlhig intakt bleibt Die Annaumlherung auch der inhaltlichen Erfuumlllung dieser saumlkularisierten Formen an den christshylichen Denk- und Sprachbereich befoumlrdert ja begruumlndet ihre reichhaltige Erscheinung in Buumlrgers Lyrik

Ich glaube Luther wuumlrde dies Gedicht fuumlr ein wuumlrdiges Kirchenlied anerkannt haben schrieb AWSchlegel uumlber Die Elementelaquo (B 518) Schon mit dem Eingangsvers tritt es in die Form der Lehrvershykuumlndigung Horch Hohe Dinge lehr ich dich (I 68) Und diese Lehre vom Wesen der Elemente ist mehr als bloszlige Kundgabe Sie wird Maszligstab fuumlr den Belehrten Richtschnur Grundlage fuumlr das kommende Gericht Immer dringlicher wendet sie sich im Fortgang des Gedichtes an den Houmlrer selbst Sieh hin und her und Nun pruumlfe dich bis mit den oben (S 194) genannten Schluszligversen das lehrende Sprechen ins urteilende und verdammende uumlbergeht

Eine besondere Form der lehrhaft-bekennenden Rede macht das raquoDankl iedlaquo sichtbar (I 44ff) das Buumlrger urspruumlnglich Psalm nennen wollte und zu dem Boie ihm schrieb den denkenden Christen wird es entzuumlcken und erbauen aber den groumlszligten Haufen und Pastor Zuch - (12972) Es zeigt eine ganz symmetrische Anlage Die Eingangsstrophe wendet sich lobend an Gott den Schoumlpfer sechs folgende Strophen reihen auf was der Sprechende aus seiner Hand empfangen hat (daszlig es dabei ausgerechnet um die Liebe den Wein und den Gesang geht muszligte Pastor Zuch freilich wurmen) zwei Mittelstrophen bekennen daszlig die Fuumllle der Schoumlpfergaben nicht zu zaumlhlen sei (Wer zaumlhlt die Gaben alle Wer) und wenden sich auf den Sprecher selbst wieder sechs Strophen nennen dann die leiblichen und geistigen Eigenschaften die Gott ihm verliehen hat Hinter dieser Gaben Wunderschau aber wird Luthers Erklaumlrung zum 1 Artikel des Glaubensbekenntnisses sichtbar in der es nach der FrageWas ist das heiszligt Ich glaube daszlig mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mit Leib und Seele Augen Ohren und alle Glieshyder Vernunft und alle Sinne gegeben hat Gemaumlszlig den Schluszligworten der Erklaumlrung des alles ich ihm zu danken und zu loben schuldig bin muumlndet die letzte Strophe preisend und benedeiend in den liturgisch beshy

ao Zur Begriffsbestimmung dieser Saumlkularisationskategorie vgL S 289 ff

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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einem Brief jene Wuumlrze zu geben die dem Bewuszligtsein unangemessener Verwendung dieser Sprache entspringt Vom Leichtfertigen fuumlhrt das zushymal in den spaumlteren Zeugnissen bis an den Rand des Blasphemischen auf eine Mitteilung H Chr Boies des Freundes in Goumlttingen er gedenke eine reiche Frau zu heiraten antwortet Buumlrger am 13881 7 Wenn ich noch einmal wieder in meinem Leben heuumlrathen sollte wahrhaftig ich heuumlrathete wol eine Kuh wenn sie nur an der bewusten Vernunft [naumlmshylich am Gelde] keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte dich bei dieser Philosophie Amen Amen GA Buumlrger Daszlig die Sprache sich in solcher Weise aus ihren alten Bindungen loumlst waumlre kaum denkbar ohne eine Distanzierung auch des Sprechenden selbst vom Geist des vaumltershylichen Pfarrhauses

Wir wenden uns diesen Vorgaumlngen nicht mit jener Ausfuumlhrlichkeit zu die sie verdienten wenn es um eine Darstellung der inneren Entwicklung Buumlrgers ginge Auch fuumlr unsere Fragestellung aber sind sie bedeutungsshyvoll als Voraussetzung als Ermoumlglichungsgrund dichterischer Gestaltungsshyweisen Denn daszlig hier ein Abfall vollzogen wurde daszlig Buumlrger sich geshyloumlst hat von dem Gesetz nach dem er angetreten war auch ihm selber sehr wohl bewuszligt Wenn er an Boie uumlber den Dr Pideritt schreibt raquoSo viel ich aber aus einer Recension seiner Vertheydigung des Kanons der heil Schrifft 2tes Stuumlck muthmaszlige so mag er wohl einen Bannstral auf meine gottlosen Gedichte geworfen haben indem es heiszligt daszlig er zum Beweise gegenwaumlrtiger irreligioumlser und sittenloser Zeiten verschiedene Gedidlte aus den MusenAlmanachen angefuumlhrt habe (11676) so wird unter den ironischen Toumlnen doch deutlich spuumlrbar daszlig er sich mit seinen Dichtungen in einem anderen Raume weiszlig als dem seines Ursprungs

Es gibt wohl kein Zeugnis das in dieser Hinsicht aufschluszligreicher ja verraumlterischer waumlre als die Stelle aus einem Brief vom Sommer 1775 an Goethe Wie behaumlglich von der bekannten AlltagsleyerMe10dey der um uns plaumlrrenden Christlichen Gemeine unterweilen abbrechen und sein innres Seelenstuumlckchen anstimmen zu koumlnnen

Das ist mit Entchristlichung nicht einfach gleichzusetzen der tiefere Bereich persoumlnlicher Glaubenshaltung entzieht sich unserer Einsid1t Aber es bezeugt eine Abwendung vom strengen Kirchenchristentum und macht deutlich daszlig der Schreiber seine eigentlid1e Bestimmung auszligerhalb des religioumls-dogmatischen Raumes sieht Immerhin AlltagsleyerMelodey und innres Seelenstuumlckchen plaumlrren und anstimmen zeigen unershyachtet der recht eindeutigen Bewertung doch noch die Verwandtschaft einys gemeinsamen Wortfeldes und werden durchaus in einem Atemzug genannt Das aufschluszligreich genug Denn es deutet auf ein Verhaumlltnis

7 Vfenn nicht anders angegeben stammen die Briefzitate stets aus der Sammlung Briefe von und an Gottfried August Buumlrger hrsg A Strodtmann 4 Bde 1874

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zwischen religioumlsem und dichterischem Wort (so darf man ohne Zweifel uumlbersetzen) in dem zwar das erste dem zweiten untergeordnet wird aber doch noch immer eines mit dem anderen verbunden bleibt

Auch das Woumlrtdlen unterweilen wird man dabei nicht ganz uumlbershysehen duumlrfen Unterweilen hat Buumlrger seinem Verleger Dieterich gegenshyuumlber (und es gibt andere aumlhnliche Faumllle) in einem Brief vom 1 81782 die Weisheit und Guumlte goumlttlicher Vorsehung die jenseits menschlicher Einshysichtsfaumlhigkeit liegt mit Nachdruck ja mit Leidenschaft verteidigt - um dann dem Freunde selbst die Frage in den Mund zu legen Wie koumlmmt Saul unter die Propheten Dieses Sauls eigentliches Amt ist nidlt die AlltagsleyerMelodey sondern das innre Seelenstuumlckchen dichte- rischer Gestaltung Aber dabei grundet doch das eine auf dem anderen Was er anstimmt transponiert die alte Melodie in eine neue Tonart jenes Abbredlen wird zum Synonym einer weltlichen Kontrafaktur

Ich denke nicht heiszligt es im Vorbericht zur raquoIl i a slaquo-Obersetzung das Jemand die Umstaumlnde und das Aufheben welche ich hier mache uumlbertrieben abgeschmackt und laumlcherlich finden werde er muumlszligte denn anders die Kunst lebendiger Darstellung so wie das edle nicht Jedershymann von Gott verliehene Seelenvermoumlgen worauf sie sich gruumlndet und eins der wichtigsten Mittel deren sie sich bedient die Sprache die nie goumlttlich genug zu verehrende Sprache sie das theuerste heiligste Werkshyzeug des wirkenden Menschengeistes sie welche zu allen andern Wissenshyschaften spricht Ohne mich koumlnnet ihr nichts thun alles das muumlszligte er

( also fuumlr Lumpereien und unter der Wuumlrde maumlnnlicher Bemuumlhungen halten 8

Buumlrgers theoretische Schriften enthalten eine Fuumllle solcher Aumluszligerungen uumlber die Sprache und den dichterischen Umgang mit ihr die gekennshyzeichnet sind durch einen Anspruch dessen Unbedingheit den Bereich des wirkenden Menschengeistes auf das Religioumlse hin oumlffnet Literarische Taumltigkeit wird ins Heilige und Goumlttliche erhoumlht als edelste Bestimmung des Menschen uumlberhaupt und als Gnadengabe verstanden die nur den Auserwaumlhlten zuteil geworden Dichtung wird zum Gottesdienst der Wortverwaltung Das aber wird keineswegs als ein Obertragungsvorshygang begriffen und in seiner Problematik bedacht sondern erscheint als ein durchaus unreflektierter Akt und wird sichtbar allein als sprachlicher Vorgang Die aumlsthetischen Eroumlrterungen ziehen ihr Vokabular zu wesentshylichen Teilen aus den religioumlsen Texten nutzen gleichsam die Beglaubishygungskraft dieser Worte die ihnen von ihrem Ursprung her anhaftet shyohne daszlig dabei doch dieser Herkunftsbereich selber noch als Maszligstab und Bewertungsgrundlage gegenwaumlrtig bliebe Es geht nicht mehr um

8 Zitiert wird - von den GediChten abgesehen - nam Buumlrgers saumlmmtliche Werke hrsg A W Bohtz 1835 Abgekuumlrzt B hier S 184

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didaktische Verweisungen sondern um aumlsthetische Bereicherung Das Pfarrhaus wird abgebrochen damit was brauchbar und ansehnlich scheint unter den alten Steinen fuumlr den Bau des neuen Hauses verwendet werden kann Diesen Bezug auf die religioumlse Sprache auf den Luthertext insonderheit hat Buumlrger sich bis in stilistische Einzelheiten hinein bewuszligt gemacht In seinen raquoGedanken uumlber die Beschaffenheit einer Deutschen Uumlbersetzung des Homerlaquo etwa heigt es nachdem der Verfasser die von ihm bevorzugte Anfangsstellung des Hauptzeitwortes besprochen hat Ich habe keinen Platz zu Beispielen aber man wird ihrer genug finden welche dies Alles bestaumltigen Man schlage nur Luthers Bibel-uumlbersetzung und seine uumlbrigen Schriften nach auf jeder Seite sind weld1e Die poetischen Buumlcher der heiligen Schrift hat Luther mit dem besten Geschmacke fuumlr seine Zeiten so echt Deutsch und so feurig uumlbershysetzt daszlig man daruumlber erstaunen muszlig Ein fleiszligiger Sprachforscher muumlszligte unsere neuere Sprache mit den vortrefflichsten Schaumltzen aus den Schriften dieses bewundernswuumlrdigen Mannes wovor unseren Hominibus delicatulis so ekelt bereichern koumlnnen (B 137 L)

Die Stelle dessen was zwanzig Jahre lang dem Pfarrersohn als das Houmlchste und Heiligste vorgestellt und eingepraumlgt wurde was er hinter sidl lieszlig als er das Studium der Theologie in Halle abbrach vermochten die Jurisprudenz die Geschaumlfte des Amtsverwalters die Lehrtaumltigkeit des Dozenten keineswegs einzunehmen und auszufuumlllen Seine Berufstaumltigshykeit blieb fuumlr Buumlrger lebenslang eine Plage eine Quelle des Miszligmuts und der Verzweiflung Faumlhig dazu war allein die Po esie nur das innre Seelenstuumlckchen konnte die Klaumlnge der alten Melodie in sich aufnehmen und fortfuumlhren ~

Wie er uumlber Stolberg sagt Mich duumlnkt ich lese einen Propheten wenn ich seine Prosa lese 9 so schreibt er an Boie Uumlbrigens lebe und webe ich in den Reliques Sie sind meine Morgen und AbendAndacht 10 wie er von Shakespeare erklaumlrt Ihn kann man die Bibel der Dichter nenshynen 11 so urteilt er uumlber die unerwuumlnschten Rezensenten Und wenn der Engel Gabriel vom Himmel kaumlme und ihnen Poetik predigte so wuumlrde er dennoch nichts ausrichten 12 Mit voumllliger Unbefangenheit fast moumlchte man sagen mit der Unschuld des Selbstverstaumlndlichen wird das Vokabushylar beider Bereiche vermischt Die Aufloumlsung der Kodifikation kennt keine Grenzen mehr Denn die Saumlkularisation dient hier nicht dazu den religioumlsen Text als einen weltlicher Sprache integrierten Maszligstab fuumlr menschliches Reden und Handeln wirksam zu machen sondern sie nutzt ihn nur mehr als Mittel zu ihrer Erhoumlhung und Steigerung ein Buch

o Dt Museum Juli 1777 Zu FrLStolbergs raquouumlber die Fuumllle des Herzenslaquo 10 7477 Meint Percy Reliques of Ancient English Poctry London 1765 11 An Boie 15976 12 An Boie 31278

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wirft Licht auf das andere Buch aber - es ist nicht mehr das Licht der Erkenntnis dessen was gut und boumlse sei (Vgl S148 f)

Wie auf die Werke der Dichtkunst so faumlllt der Glanz dieses geborgten Lichtes auch auf die Dichter selbst Was Christus uumlber alle menschliche Macht und Groumlszlige erhebt wird jetzt auch dem Poeten zugesprochen sein Reich ist nicht von dieser Welt 13 und die Verheiszligungen die dem Chrishysten gegeben sind wandeln in der uumlbertragung ihre Formen nur gerade so viel wie noumltig ist um fuumlr den neuen Anwendungsbereidl braudlbar zu sein Einem unbekannten Empfaumlnger schreibt Buumlrger am 621772 meine Briefe sollen Ihnen hinfort wenigstens alle vier Wochen jenen biblischen Spruch parodieren Bleib den Musen getreuuml bis in den Tod so wird dir Apoll die Krone des ewigen Nachruhms geben Parodieren shydas meint hier nichtmiddotdie Entstellung den Entwurf eines scherzhaften oder boumlsartigen Gegenbildes sondern Akkomodation uumlbertragung und Anshypassung Es richtet sich nicht gegen den vorgegebenen Text aber es nimmt ihn auch nicht mehr ernst in seinem unbedingten und ausschlieszligenshyden Anspruch Schon deutet es in die Richtung einer uumlberarbeitung des Originals nach dem verbesserten Geschmack unsrer Zeit in einer neuen Einkleidung und Ordnung der Gedanken (v gl u S 269Anm 2) Dieser ) verbesserte Geschmack freilich ist kaum mehr als ein veraumlndertes thematisches Interesse In Wahrheit fehlt diesen uumlbertragungen geshylegentlich selbst der gute Geschmack und es kennzeichnet zugleich die

( uneingeschraumlnkte Verfuumlgbarkeit des religioumlsen Sprachgutes wenn Buumlrger auch auf betraumlchtliche Houmlhenunterschiede zwischen Ursprungs- und Anshywendungsbereich kaum mehr Ruumlcksicht nimmt An Goeckingk der ihm aus seiner fatalen aumluszligeren Situation heraushelfen will schreibt er anshystandslos wenn Sie mein Erloumlser seyn und mich den Musen wiedershyschenken koumlnnten - Sie wuumlrden mir das seyn was der Engel dem geshyfangenen Apostel in der Apostel Geschichte war 14 Ein gewisses Vershygnuumlgen am Miszligbrauch des Vorbildes und die ganz ernsthafte Absicht dem Sachverhalt Nachdrud und Gewicht zu geben sind hier wohl kaum zu trennen Aber ohne Zweifel steht dahinter ein Wertbewuszligtsein dem kein Preis zu hoch ist wenn es gilt den Anspruch und die Wuumlrde des poetischen Amtes zu verkuumlnden und durchzusetzen

So heiszligt es in den raquoGedanken uumlber die Beschaffenheit einer Deutschen uumlbersetzung des Homerlaquo Statt aller Untersuchunshygen uumlber diesen Punct koumlnnte der Streit wohl nicht angenehmer fuumlr den Zuschauer beigelegt werden als wenn der Genius unserer Literatur einen Mann von Genie und Kenntniszlig erweckte welcher zwischen die Zanshy

13 An Bollmann 22790 14 29675 Aus dem Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk hrsg A Sauer

Vjs f Litgesch III 1890 hier S 68

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kenden mit einer Uumlbersetzung traumlte uumlber welche man schreiben koumlnnte Der Nachwelt und der Ewigkeit heilig (B 135) Dem aufmerkshysamen Leser kann der Hintergrund der kleinen Szene nicht verborgen bleiben die hier entworfen wird Der Uumlbersetzer-Dichter er erscheint als ein neuer Moses welcher vom Gott seines Volkes erweckt unter die Israeliten tritt mit jenen Gebotstafeln die der christlichen Nachwelt und der Ewigkeit heilig sind (Selbst das Wort von den Zankenden die um die Homer-Uumlbersetzung miteinander im Streite liegen scheint auf den biblischen Bericht zu deuten Bei der Ruumlckkehr vom Sinai spricht Josua zu Moses Es ist ein Geschrei im Lager wie im Streit Er antshywortete Es ist nicht ein Geschrei gegen einander derer die obliegen und unterliegen sondern ich houmlre ein Geschrei eines Singetanzes Ex 3217 f)

Buumlrger selbst ist es der nach diesem Vorwort mit Proben seiner jamshybischen Lrbersetzung unter die Zankenden tritt - aber er zieht es vor dem Anspruch des Moses-Bildes auszuweichen Das bleibt dem Vollender uumlberlassen Fuumlr die eigene Person und das eigene Werk waumlhlt er ein anderes Modell Wenn ich gleich derjenige selbst nicht bin auf welchen unser Volk hoffet (denn ich muumlszligte den unversc~aumlmtesten Knabenstolz besitzen wenn ich mir einbildete daszlig ichs waumlre) so kann ich doch vielleicht zu der Ehre eines Vorlaumlufers dessen der kommen wird gelangen Auf den Worten des neutestamentlichen Vorlaumlufers Johannes des Taumlufers der die messianische Erwartung des Volkes von sich selber abweist und auf jenen Groumlszligeren lenkt der kommen wird gruumlndet die Haltung des raquoIliaslaquoshyObersetzers aus ihnen gewinnt sie dem eigenen Versuch dem Probestuumld~ Bedeutsamkeit und Gewicht Eine Entsprechung zur Saumlkularisationsform figuraler Gestaltung ist nicht zu verkennen Aber wenngleich hier wie dort eine dichterische Figur dem vorbildlichen Modell gleichgeformt wird J

geht es doch dort darum sie durchzusetzen und zu rechtfertigen auf der Grundlage des Imitatio-Denkens - hier aber sie zu steigern und zu ershyhoumlhen allein um ihrer selbst willen Der Dichter erscheint als Gottesmann weil er in dieser Gestalt dem Profanen enthoben ist

In der Behandlung aller Fragen die ihm wirklich am Herzen liegen greift Buumlrger zuruumlck auf den Sprach- und Formenschatz der ihm jahreshylang als Ausdrucksvorrat fuumlr das Wesentliche und Bedeutsame vermittelt wurde Bis in die Uumlberlegungen zum dichterischen Schaffensprozeszlig fuumlhrt das die deutlich unter der praumlgenden Kraft des Berichtes vom goumlttshylichen Schoumlpfungsakt stehen Jeder Kuumlnstler schreibt er an Schushybart sollte es sich daher zur Maxime madlen keines seiner Verke eher unter fremde Augen treten zu lassen als bis er nach Jahrelangem Anshyschauen alles dessen so er gemacht sagen koumlnnte Siehe da es ist alles sehr gut 15

15 12992 - Vgl die Goumlttliche Zufricdenhcits-Formel Geni 31

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Nichts anderes als eine uumlbertragung des reformatorischen Verhaumlltnisses zur Schrift und seine Anpassung an den Umgang mit dem dichterischen Vort ist sein Verantwortungsgefuumlhl und seine Treue gegenuumlber dem unshyverriickbaren Text ja der Glaube daszlig am Buchstaben das Heil haumlngen koumlnne Gleichguumlltig welcher Grad von bewuszligter Einsicht in diese Zushysammenhaumlnge auch vorgelegen haben mag Buumlrgers Aumluszligerungen uumlber solche Fragen speisen sich unablaumlssig aus der religioumlsen Sprachquelle So begleitet er Anfang 1784 die uumlbersendung eines Manuskriptes an Goeckingk mit der leidenschaftlichen Ermahnung Houmlrt ihr daszlig also nur nicht ein Puumlnctchen zu geschweige denn ein Buchstab oder gar ein Wort fehlt Ihr seht sonst Euumlres Ungluumlcks kein Ende weder hier zeitlich noch dort ewig

Die fuumlr Buumlrger so bezeichnende Neigung zur unermuumldlichen oft geradeshyzu kleinlich anmutenden uumlberarbeitung und Ausfeilung seiner Gedichte wird man in unmittelbarem Zusammenhang sehen muumlssen mit jener Heishyligung der Werktreue die der Protestantismus entwickelt hat und es ist charakteristisch fuumlr die Denkweise des ganzen Buumlrgerschen Freundesshykreises wenn Meyer ihm zu einigen Gedichten die er fuumlr den Musenshyalmanach schickt am 971793 entschuldigend schreibt sie haumltten noch Mangel der Feile die vor Gott und Menschen angenehm ist

Solche Einzelbeobachtungen und man koumlnnte sie beliebig vermehren machen deutlich wie folgerichtig der Weg von Molmerswende nach Halle seine Fortsetzung verlangt auch wenn er nun in andere Gefilde fuumlhrt wie tief der Erbzwang den Pfarrersohn bestimmt uumlberdem bin ich einmal ein Theologe gewesen schreibt er an Goeckingk und von der Zeit haumlngt mir illud Theologorum decantatissimum Dic et servasti animam immer noch an 16 Schon 1772 erklaumlrte er sich gegen seine bisherige wolshyluumlstige und taumlndelnde Dichtungsart von allen moralischen Sentimens entbloumlszligt weil er meinte damit verloumlre die Poesie ihr erhabenes Amt Lehrerin der Menschen zu seyn 17

Im engsten Zusammenhang damit muszlig nun Buumlrgers Glaubensartikel von der P 0 pul a ri t auml t der Poesie gesehen werden Denn wenn von der kirchlichen Wortverkuumlndigung her das Amt Lehrerin der Menschen zu seyn auf die Dichtung uumlbertragen wird so faumlllt ihr zugleich die Pflicht zu ins Breite zu wirken einem unbegrenzten Leserkreise zugaumlnglich und verstaumlndlich zu sein Buumlrger nennt als seine Maxime wenn nicht Alle n dennoch den Me ist e n - versteht sich ohne weder sich selbst noch der Dichtkunst etwas zu vergeben - zu gleicher Zeit zu gefallen 18 Nur

1G 3675 Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk S65 11 Brief an Boie 2 11 72 lB Die Problematik der Popularitaumlt die an dem eingeschobenen einschraumlnkenden

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dieGuumlnstlinge die dieses Ziel erreichen sind die gewaltigen Herzensshybezaumlhmer und Zauberer die ihre guumlldenen Staumlbe nie vergebens zucken und uumlber jedes Zei tal ter in immer lebendiger Kraft herrschen Nie verra uchen die Opfer auf ihren Altaumlren und unvergaumlnglich bluumlhen ihre Kraumlnze (B 178 f) Nur sie sprechen in Vollmacht Die Opferaltaumlre und der Bezug auf jene Staumlbe die vor dem Pharao von den aumlgyptischen Zauberern vergeblich dann aber von Moses und Aaron nie vergebens ausgereckt wurden 19

begruumlnden eine Priesterschaft der Wortverwaltung zu bestaumltigen die Wahrheit des Artikels woran ich festiglich glaube und welcher die Axe ist woherum meine ganze Poetik sich drehet Alle darstellende Bildshynerei kann und soll volksmaumlszligig seyn Denn das ist das Siegel ihrer Vollshykommenheit 20

Dieser Artikel von der Popularitaumlt der Dichtung Buumlrgers Glaubensshybekenntnis empfaumlngt in der Tat einen entscheidenden Anstoszlig aus der Predigt- und Seelsorgehaltung der er unter der vaumlterlichen Kanzel beshygegnete Wenn er scherzhaft an Meyer schreibt ein gottseliges Comite untersuche woher es wohl komme daszlig der Gottesdienst in der Unishyversitaumltskirche so sparsam besucht werde Ich denke mit Recht wird Euer gepredigtes Evangelium als eine der vornehmsten Ursachen oben an geshystellt werden (121 89) so liegt dem ganz der gleiche Gedanke zushygrunde der auch die Wirkungspoetik seiner Abhandlungen zur VolksshyPoesie bestimmt Es ist das saumlkularisierte Predigerethos das aus dem leishydenschaftlichen raquoHerzensausguszliglaquo spricht Durch Popularitaumlt mein ich soll die Poesie das wieder werden wozu sie Gott erschaffen und in die Seelen der Auserwaumlhlten gelegt hat Lebendiger Odem der uumlber aller Menschen Herzen und Sinnen hinweht Odem Gottes der vom Schlaf und Tod aufweckt Die Blinden sehend die Tauben houmlrend die Lahmen gehend und die Aussaumltzigen rein macht Und das Alles zum Heil und Frommen des Menschengeschlechts in diesem Jammerthaie (B 321) 21

Die Beobachtung solcher Umsetzungsvorgaumlnge die Buumlrgers theoretische Aumluszligerungen gedanklich und sprachlich bestimmen leitet zu unserer eigentlichen Frage nach der Bedeutung und Beschaffenheit der Saumlkularishysationsphaumlnomene in seinem d ich t e r i s c he n Werk

(wenn nicht gar aufhebenden) Satz zu entwickeln waumlre kann hier nicht ausgefuumlhrt werden Sie kommt in Schillers und A W Schlegels Buumlrger-Abhandlungen zur Sprache

Vgl Ex7-10 20 B S324 (Vorrede zur Ausgabe der Gedidlte 1778) 2 Ober eine ganz entsprechende neue Einstellung zum Volksganzen raquowelche die

seelsorgerliche Haltung des Vaters unmittelbar fortzusetzen scheint handelt H Schoumlffshyler Das literarische Zuumlrich 1925 S42f

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Unmittelbare und ausdruumlckliche biographische Zeugnisse fuumlr den Einshyfluszlig des religioumlsen Schrifttums gibt es kaum Immerhin finden sich einige Hinweise in den Aufzeichnungen Althofs die auf Buumlrgers eigenen freishylich sehr spaumlten muumlndlichen Auszligerungen beruhen Durch sie wird uumlbershyliefert daszlig der Junge bis in sein zehntes Lebensjahr hinein durchaus nicht mehr lernte als Lesen und Schreiben wohl aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse behielt was er sowohl in der Bibel als im Gesangshybuche las ja daszlig er wie er meinte das ganze Gesangbuch ohne Schwieshyrigkeit auswendig gelernt haben wuumlrde (B 431) Von den houmlchst aufshyschluszligreichen Einzelheiten dieser fruumlh gelegten Bibel- und Gesangbuch- kenntnisse muszlig spaumlter die Rede sein Hier wird zunaumlchst nur Althofs Mitteilung wichtig daszlig schon der Knabe ohne durch andere Muster als welche Bibel und Gesangbuch ihm lieferten dazu aufgefordert zu werden anfing Verse zu machen ehe er noch die allerersten Elemente der Grammatik erlernt hattelaquo (B 431) Das ist gewiszlig nicht so zu verstehen als habe der junge Verseschmied damals noch kein grammatisch fehlershyfreies Deutsch sprechen oder schreiben koumlnnen Grammatik lernte man an der Fremdsprache Buumlrger begegnete ihr also im lateinischen Untershyricht - und cr konnte ungeachtet aller Schlaumlge in zwei Jahren noch nicht Mensa decliniren (B 431) Diese Randbemerkung macht einsichtig

( daszlig es sich bei den poetischen Anregungen durch Bibel und Kirchenlied um ganz unreflektierte dem kontrollierenden Sprach- und Kunstbewuszligtshysein entzogene Vorgaumlnge handelt Das deckt sich voumlllig mit Althofs Aufshyzeichnung Buumlrger versicherte ferner So wenig diese Fertigkeiten als irgend eine andere Kenntniszlig seines nachfolgenden Lebens bis in sein maumlnnliches Alter haumltten ihm die geringste Anstrengung oder Muumlhe geshykostet es waumlre auch sehr wenig was er von Lehrern und aus Buumlchern geshylernt haumltte da es ihm immer in den Lehrstunden an Aufmerksamkeit und auszliger denselben an Geduld gefehlet ein Buch anhaltend aus zu lesen Er muumlszligte sich oft innerlich wundern wenn er einen Blick in die Vorrathsshykammer seiner Kenntnisse thaumlte wie und woher der Plunder alle hinein gekommen Das Meiste waumlre ihm hier und da und dort und uumlberall wie VOn selbst gleichsam angeflogen (B 431) Nichts konnte ihm so sehr von selbst anfliegen wie die Worte Bilder und Formen der heiligen Texte die von den Jugendjahren im vaumlterlichen Pfarrhaus bis zum Abbruch des theologischen Studiums in Halle sein taumlglicher Umgang waren Was aber fuumlr ihre Aufnahme gilt ist nicht weniger guumlltig fuumlr ihre Verwendung die Saumlkularisationsvorgaumlnge entziehen sich weithin dem Bewuszligtsein des Schreibenden Durch ihn hindurch aber oft ohne seine Absicht und ohne sein Dazutun wirkt hier die religioumlse Sprache auf das Kunstwerk ein

Der eigentliche Zugang zu diesen Phaumlnomenen kann deshalb nicht durch die Beschaumlftigung mit der Person des Autors gewonnen werden

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welches Forschers Geist hat Buumlrger selbst erklaumlrt kann sich immer so tief und innig in den Geist des Kuumlnstlers versenken um etwas mit Sicherheit auszumachen welches dieser oft selbst nicht recht weiszlig naumlmshylich was fuumlr Bestinunungsgruumlnde jeglichen seiner Schritte zum Ziele leitet haben 22 Nur im Ziele selbst im Zustandegekommenen WIrd wohl der eine oder andere Bestimmungsgrund erkennbar der Weg dahin fuumlhrt also nicht uumlber die Versenkung in den Geist des Kuumlnstlers sondern uumlber die Betrachtung des Kunstwerkes selbst

In dem 1782 entstandenen kleinen Gedicht raquoDer klug e Heldlaquo23 wird erzaumlhlt wie ein junger Soldat um der Gefahr zu entgehen am Tag vor der Schlacht einen Urlaub erbittet angeblich damit sein sterbender Vater ihm noch den Abschiedskuszlig geben koumlnne Die letzten Verse lauten

Sehr wohl versetzt der Chef und laumlchelt vor sich nieder Reis hurtig ab mein Sohn Denn nach der Bibel muszlig Dein Vater nach Gebuumlhr von dir geehret werden Auf daszlig dirs wohlergeh und du lang lebst auf Erden

Von verschiedenen Seiten aus wird einsichtig welch besonderes Gewicht dieser Schluszlig traumlgt ja daszlig das ganze Gedicht eigentlich auf ihn hin anshygelegt ist 24

bull Schon der Gespraumlchsablauf weckt eine Spannung auf die Beshygruumlndung fuumlr die Zustimmung des Chefs der den Vorwand ja durchshyschaut Zugleich trennt das Druckbild durch einen Gedankenstrich und folgenden Sinnabschnitt die hier angefuumlhrten letzten Zeilen von den vorshyangehenden und nachdem schon zuvor die wechselnd vier- und fuumlnfshyhebigen Jamben sich zweimal gleichsam praumlludierend ins alexandrinische Maszlig vorgewagt hatten gewinnt der Schluszligteil in dem die Alexandriner sich voumlllig durchgesetzt haben auch metrische Bedeutungssteigerung Entshyscheidend aber ist der Pointencharakter des Ausgangs und dessen eigentshylicher Uberraschungseffekt entsteht durch die ironische Beziehung des vierten Gebotes auf die Absichten des Soldaten Den wichtigsten Beitrag zur Schluszligbeschwerung des Gedichtes leisten diese beiden zitierenden len mit denen ein vorgeformtes und vorbelastetes Redestuumlck als schwerer Endakzent dem vorangehenden Berichte aufgesetzt wird

~2 Ueber die Wirkung des Schleiers in Werken der darstellenden Kunstlaquo TI S 340 23 Die Gedichte werden im folgenden zitiert nach der Ausgabe von E COllsentius

2 Bde 1914 Hier I S238 21 VgL E Staigers Begriff der nproblematischen Dichtung (Grundbegriffe der

Poetik LAufl 1951 S162ff)

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Schluszligbeschwerungen sind fuumlr Buumlrgers Lyrik charakteristisch Sie hershyvorzubringen erscheint die eben beobachtete Verbindung eines praumlforshymierten Sprachstuumlckes mit vorausgehenden freien Formationen beshysonders geeignet - und es ist bemerkenswert daszlig der strukturell so beshydeutsame pointierte Ausgang tatsaumlchlich in nahezu einem Drittel aller Gedichte Buumlrgers auf den christlichen Sprachbereich zuruumlckweist

Wo seine Gedichtausgaumlnge einen formelhaften Redeschluszlig woumlrtlich oder nur geringfuumlgig abgewandelt uumlbernehmen wird die Endbetonung am spuumlrbarsten Aus einer Fuumllle von Beispielen koumlnnte man dafuumlr nennen

Gott lass es dem Edlen doch wohl ergehn Das bet ich herzinniglich Amen (I 207)

Gott behuumlte liebe Seele Gott behuumlte dich davor (I 32)

o Paradiesesglaube Erhalt und staumlrke mich (I 38) Komm Von hinnen laszlig uns scheiden Eia waumlren wir schon da - (I 68) Dein Name sei gebenedeit Von nun an bis in Ewigkeit (I 45)

Der jeweilige Ursprungsort dieser Schluszligformeln bedarf keiner Erlaumluteshyrung Was sie - in einen neuen Zusammenhang versetzt - fuumlr den Aufshybau des Gedichtes leisten koumlnnen zeigt sich im ersten Beispiel (raquoDie Kuhlaquo) mit der Hervorhebung des Erzaumlhlers der diesen Epilog spricht und mit der Zusammenfassung des Gedichtes zur geschlossenen Form im letzten Beispiel (raquoDankliedlaquo) in dem die schlieszligenden Zeilen des Gedichtes die der Anfangsstrophe wieder aufnehmen und die preisende Aufreihung der Gottesgaben mit einer aus dem liturgischen Ursprungsort der Formel heruumlberwirkenden Kraft zusammengreifen und erfuumlllen im Benedeien des goumlttlichen Gebers Von solchen Leistungen wird noch die Rede sein

Aumlhnliche Wirkungen entfalten die Schluumlsse in denen Bibelzitate parashyphrasiert und auf die vorangehenden Verse bezogen werden In raquoSchoumln Suschenlaquo etwa geben die letzten Zeilen

Drum Lieb ist wohl wie Wind im Meer Sein Sausen ihr wohl houmlrt Allein ihr wisset nicht woher Wiszligt nicht wohin er faumlhrt (I 155)

die aus Joh 3 8 hervorgehen Antwort auf die Eingangsfrage des Geshydichtes durch sie erfuumlllt es sich in der inneren Form von Raumltselstellung und Raumltselloumlsung Vergleichbares bewirkt der Schluszlig von raquoDie Eleshy

13 7439 Schoumlne Saumlkularisation (Palaestra 226) 193

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mentelaquo nachdem die Liebe als allbewegende Triebkraft der Natur geshyschildert worden ist zieht der Ausgang die Lehre fuumlr den lieblos geshywordenen Menschen

Du bist ein eiteltoumlnend Erz Bist leerer Klingklang einer Schelle Und Tosen einer Wasserwelle (I 70)

Die auffallend haumlufige Verwendung solcher zusammenfassenden abshyrundenden aufloumlsenden erklaumlrenden pointierenden Schluszligbeschwerunshygen die der Dichter dem christlichen Sprachbereich entlehnt muszlig durchshyaus als Charakteristikum Buumlrgerseher Gedichtsstruktur verstanden werden

Ober die Bestimmung ihrer sprachlichen Herkunft hinaus sind diese beschwerten Ausgaumlnge in einigen Verwendungs faumlllen nun auch auf eine genauer bestimmbare Form des Sprechens zu beziehen Da endet etwa Die Entfuumlhrunglaquo mit den Versen

So segne dann der auf uns sieht Euch segne Gott von Glied zu Glied Auf Wechselt Ring und Haumlnde Und hiermit Lied am Ende (I 181)

Das ist die Spredlweise des Geistlichen und in der Tat nimmt ja hier am Ende des houmldlst wel dichen Balladengeschehens der Vater des entfuumlhrshyten Fraumluleins mit Segen und Ringwechsel eine priesterliche Handlung vor Diese personale Gleichung macht aufmerksam auf eine grundsaumltzliche typologische Entsprechung zwisdlen der Schluszligbeschwerung des Gedichshytes und geistlidler Redeweise Nicht nur das durchgehend religioumls beshystimmte liturgische Sprechen endet mit einer gewichtigen Schluszligformell des Gebetes Segens oder Lobpreises auch die nicht mehr formgebundene freie Rede das Gespraumlch die Ansprache so zu schlieszligen daszlig weltlidles Sprechen am Ende durch einen religioumlsen Bezug ein praumlformiertes Redeshystuumlck erhoumlht gekroumlnt gewichtig beschlossen wird ist fuumlr den Geistlichen offenbar bis heute bezeichnend

Diese durch vorgegebene Schluszligformeln charakterisierte Redeweise zeigt ganz die gleiche Grundform die in der Untersuchung der Buumlrgershysehen Gedichte sichtbar wird - wie ja jene Gepflogenheit an weltliche Rede einen oft geradezu gewaltsam angehaumlngten formelhaft-religioumlsen Schluszlig zu fuumlgen selbst in dem oben genannten Briefausgang noch spuumlrbar wird ich heuumlrathete wol ein Kuh wenn sie nur an der bewusten Vershynunft keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte didl bei dieser Philoshysophie Amen Amen GABuumlrger Unter diesem Blickwinkel gewinnt die Stelle geradezu karikierende Zuumlge

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Beispielhaft fuumlr eine solche Analogie der Sprechweisen scheinen etwa die Schluumlsse

Die Liebe segne dich und sie Mit ihrem besten Segen (148) Die Liebe sagt Verdammet nicht Daszlig man nicht Euch verdammet (I 187) Diesen Trinker gnade Gott Lass ihn nicht verderben (I 73)

Sie aber deuten auf eine Analogie-Antithese zwischen dem Pfarrer als dem Diener der christlichen Kirche und dem Poeten der eines seiner Geshydichte mit den Worten schlieszligt

Doch wisse du Apolls Religion Schenkt dir die Glaubenspflicht und dringt auf gute

Werke (I 248) Als Gottesdienst der Wortverwaltung hat Buumlrger sein dichterisd1cs Amt verstanden

Bin geweiht zum Priester des Apoll Mit des Gottes Kranz und goldnem Stabe Seines Geistes bin ich froh und voll Warum nicht auch frommer Wundergabe - (I 94)

Und am Ende des Gedichtes (raquoGeweih tes Ang ebind e zu Lo uis ens Geburtstagelaquo) tritt diese vaumlterliche Mitgift diese Sprechhaltung des Geistlichen ganz ausdruumlcklich ins Wort

Freud und Lust von keinem Harm vergaumlllt Sei durch dich Ihr in die Brust gegossen Freud an Gottes ganzer weiter Welt Mich den Priester auch mit eingeschlossen

shy

Die Beobachtung der Schluszligbeschwerung lenkt auf die Frage nach ihrer Integration in das Gesamtgefuumlge des Gedichtes und nach der Wirkung die sie dort entfaltet raquoDer kluge Heldlaquo kann darauf kaum schon ershyschoumlpfende Antwort geben die massive Pointicrung die hier durch den Endakzent zustande kommt ist nur eine unter vielen Moumlglichkeiten seiner Leistung Weit komplizierter liegen diese Verhaumlltnisse in Buumlrgers Nachshydichtung der raquoCo n f ess i 0laquo des Archipoeta 25

25 Das Gedicht war Buumlrger in einer dem Walter Mapes zugeschriebenen Fassung beshykannt geworden (vgl seinen Brief an Sprickmann vom 21077) deutliche Bezuumlge zeigen sich zu seinen Strophen 12 13 16-19 Zitiert wird die lat Vorlage nach dem auf 5 Strophen verkuumlrzten Abdruck den Buumlrger in der Ausgabe seiner Gedichte VOll

1778 auf S 290 f gegeben hat (Ausgenommen die beiden dort nicht mitgeteilten hier auf S199 zitierten Verse Voluptatis avidus laquo)

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Zechlied

Im will einst bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Alles meinen Wein nur nimt Lass im frohen Erben Nam der letzten Olung soll Hefen nom mim faumlrben Dann zertruumlmmre mein Pokal In zehntausend Smerben Jedermann hat von Natur Seine sondre Weise Mir gelinget jedes Werk Nur nam Trank und Speise Speis und Trank erhalten mim In dem remten Gleise Wer gut smmiert der faumlhrt aum gut Auf der Lebensreise Im bin gar ein armer Wimt Bin die feigste Memme Halten Durst und Hungerqual Mim in Angst und Klemme Smon ein Knaumlbchen smuumlttelt mim Was im aum mim stemme Einem Riesen halt im Stand Wann im zem und smlemme Aumlmter Wein ist aumlmtes 01 Zur Verstandeslampe Gibt der Seele Kraft und Schwung Bis zum Sternenkampe Witz und Weisheit dunsten auf Aus gefuumlllter Wampe Baszlig gluumlckt Harfenspiel und Sang Wann im brav smlampampe Nuumlchtern bin im immerdar Nur ein Harfenstuumlmper Mir erlahmen Hand und Griff Welken Haupt und Wimper Wann der Wein in Himmelsklang Wandelt mein Geklimper Sind Homer und Ossian Gegen mim nur Stuumlmper

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Nimmer hat durch meinen Mund Hoher Geist gesungen Bis ich meinen lieben Bauch Weidlich vollgeschlungen Wann mein Kapitolium Baechus Kraft erschwungen Sing und red ich wundersam Gar in fremden Zungen Drum will ich bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Nach der letzten oumllung soll Hefen noch mich faumlrben Engelchoumlre weihen dann Mich zum Nektarerben Diesen Trinker gnade Gott

Lass ihn nicht verderben (1 72 f)

Da wird mit der ersten Strophe das Bekenntnis zu einer Lebensfuumlhrung abgelegt und geradezu beschworen die selbst eingedenk des Todes noch ganz im Irdischen verharrt Fuumlnf folgende Strophen dann begruumlnden den Entschluszlig den die erste verkuumlndete auch ihre Aussagen bleiben durchshyaus im Bereiche des weingeweihten Diesseits Die letzte aber tritt nachshydem sie zunaumlchst das Bekenntnis der ersten aufgenommen in eine durchshyaus andere Sphaumlre Zwar setzt auch dort das irdische Trinkerleben sich fort aber der Spott der eben noch die letzte oumllung traf der Entschluszlig der ersten Strophe im Tode den Pokal zu zertruumlmmern lassen dieses Ende nicht erwarten

Ut dicant eum venerint angelorum chori Deus sit propitius huic potatori

heiszligt es in der raquoC 0 n fes s i 0laquo und solcher Gesang der Engelchoumlre beshyschlieszligt nun auch Buumlrgers koumlnigliches Sauflied 26 ein im religioumlsen Sprachbereich ausgebildetes Gebet um Gnade fuumlr den Suumlnder 27 - an dessen Stelle nun der Trinker steht - setzt den kraumlftigen Endakzent Wenn so unvermittelt das Sauflied in die Gebetsformel muumlndet scheint sich im Wortschatz in der Sprechhaltung im Hinblick auf die Geschehnisshyebene ein bruchhafter Wechsel zu vollziehen der die Einheitlichkeit des ganzen Gedichtes in Frage stellt Zwar folgen Vers- und Strophenbau zushygleich mit dem Reimschema der gtConfessiolaquo entlehnt ebenso wie die rhythmische Anlage des Liedes gleichbleibenden Aufbauprinzipien und stiften so eine formale Geschlossenheit des Ganzen aber gerade das treibt

28 Brief an Boie 18977 27 Vgl Lue1B 13 Deus propitius esto mihi peceatori

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den Umbruch der Schluszligbeschwerung nur um so kraumlftiger heraus Daszlig hier in Wahrheit keineswegs ein Bruch vorliegt daszlig dieser Sphaumlrenshywechsel durchaus nicht unvermittelt geschieht wird jedoch einsichtig sobald man die Sprache der Mittelstrophen schaumlrfer ins Auge faszligt Dann zeigt sich daszlig hinter der Bedeutungsoberflaumlche der Wortaussage vorshygeformtes Sprachgut aus eben der Sphaumlre wirksam ist zu der die schlieshyszligenden Verse sich erheben

Dem Wein dem der Sprechende selbst eingedenk des irdischen Endes noch sein Dasein verschreibt setzt die zweite Strophe die Speise zur Seite Beide Trank und Speise sind fuumlr das Leben noumltig - doch offenshybar nicht im Sinne notwendiger Ernaumlhrung Das erhalten meint kein einfad1es am-Leben-erhalten sondern ein im rechten Gleise im rechshyten Leben erhalten Das Schluszligwort der Strophe laumlszligt aufmerken Lebensreise erscheint als ein deutlich vorbelastetes vorgeformtes Sprad1stuumlck der religioumlsen Sphaumlre das (ausgehend von Gen 47 9) die christliche Deutung des Lebens als einer Reise durch die Weh zum jenshyseitigen Ziele in sich faszligt Trank und Speise in solchem Bedeutungsfeld als Hilfen die Lebensreise recht zu fuumlhren sie machen hinter dem lauten Gesang des Trinkers im fuumlnften Vers die liturgische Stimme vershynehmbar die Stimme des Geistlichen der die Hostie und den Wein reicht Nehmet hin und esset Nehmet hin und trinket das staumlrke und erhalte euch im rechten Glauben zum ewigen Leben Amenlaquo 28 Von andeshyrem Trank und anderer Speise als der vom Vater dargebotenen spricht der Sohn Doch im Bekenntnis des Zechlieds klingen noch immer jene Worte nach die von der Kraft des heiligen Mahles kuumlndeten weil das 11edium der Sprad1e die mit der Abendmahlsliturgie in sie eingeganshygenen Bedeutungsenergien bewahrt und fuumlr die Dichtung verfuumlgbar macht

Von der zweiten Strophe aufgerufen bleibt dieser Bezug auch in der dritten vierten und fuumlnften lebendig Hinter dem Zecher den Essen und Trinken der Angst und Schwaumld1e entheben so daszlig er einem Riesen standshyzuhalten vennag steigt das Bild des gottgestaumlrkten David herauf der dem Goliath standhaumllt Der aumlchte Wein und das aumldlte oumll derert Kraft die Seele zum Sternengewoumllbe erhebt gewinnen neue Bedeutung Hinter dem Harfenspieler und dem Himmelsklang seines Gesanges toumlnt leise der Psalm Davids zur Harfe zu singen und in der trunkseligen Prahshylerei der Erhebung uumlber Homer und Ossian mag damit eine verborgene Rechtfertigung solcher Selbsteinschaumltzung sich andeuten Sind die uumlbershytragenen Worte und Bilder hier dem Text des raquoZechlieds so weitshy

e8 In der Abendmahlsliturgie folgt diese in verschiedenen Fassungen gebraumluchliche Spclldeformc1 auf den Einsetzungsbericht Ausfuumlhrlich daruumlber P Graff Geschichte der Aufloumlsung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschshylands I 1937 S 197 ff

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gehend anverwandelt daszlig sie als fremdes Sprachgut kaum erkennbar werden heben sie sich in der sechsten Strophe doch wieder staumlrker ab erst der Abglanz der Erleuchtungsflammen des Pfingstwunders erhellt die Reden des Trunkenen als einwundersames Reden gar in fremden Zungen

Ein Vergleich mit dem Vorbild der lateinischen Beichtparodie der dies e Durchsichtigkeit auf den hinter der eigentlichen Aussage liegenden Sprach- und Bildbereich gaumlnzlich fehlt zeigt daszlig in Buumlrgers uumlbertragung eine sehr bewuszligte Absicht waltete Man halte gegen seine sechste Strophe etwa die Verse

Mihi nunquam spiritus prophetiae datur Non nisi cum fuerit venter bene satur Cum in arce cerebri Bacchus dominatur In me Phoebus irruit ac miranda fatur

Die Grundhaltung beider Gedichte unterscheidet sich wesentlich Mit den fuumlr die ganze raquoC 0 n fes s i 0laquo verbindlichen Versen

Voluptatis avidus magis quam salutis Mortuus in anima curam gero cutis

setzt der Archipoeta Diesseits und Jenseits gegeneinander und faumlllt seine klare Entscheidung fuumlr das eine gegen das andere Buumlrger aber verschmilzt die Bereiche Getragen von den sprachgebundenen Bedeutungsenergien die aus dem christlichen in einen houmlchst weltlichen Bereich des Sprechens uumlberfuumlhrt werden erhebt der bekenntnishafte Lebensbericht des Zechers sich zum Heilsbericht zum Preis einer uumlberirdischen und das Irdische vershywandelnden Macht die am Sprechenden wirksam wird Erst diese Spuren des weihevoll-heiligen Pathos dem Weine des schwoumlrenden protzenden singenden Zechers und Schlemmers beigemischt als ein verborgenes Arom bewirken jenes Entzuumlcken das Buumlrger mit der Lektuumlre des Gedichtes seinen Freunden verhieszlig29 Sie bereiten die schluszligbeschwerende Gebetsshyformel vor und bewirken daszlig statt eines Bruches hier der Aufschwung in jene Sphaumlre erfolgt die am inneren Aufbau des Liedes schon von Anshyfang an beteiligt war So vollendet sich das bekennende Sprechen des raquoZechliedslaquo am Ende in der inneren Form einer ihrer urspriinglichen Erfuumlllung mit christlichem Gehalt entleerten Heilsverkuumlndigung

i-

Mit jener Sprechweise des Geistlichen auf welche die Schluszligbeschweshyrung deutete haumlngt diese Form der He i I sv e r k uuml n d i gun g aufs engste zusammen Sie steht in Buumlrgers Werk durchaus nicht vereinzelt die im

29 Brief an Boie 18977

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religioumlsen Sprachgebrauch ausgebildeten Formmodelle finden hier zahlshyreiche und vielfaumlltige Entsprechungen die um so deutlicher erkennbar werden als sie noch immer merkliche Spuren auch des urspruumlnglichen Gehaltes tragen Sie erweisen sich als weltliche Kontrafakturen der relishygioumlsen Vorbilder 30 von denen sie nicht allein das organisierende Formshyprinzip beziehen sondern zugleich jenen Zuwachs an Bedeutungshaumlhe und Wirkungskraft den das Modell nur dann hergibt wenn es selbst noch als bedeutungshaltig und wirkungsfaumlhig intakt bleibt Die Annaumlherung auch der inhaltlichen Erfuumlllung dieser saumlkularisierten Formen an den christshylichen Denk- und Sprachbereich befoumlrdert ja begruumlndet ihre reichhaltige Erscheinung in Buumlrgers Lyrik

Ich glaube Luther wuumlrde dies Gedicht fuumlr ein wuumlrdiges Kirchenlied anerkannt haben schrieb AWSchlegel uumlber Die Elementelaquo (B 518) Schon mit dem Eingangsvers tritt es in die Form der Lehrvershykuumlndigung Horch Hohe Dinge lehr ich dich (I 68) Und diese Lehre vom Wesen der Elemente ist mehr als bloszlige Kundgabe Sie wird Maszligstab fuumlr den Belehrten Richtschnur Grundlage fuumlr das kommende Gericht Immer dringlicher wendet sie sich im Fortgang des Gedichtes an den Houmlrer selbst Sieh hin und her und Nun pruumlfe dich bis mit den oben (S 194) genannten Schluszligversen das lehrende Sprechen ins urteilende und verdammende uumlbergeht

Eine besondere Form der lehrhaft-bekennenden Rede macht das raquoDankl iedlaquo sichtbar (I 44ff) das Buumlrger urspruumlnglich Psalm nennen wollte und zu dem Boie ihm schrieb den denkenden Christen wird es entzuumlcken und erbauen aber den groumlszligten Haufen und Pastor Zuch - (12972) Es zeigt eine ganz symmetrische Anlage Die Eingangsstrophe wendet sich lobend an Gott den Schoumlpfer sechs folgende Strophen reihen auf was der Sprechende aus seiner Hand empfangen hat (daszlig es dabei ausgerechnet um die Liebe den Wein und den Gesang geht muszligte Pastor Zuch freilich wurmen) zwei Mittelstrophen bekennen daszlig die Fuumllle der Schoumlpfergaben nicht zu zaumlhlen sei (Wer zaumlhlt die Gaben alle Wer) und wenden sich auf den Sprecher selbst wieder sechs Strophen nennen dann die leiblichen und geistigen Eigenschaften die Gott ihm verliehen hat Hinter dieser Gaben Wunderschau aber wird Luthers Erklaumlrung zum 1 Artikel des Glaubensbekenntnisses sichtbar in der es nach der FrageWas ist das heiszligt Ich glaube daszlig mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mit Leib und Seele Augen Ohren und alle Glieshyder Vernunft und alle Sinne gegeben hat Gemaumlszlig den Schluszligworten der Erklaumlrung des alles ich ihm zu danken und zu loben schuldig bin muumlndet die letzte Strophe preisend und benedeiend in den liturgisch beshy

ao Zur Begriffsbestimmung dieser Saumlkularisationskategorie vgL S 289 ff

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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zwischen religioumlsem und dichterischem Wort (so darf man ohne Zweifel uumlbersetzen) in dem zwar das erste dem zweiten untergeordnet wird aber doch noch immer eines mit dem anderen verbunden bleibt

Auch das Woumlrtdlen unterweilen wird man dabei nicht ganz uumlbershysehen duumlrfen Unterweilen hat Buumlrger seinem Verleger Dieterich gegenshyuumlber (und es gibt andere aumlhnliche Faumllle) in einem Brief vom 1 81782 die Weisheit und Guumlte goumlttlicher Vorsehung die jenseits menschlicher Einshysichtsfaumlhigkeit liegt mit Nachdruck ja mit Leidenschaft verteidigt - um dann dem Freunde selbst die Frage in den Mund zu legen Wie koumlmmt Saul unter die Propheten Dieses Sauls eigentliches Amt ist nidlt die AlltagsleyerMelodey sondern das innre Seelenstuumlckchen dichte- rischer Gestaltung Aber dabei grundet doch das eine auf dem anderen Was er anstimmt transponiert die alte Melodie in eine neue Tonart jenes Abbredlen wird zum Synonym einer weltlichen Kontrafaktur

Ich denke nicht heiszligt es im Vorbericht zur raquoIl i a slaquo-Obersetzung das Jemand die Umstaumlnde und das Aufheben welche ich hier mache uumlbertrieben abgeschmackt und laumlcherlich finden werde er muumlszligte denn anders die Kunst lebendiger Darstellung so wie das edle nicht Jedershymann von Gott verliehene Seelenvermoumlgen worauf sie sich gruumlndet und eins der wichtigsten Mittel deren sie sich bedient die Sprache die nie goumlttlich genug zu verehrende Sprache sie das theuerste heiligste Werkshyzeug des wirkenden Menschengeistes sie welche zu allen andern Wissenshyschaften spricht Ohne mich koumlnnet ihr nichts thun alles das muumlszligte er

( also fuumlr Lumpereien und unter der Wuumlrde maumlnnlicher Bemuumlhungen halten 8

Buumlrgers theoretische Schriften enthalten eine Fuumllle solcher Aumluszligerungen uumlber die Sprache und den dichterischen Umgang mit ihr die gekennshyzeichnet sind durch einen Anspruch dessen Unbedingheit den Bereich des wirkenden Menschengeistes auf das Religioumlse hin oumlffnet Literarische Taumltigkeit wird ins Heilige und Goumlttliche erhoumlht als edelste Bestimmung des Menschen uumlberhaupt und als Gnadengabe verstanden die nur den Auserwaumlhlten zuteil geworden Dichtung wird zum Gottesdienst der Wortverwaltung Das aber wird keineswegs als ein Obertragungsvorshygang begriffen und in seiner Problematik bedacht sondern erscheint als ein durchaus unreflektierter Akt und wird sichtbar allein als sprachlicher Vorgang Die aumlsthetischen Eroumlrterungen ziehen ihr Vokabular zu wesentshylichen Teilen aus den religioumlsen Texten nutzen gleichsam die Beglaubishygungskraft dieser Worte die ihnen von ihrem Ursprung her anhaftet shyohne daszlig dabei doch dieser Herkunftsbereich selber noch als Maszligstab und Bewertungsgrundlage gegenwaumlrtig bliebe Es geht nicht mehr um

8 Zitiert wird - von den GediChten abgesehen - nam Buumlrgers saumlmmtliche Werke hrsg A W Bohtz 1835 Abgekuumlrzt B hier S 184

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didaktische Verweisungen sondern um aumlsthetische Bereicherung Das Pfarrhaus wird abgebrochen damit was brauchbar und ansehnlich scheint unter den alten Steinen fuumlr den Bau des neuen Hauses verwendet werden kann Diesen Bezug auf die religioumlse Sprache auf den Luthertext insonderheit hat Buumlrger sich bis in stilistische Einzelheiten hinein bewuszligt gemacht In seinen raquoGedanken uumlber die Beschaffenheit einer Deutschen Uumlbersetzung des Homerlaquo etwa heigt es nachdem der Verfasser die von ihm bevorzugte Anfangsstellung des Hauptzeitwortes besprochen hat Ich habe keinen Platz zu Beispielen aber man wird ihrer genug finden welche dies Alles bestaumltigen Man schlage nur Luthers Bibel-uumlbersetzung und seine uumlbrigen Schriften nach auf jeder Seite sind weld1e Die poetischen Buumlcher der heiligen Schrift hat Luther mit dem besten Geschmacke fuumlr seine Zeiten so echt Deutsch und so feurig uumlbershysetzt daszlig man daruumlber erstaunen muszlig Ein fleiszligiger Sprachforscher muumlszligte unsere neuere Sprache mit den vortrefflichsten Schaumltzen aus den Schriften dieses bewundernswuumlrdigen Mannes wovor unseren Hominibus delicatulis so ekelt bereichern koumlnnen (B 137 L)

Die Stelle dessen was zwanzig Jahre lang dem Pfarrersohn als das Houmlchste und Heiligste vorgestellt und eingepraumlgt wurde was er hinter sidl lieszlig als er das Studium der Theologie in Halle abbrach vermochten die Jurisprudenz die Geschaumlfte des Amtsverwalters die Lehrtaumltigkeit des Dozenten keineswegs einzunehmen und auszufuumlllen Seine Berufstaumltigshykeit blieb fuumlr Buumlrger lebenslang eine Plage eine Quelle des Miszligmuts und der Verzweiflung Faumlhig dazu war allein die Po esie nur das innre Seelenstuumlckchen konnte die Klaumlnge der alten Melodie in sich aufnehmen und fortfuumlhren ~

Wie er uumlber Stolberg sagt Mich duumlnkt ich lese einen Propheten wenn ich seine Prosa lese 9 so schreibt er an Boie Uumlbrigens lebe und webe ich in den Reliques Sie sind meine Morgen und AbendAndacht 10 wie er von Shakespeare erklaumlrt Ihn kann man die Bibel der Dichter nenshynen 11 so urteilt er uumlber die unerwuumlnschten Rezensenten Und wenn der Engel Gabriel vom Himmel kaumlme und ihnen Poetik predigte so wuumlrde er dennoch nichts ausrichten 12 Mit voumllliger Unbefangenheit fast moumlchte man sagen mit der Unschuld des Selbstverstaumlndlichen wird das Vokabushylar beider Bereiche vermischt Die Aufloumlsung der Kodifikation kennt keine Grenzen mehr Denn die Saumlkularisation dient hier nicht dazu den religioumlsen Text als einen weltlicher Sprache integrierten Maszligstab fuumlr menschliches Reden und Handeln wirksam zu machen sondern sie nutzt ihn nur mehr als Mittel zu ihrer Erhoumlhung und Steigerung ein Buch

o Dt Museum Juli 1777 Zu FrLStolbergs raquouumlber die Fuumllle des Herzenslaquo 10 7477 Meint Percy Reliques of Ancient English Poctry London 1765 11 An Boie 15976 12 An Boie 31278

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wirft Licht auf das andere Buch aber - es ist nicht mehr das Licht der Erkenntnis dessen was gut und boumlse sei (Vgl S148 f)

Wie auf die Werke der Dichtkunst so faumlllt der Glanz dieses geborgten Lichtes auch auf die Dichter selbst Was Christus uumlber alle menschliche Macht und Groumlszlige erhebt wird jetzt auch dem Poeten zugesprochen sein Reich ist nicht von dieser Welt 13 und die Verheiszligungen die dem Chrishysten gegeben sind wandeln in der uumlbertragung ihre Formen nur gerade so viel wie noumltig ist um fuumlr den neuen Anwendungsbereidl braudlbar zu sein Einem unbekannten Empfaumlnger schreibt Buumlrger am 621772 meine Briefe sollen Ihnen hinfort wenigstens alle vier Wochen jenen biblischen Spruch parodieren Bleib den Musen getreuuml bis in den Tod so wird dir Apoll die Krone des ewigen Nachruhms geben Parodieren shydas meint hier nichtmiddotdie Entstellung den Entwurf eines scherzhaften oder boumlsartigen Gegenbildes sondern Akkomodation uumlbertragung und Anshypassung Es richtet sich nicht gegen den vorgegebenen Text aber es nimmt ihn auch nicht mehr ernst in seinem unbedingten und ausschlieszligenshyden Anspruch Schon deutet es in die Richtung einer uumlberarbeitung des Originals nach dem verbesserten Geschmack unsrer Zeit in einer neuen Einkleidung und Ordnung der Gedanken (v gl u S 269Anm 2) Dieser ) verbesserte Geschmack freilich ist kaum mehr als ein veraumlndertes thematisches Interesse In Wahrheit fehlt diesen uumlbertragungen geshylegentlich selbst der gute Geschmack und es kennzeichnet zugleich die

( uneingeschraumlnkte Verfuumlgbarkeit des religioumlsen Sprachgutes wenn Buumlrger auch auf betraumlchtliche Houmlhenunterschiede zwischen Ursprungs- und Anshywendungsbereich kaum mehr Ruumlcksicht nimmt An Goeckingk der ihm aus seiner fatalen aumluszligeren Situation heraushelfen will schreibt er anshystandslos wenn Sie mein Erloumlser seyn und mich den Musen wiedershyschenken koumlnnten - Sie wuumlrden mir das seyn was der Engel dem geshyfangenen Apostel in der Apostel Geschichte war 14 Ein gewisses Vershygnuumlgen am Miszligbrauch des Vorbildes und die ganz ernsthafte Absicht dem Sachverhalt Nachdrud und Gewicht zu geben sind hier wohl kaum zu trennen Aber ohne Zweifel steht dahinter ein Wertbewuszligtsein dem kein Preis zu hoch ist wenn es gilt den Anspruch und die Wuumlrde des poetischen Amtes zu verkuumlnden und durchzusetzen

So heiszligt es in den raquoGedanken uumlber die Beschaffenheit einer Deutschen uumlbersetzung des Homerlaquo Statt aller Untersuchunshygen uumlber diesen Punct koumlnnte der Streit wohl nicht angenehmer fuumlr den Zuschauer beigelegt werden als wenn der Genius unserer Literatur einen Mann von Genie und Kenntniszlig erweckte welcher zwischen die Zanshy

13 An Bollmann 22790 14 29675 Aus dem Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk hrsg A Sauer

Vjs f Litgesch III 1890 hier S 68

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kenden mit einer Uumlbersetzung traumlte uumlber welche man schreiben koumlnnte Der Nachwelt und der Ewigkeit heilig (B 135) Dem aufmerkshysamen Leser kann der Hintergrund der kleinen Szene nicht verborgen bleiben die hier entworfen wird Der Uumlbersetzer-Dichter er erscheint als ein neuer Moses welcher vom Gott seines Volkes erweckt unter die Israeliten tritt mit jenen Gebotstafeln die der christlichen Nachwelt und der Ewigkeit heilig sind (Selbst das Wort von den Zankenden die um die Homer-Uumlbersetzung miteinander im Streite liegen scheint auf den biblischen Bericht zu deuten Bei der Ruumlckkehr vom Sinai spricht Josua zu Moses Es ist ein Geschrei im Lager wie im Streit Er antshywortete Es ist nicht ein Geschrei gegen einander derer die obliegen und unterliegen sondern ich houmlre ein Geschrei eines Singetanzes Ex 3217 f)

Buumlrger selbst ist es der nach diesem Vorwort mit Proben seiner jamshybischen Lrbersetzung unter die Zankenden tritt - aber er zieht es vor dem Anspruch des Moses-Bildes auszuweichen Das bleibt dem Vollender uumlberlassen Fuumlr die eigene Person und das eigene Werk waumlhlt er ein anderes Modell Wenn ich gleich derjenige selbst nicht bin auf welchen unser Volk hoffet (denn ich muumlszligte den unversc~aumlmtesten Knabenstolz besitzen wenn ich mir einbildete daszlig ichs waumlre) so kann ich doch vielleicht zu der Ehre eines Vorlaumlufers dessen der kommen wird gelangen Auf den Worten des neutestamentlichen Vorlaumlufers Johannes des Taumlufers der die messianische Erwartung des Volkes von sich selber abweist und auf jenen Groumlszligeren lenkt der kommen wird gruumlndet die Haltung des raquoIliaslaquoshyObersetzers aus ihnen gewinnt sie dem eigenen Versuch dem Probestuumld~ Bedeutsamkeit und Gewicht Eine Entsprechung zur Saumlkularisationsform figuraler Gestaltung ist nicht zu verkennen Aber wenngleich hier wie dort eine dichterische Figur dem vorbildlichen Modell gleichgeformt wird J

geht es doch dort darum sie durchzusetzen und zu rechtfertigen auf der Grundlage des Imitatio-Denkens - hier aber sie zu steigern und zu ershyhoumlhen allein um ihrer selbst willen Der Dichter erscheint als Gottesmann weil er in dieser Gestalt dem Profanen enthoben ist

In der Behandlung aller Fragen die ihm wirklich am Herzen liegen greift Buumlrger zuruumlck auf den Sprach- und Formenschatz der ihm jahreshylang als Ausdrucksvorrat fuumlr das Wesentliche und Bedeutsame vermittelt wurde Bis in die Uumlberlegungen zum dichterischen Schaffensprozeszlig fuumlhrt das die deutlich unter der praumlgenden Kraft des Berichtes vom goumlttshylichen Schoumlpfungsakt stehen Jeder Kuumlnstler schreibt er an Schushybart sollte es sich daher zur Maxime madlen keines seiner Verke eher unter fremde Augen treten zu lassen als bis er nach Jahrelangem Anshyschauen alles dessen so er gemacht sagen koumlnnte Siehe da es ist alles sehr gut 15

15 12992 - Vgl die Goumlttliche Zufricdenhcits-Formel Geni 31

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Nichts anderes als eine uumlbertragung des reformatorischen Verhaumlltnisses zur Schrift und seine Anpassung an den Umgang mit dem dichterischen Vort ist sein Verantwortungsgefuumlhl und seine Treue gegenuumlber dem unshyverriickbaren Text ja der Glaube daszlig am Buchstaben das Heil haumlngen koumlnne Gleichguumlltig welcher Grad von bewuszligter Einsicht in diese Zushysammenhaumlnge auch vorgelegen haben mag Buumlrgers Aumluszligerungen uumlber solche Fragen speisen sich unablaumlssig aus der religioumlsen Sprachquelle So begleitet er Anfang 1784 die uumlbersendung eines Manuskriptes an Goeckingk mit der leidenschaftlichen Ermahnung Houmlrt ihr daszlig also nur nicht ein Puumlnctchen zu geschweige denn ein Buchstab oder gar ein Wort fehlt Ihr seht sonst Euumlres Ungluumlcks kein Ende weder hier zeitlich noch dort ewig

Die fuumlr Buumlrger so bezeichnende Neigung zur unermuumldlichen oft geradeshyzu kleinlich anmutenden uumlberarbeitung und Ausfeilung seiner Gedichte wird man in unmittelbarem Zusammenhang sehen muumlssen mit jener Heishyligung der Werktreue die der Protestantismus entwickelt hat und es ist charakteristisch fuumlr die Denkweise des ganzen Buumlrgerschen Freundesshykreises wenn Meyer ihm zu einigen Gedichten die er fuumlr den Musenshyalmanach schickt am 971793 entschuldigend schreibt sie haumltten noch Mangel der Feile die vor Gott und Menschen angenehm ist

Solche Einzelbeobachtungen und man koumlnnte sie beliebig vermehren machen deutlich wie folgerichtig der Weg von Molmerswende nach Halle seine Fortsetzung verlangt auch wenn er nun in andere Gefilde fuumlhrt wie tief der Erbzwang den Pfarrersohn bestimmt uumlberdem bin ich einmal ein Theologe gewesen schreibt er an Goeckingk und von der Zeit haumlngt mir illud Theologorum decantatissimum Dic et servasti animam immer noch an 16 Schon 1772 erklaumlrte er sich gegen seine bisherige wolshyluumlstige und taumlndelnde Dichtungsart von allen moralischen Sentimens entbloumlszligt weil er meinte damit verloumlre die Poesie ihr erhabenes Amt Lehrerin der Menschen zu seyn 17

Im engsten Zusammenhang damit muszlig nun Buumlrgers Glaubensartikel von der P 0 pul a ri t auml t der Poesie gesehen werden Denn wenn von der kirchlichen Wortverkuumlndigung her das Amt Lehrerin der Menschen zu seyn auf die Dichtung uumlbertragen wird so faumlllt ihr zugleich die Pflicht zu ins Breite zu wirken einem unbegrenzten Leserkreise zugaumlnglich und verstaumlndlich zu sein Buumlrger nennt als seine Maxime wenn nicht Alle n dennoch den Me ist e n - versteht sich ohne weder sich selbst noch der Dichtkunst etwas zu vergeben - zu gleicher Zeit zu gefallen 18 Nur

1G 3675 Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk S65 11 Brief an Boie 2 11 72 lB Die Problematik der Popularitaumlt die an dem eingeschobenen einschraumlnkenden

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dieGuumlnstlinge die dieses Ziel erreichen sind die gewaltigen Herzensshybezaumlhmer und Zauberer die ihre guumlldenen Staumlbe nie vergebens zucken und uumlber jedes Zei tal ter in immer lebendiger Kraft herrschen Nie verra uchen die Opfer auf ihren Altaumlren und unvergaumlnglich bluumlhen ihre Kraumlnze (B 178 f) Nur sie sprechen in Vollmacht Die Opferaltaumlre und der Bezug auf jene Staumlbe die vor dem Pharao von den aumlgyptischen Zauberern vergeblich dann aber von Moses und Aaron nie vergebens ausgereckt wurden 19

begruumlnden eine Priesterschaft der Wortverwaltung zu bestaumltigen die Wahrheit des Artikels woran ich festiglich glaube und welcher die Axe ist woherum meine ganze Poetik sich drehet Alle darstellende Bildshynerei kann und soll volksmaumlszligig seyn Denn das ist das Siegel ihrer Vollshykommenheit 20

Dieser Artikel von der Popularitaumlt der Dichtung Buumlrgers Glaubensshybekenntnis empfaumlngt in der Tat einen entscheidenden Anstoszlig aus der Predigt- und Seelsorgehaltung der er unter der vaumlterlichen Kanzel beshygegnete Wenn er scherzhaft an Meyer schreibt ein gottseliges Comite untersuche woher es wohl komme daszlig der Gottesdienst in der Unishyversitaumltskirche so sparsam besucht werde Ich denke mit Recht wird Euer gepredigtes Evangelium als eine der vornehmsten Ursachen oben an geshystellt werden (121 89) so liegt dem ganz der gleiche Gedanke zushygrunde der auch die Wirkungspoetik seiner Abhandlungen zur VolksshyPoesie bestimmt Es ist das saumlkularisierte Predigerethos das aus dem leishydenschaftlichen raquoHerzensausguszliglaquo spricht Durch Popularitaumlt mein ich soll die Poesie das wieder werden wozu sie Gott erschaffen und in die Seelen der Auserwaumlhlten gelegt hat Lebendiger Odem der uumlber aller Menschen Herzen und Sinnen hinweht Odem Gottes der vom Schlaf und Tod aufweckt Die Blinden sehend die Tauben houmlrend die Lahmen gehend und die Aussaumltzigen rein macht Und das Alles zum Heil und Frommen des Menschengeschlechts in diesem Jammerthaie (B 321) 21

Die Beobachtung solcher Umsetzungsvorgaumlnge die Buumlrgers theoretische Aumluszligerungen gedanklich und sprachlich bestimmen leitet zu unserer eigentlichen Frage nach der Bedeutung und Beschaffenheit der Saumlkularishysationsphaumlnomene in seinem d ich t e r i s c he n Werk

(wenn nicht gar aufhebenden) Satz zu entwickeln waumlre kann hier nicht ausgefuumlhrt werden Sie kommt in Schillers und A W Schlegels Buumlrger-Abhandlungen zur Sprache

Vgl Ex7-10 20 B S324 (Vorrede zur Ausgabe der Gedidlte 1778) 2 Ober eine ganz entsprechende neue Einstellung zum Volksganzen raquowelche die

seelsorgerliche Haltung des Vaters unmittelbar fortzusetzen scheint handelt H Schoumlffshyler Das literarische Zuumlrich 1925 S42f

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Unmittelbare und ausdruumlckliche biographische Zeugnisse fuumlr den Einshyfluszlig des religioumlsen Schrifttums gibt es kaum Immerhin finden sich einige Hinweise in den Aufzeichnungen Althofs die auf Buumlrgers eigenen freishylich sehr spaumlten muumlndlichen Auszligerungen beruhen Durch sie wird uumlbershyliefert daszlig der Junge bis in sein zehntes Lebensjahr hinein durchaus nicht mehr lernte als Lesen und Schreiben wohl aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse behielt was er sowohl in der Bibel als im Gesangshybuche las ja daszlig er wie er meinte das ganze Gesangbuch ohne Schwieshyrigkeit auswendig gelernt haben wuumlrde (B 431) Von den houmlchst aufshyschluszligreichen Einzelheiten dieser fruumlh gelegten Bibel- und Gesangbuch- kenntnisse muszlig spaumlter die Rede sein Hier wird zunaumlchst nur Althofs Mitteilung wichtig daszlig schon der Knabe ohne durch andere Muster als welche Bibel und Gesangbuch ihm lieferten dazu aufgefordert zu werden anfing Verse zu machen ehe er noch die allerersten Elemente der Grammatik erlernt hattelaquo (B 431) Das ist gewiszlig nicht so zu verstehen als habe der junge Verseschmied damals noch kein grammatisch fehlershyfreies Deutsch sprechen oder schreiben koumlnnen Grammatik lernte man an der Fremdsprache Buumlrger begegnete ihr also im lateinischen Untershyricht - und cr konnte ungeachtet aller Schlaumlge in zwei Jahren noch nicht Mensa decliniren (B 431) Diese Randbemerkung macht einsichtig

( daszlig es sich bei den poetischen Anregungen durch Bibel und Kirchenlied um ganz unreflektierte dem kontrollierenden Sprach- und Kunstbewuszligtshysein entzogene Vorgaumlnge handelt Das deckt sich voumlllig mit Althofs Aufshyzeichnung Buumlrger versicherte ferner So wenig diese Fertigkeiten als irgend eine andere Kenntniszlig seines nachfolgenden Lebens bis in sein maumlnnliches Alter haumltten ihm die geringste Anstrengung oder Muumlhe geshykostet es waumlre auch sehr wenig was er von Lehrern und aus Buumlchern geshylernt haumltte da es ihm immer in den Lehrstunden an Aufmerksamkeit und auszliger denselben an Geduld gefehlet ein Buch anhaltend aus zu lesen Er muumlszligte sich oft innerlich wundern wenn er einen Blick in die Vorrathsshykammer seiner Kenntnisse thaumlte wie und woher der Plunder alle hinein gekommen Das Meiste waumlre ihm hier und da und dort und uumlberall wie VOn selbst gleichsam angeflogen (B 431) Nichts konnte ihm so sehr von selbst anfliegen wie die Worte Bilder und Formen der heiligen Texte die von den Jugendjahren im vaumlterlichen Pfarrhaus bis zum Abbruch des theologischen Studiums in Halle sein taumlglicher Umgang waren Was aber fuumlr ihre Aufnahme gilt ist nicht weniger guumlltig fuumlr ihre Verwendung die Saumlkularisationsvorgaumlnge entziehen sich weithin dem Bewuszligtsein des Schreibenden Durch ihn hindurch aber oft ohne seine Absicht und ohne sein Dazutun wirkt hier die religioumlse Sprache auf das Kunstwerk ein

Der eigentliche Zugang zu diesen Phaumlnomenen kann deshalb nicht durch die Beschaumlftigung mit der Person des Autors gewonnen werden

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welches Forschers Geist hat Buumlrger selbst erklaumlrt kann sich immer so tief und innig in den Geist des Kuumlnstlers versenken um etwas mit Sicherheit auszumachen welches dieser oft selbst nicht recht weiszlig naumlmshylich was fuumlr Bestinunungsgruumlnde jeglichen seiner Schritte zum Ziele leitet haben 22 Nur im Ziele selbst im Zustandegekommenen WIrd wohl der eine oder andere Bestimmungsgrund erkennbar der Weg dahin fuumlhrt also nicht uumlber die Versenkung in den Geist des Kuumlnstlers sondern uumlber die Betrachtung des Kunstwerkes selbst

In dem 1782 entstandenen kleinen Gedicht raquoDer klug e Heldlaquo23 wird erzaumlhlt wie ein junger Soldat um der Gefahr zu entgehen am Tag vor der Schlacht einen Urlaub erbittet angeblich damit sein sterbender Vater ihm noch den Abschiedskuszlig geben koumlnne Die letzten Verse lauten

Sehr wohl versetzt der Chef und laumlchelt vor sich nieder Reis hurtig ab mein Sohn Denn nach der Bibel muszlig Dein Vater nach Gebuumlhr von dir geehret werden Auf daszlig dirs wohlergeh und du lang lebst auf Erden

Von verschiedenen Seiten aus wird einsichtig welch besonderes Gewicht dieser Schluszlig traumlgt ja daszlig das ganze Gedicht eigentlich auf ihn hin anshygelegt ist 24

bull Schon der Gespraumlchsablauf weckt eine Spannung auf die Beshygruumlndung fuumlr die Zustimmung des Chefs der den Vorwand ja durchshyschaut Zugleich trennt das Druckbild durch einen Gedankenstrich und folgenden Sinnabschnitt die hier angefuumlhrten letzten Zeilen von den vorshyangehenden und nachdem schon zuvor die wechselnd vier- und fuumlnfshyhebigen Jamben sich zweimal gleichsam praumlludierend ins alexandrinische Maszlig vorgewagt hatten gewinnt der Schluszligteil in dem die Alexandriner sich voumlllig durchgesetzt haben auch metrische Bedeutungssteigerung Entshyscheidend aber ist der Pointencharakter des Ausgangs und dessen eigentshylicher Uberraschungseffekt entsteht durch die ironische Beziehung des vierten Gebotes auf die Absichten des Soldaten Den wichtigsten Beitrag zur Schluszligbeschwerung des Gedichtes leisten diese beiden zitierenden len mit denen ein vorgeformtes und vorbelastetes Redestuumlck als schwerer Endakzent dem vorangehenden Berichte aufgesetzt wird

~2 Ueber die Wirkung des Schleiers in Werken der darstellenden Kunstlaquo TI S 340 23 Die Gedichte werden im folgenden zitiert nach der Ausgabe von E COllsentius

2 Bde 1914 Hier I S238 21 VgL E Staigers Begriff der nproblematischen Dichtung (Grundbegriffe der

Poetik LAufl 1951 S162ff)

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Schluszligbeschwerungen sind fuumlr Buumlrgers Lyrik charakteristisch Sie hershyvorzubringen erscheint die eben beobachtete Verbindung eines praumlforshymierten Sprachstuumlckes mit vorausgehenden freien Formationen beshysonders geeignet - und es ist bemerkenswert daszlig der strukturell so beshydeutsame pointierte Ausgang tatsaumlchlich in nahezu einem Drittel aller Gedichte Buumlrgers auf den christlichen Sprachbereich zuruumlckweist

Wo seine Gedichtausgaumlnge einen formelhaften Redeschluszlig woumlrtlich oder nur geringfuumlgig abgewandelt uumlbernehmen wird die Endbetonung am spuumlrbarsten Aus einer Fuumllle von Beispielen koumlnnte man dafuumlr nennen

Gott lass es dem Edlen doch wohl ergehn Das bet ich herzinniglich Amen (I 207)

Gott behuumlte liebe Seele Gott behuumlte dich davor (I 32)

o Paradiesesglaube Erhalt und staumlrke mich (I 38) Komm Von hinnen laszlig uns scheiden Eia waumlren wir schon da - (I 68) Dein Name sei gebenedeit Von nun an bis in Ewigkeit (I 45)

Der jeweilige Ursprungsort dieser Schluszligformeln bedarf keiner Erlaumluteshyrung Was sie - in einen neuen Zusammenhang versetzt - fuumlr den Aufshybau des Gedichtes leisten koumlnnen zeigt sich im ersten Beispiel (raquoDie Kuhlaquo) mit der Hervorhebung des Erzaumlhlers der diesen Epilog spricht und mit der Zusammenfassung des Gedichtes zur geschlossenen Form im letzten Beispiel (raquoDankliedlaquo) in dem die schlieszligenden Zeilen des Gedichtes die der Anfangsstrophe wieder aufnehmen und die preisende Aufreihung der Gottesgaben mit einer aus dem liturgischen Ursprungsort der Formel heruumlberwirkenden Kraft zusammengreifen und erfuumlllen im Benedeien des goumlttlichen Gebers Von solchen Leistungen wird noch die Rede sein

Aumlhnliche Wirkungen entfalten die Schluumlsse in denen Bibelzitate parashyphrasiert und auf die vorangehenden Verse bezogen werden In raquoSchoumln Suschenlaquo etwa geben die letzten Zeilen

Drum Lieb ist wohl wie Wind im Meer Sein Sausen ihr wohl houmlrt Allein ihr wisset nicht woher Wiszligt nicht wohin er faumlhrt (I 155)

die aus Joh 3 8 hervorgehen Antwort auf die Eingangsfrage des Geshydichtes durch sie erfuumlllt es sich in der inneren Form von Raumltselstellung und Raumltselloumlsung Vergleichbares bewirkt der Schluszlig von raquoDie Eleshy

13 7439 Schoumlne Saumlkularisation (Palaestra 226) 193

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mentelaquo nachdem die Liebe als allbewegende Triebkraft der Natur geshyschildert worden ist zieht der Ausgang die Lehre fuumlr den lieblos geshywordenen Menschen

Du bist ein eiteltoumlnend Erz Bist leerer Klingklang einer Schelle Und Tosen einer Wasserwelle (I 70)

Die auffallend haumlufige Verwendung solcher zusammenfassenden abshyrundenden aufloumlsenden erklaumlrenden pointierenden Schluszligbeschwerunshygen die der Dichter dem christlichen Sprachbereich entlehnt muszlig durchshyaus als Charakteristikum Buumlrgerseher Gedichtsstruktur verstanden werden

Ober die Bestimmung ihrer sprachlichen Herkunft hinaus sind diese beschwerten Ausgaumlnge in einigen Verwendungs faumlllen nun auch auf eine genauer bestimmbare Form des Sprechens zu beziehen Da endet etwa Die Entfuumlhrunglaquo mit den Versen

So segne dann der auf uns sieht Euch segne Gott von Glied zu Glied Auf Wechselt Ring und Haumlnde Und hiermit Lied am Ende (I 181)

Das ist die Spredlweise des Geistlichen und in der Tat nimmt ja hier am Ende des houmldlst wel dichen Balladengeschehens der Vater des entfuumlhrshyten Fraumluleins mit Segen und Ringwechsel eine priesterliche Handlung vor Diese personale Gleichung macht aufmerksam auf eine grundsaumltzliche typologische Entsprechung zwisdlen der Schluszligbeschwerung des Gedichshytes und geistlidler Redeweise Nicht nur das durchgehend religioumls beshystimmte liturgische Sprechen endet mit einer gewichtigen Schluszligformell des Gebetes Segens oder Lobpreises auch die nicht mehr formgebundene freie Rede das Gespraumlch die Ansprache so zu schlieszligen daszlig weltlidles Sprechen am Ende durch einen religioumlsen Bezug ein praumlformiertes Redeshystuumlck erhoumlht gekroumlnt gewichtig beschlossen wird ist fuumlr den Geistlichen offenbar bis heute bezeichnend

Diese durch vorgegebene Schluszligformeln charakterisierte Redeweise zeigt ganz die gleiche Grundform die in der Untersuchung der Buumlrgershysehen Gedichte sichtbar wird - wie ja jene Gepflogenheit an weltliche Rede einen oft geradezu gewaltsam angehaumlngten formelhaft-religioumlsen Schluszlig zu fuumlgen selbst in dem oben genannten Briefausgang noch spuumlrbar wird ich heuumlrathete wol ein Kuh wenn sie nur an der bewusten Vershynunft keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte didl bei dieser Philoshysophie Amen Amen GABuumlrger Unter diesem Blickwinkel gewinnt die Stelle geradezu karikierende Zuumlge

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Beispielhaft fuumlr eine solche Analogie der Sprechweisen scheinen etwa die Schluumlsse

Die Liebe segne dich und sie Mit ihrem besten Segen (148) Die Liebe sagt Verdammet nicht Daszlig man nicht Euch verdammet (I 187) Diesen Trinker gnade Gott Lass ihn nicht verderben (I 73)

Sie aber deuten auf eine Analogie-Antithese zwischen dem Pfarrer als dem Diener der christlichen Kirche und dem Poeten der eines seiner Geshydichte mit den Worten schlieszligt

Doch wisse du Apolls Religion Schenkt dir die Glaubenspflicht und dringt auf gute

Werke (I 248) Als Gottesdienst der Wortverwaltung hat Buumlrger sein dichterisd1cs Amt verstanden

Bin geweiht zum Priester des Apoll Mit des Gottes Kranz und goldnem Stabe Seines Geistes bin ich froh und voll Warum nicht auch frommer Wundergabe - (I 94)

Und am Ende des Gedichtes (raquoGeweih tes Ang ebind e zu Lo uis ens Geburtstagelaquo) tritt diese vaumlterliche Mitgift diese Sprechhaltung des Geistlichen ganz ausdruumlcklich ins Wort

Freud und Lust von keinem Harm vergaumlllt Sei durch dich Ihr in die Brust gegossen Freud an Gottes ganzer weiter Welt Mich den Priester auch mit eingeschlossen

shy

Die Beobachtung der Schluszligbeschwerung lenkt auf die Frage nach ihrer Integration in das Gesamtgefuumlge des Gedichtes und nach der Wirkung die sie dort entfaltet raquoDer kluge Heldlaquo kann darauf kaum schon ershyschoumlpfende Antwort geben die massive Pointicrung die hier durch den Endakzent zustande kommt ist nur eine unter vielen Moumlglichkeiten seiner Leistung Weit komplizierter liegen diese Verhaumlltnisse in Buumlrgers Nachshydichtung der raquoCo n f ess i 0laquo des Archipoeta 25

25 Das Gedicht war Buumlrger in einer dem Walter Mapes zugeschriebenen Fassung beshykannt geworden (vgl seinen Brief an Sprickmann vom 21077) deutliche Bezuumlge zeigen sich zu seinen Strophen 12 13 16-19 Zitiert wird die lat Vorlage nach dem auf 5 Strophen verkuumlrzten Abdruck den Buumlrger in der Ausgabe seiner Gedichte VOll

1778 auf S 290 f gegeben hat (Ausgenommen die beiden dort nicht mitgeteilten hier auf S199 zitierten Verse Voluptatis avidus laquo)

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Zechlied

Im will einst bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Alles meinen Wein nur nimt Lass im frohen Erben Nam der letzten Olung soll Hefen nom mim faumlrben Dann zertruumlmmre mein Pokal In zehntausend Smerben Jedermann hat von Natur Seine sondre Weise Mir gelinget jedes Werk Nur nam Trank und Speise Speis und Trank erhalten mim In dem remten Gleise Wer gut smmiert der faumlhrt aum gut Auf der Lebensreise Im bin gar ein armer Wimt Bin die feigste Memme Halten Durst und Hungerqual Mim in Angst und Klemme Smon ein Knaumlbchen smuumlttelt mim Was im aum mim stemme Einem Riesen halt im Stand Wann im zem und smlemme Aumlmter Wein ist aumlmtes 01 Zur Verstandeslampe Gibt der Seele Kraft und Schwung Bis zum Sternenkampe Witz und Weisheit dunsten auf Aus gefuumlllter Wampe Baszlig gluumlckt Harfenspiel und Sang Wann im brav smlampampe Nuumlchtern bin im immerdar Nur ein Harfenstuumlmper Mir erlahmen Hand und Griff Welken Haupt und Wimper Wann der Wein in Himmelsklang Wandelt mein Geklimper Sind Homer und Ossian Gegen mim nur Stuumlmper

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Nimmer hat durch meinen Mund Hoher Geist gesungen Bis ich meinen lieben Bauch Weidlich vollgeschlungen Wann mein Kapitolium Baechus Kraft erschwungen Sing und red ich wundersam Gar in fremden Zungen Drum will ich bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Nach der letzten oumllung soll Hefen noch mich faumlrben Engelchoumlre weihen dann Mich zum Nektarerben Diesen Trinker gnade Gott

Lass ihn nicht verderben (1 72 f)

Da wird mit der ersten Strophe das Bekenntnis zu einer Lebensfuumlhrung abgelegt und geradezu beschworen die selbst eingedenk des Todes noch ganz im Irdischen verharrt Fuumlnf folgende Strophen dann begruumlnden den Entschluszlig den die erste verkuumlndete auch ihre Aussagen bleiben durchshyaus im Bereiche des weingeweihten Diesseits Die letzte aber tritt nachshydem sie zunaumlchst das Bekenntnis der ersten aufgenommen in eine durchshyaus andere Sphaumlre Zwar setzt auch dort das irdische Trinkerleben sich fort aber der Spott der eben noch die letzte oumllung traf der Entschluszlig der ersten Strophe im Tode den Pokal zu zertruumlmmern lassen dieses Ende nicht erwarten

Ut dicant eum venerint angelorum chori Deus sit propitius huic potatori

heiszligt es in der raquoC 0 n fes s i 0laquo und solcher Gesang der Engelchoumlre beshyschlieszligt nun auch Buumlrgers koumlnigliches Sauflied 26 ein im religioumlsen Sprachbereich ausgebildetes Gebet um Gnade fuumlr den Suumlnder 27 - an dessen Stelle nun der Trinker steht - setzt den kraumlftigen Endakzent Wenn so unvermittelt das Sauflied in die Gebetsformel muumlndet scheint sich im Wortschatz in der Sprechhaltung im Hinblick auf die Geschehnisshyebene ein bruchhafter Wechsel zu vollziehen der die Einheitlichkeit des ganzen Gedichtes in Frage stellt Zwar folgen Vers- und Strophenbau zushygleich mit dem Reimschema der gtConfessiolaquo entlehnt ebenso wie die rhythmische Anlage des Liedes gleichbleibenden Aufbauprinzipien und stiften so eine formale Geschlossenheit des Ganzen aber gerade das treibt

28 Brief an Boie 18977 27 Vgl Lue1B 13 Deus propitius esto mihi peceatori

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den Umbruch der Schluszligbeschwerung nur um so kraumlftiger heraus Daszlig hier in Wahrheit keineswegs ein Bruch vorliegt daszlig dieser Sphaumlrenshywechsel durchaus nicht unvermittelt geschieht wird jedoch einsichtig sobald man die Sprache der Mittelstrophen schaumlrfer ins Auge faszligt Dann zeigt sich daszlig hinter der Bedeutungsoberflaumlche der Wortaussage vorshygeformtes Sprachgut aus eben der Sphaumlre wirksam ist zu der die schlieshyszligenden Verse sich erheben

Dem Wein dem der Sprechende selbst eingedenk des irdischen Endes noch sein Dasein verschreibt setzt die zweite Strophe die Speise zur Seite Beide Trank und Speise sind fuumlr das Leben noumltig - doch offenshybar nicht im Sinne notwendiger Ernaumlhrung Das erhalten meint kein einfad1es am-Leben-erhalten sondern ein im rechten Gleise im rechshyten Leben erhalten Das Schluszligwort der Strophe laumlszligt aufmerken Lebensreise erscheint als ein deutlich vorbelastetes vorgeformtes Sprad1stuumlck der religioumlsen Sphaumlre das (ausgehend von Gen 47 9) die christliche Deutung des Lebens als einer Reise durch die Weh zum jenshyseitigen Ziele in sich faszligt Trank und Speise in solchem Bedeutungsfeld als Hilfen die Lebensreise recht zu fuumlhren sie machen hinter dem lauten Gesang des Trinkers im fuumlnften Vers die liturgische Stimme vershynehmbar die Stimme des Geistlichen der die Hostie und den Wein reicht Nehmet hin und esset Nehmet hin und trinket das staumlrke und erhalte euch im rechten Glauben zum ewigen Leben Amenlaquo 28 Von andeshyrem Trank und anderer Speise als der vom Vater dargebotenen spricht der Sohn Doch im Bekenntnis des Zechlieds klingen noch immer jene Worte nach die von der Kraft des heiligen Mahles kuumlndeten weil das 11edium der Sprad1e die mit der Abendmahlsliturgie in sie eingeganshygenen Bedeutungsenergien bewahrt und fuumlr die Dichtung verfuumlgbar macht

Von der zweiten Strophe aufgerufen bleibt dieser Bezug auch in der dritten vierten und fuumlnften lebendig Hinter dem Zecher den Essen und Trinken der Angst und Schwaumld1e entheben so daszlig er einem Riesen standshyzuhalten vennag steigt das Bild des gottgestaumlrkten David herauf der dem Goliath standhaumllt Der aumlchte Wein und das aumldlte oumll derert Kraft die Seele zum Sternengewoumllbe erhebt gewinnen neue Bedeutung Hinter dem Harfenspieler und dem Himmelsklang seines Gesanges toumlnt leise der Psalm Davids zur Harfe zu singen und in der trunkseligen Prahshylerei der Erhebung uumlber Homer und Ossian mag damit eine verborgene Rechtfertigung solcher Selbsteinschaumltzung sich andeuten Sind die uumlbershytragenen Worte und Bilder hier dem Text des raquoZechlieds so weitshy

e8 In der Abendmahlsliturgie folgt diese in verschiedenen Fassungen gebraumluchliche Spclldeformc1 auf den Einsetzungsbericht Ausfuumlhrlich daruumlber P Graff Geschichte der Aufloumlsung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschshylands I 1937 S 197 ff

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gehend anverwandelt daszlig sie als fremdes Sprachgut kaum erkennbar werden heben sie sich in der sechsten Strophe doch wieder staumlrker ab erst der Abglanz der Erleuchtungsflammen des Pfingstwunders erhellt die Reden des Trunkenen als einwundersames Reden gar in fremden Zungen

Ein Vergleich mit dem Vorbild der lateinischen Beichtparodie der dies e Durchsichtigkeit auf den hinter der eigentlichen Aussage liegenden Sprach- und Bildbereich gaumlnzlich fehlt zeigt daszlig in Buumlrgers uumlbertragung eine sehr bewuszligte Absicht waltete Man halte gegen seine sechste Strophe etwa die Verse

Mihi nunquam spiritus prophetiae datur Non nisi cum fuerit venter bene satur Cum in arce cerebri Bacchus dominatur In me Phoebus irruit ac miranda fatur

Die Grundhaltung beider Gedichte unterscheidet sich wesentlich Mit den fuumlr die ganze raquoC 0 n fes s i 0laquo verbindlichen Versen

Voluptatis avidus magis quam salutis Mortuus in anima curam gero cutis

setzt der Archipoeta Diesseits und Jenseits gegeneinander und faumlllt seine klare Entscheidung fuumlr das eine gegen das andere Buumlrger aber verschmilzt die Bereiche Getragen von den sprachgebundenen Bedeutungsenergien die aus dem christlichen in einen houmlchst weltlichen Bereich des Sprechens uumlberfuumlhrt werden erhebt der bekenntnishafte Lebensbericht des Zechers sich zum Heilsbericht zum Preis einer uumlberirdischen und das Irdische vershywandelnden Macht die am Sprechenden wirksam wird Erst diese Spuren des weihevoll-heiligen Pathos dem Weine des schwoumlrenden protzenden singenden Zechers und Schlemmers beigemischt als ein verborgenes Arom bewirken jenes Entzuumlcken das Buumlrger mit der Lektuumlre des Gedichtes seinen Freunden verhieszlig29 Sie bereiten die schluszligbeschwerende Gebetsshyformel vor und bewirken daszlig statt eines Bruches hier der Aufschwung in jene Sphaumlre erfolgt die am inneren Aufbau des Liedes schon von Anshyfang an beteiligt war So vollendet sich das bekennende Sprechen des raquoZechliedslaquo am Ende in der inneren Form einer ihrer urspriinglichen Erfuumlllung mit christlichem Gehalt entleerten Heilsverkuumlndigung

i-

Mit jener Sprechweise des Geistlichen auf welche die Schluszligbeschweshyrung deutete haumlngt diese Form der He i I sv e r k uuml n d i gun g aufs engste zusammen Sie steht in Buumlrgers Werk durchaus nicht vereinzelt die im

29 Brief an Boie 18977

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religioumlsen Sprachgebrauch ausgebildeten Formmodelle finden hier zahlshyreiche und vielfaumlltige Entsprechungen die um so deutlicher erkennbar werden als sie noch immer merkliche Spuren auch des urspruumlnglichen Gehaltes tragen Sie erweisen sich als weltliche Kontrafakturen der relishygioumlsen Vorbilder 30 von denen sie nicht allein das organisierende Formshyprinzip beziehen sondern zugleich jenen Zuwachs an Bedeutungshaumlhe und Wirkungskraft den das Modell nur dann hergibt wenn es selbst noch als bedeutungshaltig und wirkungsfaumlhig intakt bleibt Die Annaumlherung auch der inhaltlichen Erfuumlllung dieser saumlkularisierten Formen an den christshylichen Denk- und Sprachbereich befoumlrdert ja begruumlndet ihre reichhaltige Erscheinung in Buumlrgers Lyrik

Ich glaube Luther wuumlrde dies Gedicht fuumlr ein wuumlrdiges Kirchenlied anerkannt haben schrieb AWSchlegel uumlber Die Elementelaquo (B 518) Schon mit dem Eingangsvers tritt es in die Form der Lehrvershykuumlndigung Horch Hohe Dinge lehr ich dich (I 68) Und diese Lehre vom Wesen der Elemente ist mehr als bloszlige Kundgabe Sie wird Maszligstab fuumlr den Belehrten Richtschnur Grundlage fuumlr das kommende Gericht Immer dringlicher wendet sie sich im Fortgang des Gedichtes an den Houmlrer selbst Sieh hin und her und Nun pruumlfe dich bis mit den oben (S 194) genannten Schluszligversen das lehrende Sprechen ins urteilende und verdammende uumlbergeht

Eine besondere Form der lehrhaft-bekennenden Rede macht das raquoDankl iedlaquo sichtbar (I 44ff) das Buumlrger urspruumlnglich Psalm nennen wollte und zu dem Boie ihm schrieb den denkenden Christen wird es entzuumlcken und erbauen aber den groumlszligten Haufen und Pastor Zuch - (12972) Es zeigt eine ganz symmetrische Anlage Die Eingangsstrophe wendet sich lobend an Gott den Schoumlpfer sechs folgende Strophen reihen auf was der Sprechende aus seiner Hand empfangen hat (daszlig es dabei ausgerechnet um die Liebe den Wein und den Gesang geht muszligte Pastor Zuch freilich wurmen) zwei Mittelstrophen bekennen daszlig die Fuumllle der Schoumlpfergaben nicht zu zaumlhlen sei (Wer zaumlhlt die Gaben alle Wer) und wenden sich auf den Sprecher selbst wieder sechs Strophen nennen dann die leiblichen und geistigen Eigenschaften die Gott ihm verliehen hat Hinter dieser Gaben Wunderschau aber wird Luthers Erklaumlrung zum 1 Artikel des Glaubensbekenntnisses sichtbar in der es nach der FrageWas ist das heiszligt Ich glaube daszlig mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mit Leib und Seele Augen Ohren und alle Glieshyder Vernunft und alle Sinne gegeben hat Gemaumlszlig den Schluszligworten der Erklaumlrung des alles ich ihm zu danken und zu loben schuldig bin muumlndet die letzte Strophe preisend und benedeiend in den liturgisch beshy

ao Zur Begriffsbestimmung dieser Saumlkularisationskategorie vgL S 289 ff

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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didaktische Verweisungen sondern um aumlsthetische Bereicherung Das Pfarrhaus wird abgebrochen damit was brauchbar und ansehnlich scheint unter den alten Steinen fuumlr den Bau des neuen Hauses verwendet werden kann Diesen Bezug auf die religioumlse Sprache auf den Luthertext insonderheit hat Buumlrger sich bis in stilistische Einzelheiten hinein bewuszligt gemacht In seinen raquoGedanken uumlber die Beschaffenheit einer Deutschen Uumlbersetzung des Homerlaquo etwa heigt es nachdem der Verfasser die von ihm bevorzugte Anfangsstellung des Hauptzeitwortes besprochen hat Ich habe keinen Platz zu Beispielen aber man wird ihrer genug finden welche dies Alles bestaumltigen Man schlage nur Luthers Bibel-uumlbersetzung und seine uumlbrigen Schriften nach auf jeder Seite sind weld1e Die poetischen Buumlcher der heiligen Schrift hat Luther mit dem besten Geschmacke fuumlr seine Zeiten so echt Deutsch und so feurig uumlbershysetzt daszlig man daruumlber erstaunen muszlig Ein fleiszligiger Sprachforscher muumlszligte unsere neuere Sprache mit den vortrefflichsten Schaumltzen aus den Schriften dieses bewundernswuumlrdigen Mannes wovor unseren Hominibus delicatulis so ekelt bereichern koumlnnen (B 137 L)

Die Stelle dessen was zwanzig Jahre lang dem Pfarrersohn als das Houmlchste und Heiligste vorgestellt und eingepraumlgt wurde was er hinter sidl lieszlig als er das Studium der Theologie in Halle abbrach vermochten die Jurisprudenz die Geschaumlfte des Amtsverwalters die Lehrtaumltigkeit des Dozenten keineswegs einzunehmen und auszufuumlllen Seine Berufstaumltigshykeit blieb fuumlr Buumlrger lebenslang eine Plage eine Quelle des Miszligmuts und der Verzweiflung Faumlhig dazu war allein die Po esie nur das innre Seelenstuumlckchen konnte die Klaumlnge der alten Melodie in sich aufnehmen und fortfuumlhren ~

Wie er uumlber Stolberg sagt Mich duumlnkt ich lese einen Propheten wenn ich seine Prosa lese 9 so schreibt er an Boie Uumlbrigens lebe und webe ich in den Reliques Sie sind meine Morgen und AbendAndacht 10 wie er von Shakespeare erklaumlrt Ihn kann man die Bibel der Dichter nenshynen 11 so urteilt er uumlber die unerwuumlnschten Rezensenten Und wenn der Engel Gabriel vom Himmel kaumlme und ihnen Poetik predigte so wuumlrde er dennoch nichts ausrichten 12 Mit voumllliger Unbefangenheit fast moumlchte man sagen mit der Unschuld des Selbstverstaumlndlichen wird das Vokabushylar beider Bereiche vermischt Die Aufloumlsung der Kodifikation kennt keine Grenzen mehr Denn die Saumlkularisation dient hier nicht dazu den religioumlsen Text als einen weltlicher Sprache integrierten Maszligstab fuumlr menschliches Reden und Handeln wirksam zu machen sondern sie nutzt ihn nur mehr als Mittel zu ihrer Erhoumlhung und Steigerung ein Buch

o Dt Museum Juli 1777 Zu FrLStolbergs raquouumlber die Fuumllle des Herzenslaquo 10 7477 Meint Percy Reliques of Ancient English Poctry London 1765 11 An Boie 15976 12 An Boie 31278

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wirft Licht auf das andere Buch aber - es ist nicht mehr das Licht der Erkenntnis dessen was gut und boumlse sei (Vgl S148 f)

Wie auf die Werke der Dichtkunst so faumlllt der Glanz dieses geborgten Lichtes auch auf die Dichter selbst Was Christus uumlber alle menschliche Macht und Groumlszlige erhebt wird jetzt auch dem Poeten zugesprochen sein Reich ist nicht von dieser Welt 13 und die Verheiszligungen die dem Chrishysten gegeben sind wandeln in der uumlbertragung ihre Formen nur gerade so viel wie noumltig ist um fuumlr den neuen Anwendungsbereidl braudlbar zu sein Einem unbekannten Empfaumlnger schreibt Buumlrger am 621772 meine Briefe sollen Ihnen hinfort wenigstens alle vier Wochen jenen biblischen Spruch parodieren Bleib den Musen getreuuml bis in den Tod so wird dir Apoll die Krone des ewigen Nachruhms geben Parodieren shydas meint hier nichtmiddotdie Entstellung den Entwurf eines scherzhaften oder boumlsartigen Gegenbildes sondern Akkomodation uumlbertragung und Anshypassung Es richtet sich nicht gegen den vorgegebenen Text aber es nimmt ihn auch nicht mehr ernst in seinem unbedingten und ausschlieszligenshyden Anspruch Schon deutet es in die Richtung einer uumlberarbeitung des Originals nach dem verbesserten Geschmack unsrer Zeit in einer neuen Einkleidung und Ordnung der Gedanken (v gl u S 269Anm 2) Dieser ) verbesserte Geschmack freilich ist kaum mehr als ein veraumlndertes thematisches Interesse In Wahrheit fehlt diesen uumlbertragungen geshylegentlich selbst der gute Geschmack und es kennzeichnet zugleich die

( uneingeschraumlnkte Verfuumlgbarkeit des religioumlsen Sprachgutes wenn Buumlrger auch auf betraumlchtliche Houmlhenunterschiede zwischen Ursprungs- und Anshywendungsbereich kaum mehr Ruumlcksicht nimmt An Goeckingk der ihm aus seiner fatalen aumluszligeren Situation heraushelfen will schreibt er anshystandslos wenn Sie mein Erloumlser seyn und mich den Musen wiedershyschenken koumlnnten - Sie wuumlrden mir das seyn was der Engel dem geshyfangenen Apostel in der Apostel Geschichte war 14 Ein gewisses Vershygnuumlgen am Miszligbrauch des Vorbildes und die ganz ernsthafte Absicht dem Sachverhalt Nachdrud und Gewicht zu geben sind hier wohl kaum zu trennen Aber ohne Zweifel steht dahinter ein Wertbewuszligtsein dem kein Preis zu hoch ist wenn es gilt den Anspruch und die Wuumlrde des poetischen Amtes zu verkuumlnden und durchzusetzen

So heiszligt es in den raquoGedanken uumlber die Beschaffenheit einer Deutschen uumlbersetzung des Homerlaquo Statt aller Untersuchunshygen uumlber diesen Punct koumlnnte der Streit wohl nicht angenehmer fuumlr den Zuschauer beigelegt werden als wenn der Genius unserer Literatur einen Mann von Genie und Kenntniszlig erweckte welcher zwischen die Zanshy

13 An Bollmann 22790 14 29675 Aus dem Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk hrsg A Sauer

Vjs f Litgesch III 1890 hier S 68

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kenden mit einer Uumlbersetzung traumlte uumlber welche man schreiben koumlnnte Der Nachwelt und der Ewigkeit heilig (B 135) Dem aufmerkshysamen Leser kann der Hintergrund der kleinen Szene nicht verborgen bleiben die hier entworfen wird Der Uumlbersetzer-Dichter er erscheint als ein neuer Moses welcher vom Gott seines Volkes erweckt unter die Israeliten tritt mit jenen Gebotstafeln die der christlichen Nachwelt und der Ewigkeit heilig sind (Selbst das Wort von den Zankenden die um die Homer-Uumlbersetzung miteinander im Streite liegen scheint auf den biblischen Bericht zu deuten Bei der Ruumlckkehr vom Sinai spricht Josua zu Moses Es ist ein Geschrei im Lager wie im Streit Er antshywortete Es ist nicht ein Geschrei gegen einander derer die obliegen und unterliegen sondern ich houmlre ein Geschrei eines Singetanzes Ex 3217 f)

Buumlrger selbst ist es der nach diesem Vorwort mit Proben seiner jamshybischen Lrbersetzung unter die Zankenden tritt - aber er zieht es vor dem Anspruch des Moses-Bildes auszuweichen Das bleibt dem Vollender uumlberlassen Fuumlr die eigene Person und das eigene Werk waumlhlt er ein anderes Modell Wenn ich gleich derjenige selbst nicht bin auf welchen unser Volk hoffet (denn ich muumlszligte den unversc~aumlmtesten Knabenstolz besitzen wenn ich mir einbildete daszlig ichs waumlre) so kann ich doch vielleicht zu der Ehre eines Vorlaumlufers dessen der kommen wird gelangen Auf den Worten des neutestamentlichen Vorlaumlufers Johannes des Taumlufers der die messianische Erwartung des Volkes von sich selber abweist und auf jenen Groumlszligeren lenkt der kommen wird gruumlndet die Haltung des raquoIliaslaquoshyObersetzers aus ihnen gewinnt sie dem eigenen Versuch dem Probestuumld~ Bedeutsamkeit und Gewicht Eine Entsprechung zur Saumlkularisationsform figuraler Gestaltung ist nicht zu verkennen Aber wenngleich hier wie dort eine dichterische Figur dem vorbildlichen Modell gleichgeformt wird J

geht es doch dort darum sie durchzusetzen und zu rechtfertigen auf der Grundlage des Imitatio-Denkens - hier aber sie zu steigern und zu ershyhoumlhen allein um ihrer selbst willen Der Dichter erscheint als Gottesmann weil er in dieser Gestalt dem Profanen enthoben ist

In der Behandlung aller Fragen die ihm wirklich am Herzen liegen greift Buumlrger zuruumlck auf den Sprach- und Formenschatz der ihm jahreshylang als Ausdrucksvorrat fuumlr das Wesentliche und Bedeutsame vermittelt wurde Bis in die Uumlberlegungen zum dichterischen Schaffensprozeszlig fuumlhrt das die deutlich unter der praumlgenden Kraft des Berichtes vom goumlttshylichen Schoumlpfungsakt stehen Jeder Kuumlnstler schreibt er an Schushybart sollte es sich daher zur Maxime madlen keines seiner Verke eher unter fremde Augen treten zu lassen als bis er nach Jahrelangem Anshyschauen alles dessen so er gemacht sagen koumlnnte Siehe da es ist alles sehr gut 15

15 12992 - Vgl die Goumlttliche Zufricdenhcits-Formel Geni 31

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Nichts anderes als eine uumlbertragung des reformatorischen Verhaumlltnisses zur Schrift und seine Anpassung an den Umgang mit dem dichterischen Vort ist sein Verantwortungsgefuumlhl und seine Treue gegenuumlber dem unshyverriickbaren Text ja der Glaube daszlig am Buchstaben das Heil haumlngen koumlnne Gleichguumlltig welcher Grad von bewuszligter Einsicht in diese Zushysammenhaumlnge auch vorgelegen haben mag Buumlrgers Aumluszligerungen uumlber solche Fragen speisen sich unablaumlssig aus der religioumlsen Sprachquelle So begleitet er Anfang 1784 die uumlbersendung eines Manuskriptes an Goeckingk mit der leidenschaftlichen Ermahnung Houmlrt ihr daszlig also nur nicht ein Puumlnctchen zu geschweige denn ein Buchstab oder gar ein Wort fehlt Ihr seht sonst Euumlres Ungluumlcks kein Ende weder hier zeitlich noch dort ewig

Die fuumlr Buumlrger so bezeichnende Neigung zur unermuumldlichen oft geradeshyzu kleinlich anmutenden uumlberarbeitung und Ausfeilung seiner Gedichte wird man in unmittelbarem Zusammenhang sehen muumlssen mit jener Heishyligung der Werktreue die der Protestantismus entwickelt hat und es ist charakteristisch fuumlr die Denkweise des ganzen Buumlrgerschen Freundesshykreises wenn Meyer ihm zu einigen Gedichten die er fuumlr den Musenshyalmanach schickt am 971793 entschuldigend schreibt sie haumltten noch Mangel der Feile die vor Gott und Menschen angenehm ist

Solche Einzelbeobachtungen und man koumlnnte sie beliebig vermehren machen deutlich wie folgerichtig der Weg von Molmerswende nach Halle seine Fortsetzung verlangt auch wenn er nun in andere Gefilde fuumlhrt wie tief der Erbzwang den Pfarrersohn bestimmt uumlberdem bin ich einmal ein Theologe gewesen schreibt er an Goeckingk und von der Zeit haumlngt mir illud Theologorum decantatissimum Dic et servasti animam immer noch an 16 Schon 1772 erklaumlrte er sich gegen seine bisherige wolshyluumlstige und taumlndelnde Dichtungsart von allen moralischen Sentimens entbloumlszligt weil er meinte damit verloumlre die Poesie ihr erhabenes Amt Lehrerin der Menschen zu seyn 17

Im engsten Zusammenhang damit muszlig nun Buumlrgers Glaubensartikel von der P 0 pul a ri t auml t der Poesie gesehen werden Denn wenn von der kirchlichen Wortverkuumlndigung her das Amt Lehrerin der Menschen zu seyn auf die Dichtung uumlbertragen wird so faumlllt ihr zugleich die Pflicht zu ins Breite zu wirken einem unbegrenzten Leserkreise zugaumlnglich und verstaumlndlich zu sein Buumlrger nennt als seine Maxime wenn nicht Alle n dennoch den Me ist e n - versteht sich ohne weder sich selbst noch der Dichtkunst etwas zu vergeben - zu gleicher Zeit zu gefallen 18 Nur

1G 3675 Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk S65 11 Brief an Boie 2 11 72 lB Die Problematik der Popularitaumlt die an dem eingeschobenen einschraumlnkenden

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dieGuumlnstlinge die dieses Ziel erreichen sind die gewaltigen Herzensshybezaumlhmer und Zauberer die ihre guumlldenen Staumlbe nie vergebens zucken und uumlber jedes Zei tal ter in immer lebendiger Kraft herrschen Nie verra uchen die Opfer auf ihren Altaumlren und unvergaumlnglich bluumlhen ihre Kraumlnze (B 178 f) Nur sie sprechen in Vollmacht Die Opferaltaumlre und der Bezug auf jene Staumlbe die vor dem Pharao von den aumlgyptischen Zauberern vergeblich dann aber von Moses und Aaron nie vergebens ausgereckt wurden 19

begruumlnden eine Priesterschaft der Wortverwaltung zu bestaumltigen die Wahrheit des Artikels woran ich festiglich glaube und welcher die Axe ist woherum meine ganze Poetik sich drehet Alle darstellende Bildshynerei kann und soll volksmaumlszligig seyn Denn das ist das Siegel ihrer Vollshykommenheit 20

Dieser Artikel von der Popularitaumlt der Dichtung Buumlrgers Glaubensshybekenntnis empfaumlngt in der Tat einen entscheidenden Anstoszlig aus der Predigt- und Seelsorgehaltung der er unter der vaumlterlichen Kanzel beshygegnete Wenn er scherzhaft an Meyer schreibt ein gottseliges Comite untersuche woher es wohl komme daszlig der Gottesdienst in der Unishyversitaumltskirche so sparsam besucht werde Ich denke mit Recht wird Euer gepredigtes Evangelium als eine der vornehmsten Ursachen oben an geshystellt werden (121 89) so liegt dem ganz der gleiche Gedanke zushygrunde der auch die Wirkungspoetik seiner Abhandlungen zur VolksshyPoesie bestimmt Es ist das saumlkularisierte Predigerethos das aus dem leishydenschaftlichen raquoHerzensausguszliglaquo spricht Durch Popularitaumlt mein ich soll die Poesie das wieder werden wozu sie Gott erschaffen und in die Seelen der Auserwaumlhlten gelegt hat Lebendiger Odem der uumlber aller Menschen Herzen und Sinnen hinweht Odem Gottes der vom Schlaf und Tod aufweckt Die Blinden sehend die Tauben houmlrend die Lahmen gehend und die Aussaumltzigen rein macht Und das Alles zum Heil und Frommen des Menschengeschlechts in diesem Jammerthaie (B 321) 21

Die Beobachtung solcher Umsetzungsvorgaumlnge die Buumlrgers theoretische Aumluszligerungen gedanklich und sprachlich bestimmen leitet zu unserer eigentlichen Frage nach der Bedeutung und Beschaffenheit der Saumlkularishysationsphaumlnomene in seinem d ich t e r i s c he n Werk

(wenn nicht gar aufhebenden) Satz zu entwickeln waumlre kann hier nicht ausgefuumlhrt werden Sie kommt in Schillers und A W Schlegels Buumlrger-Abhandlungen zur Sprache

Vgl Ex7-10 20 B S324 (Vorrede zur Ausgabe der Gedidlte 1778) 2 Ober eine ganz entsprechende neue Einstellung zum Volksganzen raquowelche die

seelsorgerliche Haltung des Vaters unmittelbar fortzusetzen scheint handelt H Schoumlffshyler Das literarische Zuumlrich 1925 S42f

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Unmittelbare und ausdruumlckliche biographische Zeugnisse fuumlr den Einshyfluszlig des religioumlsen Schrifttums gibt es kaum Immerhin finden sich einige Hinweise in den Aufzeichnungen Althofs die auf Buumlrgers eigenen freishylich sehr spaumlten muumlndlichen Auszligerungen beruhen Durch sie wird uumlbershyliefert daszlig der Junge bis in sein zehntes Lebensjahr hinein durchaus nicht mehr lernte als Lesen und Schreiben wohl aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse behielt was er sowohl in der Bibel als im Gesangshybuche las ja daszlig er wie er meinte das ganze Gesangbuch ohne Schwieshyrigkeit auswendig gelernt haben wuumlrde (B 431) Von den houmlchst aufshyschluszligreichen Einzelheiten dieser fruumlh gelegten Bibel- und Gesangbuch- kenntnisse muszlig spaumlter die Rede sein Hier wird zunaumlchst nur Althofs Mitteilung wichtig daszlig schon der Knabe ohne durch andere Muster als welche Bibel und Gesangbuch ihm lieferten dazu aufgefordert zu werden anfing Verse zu machen ehe er noch die allerersten Elemente der Grammatik erlernt hattelaquo (B 431) Das ist gewiszlig nicht so zu verstehen als habe der junge Verseschmied damals noch kein grammatisch fehlershyfreies Deutsch sprechen oder schreiben koumlnnen Grammatik lernte man an der Fremdsprache Buumlrger begegnete ihr also im lateinischen Untershyricht - und cr konnte ungeachtet aller Schlaumlge in zwei Jahren noch nicht Mensa decliniren (B 431) Diese Randbemerkung macht einsichtig

( daszlig es sich bei den poetischen Anregungen durch Bibel und Kirchenlied um ganz unreflektierte dem kontrollierenden Sprach- und Kunstbewuszligtshysein entzogene Vorgaumlnge handelt Das deckt sich voumlllig mit Althofs Aufshyzeichnung Buumlrger versicherte ferner So wenig diese Fertigkeiten als irgend eine andere Kenntniszlig seines nachfolgenden Lebens bis in sein maumlnnliches Alter haumltten ihm die geringste Anstrengung oder Muumlhe geshykostet es waumlre auch sehr wenig was er von Lehrern und aus Buumlchern geshylernt haumltte da es ihm immer in den Lehrstunden an Aufmerksamkeit und auszliger denselben an Geduld gefehlet ein Buch anhaltend aus zu lesen Er muumlszligte sich oft innerlich wundern wenn er einen Blick in die Vorrathsshykammer seiner Kenntnisse thaumlte wie und woher der Plunder alle hinein gekommen Das Meiste waumlre ihm hier und da und dort und uumlberall wie VOn selbst gleichsam angeflogen (B 431) Nichts konnte ihm so sehr von selbst anfliegen wie die Worte Bilder und Formen der heiligen Texte die von den Jugendjahren im vaumlterlichen Pfarrhaus bis zum Abbruch des theologischen Studiums in Halle sein taumlglicher Umgang waren Was aber fuumlr ihre Aufnahme gilt ist nicht weniger guumlltig fuumlr ihre Verwendung die Saumlkularisationsvorgaumlnge entziehen sich weithin dem Bewuszligtsein des Schreibenden Durch ihn hindurch aber oft ohne seine Absicht und ohne sein Dazutun wirkt hier die religioumlse Sprache auf das Kunstwerk ein

Der eigentliche Zugang zu diesen Phaumlnomenen kann deshalb nicht durch die Beschaumlftigung mit der Person des Autors gewonnen werden

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welches Forschers Geist hat Buumlrger selbst erklaumlrt kann sich immer so tief und innig in den Geist des Kuumlnstlers versenken um etwas mit Sicherheit auszumachen welches dieser oft selbst nicht recht weiszlig naumlmshylich was fuumlr Bestinunungsgruumlnde jeglichen seiner Schritte zum Ziele leitet haben 22 Nur im Ziele selbst im Zustandegekommenen WIrd wohl der eine oder andere Bestimmungsgrund erkennbar der Weg dahin fuumlhrt also nicht uumlber die Versenkung in den Geist des Kuumlnstlers sondern uumlber die Betrachtung des Kunstwerkes selbst

In dem 1782 entstandenen kleinen Gedicht raquoDer klug e Heldlaquo23 wird erzaumlhlt wie ein junger Soldat um der Gefahr zu entgehen am Tag vor der Schlacht einen Urlaub erbittet angeblich damit sein sterbender Vater ihm noch den Abschiedskuszlig geben koumlnne Die letzten Verse lauten

Sehr wohl versetzt der Chef und laumlchelt vor sich nieder Reis hurtig ab mein Sohn Denn nach der Bibel muszlig Dein Vater nach Gebuumlhr von dir geehret werden Auf daszlig dirs wohlergeh und du lang lebst auf Erden

Von verschiedenen Seiten aus wird einsichtig welch besonderes Gewicht dieser Schluszlig traumlgt ja daszlig das ganze Gedicht eigentlich auf ihn hin anshygelegt ist 24

bull Schon der Gespraumlchsablauf weckt eine Spannung auf die Beshygruumlndung fuumlr die Zustimmung des Chefs der den Vorwand ja durchshyschaut Zugleich trennt das Druckbild durch einen Gedankenstrich und folgenden Sinnabschnitt die hier angefuumlhrten letzten Zeilen von den vorshyangehenden und nachdem schon zuvor die wechselnd vier- und fuumlnfshyhebigen Jamben sich zweimal gleichsam praumlludierend ins alexandrinische Maszlig vorgewagt hatten gewinnt der Schluszligteil in dem die Alexandriner sich voumlllig durchgesetzt haben auch metrische Bedeutungssteigerung Entshyscheidend aber ist der Pointencharakter des Ausgangs und dessen eigentshylicher Uberraschungseffekt entsteht durch die ironische Beziehung des vierten Gebotes auf die Absichten des Soldaten Den wichtigsten Beitrag zur Schluszligbeschwerung des Gedichtes leisten diese beiden zitierenden len mit denen ein vorgeformtes und vorbelastetes Redestuumlck als schwerer Endakzent dem vorangehenden Berichte aufgesetzt wird

~2 Ueber die Wirkung des Schleiers in Werken der darstellenden Kunstlaquo TI S 340 23 Die Gedichte werden im folgenden zitiert nach der Ausgabe von E COllsentius

2 Bde 1914 Hier I S238 21 VgL E Staigers Begriff der nproblematischen Dichtung (Grundbegriffe der

Poetik LAufl 1951 S162ff)

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Schluszligbeschwerungen sind fuumlr Buumlrgers Lyrik charakteristisch Sie hershyvorzubringen erscheint die eben beobachtete Verbindung eines praumlforshymierten Sprachstuumlckes mit vorausgehenden freien Formationen beshysonders geeignet - und es ist bemerkenswert daszlig der strukturell so beshydeutsame pointierte Ausgang tatsaumlchlich in nahezu einem Drittel aller Gedichte Buumlrgers auf den christlichen Sprachbereich zuruumlckweist

Wo seine Gedichtausgaumlnge einen formelhaften Redeschluszlig woumlrtlich oder nur geringfuumlgig abgewandelt uumlbernehmen wird die Endbetonung am spuumlrbarsten Aus einer Fuumllle von Beispielen koumlnnte man dafuumlr nennen

Gott lass es dem Edlen doch wohl ergehn Das bet ich herzinniglich Amen (I 207)

Gott behuumlte liebe Seele Gott behuumlte dich davor (I 32)

o Paradiesesglaube Erhalt und staumlrke mich (I 38) Komm Von hinnen laszlig uns scheiden Eia waumlren wir schon da - (I 68) Dein Name sei gebenedeit Von nun an bis in Ewigkeit (I 45)

Der jeweilige Ursprungsort dieser Schluszligformeln bedarf keiner Erlaumluteshyrung Was sie - in einen neuen Zusammenhang versetzt - fuumlr den Aufshybau des Gedichtes leisten koumlnnen zeigt sich im ersten Beispiel (raquoDie Kuhlaquo) mit der Hervorhebung des Erzaumlhlers der diesen Epilog spricht und mit der Zusammenfassung des Gedichtes zur geschlossenen Form im letzten Beispiel (raquoDankliedlaquo) in dem die schlieszligenden Zeilen des Gedichtes die der Anfangsstrophe wieder aufnehmen und die preisende Aufreihung der Gottesgaben mit einer aus dem liturgischen Ursprungsort der Formel heruumlberwirkenden Kraft zusammengreifen und erfuumlllen im Benedeien des goumlttlichen Gebers Von solchen Leistungen wird noch die Rede sein

Aumlhnliche Wirkungen entfalten die Schluumlsse in denen Bibelzitate parashyphrasiert und auf die vorangehenden Verse bezogen werden In raquoSchoumln Suschenlaquo etwa geben die letzten Zeilen

Drum Lieb ist wohl wie Wind im Meer Sein Sausen ihr wohl houmlrt Allein ihr wisset nicht woher Wiszligt nicht wohin er faumlhrt (I 155)

die aus Joh 3 8 hervorgehen Antwort auf die Eingangsfrage des Geshydichtes durch sie erfuumlllt es sich in der inneren Form von Raumltselstellung und Raumltselloumlsung Vergleichbares bewirkt der Schluszlig von raquoDie Eleshy

13 7439 Schoumlne Saumlkularisation (Palaestra 226) 193

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mentelaquo nachdem die Liebe als allbewegende Triebkraft der Natur geshyschildert worden ist zieht der Ausgang die Lehre fuumlr den lieblos geshywordenen Menschen

Du bist ein eiteltoumlnend Erz Bist leerer Klingklang einer Schelle Und Tosen einer Wasserwelle (I 70)

Die auffallend haumlufige Verwendung solcher zusammenfassenden abshyrundenden aufloumlsenden erklaumlrenden pointierenden Schluszligbeschwerunshygen die der Dichter dem christlichen Sprachbereich entlehnt muszlig durchshyaus als Charakteristikum Buumlrgerseher Gedichtsstruktur verstanden werden

Ober die Bestimmung ihrer sprachlichen Herkunft hinaus sind diese beschwerten Ausgaumlnge in einigen Verwendungs faumlllen nun auch auf eine genauer bestimmbare Form des Sprechens zu beziehen Da endet etwa Die Entfuumlhrunglaquo mit den Versen

So segne dann der auf uns sieht Euch segne Gott von Glied zu Glied Auf Wechselt Ring und Haumlnde Und hiermit Lied am Ende (I 181)

Das ist die Spredlweise des Geistlichen und in der Tat nimmt ja hier am Ende des houmldlst wel dichen Balladengeschehens der Vater des entfuumlhrshyten Fraumluleins mit Segen und Ringwechsel eine priesterliche Handlung vor Diese personale Gleichung macht aufmerksam auf eine grundsaumltzliche typologische Entsprechung zwisdlen der Schluszligbeschwerung des Gedichshytes und geistlidler Redeweise Nicht nur das durchgehend religioumls beshystimmte liturgische Sprechen endet mit einer gewichtigen Schluszligformell des Gebetes Segens oder Lobpreises auch die nicht mehr formgebundene freie Rede das Gespraumlch die Ansprache so zu schlieszligen daszlig weltlidles Sprechen am Ende durch einen religioumlsen Bezug ein praumlformiertes Redeshystuumlck erhoumlht gekroumlnt gewichtig beschlossen wird ist fuumlr den Geistlichen offenbar bis heute bezeichnend

Diese durch vorgegebene Schluszligformeln charakterisierte Redeweise zeigt ganz die gleiche Grundform die in der Untersuchung der Buumlrgershysehen Gedichte sichtbar wird - wie ja jene Gepflogenheit an weltliche Rede einen oft geradezu gewaltsam angehaumlngten formelhaft-religioumlsen Schluszlig zu fuumlgen selbst in dem oben genannten Briefausgang noch spuumlrbar wird ich heuumlrathete wol ein Kuh wenn sie nur an der bewusten Vershynunft keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte didl bei dieser Philoshysophie Amen Amen GABuumlrger Unter diesem Blickwinkel gewinnt die Stelle geradezu karikierende Zuumlge

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Beispielhaft fuumlr eine solche Analogie der Sprechweisen scheinen etwa die Schluumlsse

Die Liebe segne dich und sie Mit ihrem besten Segen (148) Die Liebe sagt Verdammet nicht Daszlig man nicht Euch verdammet (I 187) Diesen Trinker gnade Gott Lass ihn nicht verderben (I 73)

Sie aber deuten auf eine Analogie-Antithese zwischen dem Pfarrer als dem Diener der christlichen Kirche und dem Poeten der eines seiner Geshydichte mit den Worten schlieszligt

Doch wisse du Apolls Religion Schenkt dir die Glaubenspflicht und dringt auf gute

Werke (I 248) Als Gottesdienst der Wortverwaltung hat Buumlrger sein dichterisd1cs Amt verstanden

Bin geweiht zum Priester des Apoll Mit des Gottes Kranz und goldnem Stabe Seines Geistes bin ich froh und voll Warum nicht auch frommer Wundergabe - (I 94)

Und am Ende des Gedichtes (raquoGeweih tes Ang ebind e zu Lo uis ens Geburtstagelaquo) tritt diese vaumlterliche Mitgift diese Sprechhaltung des Geistlichen ganz ausdruumlcklich ins Wort

Freud und Lust von keinem Harm vergaumlllt Sei durch dich Ihr in die Brust gegossen Freud an Gottes ganzer weiter Welt Mich den Priester auch mit eingeschlossen

shy

Die Beobachtung der Schluszligbeschwerung lenkt auf die Frage nach ihrer Integration in das Gesamtgefuumlge des Gedichtes und nach der Wirkung die sie dort entfaltet raquoDer kluge Heldlaquo kann darauf kaum schon ershyschoumlpfende Antwort geben die massive Pointicrung die hier durch den Endakzent zustande kommt ist nur eine unter vielen Moumlglichkeiten seiner Leistung Weit komplizierter liegen diese Verhaumlltnisse in Buumlrgers Nachshydichtung der raquoCo n f ess i 0laquo des Archipoeta 25

25 Das Gedicht war Buumlrger in einer dem Walter Mapes zugeschriebenen Fassung beshykannt geworden (vgl seinen Brief an Sprickmann vom 21077) deutliche Bezuumlge zeigen sich zu seinen Strophen 12 13 16-19 Zitiert wird die lat Vorlage nach dem auf 5 Strophen verkuumlrzten Abdruck den Buumlrger in der Ausgabe seiner Gedichte VOll

1778 auf S 290 f gegeben hat (Ausgenommen die beiden dort nicht mitgeteilten hier auf S199 zitierten Verse Voluptatis avidus laquo)

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Zechlied

Im will einst bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Alles meinen Wein nur nimt Lass im frohen Erben Nam der letzten Olung soll Hefen nom mim faumlrben Dann zertruumlmmre mein Pokal In zehntausend Smerben Jedermann hat von Natur Seine sondre Weise Mir gelinget jedes Werk Nur nam Trank und Speise Speis und Trank erhalten mim In dem remten Gleise Wer gut smmiert der faumlhrt aum gut Auf der Lebensreise Im bin gar ein armer Wimt Bin die feigste Memme Halten Durst und Hungerqual Mim in Angst und Klemme Smon ein Knaumlbchen smuumlttelt mim Was im aum mim stemme Einem Riesen halt im Stand Wann im zem und smlemme Aumlmter Wein ist aumlmtes 01 Zur Verstandeslampe Gibt der Seele Kraft und Schwung Bis zum Sternenkampe Witz und Weisheit dunsten auf Aus gefuumlllter Wampe Baszlig gluumlckt Harfenspiel und Sang Wann im brav smlampampe Nuumlchtern bin im immerdar Nur ein Harfenstuumlmper Mir erlahmen Hand und Griff Welken Haupt und Wimper Wann der Wein in Himmelsklang Wandelt mein Geklimper Sind Homer und Ossian Gegen mim nur Stuumlmper

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Nimmer hat durch meinen Mund Hoher Geist gesungen Bis ich meinen lieben Bauch Weidlich vollgeschlungen Wann mein Kapitolium Baechus Kraft erschwungen Sing und red ich wundersam Gar in fremden Zungen Drum will ich bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Nach der letzten oumllung soll Hefen noch mich faumlrben Engelchoumlre weihen dann Mich zum Nektarerben Diesen Trinker gnade Gott

Lass ihn nicht verderben (1 72 f)

Da wird mit der ersten Strophe das Bekenntnis zu einer Lebensfuumlhrung abgelegt und geradezu beschworen die selbst eingedenk des Todes noch ganz im Irdischen verharrt Fuumlnf folgende Strophen dann begruumlnden den Entschluszlig den die erste verkuumlndete auch ihre Aussagen bleiben durchshyaus im Bereiche des weingeweihten Diesseits Die letzte aber tritt nachshydem sie zunaumlchst das Bekenntnis der ersten aufgenommen in eine durchshyaus andere Sphaumlre Zwar setzt auch dort das irdische Trinkerleben sich fort aber der Spott der eben noch die letzte oumllung traf der Entschluszlig der ersten Strophe im Tode den Pokal zu zertruumlmmern lassen dieses Ende nicht erwarten

Ut dicant eum venerint angelorum chori Deus sit propitius huic potatori

heiszligt es in der raquoC 0 n fes s i 0laquo und solcher Gesang der Engelchoumlre beshyschlieszligt nun auch Buumlrgers koumlnigliches Sauflied 26 ein im religioumlsen Sprachbereich ausgebildetes Gebet um Gnade fuumlr den Suumlnder 27 - an dessen Stelle nun der Trinker steht - setzt den kraumlftigen Endakzent Wenn so unvermittelt das Sauflied in die Gebetsformel muumlndet scheint sich im Wortschatz in der Sprechhaltung im Hinblick auf die Geschehnisshyebene ein bruchhafter Wechsel zu vollziehen der die Einheitlichkeit des ganzen Gedichtes in Frage stellt Zwar folgen Vers- und Strophenbau zushygleich mit dem Reimschema der gtConfessiolaquo entlehnt ebenso wie die rhythmische Anlage des Liedes gleichbleibenden Aufbauprinzipien und stiften so eine formale Geschlossenheit des Ganzen aber gerade das treibt

28 Brief an Boie 18977 27 Vgl Lue1B 13 Deus propitius esto mihi peceatori

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den Umbruch der Schluszligbeschwerung nur um so kraumlftiger heraus Daszlig hier in Wahrheit keineswegs ein Bruch vorliegt daszlig dieser Sphaumlrenshywechsel durchaus nicht unvermittelt geschieht wird jedoch einsichtig sobald man die Sprache der Mittelstrophen schaumlrfer ins Auge faszligt Dann zeigt sich daszlig hinter der Bedeutungsoberflaumlche der Wortaussage vorshygeformtes Sprachgut aus eben der Sphaumlre wirksam ist zu der die schlieshyszligenden Verse sich erheben

Dem Wein dem der Sprechende selbst eingedenk des irdischen Endes noch sein Dasein verschreibt setzt die zweite Strophe die Speise zur Seite Beide Trank und Speise sind fuumlr das Leben noumltig - doch offenshybar nicht im Sinne notwendiger Ernaumlhrung Das erhalten meint kein einfad1es am-Leben-erhalten sondern ein im rechten Gleise im rechshyten Leben erhalten Das Schluszligwort der Strophe laumlszligt aufmerken Lebensreise erscheint als ein deutlich vorbelastetes vorgeformtes Sprad1stuumlck der religioumlsen Sphaumlre das (ausgehend von Gen 47 9) die christliche Deutung des Lebens als einer Reise durch die Weh zum jenshyseitigen Ziele in sich faszligt Trank und Speise in solchem Bedeutungsfeld als Hilfen die Lebensreise recht zu fuumlhren sie machen hinter dem lauten Gesang des Trinkers im fuumlnften Vers die liturgische Stimme vershynehmbar die Stimme des Geistlichen der die Hostie und den Wein reicht Nehmet hin und esset Nehmet hin und trinket das staumlrke und erhalte euch im rechten Glauben zum ewigen Leben Amenlaquo 28 Von andeshyrem Trank und anderer Speise als der vom Vater dargebotenen spricht der Sohn Doch im Bekenntnis des Zechlieds klingen noch immer jene Worte nach die von der Kraft des heiligen Mahles kuumlndeten weil das 11edium der Sprad1e die mit der Abendmahlsliturgie in sie eingeganshygenen Bedeutungsenergien bewahrt und fuumlr die Dichtung verfuumlgbar macht

Von der zweiten Strophe aufgerufen bleibt dieser Bezug auch in der dritten vierten und fuumlnften lebendig Hinter dem Zecher den Essen und Trinken der Angst und Schwaumld1e entheben so daszlig er einem Riesen standshyzuhalten vennag steigt das Bild des gottgestaumlrkten David herauf der dem Goliath standhaumllt Der aumlchte Wein und das aumldlte oumll derert Kraft die Seele zum Sternengewoumllbe erhebt gewinnen neue Bedeutung Hinter dem Harfenspieler und dem Himmelsklang seines Gesanges toumlnt leise der Psalm Davids zur Harfe zu singen und in der trunkseligen Prahshylerei der Erhebung uumlber Homer und Ossian mag damit eine verborgene Rechtfertigung solcher Selbsteinschaumltzung sich andeuten Sind die uumlbershytragenen Worte und Bilder hier dem Text des raquoZechlieds so weitshy

e8 In der Abendmahlsliturgie folgt diese in verschiedenen Fassungen gebraumluchliche Spclldeformc1 auf den Einsetzungsbericht Ausfuumlhrlich daruumlber P Graff Geschichte der Aufloumlsung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschshylands I 1937 S 197 ff

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gehend anverwandelt daszlig sie als fremdes Sprachgut kaum erkennbar werden heben sie sich in der sechsten Strophe doch wieder staumlrker ab erst der Abglanz der Erleuchtungsflammen des Pfingstwunders erhellt die Reden des Trunkenen als einwundersames Reden gar in fremden Zungen

Ein Vergleich mit dem Vorbild der lateinischen Beichtparodie der dies e Durchsichtigkeit auf den hinter der eigentlichen Aussage liegenden Sprach- und Bildbereich gaumlnzlich fehlt zeigt daszlig in Buumlrgers uumlbertragung eine sehr bewuszligte Absicht waltete Man halte gegen seine sechste Strophe etwa die Verse

Mihi nunquam spiritus prophetiae datur Non nisi cum fuerit venter bene satur Cum in arce cerebri Bacchus dominatur In me Phoebus irruit ac miranda fatur

Die Grundhaltung beider Gedichte unterscheidet sich wesentlich Mit den fuumlr die ganze raquoC 0 n fes s i 0laquo verbindlichen Versen

Voluptatis avidus magis quam salutis Mortuus in anima curam gero cutis

setzt der Archipoeta Diesseits und Jenseits gegeneinander und faumlllt seine klare Entscheidung fuumlr das eine gegen das andere Buumlrger aber verschmilzt die Bereiche Getragen von den sprachgebundenen Bedeutungsenergien die aus dem christlichen in einen houmlchst weltlichen Bereich des Sprechens uumlberfuumlhrt werden erhebt der bekenntnishafte Lebensbericht des Zechers sich zum Heilsbericht zum Preis einer uumlberirdischen und das Irdische vershywandelnden Macht die am Sprechenden wirksam wird Erst diese Spuren des weihevoll-heiligen Pathos dem Weine des schwoumlrenden protzenden singenden Zechers und Schlemmers beigemischt als ein verborgenes Arom bewirken jenes Entzuumlcken das Buumlrger mit der Lektuumlre des Gedichtes seinen Freunden verhieszlig29 Sie bereiten die schluszligbeschwerende Gebetsshyformel vor und bewirken daszlig statt eines Bruches hier der Aufschwung in jene Sphaumlre erfolgt die am inneren Aufbau des Liedes schon von Anshyfang an beteiligt war So vollendet sich das bekennende Sprechen des raquoZechliedslaquo am Ende in der inneren Form einer ihrer urspriinglichen Erfuumlllung mit christlichem Gehalt entleerten Heilsverkuumlndigung

i-

Mit jener Sprechweise des Geistlichen auf welche die Schluszligbeschweshyrung deutete haumlngt diese Form der He i I sv e r k uuml n d i gun g aufs engste zusammen Sie steht in Buumlrgers Werk durchaus nicht vereinzelt die im

29 Brief an Boie 18977

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religioumlsen Sprachgebrauch ausgebildeten Formmodelle finden hier zahlshyreiche und vielfaumlltige Entsprechungen die um so deutlicher erkennbar werden als sie noch immer merkliche Spuren auch des urspruumlnglichen Gehaltes tragen Sie erweisen sich als weltliche Kontrafakturen der relishygioumlsen Vorbilder 30 von denen sie nicht allein das organisierende Formshyprinzip beziehen sondern zugleich jenen Zuwachs an Bedeutungshaumlhe und Wirkungskraft den das Modell nur dann hergibt wenn es selbst noch als bedeutungshaltig und wirkungsfaumlhig intakt bleibt Die Annaumlherung auch der inhaltlichen Erfuumlllung dieser saumlkularisierten Formen an den christshylichen Denk- und Sprachbereich befoumlrdert ja begruumlndet ihre reichhaltige Erscheinung in Buumlrgers Lyrik

Ich glaube Luther wuumlrde dies Gedicht fuumlr ein wuumlrdiges Kirchenlied anerkannt haben schrieb AWSchlegel uumlber Die Elementelaquo (B 518) Schon mit dem Eingangsvers tritt es in die Form der Lehrvershykuumlndigung Horch Hohe Dinge lehr ich dich (I 68) Und diese Lehre vom Wesen der Elemente ist mehr als bloszlige Kundgabe Sie wird Maszligstab fuumlr den Belehrten Richtschnur Grundlage fuumlr das kommende Gericht Immer dringlicher wendet sie sich im Fortgang des Gedichtes an den Houmlrer selbst Sieh hin und her und Nun pruumlfe dich bis mit den oben (S 194) genannten Schluszligversen das lehrende Sprechen ins urteilende und verdammende uumlbergeht

Eine besondere Form der lehrhaft-bekennenden Rede macht das raquoDankl iedlaquo sichtbar (I 44ff) das Buumlrger urspruumlnglich Psalm nennen wollte und zu dem Boie ihm schrieb den denkenden Christen wird es entzuumlcken und erbauen aber den groumlszligten Haufen und Pastor Zuch - (12972) Es zeigt eine ganz symmetrische Anlage Die Eingangsstrophe wendet sich lobend an Gott den Schoumlpfer sechs folgende Strophen reihen auf was der Sprechende aus seiner Hand empfangen hat (daszlig es dabei ausgerechnet um die Liebe den Wein und den Gesang geht muszligte Pastor Zuch freilich wurmen) zwei Mittelstrophen bekennen daszlig die Fuumllle der Schoumlpfergaben nicht zu zaumlhlen sei (Wer zaumlhlt die Gaben alle Wer) und wenden sich auf den Sprecher selbst wieder sechs Strophen nennen dann die leiblichen und geistigen Eigenschaften die Gott ihm verliehen hat Hinter dieser Gaben Wunderschau aber wird Luthers Erklaumlrung zum 1 Artikel des Glaubensbekenntnisses sichtbar in der es nach der FrageWas ist das heiszligt Ich glaube daszlig mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mit Leib und Seele Augen Ohren und alle Glieshyder Vernunft und alle Sinne gegeben hat Gemaumlszlig den Schluszligworten der Erklaumlrung des alles ich ihm zu danken und zu loben schuldig bin muumlndet die letzte Strophe preisend und benedeiend in den liturgisch beshy

ao Zur Begriffsbestimmung dieser Saumlkularisationskategorie vgL S 289 ff

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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wirft Licht auf das andere Buch aber - es ist nicht mehr das Licht der Erkenntnis dessen was gut und boumlse sei (Vgl S148 f)

Wie auf die Werke der Dichtkunst so faumlllt der Glanz dieses geborgten Lichtes auch auf die Dichter selbst Was Christus uumlber alle menschliche Macht und Groumlszlige erhebt wird jetzt auch dem Poeten zugesprochen sein Reich ist nicht von dieser Welt 13 und die Verheiszligungen die dem Chrishysten gegeben sind wandeln in der uumlbertragung ihre Formen nur gerade so viel wie noumltig ist um fuumlr den neuen Anwendungsbereidl braudlbar zu sein Einem unbekannten Empfaumlnger schreibt Buumlrger am 621772 meine Briefe sollen Ihnen hinfort wenigstens alle vier Wochen jenen biblischen Spruch parodieren Bleib den Musen getreuuml bis in den Tod so wird dir Apoll die Krone des ewigen Nachruhms geben Parodieren shydas meint hier nichtmiddotdie Entstellung den Entwurf eines scherzhaften oder boumlsartigen Gegenbildes sondern Akkomodation uumlbertragung und Anshypassung Es richtet sich nicht gegen den vorgegebenen Text aber es nimmt ihn auch nicht mehr ernst in seinem unbedingten und ausschlieszligenshyden Anspruch Schon deutet es in die Richtung einer uumlberarbeitung des Originals nach dem verbesserten Geschmack unsrer Zeit in einer neuen Einkleidung und Ordnung der Gedanken (v gl u S 269Anm 2) Dieser ) verbesserte Geschmack freilich ist kaum mehr als ein veraumlndertes thematisches Interesse In Wahrheit fehlt diesen uumlbertragungen geshylegentlich selbst der gute Geschmack und es kennzeichnet zugleich die

( uneingeschraumlnkte Verfuumlgbarkeit des religioumlsen Sprachgutes wenn Buumlrger auch auf betraumlchtliche Houmlhenunterschiede zwischen Ursprungs- und Anshywendungsbereich kaum mehr Ruumlcksicht nimmt An Goeckingk der ihm aus seiner fatalen aumluszligeren Situation heraushelfen will schreibt er anshystandslos wenn Sie mein Erloumlser seyn und mich den Musen wiedershyschenken koumlnnten - Sie wuumlrden mir das seyn was der Engel dem geshyfangenen Apostel in der Apostel Geschichte war 14 Ein gewisses Vershygnuumlgen am Miszligbrauch des Vorbildes und die ganz ernsthafte Absicht dem Sachverhalt Nachdrud und Gewicht zu geben sind hier wohl kaum zu trennen Aber ohne Zweifel steht dahinter ein Wertbewuszligtsein dem kein Preis zu hoch ist wenn es gilt den Anspruch und die Wuumlrde des poetischen Amtes zu verkuumlnden und durchzusetzen

So heiszligt es in den raquoGedanken uumlber die Beschaffenheit einer Deutschen uumlbersetzung des Homerlaquo Statt aller Untersuchunshygen uumlber diesen Punct koumlnnte der Streit wohl nicht angenehmer fuumlr den Zuschauer beigelegt werden als wenn der Genius unserer Literatur einen Mann von Genie und Kenntniszlig erweckte welcher zwischen die Zanshy

13 An Bollmann 22790 14 29675 Aus dem Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk hrsg A Sauer

Vjs f Litgesch III 1890 hier S 68

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kenden mit einer Uumlbersetzung traumlte uumlber welche man schreiben koumlnnte Der Nachwelt und der Ewigkeit heilig (B 135) Dem aufmerkshysamen Leser kann der Hintergrund der kleinen Szene nicht verborgen bleiben die hier entworfen wird Der Uumlbersetzer-Dichter er erscheint als ein neuer Moses welcher vom Gott seines Volkes erweckt unter die Israeliten tritt mit jenen Gebotstafeln die der christlichen Nachwelt und der Ewigkeit heilig sind (Selbst das Wort von den Zankenden die um die Homer-Uumlbersetzung miteinander im Streite liegen scheint auf den biblischen Bericht zu deuten Bei der Ruumlckkehr vom Sinai spricht Josua zu Moses Es ist ein Geschrei im Lager wie im Streit Er antshywortete Es ist nicht ein Geschrei gegen einander derer die obliegen und unterliegen sondern ich houmlre ein Geschrei eines Singetanzes Ex 3217 f)

Buumlrger selbst ist es der nach diesem Vorwort mit Proben seiner jamshybischen Lrbersetzung unter die Zankenden tritt - aber er zieht es vor dem Anspruch des Moses-Bildes auszuweichen Das bleibt dem Vollender uumlberlassen Fuumlr die eigene Person und das eigene Werk waumlhlt er ein anderes Modell Wenn ich gleich derjenige selbst nicht bin auf welchen unser Volk hoffet (denn ich muumlszligte den unversc~aumlmtesten Knabenstolz besitzen wenn ich mir einbildete daszlig ichs waumlre) so kann ich doch vielleicht zu der Ehre eines Vorlaumlufers dessen der kommen wird gelangen Auf den Worten des neutestamentlichen Vorlaumlufers Johannes des Taumlufers der die messianische Erwartung des Volkes von sich selber abweist und auf jenen Groumlszligeren lenkt der kommen wird gruumlndet die Haltung des raquoIliaslaquoshyObersetzers aus ihnen gewinnt sie dem eigenen Versuch dem Probestuumld~ Bedeutsamkeit und Gewicht Eine Entsprechung zur Saumlkularisationsform figuraler Gestaltung ist nicht zu verkennen Aber wenngleich hier wie dort eine dichterische Figur dem vorbildlichen Modell gleichgeformt wird J

geht es doch dort darum sie durchzusetzen und zu rechtfertigen auf der Grundlage des Imitatio-Denkens - hier aber sie zu steigern und zu ershyhoumlhen allein um ihrer selbst willen Der Dichter erscheint als Gottesmann weil er in dieser Gestalt dem Profanen enthoben ist

In der Behandlung aller Fragen die ihm wirklich am Herzen liegen greift Buumlrger zuruumlck auf den Sprach- und Formenschatz der ihm jahreshylang als Ausdrucksvorrat fuumlr das Wesentliche und Bedeutsame vermittelt wurde Bis in die Uumlberlegungen zum dichterischen Schaffensprozeszlig fuumlhrt das die deutlich unter der praumlgenden Kraft des Berichtes vom goumlttshylichen Schoumlpfungsakt stehen Jeder Kuumlnstler schreibt er an Schushybart sollte es sich daher zur Maxime madlen keines seiner Verke eher unter fremde Augen treten zu lassen als bis er nach Jahrelangem Anshyschauen alles dessen so er gemacht sagen koumlnnte Siehe da es ist alles sehr gut 15

15 12992 - Vgl die Goumlttliche Zufricdenhcits-Formel Geni 31

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Nichts anderes als eine uumlbertragung des reformatorischen Verhaumlltnisses zur Schrift und seine Anpassung an den Umgang mit dem dichterischen Vort ist sein Verantwortungsgefuumlhl und seine Treue gegenuumlber dem unshyverriickbaren Text ja der Glaube daszlig am Buchstaben das Heil haumlngen koumlnne Gleichguumlltig welcher Grad von bewuszligter Einsicht in diese Zushysammenhaumlnge auch vorgelegen haben mag Buumlrgers Aumluszligerungen uumlber solche Fragen speisen sich unablaumlssig aus der religioumlsen Sprachquelle So begleitet er Anfang 1784 die uumlbersendung eines Manuskriptes an Goeckingk mit der leidenschaftlichen Ermahnung Houmlrt ihr daszlig also nur nicht ein Puumlnctchen zu geschweige denn ein Buchstab oder gar ein Wort fehlt Ihr seht sonst Euumlres Ungluumlcks kein Ende weder hier zeitlich noch dort ewig

Die fuumlr Buumlrger so bezeichnende Neigung zur unermuumldlichen oft geradeshyzu kleinlich anmutenden uumlberarbeitung und Ausfeilung seiner Gedichte wird man in unmittelbarem Zusammenhang sehen muumlssen mit jener Heishyligung der Werktreue die der Protestantismus entwickelt hat und es ist charakteristisch fuumlr die Denkweise des ganzen Buumlrgerschen Freundesshykreises wenn Meyer ihm zu einigen Gedichten die er fuumlr den Musenshyalmanach schickt am 971793 entschuldigend schreibt sie haumltten noch Mangel der Feile die vor Gott und Menschen angenehm ist

Solche Einzelbeobachtungen und man koumlnnte sie beliebig vermehren machen deutlich wie folgerichtig der Weg von Molmerswende nach Halle seine Fortsetzung verlangt auch wenn er nun in andere Gefilde fuumlhrt wie tief der Erbzwang den Pfarrersohn bestimmt uumlberdem bin ich einmal ein Theologe gewesen schreibt er an Goeckingk und von der Zeit haumlngt mir illud Theologorum decantatissimum Dic et servasti animam immer noch an 16 Schon 1772 erklaumlrte er sich gegen seine bisherige wolshyluumlstige und taumlndelnde Dichtungsart von allen moralischen Sentimens entbloumlszligt weil er meinte damit verloumlre die Poesie ihr erhabenes Amt Lehrerin der Menschen zu seyn 17

Im engsten Zusammenhang damit muszlig nun Buumlrgers Glaubensartikel von der P 0 pul a ri t auml t der Poesie gesehen werden Denn wenn von der kirchlichen Wortverkuumlndigung her das Amt Lehrerin der Menschen zu seyn auf die Dichtung uumlbertragen wird so faumlllt ihr zugleich die Pflicht zu ins Breite zu wirken einem unbegrenzten Leserkreise zugaumlnglich und verstaumlndlich zu sein Buumlrger nennt als seine Maxime wenn nicht Alle n dennoch den Me ist e n - versteht sich ohne weder sich selbst noch der Dichtkunst etwas zu vergeben - zu gleicher Zeit zu gefallen 18 Nur

1G 3675 Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk S65 11 Brief an Boie 2 11 72 lB Die Problematik der Popularitaumlt die an dem eingeschobenen einschraumlnkenden

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dieGuumlnstlinge die dieses Ziel erreichen sind die gewaltigen Herzensshybezaumlhmer und Zauberer die ihre guumlldenen Staumlbe nie vergebens zucken und uumlber jedes Zei tal ter in immer lebendiger Kraft herrschen Nie verra uchen die Opfer auf ihren Altaumlren und unvergaumlnglich bluumlhen ihre Kraumlnze (B 178 f) Nur sie sprechen in Vollmacht Die Opferaltaumlre und der Bezug auf jene Staumlbe die vor dem Pharao von den aumlgyptischen Zauberern vergeblich dann aber von Moses und Aaron nie vergebens ausgereckt wurden 19

begruumlnden eine Priesterschaft der Wortverwaltung zu bestaumltigen die Wahrheit des Artikels woran ich festiglich glaube und welcher die Axe ist woherum meine ganze Poetik sich drehet Alle darstellende Bildshynerei kann und soll volksmaumlszligig seyn Denn das ist das Siegel ihrer Vollshykommenheit 20

Dieser Artikel von der Popularitaumlt der Dichtung Buumlrgers Glaubensshybekenntnis empfaumlngt in der Tat einen entscheidenden Anstoszlig aus der Predigt- und Seelsorgehaltung der er unter der vaumlterlichen Kanzel beshygegnete Wenn er scherzhaft an Meyer schreibt ein gottseliges Comite untersuche woher es wohl komme daszlig der Gottesdienst in der Unishyversitaumltskirche so sparsam besucht werde Ich denke mit Recht wird Euer gepredigtes Evangelium als eine der vornehmsten Ursachen oben an geshystellt werden (121 89) so liegt dem ganz der gleiche Gedanke zushygrunde der auch die Wirkungspoetik seiner Abhandlungen zur VolksshyPoesie bestimmt Es ist das saumlkularisierte Predigerethos das aus dem leishydenschaftlichen raquoHerzensausguszliglaquo spricht Durch Popularitaumlt mein ich soll die Poesie das wieder werden wozu sie Gott erschaffen und in die Seelen der Auserwaumlhlten gelegt hat Lebendiger Odem der uumlber aller Menschen Herzen und Sinnen hinweht Odem Gottes der vom Schlaf und Tod aufweckt Die Blinden sehend die Tauben houmlrend die Lahmen gehend und die Aussaumltzigen rein macht Und das Alles zum Heil und Frommen des Menschengeschlechts in diesem Jammerthaie (B 321) 21

Die Beobachtung solcher Umsetzungsvorgaumlnge die Buumlrgers theoretische Aumluszligerungen gedanklich und sprachlich bestimmen leitet zu unserer eigentlichen Frage nach der Bedeutung und Beschaffenheit der Saumlkularishysationsphaumlnomene in seinem d ich t e r i s c he n Werk

(wenn nicht gar aufhebenden) Satz zu entwickeln waumlre kann hier nicht ausgefuumlhrt werden Sie kommt in Schillers und A W Schlegels Buumlrger-Abhandlungen zur Sprache

Vgl Ex7-10 20 B S324 (Vorrede zur Ausgabe der Gedidlte 1778) 2 Ober eine ganz entsprechende neue Einstellung zum Volksganzen raquowelche die

seelsorgerliche Haltung des Vaters unmittelbar fortzusetzen scheint handelt H Schoumlffshyler Das literarische Zuumlrich 1925 S42f

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Unmittelbare und ausdruumlckliche biographische Zeugnisse fuumlr den Einshyfluszlig des religioumlsen Schrifttums gibt es kaum Immerhin finden sich einige Hinweise in den Aufzeichnungen Althofs die auf Buumlrgers eigenen freishylich sehr spaumlten muumlndlichen Auszligerungen beruhen Durch sie wird uumlbershyliefert daszlig der Junge bis in sein zehntes Lebensjahr hinein durchaus nicht mehr lernte als Lesen und Schreiben wohl aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse behielt was er sowohl in der Bibel als im Gesangshybuche las ja daszlig er wie er meinte das ganze Gesangbuch ohne Schwieshyrigkeit auswendig gelernt haben wuumlrde (B 431) Von den houmlchst aufshyschluszligreichen Einzelheiten dieser fruumlh gelegten Bibel- und Gesangbuch- kenntnisse muszlig spaumlter die Rede sein Hier wird zunaumlchst nur Althofs Mitteilung wichtig daszlig schon der Knabe ohne durch andere Muster als welche Bibel und Gesangbuch ihm lieferten dazu aufgefordert zu werden anfing Verse zu machen ehe er noch die allerersten Elemente der Grammatik erlernt hattelaquo (B 431) Das ist gewiszlig nicht so zu verstehen als habe der junge Verseschmied damals noch kein grammatisch fehlershyfreies Deutsch sprechen oder schreiben koumlnnen Grammatik lernte man an der Fremdsprache Buumlrger begegnete ihr also im lateinischen Untershyricht - und cr konnte ungeachtet aller Schlaumlge in zwei Jahren noch nicht Mensa decliniren (B 431) Diese Randbemerkung macht einsichtig

( daszlig es sich bei den poetischen Anregungen durch Bibel und Kirchenlied um ganz unreflektierte dem kontrollierenden Sprach- und Kunstbewuszligtshysein entzogene Vorgaumlnge handelt Das deckt sich voumlllig mit Althofs Aufshyzeichnung Buumlrger versicherte ferner So wenig diese Fertigkeiten als irgend eine andere Kenntniszlig seines nachfolgenden Lebens bis in sein maumlnnliches Alter haumltten ihm die geringste Anstrengung oder Muumlhe geshykostet es waumlre auch sehr wenig was er von Lehrern und aus Buumlchern geshylernt haumltte da es ihm immer in den Lehrstunden an Aufmerksamkeit und auszliger denselben an Geduld gefehlet ein Buch anhaltend aus zu lesen Er muumlszligte sich oft innerlich wundern wenn er einen Blick in die Vorrathsshykammer seiner Kenntnisse thaumlte wie und woher der Plunder alle hinein gekommen Das Meiste waumlre ihm hier und da und dort und uumlberall wie VOn selbst gleichsam angeflogen (B 431) Nichts konnte ihm so sehr von selbst anfliegen wie die Worte Bilder und Formen der heiligen Texte die von den Jugendjahren im vaumlterlichen Pfarrhaus bis zum Abbruch des theologischen Studiums in Halle sein taumlglicher Umgang waren Was aber fuumlr ihre Aufnahme gilt ist nicht weniger guumlltig fuumlr ihre Verwendung die Saumlkularisationsvorgaumlnge entziehen sich weithin dem Bewuszligtsein des Schreibenden Durch ihn hindurch aber oft ohne seine Absicht und ohne sein Dazutun wirkt hier die religioumlse Sprache auf das Kunstwerk ein

Der eigentliche Zugang zu diesen Phaumlnomenen kann deshalb nicht durch die Beschaumlftigung mit der Person des Autors gewonnen werden

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welches Forschers Geist hat Buumlrger selbst erklaumlrt kann sich immer so tief und innig in den Geist des Kuumlnstlers versenken um etwas mit Sicherheit auszumachen welches dieser oft selbst nicht recht weiszlig naumlmshylich was fuumlr Bestinunungsgruumlnde jeglichen seiner Schritte zum Ziele leitet haben 22 Nur im Ziele selbst im Zustandegekommenen WIrd wohl der eine oder andere Bestimmungsgrund erkennbar der Weg dahin fuumlhrt also nicht uumlber die Versenkung in den Geist des Kuumlnstlers sondern uumlber die Betrachtung des Kunstwerkes selbst

In dem 1782 entstandenen kleinen Gedicht raquoDer klug e Heldlaquo23 wird erzaumlhlt wie ein junger Soldat um der Gefahr zu entgehen am Tag vor der Schlacht einen Urlaub erbittet angeblich damit sein sterbender Vater ihm noch den Abschiedskuszlig geben koumlnne Die letzten Verse lauten

Sehr wohl versetzt der Chef und laumlchelt vor sich nieder Reis hurtig ab mein Sohn Denn nach der Bibel muszlig Dein Vater nach Gebuumlhr von dir geehret werden Auf daszlig dirs wohlergeh und du lang lebst auf Erden

Von verschiedenen Seiten aus wird einsichtig welch besonderes Gewicht dieser Schluszlig traumlgt ja daszlig das ganze Gedicht eigentlich auf ihn hin anshygelegt ist 24

bull Schon der Gespraumlchsablauf weckt eine Spannung auf die Beshygruumlndung fuumlr die Zustimmung des Chefs der den Vorwand ja durchshyschaut Zugleich trennt das Druckbild durch einen Gedankenstrich und folgenden Sinnabschnitt die hier angefuumlhrten letzten Zeilen von den vorshyangehenden und nachdem schon zuvor die wechselnd vier- und fuumlnfshyhebigen Jamben sich zweimal gleichsam praumlludierend ins alexandrinische Maszlig vorgewagt hatten gewinnt der Schluszligteil in dem die Alexandriner sich voumlllig durchgesetzt haben auch metrische Bedeutungssteigerung Entshyscheidend aber ist der Pointencharakter des Ausgangs und dessen eigentshylicher Uberraschungseffekt entsteht durch die ironische Beziehung des vierten Gebotes auf die Absichten des Soldaten Den wichtigsten Beitrag zur Schluszligbeschwerung des Gedichtes leisten diese beiden zitierenden len mit denen ein vorgeformtes und vorbelastetes Redestuumlck als schwerer Endakzent dem vorangehenden Berichte aufgesetzt wird

~2 Ueber die Wirkung des Schleiers in Werken der darstellenden Kunstlaquo TI S 340 23 Die Gedichte werden im folgenden zitiert nach der Ausgabe von E COllsentius

2 Bde 1914 Hier I S238 21 VgL E Staigers Begriff der nproblematischen Dichtung (Grundbegriffe der

Poetik LAufl 1951 S162ff)

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Schluszligbeschwerungen sind fuumlr Buumlrgers Lyrik charakteristisch Sie hershyvorzubringen erscheint die eben beobachtete Verbindung eines praumlforshymierten Sprachstuumlckes mit vorausgehenden freien Formationen beshysonders geeignet - und es ist bemerkenswert daszlig der strukturell so beshydeutsame pointierte Ausgang tatsaumlchlich in nahezu einem Drittel aller Gedichte Buumlrgers auf den christlichen Sprachbereich zuruumlckweist

Wo seine Gedichtausgaumlnge einen formelhaften Redeschluszlig woumlrtlich oder nur geringfuumlgig abgewandelt uumlbernehmen wird die Endbetonung am spuumlrbarsten Aus einer Fuumllle von Beispielen koumlnnte man dafuumlr nennen

Gott lass es dem Edlen doch wohl ergehn Das bet ich herzinniglich Amen (I 207)

Gott behuumlte liebe Seele Gott behuumlte dich davor (I 32)

o Paradiesesglaube Erhalt und staumlrke mich (I 38) Komm Von hinnen laszlig uns scheiden Eia waumlren wir schon da - (I 68) Dein Name sei gebenedeit Von nun an bis in Ewigkeit (I 45)

Der jeweilige Ursprungsort dieser Schluszligformeln bedarf keiner Erlaumluteshyrung Was sie - in einen neuen Zusammenhang versetzt - fuumlr den Aufshybau des Gedichtes leisten koumlnnen zeigt sich im ersten Beispiel (raquoDie Kuhlaquo) mit der Hervorhebung des Erzaumlhlers der diesen Epilog spricht und mit der Zusammenfassung des Gedichtes zur geschlossenen Form im letzten Beispiel (raquoDankliedlaquo) in dem die schlieszligenden Zeilen des Gedichtes die der Anfangsstrophe wieder aufnehmen und die preisende Aufreihung der Gottesgaben mit einer aus dem liturgischen Ursprungsort der Formel heruumlberwirkenden Kraft zusammengreifen und erfuumlllen im Benedeien des goumlttlichen Gebers Von solchen Leistungen wird noch die Rede sein

Aumlhnliche Wirkungen entfalten die Schluumlsse in denen Bibelzitate parashyphrasiert und auf die vorangehenden Verse bezogen werden In raquoSchoumln Suschenlaquo etwa geben die letzten Zeilen

Drum Lieb ist wohl wie Wind im Meer Sein Sausen ihr wohl houmlrt Allein ihr wisset nicht woher Wiszligt nicht wohin er faumlhrt (I 155)

die aus Joh 3 8 hervorgehen Antwort auf die Eingangsfrage des Geshydichtes durch sie erfuumlllt es sich in der inneren Form von Raumltselstellung und Raumltselloumlsung Vergleichbares bewirkt der Schluszlig von raquoDie Eleshy

13 7439 Schoumlne Saumlkularisation (Palaestra 226) 193

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mentelaquo nachdem die Liebe als allbewegende Triebkraft der Natur geshyschildert worden ist zieht der Ausgang die Lehre fuumlr den lieblos geshywordenen Menschen

Du bist ein eiteltoumlnend Erz Bist leerer Klingklang einer Schelle Und Tosen einer Wasserwelle (I 70)

Die auffallend haumlufige Verwendung solcher zusammenfassenden abshyrundenden aufloumlsenden erklaumlrenden pointierenden Schluszligbeschwerunshygen die der Dichter dem christlichen Sprachbereich entlehnt muszlig durchshyaus als Charakteristikum Buumlrgerseher Gedichtsstruktur verstanden werden

Ober die Bestimmung ihrer sprachlichen Herkunft hinaus sind diese beschwerten Ausgaumlnge in einigen Verwendungs faumlllen nun auch auf eine genauer bestimmbare Form des Sprechens zu beziehen Da endet etwa Die Entfuumlhrunglaquo mit den Versen

So segne dann der auf uns sieht Euch segne Gott von Glied zu Glied Auf Wechselt Ring und Haumlnde Und hiermit Lied am Ende (I 181)

Das ist die Spredlweise des Geistlichen und in der Tat nimmt ja hier am Ende des houmldlst wel dichen Balladengeschehens der Vater des entfuumlhrshyten Fraumluleins mit Segen und Ringwechsel eine priesterliche Handlung vor Diese personale Gleichung macht aufmerksam auf eine grundsaumltzliche typologische Entsprechung zwisdlen der Schluszligbeschwerung des Gedichshytes und geistlidler Redeweise Nicht nur das durchgehend religioumls beshystimmte liturgische Sprechen endet mit einer gewichtigen Schluszligformell des Gebetes Segens oder Lobpreises auch die nicht mehr formgebundene freie Rede das Gespraumlch die Ansprache so zu schlieszligen daszlig weltlidles Sprechen am Ende durch einen religioumlsen Bezug ein praumlformiertes Redeshystuumlck erhoumlht gekroumlnt gewichtig beschlossen wird ist fuumlr den Geistlichen offenbar bis heute bezeichnend

Diese durch vorgegebene Schluszligformeln charakterisierte Redeweise zeigt ganz die gleiche Grundform die in der Untersuchung der Buumlrgershysehen Gedichte sichtbar wird - wie ja jene Gepflogenheit an weltliche Rede einen oft geradezu gewaltsam angehaumlngten formelhaft-religioumlsen Schluszlig zu fuumlgen selbst in dem oben genannten Briefausgang noch spuumlrbar wird ich heuumlrathete wol ein Kuh wenn sie nur an der bewusten Vershynunft keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte didl bei dieser Philoshysophie Amen Amen GABuumlrger Unter diesem Blickwinkel gewinnt die Stelle geradezu karikierende Zuumlge

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Beispielhaft fuumlr eine solche Analogie der Sprechweisen scheinen etwa die Schluumlsse

Die Liebe segne dich und sie Mit ihrem besten Segen (148) Die Liebe sagt Verdammet nicht Daszlig man nicht Euch verdammet (I 187) Diesen Trinker gnade Gott Lass ihn nicht verderben (I 73)

Sie aber deuten auf eine Analogie-Antithese zwischen dem Pfarrer als dem Diener der christlichen Kirche und dem Poeten der eines seiner Geshydichte mit den Worten schlieszligt

Doch wisse du Apolls Religion Schenkt dir die Glaubenspflicht und dringt auf gute

Werke (I 248) Als Gottesdienst der Wortverwaltung hat Buumlrger sein dichterisd1cs Amt verstanden

Bin geweiht zum Priester des Apoll Mit des Gottes Kranz und goldnem Stabe Seines Geistes bin ich froh und voll Warum nicht auch frommer Wundergabe - (I 94)

Und am Ende des Gedichtes (raquoGeweih tes Ang ebind e zu Lo uis ens Geburtstagelaquo) tritt diese vaumlterliche Mitgift diese Sprechhaltung des Geistlichen ganz ausdruumlcklich ins Wort

Freud und Lust von keinem Harm vergaumlllt Sei durch dich Ihr in die Brust gegossen Freud an Gottes ganzer weiter Welt Mich den Priester auch mit eingeschlossen

shy

Die Beobachtung der Schluszligbeschwerung lenkt auf die Frage nach ihrer Integration in das Gesamtgefuumlge des Gedichtes und nach der Wirkung die sie dort entfaltet raquoDer kluge Heldlaquo kann darauf kaum schon ershyschoumlpfende Antwort geben die massive Pointicrung die hier durch den Endakzent zustande kommt ist nur eine unter vielen Moumlglichkeiten seiner Leistung Weit komplizierter liegen diese Verhaumlltnisse in Buumlrgers Nachshydichtung der raquoCo n f ess i 0laquo des Archipoeta 25

25 Das Gedicht war Buumlrger in einer dem Walter Mapes zugeschriebenen Fassung beshykannt geworden (vgl seinen Brief an Sprickmann vom 21077) deutliche Bezuumlge zeigen sich zu seinen Strophen 12 13 16-19 Zitiert wird die lat Vorlage nach dem auf 5 Strophen verkuumlrzten Abdruck den Buumlrger in der Ausgabe seiner Gedichte VOll

1778 auf S 290 f gegeben hat (Ausgenommen die beiden dort nicht mitgeteilten hier auf S199 zitierten Verse Voluptatis avidus laquo)

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Zechlied

Im will einst bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Alles meinen Wein nur nimt Lass im frohen Erben Nam der letzten Olung soll Hefen nom mim faumlrben Dann zertruumlmmre mein Pokal In zehntausend Smerben Jedermann hat von Natur Seine sondre Weise Mir gelinget jedes Werk Nur nam Trank und Speise Speis und Trank erhalten mim In dem remten Gleise Wer gut smmiert der faumlhrt aum gut Auf der Lebensreise Im bin gar ein armer Wimt Bin die feigste Memme Halten Durst und Hungerqual Mim in Angst und Klemme Smon ein Knaumlbchen smuumlttelt mim Was im aum mim stemme Einem Riesen halt im Stand Wann im zem und smlemme Aumlmter Wein ist aumlmtes 01 Zur Verstandeslampe Gibt der Seele Kraft und Schwung Bis zum Sternenkampe Witz und Weisheit dunsten auf Aus gefuumlllter Wampe Baszlig gluumlckt Harfenspiel und Sang Wann im brav smlampampe Nuumlchtern bin im immerdar Nur ein Harfenstuumlmper Mir erlahmen Hand und Griff Welken Haupt und Wimper Wann der Wein in Himmelsklang Wandelt mein Geklimper Sind Homer und Ossian Gegen mim nur Stuumlmper

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Nimmer hat durch meinen Mund Hoher Geist gesungen Bis ich meinen lieben Bauch Weidlich vollgeschlungen Wann mein Kapitolium Baechus Kraft erschwungen Sing und red ich wundersam Gar in fremden Zungen Drum will ich bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Nach der letzten oumllung soll Hefen noch mich faumlrben Engelchoumlre weihen dann Mich zum Nektarerben Diesen Trinker gnade Gott

Lass ihn nicht verderben (1 72 f)

Da wird mit der ersten Strophe das Bekenntnis zu einer Lebensfuumlhrung abgelegt und geradezu beschworen die selbst eingedenk des Todes noch ganz im Irdischen verharrt Fuumlnf folgende Strophen dann begruumlnden den Entschluszlig den die erste verkuumlndete auch ihre Aussagen bleiben durchshyaus im Bereiche des weingeweihten Diesseits Die letzte aber tritt nachshydem sie zunaumlchst das Bekenntnis der ersten aufgenommen in eine durchshyaus andere Sphaumlre Zwar setzt auch dort das irdische Trinkerleben sich fort aber der Spott der eben noch die letzte oumllung traf der Entschluszlig der ersten Strophe im Tode den Pokal zu zertruumlmmern lassen dieses Ende nicht erwarten

Ut dicant eum venerint angelorum chori Deus sit propitius huic potatori

heiszligt es in der raquoC 0 n fes s i 0laquo und solcher Gesang der Engelchoumlre beshyschlieszligt nun auch Buumlrgers koumlnigliches Sauflied 26 ein im religioumlsen Sprachbereich ausgebildetes Gebet um Gnade fuumlr den Suumlnder 27 - an dessen Stelle nun der Trinker steht - setzt den kraumlftigen Endakzent Wenn so unvermittelt das Sauflied in die Gebetsformel muumlndet scheint sich im Wortschatz in der Sprechhaltung im Hinblick auf die Geschehnisshyebene ein bruchhafter Wechsel zu vollziehen der die Einheitlichkeit des ganzen Gedichtes in Frage stellt Zwar folgen Vers- und Strophenbau zushygleich mit dem Reimschema der gtConfessiolaquo entlehnt ebenso wie die rhythmische Anlage des Liedes gleichbleibenden Aufbauprinzipien und stiften so eine formale Geschlossenheit des Ganzen aber gerade das treibt

28 Brief an Boie 18977 27 Vgl Lue1B 13 Deus propitius esto mihi peceatori

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den Umbruch der Schluszligbeschwerung nur um so kraumlftiger heraus Daszlig hier in Wahrheit keineswegs ein Bruch vorliegt daszlig dieser Sphaumlrenshywechsel durchaus nicht unvermittelt geschieht wird jedoch einsichtig sobald man die Sprache der Mittelstrophen schaumlrfer ins Auge faszligt Dann zeigt sich daszlig hinter der Bedeutungsoberflaumlche der Wortaussage vorshygeformtes Sprachgut aus eben der Sphaumlre wirksam ist zu der die schlieshyszligenden Verse sich erheben

Dem Wein dem der Sprechende selbst eingedenk des irdischen Endes noch sein Dasein verschreibt setzt die zweite Strophe die Speise zur Seite Beide Trank und Speise sind fuumlr das Leben noumltig - doch offenshybar nicht im Sinne notwendiger Ernaumlhrung Das erhalten meint kein einfad1es am-Leben-erhalten sondern ein im rechten Gleise im rechshyten Leben erhalten Das Schluszligwort der Strophe laumlszligt aufmerken Lebensreise erscheint als ein deutlich vorbelastetes vorgeformtes Sprad1stuumlck der religioumlsen Sphaumlre das (ausgehend von Gen 47 9) die christliche Deutung des Lebens als einer Reise durch die Weh zum jenshyseitigen Ziele in sich faszligt Trank und Speise in solchem Bedeutungsfeld als Hilfen die Lebensreise recht zu fuumlhren sie machen hinter dem lauten Gesang des Trinkers im fuumlnften Vers die liturgische Stimme vershynehmbar die Stimme des Geistlichen der die Hostie und den Wein reicht Nehmet hin und esset Nehmet hin und trinket das staumlrke und erhalte euch im rechten Glauben zum ewigen Leben Amenlaquo 28 Von andeshyrem Trank und anderer Speise als der vom Vater dargebotenen spricht der Sohn Doch im Bekenntnis des Zechlieds klingen noch immer jene Worte nach die von der Kraft des heiligen Mahles kuumlndeten weil das 11edium der Sprad1e die mit der Abendmahlsliturgie in sie eingeganshygenen Bedeutungsenergien bewahrt und fuumlr die Dichtung verfuumlgbar macht

Von der zweiten Strophe aufgerufen bleibt dieser Bezug auch in der dritten vierten und fuumlnften lebendig Hinter dem Zecher den Essen und Trinken der Angst und Schwaumld1e entheben so daszlig er einem Riesen standshyzuhalten vennag steigt das Bild des gottgestaumlrkten David herauf der dem Goliath standhaumllt Der aumlchte Wein und das aumldlte oumll derert Kraft die Seele zum Sternengewoumllbe erhebt gewinnen neue Bedeutung Hinter dem Harfenspieler und dem Himmelsklang seines Gesanges toumlnt leise der Psalm Davids zur Harfe zu singen und in der trunkseligen Prahshylerei der Erhebung uumlber Homer und Ossian mag damit eine verborgene Rechtfertigung solcher Selbsteinschaumltzung sich andeuten Sind die uumlbershytragenen Worte und Bilder hier dem Text des raquoZechlieds so weitshy

e8 In der Abendmahlsliturgie folgt diese in verschiedenen Fassungen gebraumluchliche Spclldeformc1 auf den Einsetzungsbericht Ausfuumlhrlich daruumlber P Graff Geschichte der Aufloumlsung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschshylands I 1937 S 197 ff

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gehend anverwandelt daszlig sie als fremdes Sprachgut kaum erkennbar werden heben sie sich in der sechsten Strophe doch wieder staumlrker ab erst der Abglanz der Erleuchtungsflammen des Pfingstwunders erhellt die Reden des Trunkenen als einwundersames Reden gar in fremden Zungen

Ein Vergleich mit dem Vorbild der lateinischen Beichtparodie der dies e Durchsichtigkeit auf den hinter der eigentlichen Aussage liegenden Sprach- und Bildbereich gaumlnzlich fehlt zeigt daszlig in Buumlrgers uumlbertragung eine sehr bewuszligte Absicht waltete Man halte gegen seine sechste Strophe etwa die Verse

Mihi nunquam spiritus prophetiae datur Non nisi cum fuerit venter bene satur Cum in arce cerebri Bacchus dominatur In me Phoebus irruit ac miranda fatur

Die Grundhaltung beider Gedichte unterscheidet sich wesentlich Mit den fuumlr die ganze raquoC 0 n fes s i 0laquo verbindlichen Versen

Voluptatis avidus magis quam salutis Mortuus in anima curam gero cutis

setzt der Archipoeta Diesseits und Jenseits gegeneinander und faumlllt seine klare Entscheidung fuumlr das eine gegen das andere Buumlrger aber verschmilzt die Bereiche Getragen von den sprachgebundenen Bedeutungsenergien die aus dem christlichen in einen houmlchst weltlichen Bereich des Sprechens uumlberfuumlhrt werden erhebt der bekenntnishafte Lebensbericht des Zechers sich zum Heilsbericht zum Preis einer uumlberirdischen und das Irdische vershywandelnden Macht die am Sprechenden wirksam wird Erst diese Spuren des weihevoll-heiligen Pathos dem Weine des schwoumlrenden protzenden singenden Zechers und Schlemmers beigemischt als ein verborgenes Arom bewirken jenes Entzuumlcken das Buumlrger mit der Lektuumlre des Gedichtes seinen Freunden verhieszlig29 Sie bereiten die schluszligbeschwerende Gebetsshyformel vor und bewirken daszlig statt eines Bruches hier der Aufschwung in jene Sphaumlre erfolgt die am inneren Aufbau des Liedes schon von Anshyfang an beteiligt war So vollendet sich das bekennende Sprechen des raquoZechliedslaquo am Ende in der inneren Form einer ihrer urspriinglichen Erfuumlllung mit christlichem Gehalt entleerten Heilsverkuumlndigung

i-

Mit jener Sprechweise des Geistlichen auf welche die Schluszligbeschweshyrung deutete haumlngt diese Form der He i I sv e r k uuml n d i gun g aufs engste zusammen Sie steht in Buumlrgers Werk durchaus nicht vereinzelt die im

29 Brief an Boie 18977

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religioumlsen Sprachgebrauch ausgebildeten Formmodelle finden hier zahlshyreiche und vielfaumlltige Entsprechungen die um so deutlicher erkennbar werden als sie noch immer merkliche Spuren auch des urspruumlnglichen Gehaltes tragen Sie erweisen sich als weltliche Kontrafakturen der relishygioumlsen Vorbilder 30 von denen sie nicht allein das organisierende Formshyprinzip beziehen sondern zugleich jenen Zuwachs an Bedeutungshaumlhe und Wirkungskraft den das Modell nur dann hergibt wenn es selbst noch als bedeutungshaltig und wirkungsfaumlhig intakt bleibt Die Annaumlherung auch der inhaltlichen Erfuumlllung dieser saumlkularisierten Formen an den christshylichen Denk- und Sprachbereich befoumlrdert ja begruumlndet ihre reichhaltige Erscheinung in Buumlrgers Lyrik

Ich glaube Luther wuumlrde dies Gedicht fuumlr ein wuumlrdiges Kirchenlied anerkannt haben schrieb AWSchlegel uumlber Die Elementelaquo (B 518) Schon mit dem Eingangsvers tritt es in die Form der Lehrvershykuumlndigung Horch Hohe Dinge lehr ich dich (I 68) Und diese Lehre vom Wesen der Elemente ist mehr als bloszlige Kundgabe Sie wird Maszligstab fuumlr den Belehrten Richtschnur Grundlage fuumlr das kommende Gericht Immer dringlicher wendet sie sich im Fortgang des Gedichtes an den Houmlrer selbst Sieh hin und her und Nun pruumlfe dich bis mit den oben (S 194) genannten Schluszligversen das lehrende Sprechen ins urteilende und verdammende uumlbergeht

Eine besondere Form der lehrhaft-bekennenden Rede macht das raquoDankl iedlaquo sichtbar (I 44ff) das Buumlrger urspruumlnglich Psalm nennen wollte und zu dem Boie ihm schrieb den denkenden Christen wird es entzuumlcken und erbauen aber den groumlszligten Haufen und Pastor Zuch - (12972) Es zeigt eine ganz symmetrische Anlage Die Eingangsstrophe wendet sich lobend an Gott den Schoumlpfer sechs folgende Strophen reihen auf was der Sprechende aus seiner Hand empfangen hat (daszlig es dabei ausgerechnet um die Liebe den Wein und den Gesang geht muszligte Pastor Zuch freilich wurmen) zwei Mittelstrophen bekennen daszlig die Fuumllle der Schoumlpfergaben nicht zu zaumlhlen sei (Wer zaumlhlt die Gaben alle Wer) und wenden sich auf den Sprecher selbst wieder sechs Strophen nennen dann die leiblichen und geistigen Eigenschaften die Gott ihm verliehen hat Hinter dieser Gaben Wunderschau aber wird Luthers Erklaumlrung zum 1 Artikel des Glaubensbekenntnisses sichtbar in der es nach der FrageWas ist das heiszligt Ich glaube daszlig mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mit Leib und Seele Augen Ohren und alle Glieshyder Vernunft und alle Sinne gegeben hat Gemaumlszlig den Schluszligworten der Erklaumlrung des alles ich ihm zu danken und zu loben schuldig bin muumlndet die letzte Strophe preisend und benedeiend in den liturgisch beshy

ao Zur Begriffsbestimmung dieser Saumlkularisationskategorie vgL S 289 ff

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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kenden mit einer Uumlbersetzung traumlte uumlber welche man schreiben koumlnnte Der Nachwelt und der Ewigkeit heilig (B 135) Dem aufmerkshysamen Leser kann der Hintergrund der kleinen Szene nicht verborgen bleiben die hier entworfen wird Der Uumlbersetzer-Dichter er erscheint als ein neuer Moses welcher vom Gott seines Volkes erweckt unter die Israeliten tritt mit jenen Gebotstafeln die der christlichen Nachwelt und der Ewigkeit heilig sind (Selbst das Wort von den Zankenden die um die Homer-Uumlbersetzung miteinander im Streite liegen scheint auf den biblischen Bericht zu deuten Bei der Ruumlckkehr vom Sinai spricht Josua zu Moses Es ist ein Geschrei im Lager wie im Streit Er antshywortete Es ist nicht ein Geschrei gegen einander derer die obliegen und unterliegen sondern ich houmlre ein Geschrei eines Singetanzes Ex 3217 f)

Buumlrger selbst ist es der nach diesem Vorwort mit Proben seiner jamshybischen Lrbersetzung unter die Zankenden tritt - aber er zieht es vor dem Anspruch des Moses-Bildes auszuweichen Das bleibt dem Vollender uumlberlassen Fuumlr die eigene Person und das eigene Werk waumlhlt er ein anderes Modell Wenn ich gleich derjenige selbst nicht bin auf welchen unser Volk hoffet (denn ich muumlszligte den unversc~aumlmtesten Knabenstolz besitzen wenn ich mir einbildete daszlig ichs waumlre) so kann ich doch vielleicht zu der Ehre eines Vorlaumlufers dessen der kommen wird gelangen Auf den Worten des neutestamentlichen Vorlaumlufers Johannes des Taumlufers der die messianische Erwartung des Volkes von sich selber abweist und auf jenen Groumlszligeren lenkt der kommen wird gruumlndet die Haltung des raquoIliaslaquoshyObersetzers aus ihnen gewinnt sie dem eigenen Versuch dem Probestuumld~ Bedeutsamkeit und Gewicht Eine Entsprechung zur Saumlkularisationsform figuraler Gestaltung ist nicht zu verkennen Aber wenngleich hier wie dort eine dichterische Figur dem vorbildlichen Modell gleichgeformt wird J

geht es doch dort darum sie durchzusetzen und zu rechtfertigen auf der Grundlage des Imitatio-Denkens - hier aber sie zu steigern und zu ershyhoumlhen allein um ihrer selbst willen Der Dichter erscheint als Gottesmann weil er in dieser Gestalt dem Profanen enthoben ist

In der Behandlung aller Fragen die ihm wirklich am Herzen liegen greift Buumlrger zuruumlck auf den Sprach- und Formenschatz der ihm jahreshylang als Ausdrucksvorrat fuumlr das Wesentliche und Bedeutsame vermittelt wurde Bis in die Uumlberlegungen zum dichterischen Schaffensprozeszlig fuumlhrt das die deutlich unter der praumlgenden Kraft des Berichtes vom goumlttshylichen Schoumlpfungsakt stehen Jeder Kuumlnstler schreibt er an Schushybart sollte es sich daher zur Maxime madlen keines seiner Verke eher unter fremde Augen treten zu lassen als bis er nach Jahrelangem Anshyschauen alles dessen so er gemacht sagen koumlnnte Siehe da es ist alles sehr gut 15

15 12992 - Vgl die Goumlttliche Zufricdenhcits-Formel Geni 31

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Nichts anderes als eine uumlbertragung des reformatorischen Verhaumlltnisses zur Schrift und seine Anpassung an den Umgang mit dem dichterischen Vort ist sein Verantwortungsgefuumlhl und seine Treue gegenuumlber dem unshyverriickbaren Text ja der Glaube daszlig am Buchstaben das Heil haumlngen koumlnne Gleichguumlltig welcher Grad von bewuszligter Einsicht in diese Zushysammenhaumlnge auch vorgelegen haben mag Buumlrgers Aumluszligerungen uumlber solche Fragen speisen sich unablaumlssig aus der religioumlsen Sprachquelle So begleitet er Anfang 1784 die uumlbersendung eines Manuskriptes an Goeckingk mit der leidenschaftlichen Ermahnung Houmlrt ihr daszlig also nur nicht ein Puumlnctchen zu geschweige denn ein Buchstab oder gar ein Wort fehlt Ihr seht sonst Euumlres Ungluumlcks kein Ende weder hier zeitlich noch dort ewig

Die fuumlr Buumlrger so bezeichnende Neigung zur unermuumldlichen oft geradeshyzu kleinlich anmutenden uumlberarbeitung und Ausfeilung seiner Gedichte wird man in unmittelbarem Zusammenhang sehen muumlssen mit jener Heishyligung der Werktreue die der Protestantismus entwickelt hat und es ist charakteristisch fuumlr die Denkweise des ganzen Buumlrgerschen Freundesshykreises wenn Meyer ihm zu einigen Gedichten die er fuumlr den Musenshyalmanach schickt am 971793 entschuldigend schreibt sie haumltten noch Mangel der Feile die vor Gott und Menschen angenehm ist

Solche Einzelbeobachtungen und man koumlnnte sie beliebig vermehren machen deutlich wie folgerichtig der Weg von Molmerswende nach Halle seine Fortsetzung verlangt auch wenn er nun in andere Gefilde fuumlhrt wie tief der Erbzwang den Pfarrersohn bestimmt uumlberdem bin ich einmal ein Theologe gewesen schreibt er an Goeckingk und von der Zeit haumlngt mir illud Theologorum decantatissimum Dic et servasti animam immer noch an 16 Schon 1772 erklaumlrte er sich gegen seine bisherige wolshyluumlstige und taumlndelnde Dichtungsart von allen moralischen Sentimens entbloumlszligt weil er meinte damit verloumlre die Poesie ihr erhabenes Amt Lehrerin der Menschen zu seyn 17

Im engsten Zusammenhang damit muszlig nun Buumlrgers Glaubensartikel von der P 0 pul a ri t auml t der Poesie gesehen werden Denn wenn von der kirchlichen Wortverkuumlndigung her das Amt Lehrerin der Menschen zu seyn auf die Dichtung uumlbertragen wird so faumlllt ihr zugleich die Pflicht zu ins Breite zu wirken einem unbegrenzten Leserkreise zugaumlnglich und verstaumlndlich zu sein Buumlrger nennt als seine Maxime wenn nicht Alle n dennoch den Me ist e n - versteht sich ohne weder sich selbst noch der Dichtkunst etwas zu vergeben - zu gleicher Zeit zu gefallen 18 Nur

1G 3675 Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk S65 11 Brief an Boie 2 11 72 lB Die Problematik der Popularitaumlt die an dem eingeschobenen einschraumlnkenden

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dieGuumlnstlinge die dieses Ziel erreichen sind die gewaltigen Herzensshybezaumlhmer und Zauberer die ihre guumlldenen Staumlbe nie vergebens zucken und uumlber jedes Zei tal ter in immer lebendiger Kraft herrschen Nie verra uchen die Opfer auf ihren Altaumlren und unvergaumlnglich bluumlhen ihre Kraumlnze (B 178 f) Nur sie sprechen in Vollmacht Die Opferaltaumlre und der Bezug auf jene Staumlbe die vor dem Pharao von den aumlgyptischen Zauberern vergeblich dann aber von Moses und Aaron nie vergebens ausgereckt wurden 19

begruumlnden eine Priesterschaft der Wortverwaltung zu bestaumltigen die Wahrheit des Artikels woran ich festiglich glaube und welcher die Axe ist woherum meine ganze Poetik sich drehet Alle darstellende Bildshynerei kann und soll volksmaumlszligig seyn Denn das ist das Siegel ihrer Vollshykommenheit 20

Dieser Artikel von der Popularitaumlt der Dichtung Buumlrgers Glaubensshybekenntnis empfaumlngt in der Tat einen entscheidenden Anstoszlig aus der Predigt- und Seelsorgehaltung der er unter der vaumlterlichen Kanzel beshygegnete Wenn er scherzhaft an Meyer schreibt ein gottseliges Comite untersuche woher es wohl komme daszlig der Gottesdienst in der Unishyversitaumltskirche so sparsam besucht werde Ich denke mit Recht wird Euer gepredigtes Evangelium als eine der vornehmsten Ursachen oben an geshystellt werden (121 89) so liegt dem ganz der gleiche Gedanke zushygrunde der auch die Wirkungspoetik seiner Abhandlungen zur VolksshyPoesie bestimmt Es ist das saumlkularisierte Predigerethos das aus dem leishydenschaftlichen raquoHerzensausguszliglaquo spricht Durch Popularitaumlt mein ich soll die Poesie das wieder werden wozu sie Gott erschaffen und in die Seelen der Auserwaumlhlten gelegt hat Lebendiger Odem der uumlber aller Menschen Herzen und Sinnen hinweht Odem Gottes der vom Schlaf und Tod aufweckt Die Blinden sehend die Tauben houmlrend die Lahmen gehend und die Aussaumltzigen rein macht Und das Alles zum Heil und Frommen des Menschengeschlechts in diesem Jammerthaie (B 321) 21

Die Beobachtung solcher Umsetzungsvorgaumlnge die Buumlrgers theoretische Aumluszligerungen gedanklich und sprachlich bestimmen leitet zu unserer eigentlichen Frage nach der Bedeutung und Beschaffenheit der Saumlkularishysationsphaumlnomene in seinem d ich t e r i s c he n Werk

(wenn nicht gar aufhebenden) Satz zu entwickeln waumlre kann hier nicht ausgefuumlhrt werden Sie kommt in Schillers und A W Schlegels Buumlrger-Abhandlungen zur Sprache

Vgl Ex7-10 20 B S324 (Vorrede zur Ausgabe der Gedidlte 1778) 2 Ober eine ganz entsprechende neue Einstellung zum Volksganzen raquowelche die

seelsorgerliche Haltung des Vaters unmittelbar fortzusetzen scheint handelt H Schoumlffshyler Das literarische Zuumlrich 1925 S42f

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Unmittelbare und ausdruumlckliche biographische Zeugnisse fuumlr den Einshyfluszlig des religioumlsen Schrifttums gibt es kaum Immerhin finden sich einige Hinweise in den Aufzeichnungen Althofs die auf Buumlrgers eigenen freishylich sehr spaumlten muumlndlichen Auszligerungen beruhen Durch sie wird uumlbershyliefert daszlig der Junge bis in sein zehntes Lebensjahr hinein durchaus nicht mehr lernte als Lesen und Schreiben wohl aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse behielt was er sowohl in der Bibel als im Gesangshybuche las ja daszlig er wie er meinte das ganze Gesangbuch ohne Schwieshyrigkeit auswendig gelernt haben wuumlrde (B 431) Von den houmlchst aufshyschluszligreichen Einzelheiten dieser fruumlh gelegten Bibel- und Gesangbuch- kenntnisse muszlig spaumlter die Rede sein Hier wird zunaumlchst nur Althofs Mitteilung wichtig daszlig schon der Knabe ohne durch andere Muster als welche Bibel und Gesangbuch ihm lieferten dazu aufgefordert zu werden anfing Verse zu machen ehe er noch die allerersten Elemente der Grammatik erlernt hattelaquo (B 431) Das ist gewiszlig nicht so zu verstehen als habe der junge Verseschmied damals noch kein grammatisch fehlershyfreies Deutsch sprechen oder schreiben koumlnnen Grammatik lernte man an der Fremdsprache Buumlrger begegnete ihr also im lateinischen Untershyricht - und cr konnte ungeachtet aller Schlaumlge in zwei Jahren noch nicht Mensa decliniren (B 431) Diese Randbemerkung macht einsichtig

( daszlig es sich bei den poetischen Anregungen durch Bibel und Kirchenlied um ganz unreflektierte dem kontrollierenden Sprach- und Kunstbewuszligtshysein entzogene Vorgaumlnge handelt Das deckt sich voumlllig mit Althofs Aufshyzeichnung Buumlrger versicherte ferner So wenig diese Fertigkeiten als irgend eine andere Kenntniszlig seines nachfolgenden Lebens bis in sein maumlnnliches Alter haumltten ihm die geringste Anstrengung oder Muumlhe geshykostet es waumlre auch sehr wenig was er von Lehrern und aus Buumlchern geshylernt haumltte da es ihm immer in den Lehrstunden an Aufmerksamkeit und auszliger denselben an Geduld gefehlet ein Buch anhaltend aus zu lesen Er muumlszligte sich oft innerlich wundern wenn er einen Blick in die Vorrathsshykammer seiner Kenntnisse thaumlte wie und woher der Plunder alle hinein gekommen Das Meiste waumlre ihm hier und da und dort und uumlberall wie VOn selbst gleichsam angeflogen (B 431) Nichts konnte ihm so sehr von selbst anfliegen wie die Worte Bilder und Formen der heiligen Texte die von den Jugendjahren im vaumlterlichen Pfarrhaus bis zum Abbruch des theologischen Studiums in Halle sein taumlglicher Umgang waren Was aber fuumlr ihre Aufnahme gilt ist nicht weniger guumlltig fuumlr ihre Verwendung die Saumlkularisationsvorgaumlnge entziehen sich weithin dem Bewuszligtsein des Schreibenden Durch ihn hindurch aber oft ohne seine Absicht und ohne sein Dazutun wirkt hier die religioumlse Sprache auf das Kunstwerk ein

Der eigentliche Zugang zu diesen Phaumlnomenen kann deshalb nicht durch die Beschaumlftigung mit der Person des Autors gewonnen werden

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welches Forschers Geist hat Buumlrger selbst erklaumlrt kann sich immer so tief und innig in den Geist des Kuumlnstlers versenken um etwas mit Sicherheit auszumachen welches dieser oft selbst nicht recht weiszlig naumlmshylich was fuumlr Bestinunungsgruumlnde jeglichen seiner Schritte zum Ziele leitet haben 22 Nur im Ziele selbst im Zustandegekommenen WIrd wohl der eine oder andere Bestimmungsgrund erkennbar der Weg dahin fuumlhrt also nicht uumlber die Versenkung in den Geist des Kuumlnstlers sondern uumlber die Betrachtung des Kunstwerkes selbst

In dem 1782 entstandenen kleinen Gedicht raquoDer klug e Heldlaquo23 wird erzaumlhlt wie ein junger Soldat um der Gefahr zu entgehen am Tag vor der Schlacht einen Urlaub erbittet angeblich damit sein sterbender Vater ihm noch den Abschiedskuszlig geben koumlnne Die letzten Verse lauten

Sehr wohl versetzt der Chef und laumlchelt vor sich nieder Reis hurtig ab mein Sohn Denn nach der Bibel muszlig Dein Vater nach Gebuumlhr von dir geehret werden Auf daszlig dirs wohlergeh und du lang lebst auf Erden

Von verschiedenen Seiten aus wird einsichtig welch besonderes Gewicht dieser Schluszlig traumlgt ja daszlig das ganze Gedicht eigentlich auf ihn hin anshygelegt ist 24

bull Schon der Gespraumlchsablauf weckt eine Spannung auf die Beshygruumlndung fuumlr die Zustimmung des Chefs der den Vorwand ja durchshyschaut Zugleich trennt das Druckbild durch einen Gedankenstrich und folgenden Sinnabschnitt die hier angefuumlhrten letzten Zeilen von den vorshyangehenden und nachdem schon zuvor die wechselnd vier- und fuumlnfshyhebigen Jamben sich zweimal gleichsam praumlludierend ins alexandrinische Maszlig vorgewagt hatten gewinnt der Schluszligteil in dem die Alexandriner sich voumlllig durchgesetzt haben auch metrische Bedeutungssteigerung Entshyscheidend aber ist der Pointencharakter des Ausgangs und dessen eigentshylicher Uberraschungseffekt entsteht durch die ironische Beziehung des vierten Gebotes auf die Absichten des Soldaten Den wichtigsten Beitrag zur Schluszligbeschwerung des Gedichtes leisten diese beiden zitierenden len mit denen ein vorgeformtes und vorbelastetes Redestuumlck als schwerer Endakzent dem vorangehenden Berichte aufgesetzt wird

~2 Ueber die Wirkung des Schleiers in Werken der darstellenden Kunstlaquo TI S 340 23 Die Gedichte werden im folgenden zitiert nach der Ausgabe von E COllsentius

2 Bde 1914 Hier I S238 21 VgL E Staigers Begriff der nproblematischen Dichtung (Grundbegriffe der

Poetik LAufl 1951 S162ff)

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Schluszligbeschwerungen sind fuumlr Buumlrgers Lyrik charakteristisch Sie hershyvorzubringen erscheint die eben beobachtete Verbindung eines praumlforshymierten Sprachstuumlckes mit vorausgehenden freien Formationen beshysonders geeignet - und es ist bemerkenswert daszlig der strukturell so beshydeutsame pointierte Ausgang tatsaumlchlich in nahezu einem Drittel aller Gedichte Buumlrgers auf den christlichen Sprachbereich zuruumlckweist

Wo seine Gedichtausgaumlnge einen formelhaften Redeschluszlig woumlrtlich oder nur geringfuumlgig abgewandelt uumlbernehmen wird die Endbetonung am spuumlrbarsten Aus einer Fuumllle von Beispielen koumlnnte man dafuumlr nennen

Gott lass es dem Edlen doch wohl ergehn Das bet ich herzinniglich Amen (I 207)

Gott behuumlte liebe Seele Gott behuumlte dich davor (I 32)

o Paradiesesglaube Erhalt und staumlrke mich (I 38) Komm Von hinnen laszlig uns scheiden Eia waumlren wir schon da - (I 68) Dein Name sei gebenedeit Von nun an bis in Ewigkeit (I 45)

Der jeweilige Ursprungsort dieser Schluszligformeln bedarf keiner Erlaumluteshyrung Was sie - in einen neuen Zusammenhang versetzt - fuumlr den Aufshybau des Gedichtes leisten koumlnnen zeigt sich im ersten Beispiel (raquoDie Kuhlaquo) mit der Hervorhebung des Erzaumlhlers der diesen Epilog spricht und mit der Zusammenfassung des Gedichtes zur geschlossenen Form im letzten Beispiel (raquoDankliedlaquo) in dem die schlieszligenden Zeilen des Gedichtes die der Anfangsstrophe wieder aufnehmen und die preisende Aufreihung der Gottesgaben mit einer aus dem liturgischen Ursprungsort der Formel heruumlberwirkenden Kraft zusammengreifen und erfuumlllen im Benedeien des goumlttlichen Gebers Von solchen Leistungen wird noch die Rede sein

Aumlhnliche Wirkungen entfalten die Schluumlsse in denen Bibelzitate parashyphrasiert und auf die vorangehenden Verse bezogen werden In raquoSchoumln Suschenlaquo etwa geben die letzten Zeilen

Drum Lieb ist wohl wie Wind im Meer Sein Sausen ihr wohl houmlrt Allein ihr wisset nicht woher Wiszligt nicht wohin er faumlhrt (I 155)

die aus Joh 3 8 hervorgehen Antwort auf die Eingangsfrage des Geshydichtes durch sie erfuumlllt es sich in der inneren Form von Raumltselstellung und Raumltselloumlsung Vergleichbares bewirkt der Schluszlig von raquoDie Eleshy

13 7439 Schoumlne Saumlkularisation (Palaestra 226) 193

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mentelaquo nachdem die Liebe als allbewegende Triebkraft der Natur geshyschildert worden ist zieht der Ausgang die Lehre fuumlr den lieblos geshywordenen Menschen

Du bist ein eiteltoumlnend Erz Bist leerer Klingklang einer Schelle Und Tosen einer Wasserwelle (I 70)

Die auffallend haumlufige Verwendung solcher zusammenfassenden abshyrundenden aufloumlsenden erklaumlrenden pointierenden Schluszligbeschwerunshygen die der Dichter dem christlichen Sprachbereich entlehnt muszlig durchshyaus als Charakteristikum Buumlrgerseher Gedichtsstruktur verstanden werden

Ober die Bestimmung ihrer sprachlichen Herkunft hinaus sind diese beschwerten Ausgaumlnge in einigen Verwendungs faumlllen nun auch auf eine genauer bestimmbare Form des Sprechens zu beziehen Da endet etwa Die Entfuumlhrunglaquo mit den Versen

So segne dann der auf uns sieht Euch segne Gott von Glied zu Glied Auf Wechselt Ring und Haumlnde Und hiermit Lied am Ende (I 181)

Das ist die Spredlweise des Geistlichen und in der Tat nimmt ja hier am Ende des houmldlst wel dichen Balladengeschehens der Vater des entfuumlhrshyten Fraumluleins mit Segen und Ringwechsel eine priesterliche Handlung vor Diese personale Gleichung macht aufmerksam auf eine grundsaumltzliche typologische Entsprechung zwisdlen der Schluszligbeschwerung des Gedichshytes und geistlidler Redeweise Nicht nur das durchgehend religioumls beshystimmte liturgische Sprechen endet mit einer gewichtigen Schluszligformell des Gebetes Segens oder Lobpreises auch die nicht mehr formgebundene freie Rede das Gespraumlch die Ansprache so zu schlieszligen daszlig weltlidles Sprechen am Ende durch einen religioumlsen Bezug ein praumlformiertes Redeshystuumlck erhoumlht gekroumlnt gewichtig beschlossen wird ist fuumlr den Geistlichen offenbar bis heute bezeichnend

Diese durch vorgegebene Schluszligformeln charakterisierte Redeweise zeigt ganz die gleiche Grundform die in der Untersuchung der Buumlrgershysehen Gedichte sichtbar wird - wie ja jene Gepflogenheit an weltliche Rede einen oft geradezu gewaltsam angehaumlngten formelhaft-religioumlsen Schluszlig zu fuumlgen selbst in dem oben genannten Briefausgang noch spuumlrbar wird ich heuumlrathete wol ein Kuh wenn sie nur an der bewusten Vershynunft keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte didl bei dieser Philoshysophie Amen Amen GABuumlrger Unter diesem Blickwinkel gewinnt die Stelle geradezu karikierende Zuumlge

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Beispielhaft fuumlr eine solche Analogie der Sprechweisen scheinen etwa die Schluumlsse

Die Liebe segne dich und sie Mit ihrem besten Segen (148) Die Liebe sagt Verdammet nicht Daszlig man nicht Euch verdammet (I 187) Diesen Trinker gnade Gott Lass ihn nicht verderben (I 73)

Sie aber deuten auf eine Analogie-Antithese zwischen dem Pfarrer als dem Diener der christlichen Kirche und dem Poeten der eines seiner Geshydichte mit den Worten schlieszligt

Doch wisse du Apolls Religion Schenkt dir die Glaubenspflicht und dringt auf gute

Werke (I 248) Als Gottesdienst der Wortverwaltung hat Buumlrger sein dichterisd1cs Amt verstanden

Bin geweiht zum Priester des Apoll Mit des Gottes Kranz und goldnem Stabe Seines Geistes bin ich froh und voll Warum nicht auch frommer Wundergabe - (I 94)

Und am Ende des Gedichtes (raquoGeweih tes Ang ebind e zu Lo uis ens Geburtstagelaquo) tritt diese vaumlterliche Mitgift diese Sprechhaltung des Geistlichen ganz ausdruumlcklich ins Wort

Freud und Lust von keinem Harm vergaumlllt Sei durch dich Ihr in die Brust gegossen Freud an Gottes ganzer weiter Welt Mich den Priester auch mit eingeschlossen

shy

Die Beobachtung der Schluszligbeschwerung lenkt auf die Frage nach ihrer Integration in das Gesamtgefuumlge des Gedichtes und nach der Wirkung die sie dort entfaltet raquoDer kluge Heldlaquo kann darauf kaum schon ershyschoumlpfende Antwort geben die massive Pointicrung die hier durch den Endakzent zustande kommt ist nur eine unter vielen Moumlglichkeiten seiner Leistung Weit komplizierter liegen diese Verhaumlltnisse in Buumlrgers Nachshydichtung der raquoCo n f ess i 0laquo des Archipoeta 25

25 Das Gedicht war Buumlrger in einer dem Walter Mapes zugeschriebenen Fassung beshykannt geworden (vgl seinen Brief an Sprickmann vom 21077) deutliche Bezuumlge zeigen sich zu seinen Strophen 12 13 16-19 Zitiert wird die lat Vorlage nach dem auf 5 Strophen verkuumlrzten Abdruck den Buumlrger in der Ausgabe seiner Gedichte VOll

1778 auf S 290 f gegeben hat (Ausgenommen die beiden dort nicht mitgeteilten hier auf S199 zitierten Verse Voluptatis avidus laquo)

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Zechlied

Im will einst bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Alles meinen Wein nur nimt Lass im frohen Erben Nam der letzten Olung soll Hefen nom mim faumlrben Dann zertruumlmmre mein Pokal In zehntausend Smerben Jedermann hat von Natur Seine sondre Weise Mir gelinget jedes Werk Nur nam Trank und Speise Speis und Trank erhalten mim In dem remten Gleise Wer gut smmiert der faumlhrt aum gut Auf der Lebensreise Im bin gar ein armer Wimt Bin die feigste Memme Halten Durst und Hungerqual Mim in Angst und Klemme Smon ein Knaumlbchen smuumlttelt mim Was im aum mim stemme Einem Riesen halt im Stand Wann im zem und smlemme Aumlmter Wein ist aumlmtes 01 Zur Verstandeslampe Gibt der Seele Kraft und Schwung Bis zum Sternenkampe Witz und Weisheit dunsten auf Aus gefuumlllter Wampe Baszlig gluumlckt Harfenspiel und Sang Wann im brav smlampampe Nuumlchtern bin im immerdar Nur ein Harfenstuumlmper Mir erlahmen Hand und Griff Welken Haupt und Wimper Wann der Wein in Himmelsklang Wandelt mein Geklimper Sind Homer und Ossian Gegen mim nur Stuumlmper

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Nimmer hat durch meinen Mund Hoher Geist gesungen Bis ich meinen lieben Bauch Weidlich vollgeschlungen Wann mein Kapitolium Baechus Kraft erschwungen Sing und red ich wundersam Gar in fremden Zungen Drum will ich bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Nach der letzten oumllung soll Hefen noch mich faumlrben Engelchoumlre weihen dann Mich zum Nektarerben Diesen Trinker gnade Gott

Lass ihn nicht verderben (1 72 f)

Da wird mit der ersten Strophe das Bekenntnis zu einer Lebensfuumlhrung abgelegt und geradezu beschworen die selbst eingedenk des Todes noch ganz im Irdischen verharrt Fuumlnf folgende Strophen dann begruumlnden den Entschluszlig den die erste verkuumlndete auch ihre Aussagen bleiben durchshyaus im Bereiche des weingeweihten Diesseits Die letzte aber tritt nachshydem sie zunaumlchst das Bekenntnis der ersten aufgenommen in eine durchshyaus andere Sphaumlre Zwar setzt auch dort das irdische Trinkerleben sich fort aber der Spott der eben noch die letzte oumllung traf der Entschluszlig der ersten Strophe im Tode den Pokal zu zertruumlmmern lassen dieses Ende nicht erwarten

Ut dicant eum venerint angelorum chori Deus sit propitius huic potatori

heiszligt es in der raquoC 0 n fes s i 0laquo und solcher Gesang der Engelchoumlre beshyschlieszligt nun auch Buumlrgers koumlnigliches Sauflied 26 ein im religioumlsen Sprachbereich ausgebildetes Gebet um Gnade fuumlr den Suumlnder 27 - an dessen Stelle nun der Trinker steht - setzt den kraumlftigen Endakzent Wenn so unvermittelt das Sauflied in die Gebetsformel muumlndet scheint sich im Wortschatz in der Sprechhaltung im Hinblick auf die Geschehnisshyebene ein bruchhafter Wechsel zu vollziehen der die Einheitlichkeit des ganzen Gedichtes in Frage stellt Zwar folgen Vers- und Strophenbau zushygleich mit dem Reimschema der gtConfessiolaquo entlehnt ebenso wie die rhythmische Anlage des Liedes gleichbleibenden Aufbauprinzipien und stiften so eine formale Geschlossenheit des Ganzen aber gerade das treibt

28 Brief an Boie 18977 27 Vgl Lue1B 13 Deus propitius esto mihi peceatori

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den Umbruch der Schluszligbeschwerung nur um so kraumlftiger heraus Daszlig hier in Wahrheit keineswegs ein Bruch vorliegt daszlig dieser Sphaumlrenshywechsel durchaus nicht unvermittelt geschieht wird jedoch einsichtig sobald man die Sprache der Mittelstrophen schaumlrfer ins Auge faszligt Dann zeigt sich daszlig hinter der Bedeutungsoberflaumlche der Wortaussage vorshygeformtes Sprachgut aus eben der Sphaumlre wirksam ist zu der die schlieshyszligenden Verse sich erheben

Dem Wein dem der Sprechende selbst eingedenk des irdischen Endes noch sein Dasein verschreibt setzt die zweite Strophe die Speise zur Seite Beide Trank und Speise sind fuumlr das Leben noumltig - doch offenshybar nicht im Sinne notwendiger Ernaumlhrung Das erhalten meint kein einfad1es am-Leben-erhalten sondern ein im rechten Gleise im rechshyten Leben erhalten Das Schluszligwort der Strophe laumlszligt aufmerken Lebensreise erscheint als ein deutlich vorbelastetes vorgeformtes Sprad1stuumlck der religioumlsen Sphaumlre das (ausgehend von Gen 47 9) die christliche Deutung des Lebens als einer Reise durch die Weh zum jenshyseitigen Ziele in sich faszligt Trank und Speise in solchem Bedeutungsfeld als Hilfen die Lebensreise recht zu fuumlhren sie machen hinter dem lauten Gesang des Trinkers im fuumlnften Vers die liturgische Stimme vershynehmbar die Stimme des Geistlichen der die Hostie und den Wein reicht Nehmet hin und esset Nehmet hin und trinket das staumlrke und erhalte euch im rechten Glauben zum ewigen Leben Amenlaquo 28 Von andeshyrem Trank und anderer Speise als der vom Vater dargebotenen spricht der Sohn Doch im Bekenntnis des Zechlieds klingen noch immer jene Worte nach die von der Kraft des heiligen Mahles kuumlndeten weil das 11edium der Sprad1e die mit der Abendmahlsliturgie in sie eingeganshygenen Bedeutungsenergien bewahrt und fuumlr die Dichtung verfuumlgbar macht

Von der zweiten Strophe aufgerufen bleibt dieser Bezug auch in der dritten vierten und fuumlnften lebendig Hinter dem Zecher den Essen und Trinken der Angst und Schwaumld1e entheben so daszlig er einem Riesen standshyzuhalten vennag steigt das Bild des gottgestaumlrkten David herauf der dem Goliath standhaumllt Der aumlchte Wein und das aumldlte oumll derert Kraft die Seele zum Sternengewoumllbe erhebt gewinnen neue Bedeutung Hinter dem Harfenspieler und dem Himmelsklang seines Gesanges toumlnt leise der Psalm Davids zur Harfe zu singen und in der trunkseligen Prahshylerei der Erhebung uumlber Homer und Ossian mag damit eine verborgene Rechtfertigung solcher Selbsteinschaumltzung sich andeuten Sind die uumlbershytragenen Worte und Bilder hier dem Text des raquoZechlieds so weitshy

e8 In der Abendmahlsliturgie folgt diese in verschiedenen Fassungen gebraumluchliche Spclldeformc1 auf den Einsetzungsbericht Ausfuumlhrlich daruumlber P Graff Geschichte der Aufloumlsung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschshylands I 1937 S 197 ff

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gehend anverwandelt daszlig sie als fremdes Sprachgut kaum erkennbar werden heben sie sich in der sechsten Strophe doch wieder staumlrker ab erst der Abglanz der Erleuchtungsflammen des Pfingstwunders erhellt die Reden des Trunkenen als einwundersames Reden gar in fremden Zungen

Ein Vergleich mit dem Vorbild der lateinischen Beichtparodie der dies e Durchsichtigkeit auf den hinter der eigentlichen Aussage liegenden Sprach- und Bildbereich gaumlnzlich fehlt zeigt daszlig in Buumlrgers uumlbertragung eine sehr bewuszligte Absicht waltete Man halte gegen seine sechste Strophe etwa die Verse

Mihi nunquam spiritus prophetiae datur Non nisi cum fuerit venter bene satur Cum in arce cerebri Bacchus dominatur In me Phoebus irruit ac miranda fatur

Die Grundhaltung beider Gedichte unterscheidet sich wesentlich Mit den fuumlr die ganze raquoC 0 n fes s i 0laquo verbindlichen Versen

Voluptatis avidus magis quam salutis Mortuus in anima curam gero cutis

setzt der Archipoeta Diesseits und Jenseits gegeneinander und faumlllt seine klare Entscheidung fuumlr das eine gegen das andere Buumlrger aber verschmilzt die Bereiche Getragen von den sprachgebundenen Bedeutungsenergien die aus dem christlichen in einen houmlchst weltlichen Bereich des Sprechens uumlberfuumlhrt werden erhebt der bekenntnishafte Lebensbericht des Zechers sich zum Heilsbericht zum Preis einer uumlberirdischen und das Irdische vershywandelnden Macht die am Sprechenden wirksam wird Erst diese Spuren des weihevoll-heiligen Pathos dem Weine des schwoumlrenden protzenden singenden Zechers und Schlemmers beigemischt als ein verborgenes Arom bewirken jenes Entzuumlcken das Buumlrger mit der Lektuumlre des Gedichtes seinen Freunden verhieszlig29 Sie bereiten die schluszligbeschwerende Gebetsshyformel vor und bewirken daszlig statt eines Bruches hier der Aufschwung in jene Sphaumlre erfolgt die am inneren Aufbau des Liedes schon von Anshyfang an beteiligt war So vollendet sich das bekennende Sprechen des raquoZechliedslaquo am Ende in der inneren Form einer ihrer urspriinglichen Erfuumlllung mit christlichem Gehalt entleerten Heilsverkuumlndigung

i-

Mit jener Sprechweise des Geistlichen auf welche die Schluszligbeschweshyrung deutete haumlngt diese Form der He i I sv e r k uuml n d i gun g aufs engste zusammen Sie steht in Buumlrgers Werk durchaus nicht vereinzelt die im

29 Brief an Boie 18977

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religioumlsen Sprachgebrauch ausgebildeten Formmodelle finden hier zahlshyreiche und vielfaumlltige Entsprechungen die um so deutlicher erkennbar werden als sie noch immer merkliche Spuren auch des urspruumlnglichen Gehaltes tragen Sie erweisen sich als weltliche Kontrafakturen der relishygioumlsen Vorbilder 30 von denen sie nicht allein das organisierende Formshyprinzip beziehen sondern zugleich jenen Zuwachs an Bedeutungshaumlhe und Wirkungskraft den das Modell nur dann hergibt wenn es selbst noch als bedeutungshaltig und wirkungsfaumlhig intakt bleibt Die Annaumlherung auch der inhaltlichen Erfuumlllung dieser saumlkularisierten Formen an den christshylichen Denk- und Sprachbereich befoumlrdert ja begruumlndet ihre reichhaltige Erscheinung in Buumlrgers Lyrik

Ich glaube Luther wuumlrde dies Gedicht fuumlr ein wuumlrdiges Kirchenlied anerkannt haben schrieb AWSchlegel uumlber Die Elementelaquo (B 518) Schon mit dem Eingangsvers tritt es in die Form der Lehrvershykuumlndigung Horch Hohe Dinge lehr ich dich (I 68) Und diese Lehre vom Wesen der Elemente ist mehr als bloszlige Kundgabe Sie wird Maszligstab fuumlr den Belehrten Richtschnur Grundlage fuumlr das kommende Gericht Immer dringlicher wendet sie sich im Fortgang des Gedichtes an den Houmlrer selbst Sieh hin und her und Nun pruumlfe dich bis mit den oben (S 194) genannten Schluszligversen das lehrende Sprechen ins urteilende und verdammende uumlbergeht

Eine besondere Form der lehrhaft-bekennenden Rede macht das raquoDankl iedlaquo sichtbar (I 44ff) das Buumlrger urspruumlnglich Psalm nennen wollte und zu dem Boie ihm schrieb den denkenden Christen wird es entzuumlcken und erbauen aber den groumlszligten Haufen und Pastor Zuch - (12972) Es zeigt eine ganz symmetrische Anlage Die Eingangsstrophe wendet sich lobend an Gott den Schoumlpfer sechs folgende Strophen reihen auf was der Sprechende aus seiner Hand empfangen hat (daszlig es dabei ausgerechnet um die Liebe den Wein und den Gesang geht muszligte Pastor Zuch freilich wurmen) zwei Mittelstrophen bekennen daszlig die Fuumllle der Schoumlpfergaben nicht zu zaumlhlen sei (Wer zaumlhlt die Gaben alle Wer) und wenden sich auf den Sprecher selbst wieder sechs Strophen nennen dann die leiblichen und geistigen Eigenschaften die Gott ihm verliehen hat Hinter dieser Gaben Wunderschau aber wird Luthers Erklaumlrung zum 1 Artikel des Glaubensbekenntnisses sichtbar in der es nach der FrageWas ist das heiszligt Ich glaube daszlig mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mit Leib und Seele Augen Ohren und alle Glieshyder Vernunft und alle Sinne gegeben hat Gemaumlszlig den Schluszligworten der Erklaumlrung des alles ich ihm zu danken und zu loben schuldig bin muumlndet die letzte Strophe preisend und benedeiend in den liturgisch beshy

ao Zur Begriffsbestimmung dieser Saumlkularisationskategorie vgL S 289 ff

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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Nichts anderes als eine uumlbertragung des reformatorischen Verhaumlltnisses zur Schrift und seine Anpassung an den Umgang mit dem dichterischen Vort ist sein Verantwortungsgefuumlhl und seine Treue gegenuumlber dem unshyverriickbaren Text ja der Glaube daszlig am Buchstaben das Heil haumlngen koumlnne Gleichguumlltig welcher Grad von bewuszligter Einsicht in diese Zushysammenhaumlnge auch vorgelegen haben mag Buumlrgers Aumluszligerungen uumlber solche Fragen speisen sich unablaumlssig aus der religioumlsen Sprachquelle So begleitet er Anfang 1784 die uumlbersendung eines Manuskriptes an Goeckingk mit der leidenschaftlichen Ermahnung Houmlrt ihr daszlig also nur nicht ein Puumlnctchen zu geschweige denn ein Buchstab oder gar ein Wort fehlt Ihr seht sonst Euumlres Ungluumlcks kein Ende weder hier zeitlich noch dort ewig

Die fuumlr Buumlrger so bezeichnende Neigung zur unermuumldlichen oft geradeshyzu kleinlich anmutenden uumlberarbeitung und Ausfeilung seiner Gedichte wird man in unmittelbarem Zusammenhang sehen muumlssen mit jener Heishyligung der Werktreue die der Protestantismus entwickelt hat und es ist charakteristisch fuumlr die Denkweise des ganzen Buumlrgerschen Freundesshykreises wenn Meyer ihm zu einigen Gedichten die er fuumlr den Musenshyalmanach schickt am 971793 entschuldigend schreibt sie haumltten noch Mangel der Feile die vor Gott und Menschen angenehm ist

Solche Einzelbeobachtungen und man koumlnnte sie beliebig vermehren machen deutlich wie folgerichtig der Weg von Molmerswende nach Halle seine Fortsetzung verlangt auch wenn er nun in andere Gefilde fuumlhrt wie tief der Erbzwang den Pfarrersohn bestimmt uumlberdem bin ich einmal ein Theologe gewesen schreibt er an Goeckingk und von der Zeit haumlngt mir illud Theologorum decantatissimum Dic et servasti animam immer noch an 16 Schon 1772 erklaumlrte er sich gegen seine bisherige wolshyluumlstige und taumlndelnde Dichtungsart von allen moralischen Sentimens entbloumlszligt weil er meinte damit verloumlre die Poesie ihr erhabenes Amt Lehrerin der Menschen zu seyn 17

Im engsten Zusammenhang damit muszlig nun Buumlrgers Glaubensartikel von der P 0 pul a ri t auml t der Poesie gesehen werden Denn wenn von der kirchlichen Wortverkuumlndigung her das Amt Lehrerin der Menschen zu seyn auf die Dichtung uumlbertragen wird so faumlllt ihr zugleich die Pflicht zu ins Breite zu wirken einem unbegrenzten Leserkreise zugaumlnglich und verstaumlndlich zu sein Buumlrger nennt als seine Maxime wenn nicht Alle n dennoch den Me ist e n - versteht sich ohne weder sich selbst noch der Dichtkunst etwas zu vergeben - zu gleicher Zeit zu gefallen 18 Nur

1G 3675 Briefwechsel zwischen Buumlrger und Goeckingk S65 11 Brief an Boie 2 11 72 lB Die Problematik der Popularitaumlt die an dem eingeschobenen einschraumlnkenden

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dieGuumlnstlinge die dieses Ziel erreichen sind die gewaltigen Herzensshybezaumlhmer und Zauberer die ihre guumlldenen Staumlbe nie vergebens zucken und uumlber jedes Zei tal ter in immer lebendiger Kraft herrschen Nie verra uchen die Opfer auf ihren Altaumlren und unvergaumlnglich bluumlhen ihre Kraumlnze (B 178 f) Nur sie sprechen in Vollmacht Die Opferaltaumlre und der Bezug auf jene Staumlbe die vor dem Pharao von den aumlgyptischen Zauberern vergeblich dann aber von Moses und Aaron nie vergebens ausgereckt wurden 19

begruumlnden eine Priesterschaft der Wortverwaltung zu bestaumltigen die Wahrheit des Artikels woran ich festiglich glaube und welcher die Axe ist woherum meine ganze Poetik sich drehet Alle darstellende Bildshynerei kann und soll volksmaumlszligig seyn Denn das ist das Siegel ihrer Vollshykommenheit 20

Dieser Artikel von der Popularitaumlt der Dichtung Buumlrgers Glaubensshybekenntnis empfaumlngt in der Tat einen entscheidenden Anstoszlig aus der Predigt- und Seelsorgehaltung der er unter der vaumlterlichen Kanzel beshygegnete Wenn er scherzhaft an Meyer schreibt ein gottseliges Comite untersuche woher es wohl komme daszlig der Gottesdienst in der Unishyversitaumltskirche so sparsam besucht werde Ich denke mit Recht wird Euer gepredigtes Evangelium als eine der vornehmsten Ursachen oben an geshystellt werden (121 89) so liegt dem ganz der gleiche Gedanke zushygrunde der auch die Wirkungspoetik seiner Abhandlungen zur VolksshyPoesie bestimmt Es ist das saumlkularisierte Predigerethos das aus dem leishydenschaftlichen raquoHerzensausguszliglaquo spricht Durch Popularitaumlt mein ich soll die Poesie das wieder werden wozu sie Gott erschaffen und in die Seelen der Auserwaumlhlten gelegt hat Lebendiger Odem der uumlber aller Menschen Herzen und Sinnen hinweht Odem Gottes der vom Schlaf und Tod aufweckt Die Blinden sehend die Tauben houmlrend die Lahmen gehend und die Aussaumltzigen rein macht Und das Alles zum Heil und Frommen des Menschengeschlechts in diesem Jammerthaie (B 321) 21

Die Beobachtung solcher Umsetzungsvorgaumlnge die Buumlrgers theoretische Aumluszligerungen gedanklich und sprachlich bestimmen leitet zu unserer eigentlichen Frage nach der Bedeutung und Beschaffenheit der Saumlkularishysationsphaumlnomene in seinem d ich t e r i s c he n Werk

(wenn nicht gar aufhebenden) Satz zu entwickeln waumlre kann hier nicht ausgefuumlhrt werden Sie kommt in Schillers und A W Schlegels Buumlrger-Abhandlungen zur Sprache

Vgl Ex7-10 20 B S324 (Vorrede zur Ausgabe der Gedidlte 1778) 2 Ober eine ganz entsprechende neue Einstellung zum Volksganzen raquowelche die

seelsorgerliche Haltung des Vaters unmittelbar fortzusetzen scheint handelt H Schoumlffshyler Das literarische Zuumlrich 1925 S42f

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Unmittelbare und ausdruumlckliche biographische Zeugnisse fuumlr den Einshyfluszlig des religioumlsen Schrifttums gibt es kaum Immerhin finden sich einige Hinweise in den Aufzeichnungen Althofs die auf Buumlrgers eigenen freishylich sehr spaumlten muumlndlichen Auszligerungen beruhen Durch sie wird uumlbershyliefert daszlig der Junge bis in sein zehntes Lebensjahr hinein durchaus nicht mehr lernte als Lesen und Schreiben wohl aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse behielt was er sowohl in der Bibel als im Gesangshybuche las ja daszlig er wie er meinte das ganze Gesangbuch ohne Schwieshyrigkeit auswendig gelernt haben wuumlrde (B 431) Von den houmlchst aufshyschluszligreichen Einzelheiten dieser fruumlh gelegten Bibel- und Gesangbuch- kenntnisse muszlig spaumlter die Rede sein Hier wird zunaumlchst nur Althofs Mitteilung wichtig daszlig schon der Knabe ohne durch andere Muster als welche Bibel und Gesangbuch ihm lieferten dazu aufgefordert zu werden anfing Verse zu machen ehe er noch die allerersten Elemente der Grammatik erlernt hattelaquo (B 431) Das ist gewiszlig nicht so zu verstehen als habe der junge Verseschmied damals noch kein grammatisch fehlershyfreies Deutsch sprechen oder schreiben koumlnnen Grammatik lernte man an der Fremdsprache Buumlrger begegnete ihr also im lateinischen Untershyricht - und cr konnte ungeachtet aller Schlaumlge in zwei Jahren noch nicht Mensa decliniren (B 431) Diese Randbemerkung macht einsichtig

( daszlig es sich bei den poetischen Anregungen durch Bibel und Kirchenlied um ganz unreflektierte dem kontrollierenden Sprach- und Kunstbewuszligtshysein entzogene Vorgaumlnge handelt Das deckt sich voumlllig mit Althofs Aufshyzeichnung Buumlrger versicherte ferner So wenig diese Fertigkeiten als irgend eine andere Kenntniszlig seines nachfolgenden Lebens bis in sein maumlnnliches Alter haumltten ihm die geringste Anstrengung oder Muumlhe geshykostet es waumlre auch sehr wenig was er von Lehrern und aus Buumlchern geshylernt haumltte da es ihm immer in den Lehrstunden an Aufmerksamkeit und auszliger denselben an Geduld gefehlet ein Buch anhaltend aus zu lesen Er muumlszligte sich oft innerlich wundern wenn er einen Blick in die Vorrathsshykammer seiner Kenntnisse thaumlte wie und woher der Plunder alle hinein gekommen Das Meiste waumlre ihm hier und da und dort und uumlberall wie VOn selbst gleichsam angeflogen (B 431) Nichts konnte ihm so sehr von selbst anfliegen wie die Worte Bilder und Formen der heiligen Texte die von den Jugendjahren im vaumlterlichen Pfarrhaus bis zum Abbruch des theologischen Studiums in Halle sein taumlglicher Umgang waren Was aber fuumlr ihre Aufnahme gilt ist nicht weniger guumlltig fuumlr ihre Verwendung die Saumlkularisationsvorgaumlnge entziehen sich weithin dem Bewuszligtsein des Schreibenden Durch ihn hindurch aber oft ohne seine Absicht und ohne sein Dazutun wirkt hier die religioumlse Sprache auf das Kunstwerk ein

Der eigentliche Zugang zu diesen Phaumlnomenen kann deshalb nicht durch die Beschaumlftigung mit der Person des Autors gewonnen werden

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welches Forschers Geist hat Buumlrger selbst erklaumlrt kann sich immer so tief und innig in den Geist des Kuumlnstlers versenken um etwas mit Sicherheit auszumachen welches dieser oft selbst nicht recht weiszlig naumlmshylich was fuumlr Bestinunungsgruumlnde jeglichen seiner Schritte zum Ziele leitet haben 22 Nur im Ziele selbst im Zustandegekommenen WIrd wohl der eine oder andere Bestimmungsgrund erkennbar der Weg dahin fuumlhrt also nicht uumlber die Versenkung in den Geist des Kuumlnstlers sondern uumlber die Betrachtung des Kunstwerkes selbst

In dem 1782 entstandenen kleinen Gedicht raquoDer klug e Heldlaquo23 wird erzaumlhlt wie ein junger Soldat um der Gefahr zu entgehen am Tag vor der Schlacht einen Urlaub erbittet angeblich damit sein sterbender Vater ihm noch den Abschiedskuszlig geben koumlnne Die letzten Verse lauten

Sehr wohl versetzt der Chef und laumlchelt vor sich nieder Reis hurtig ab mein Sohn Denn nach der Bibel muszlig Dein Vater nach Gebuumlhr von dir geehret werden Auf daszlig dirs wohlergeh und du lang lebst auf Erden

Von verschiedenen Seiten aus wird einsichtig welch besonderes Gewicht dieser Schluszlig traumlgt ja daszlig das ganze Gedicht eigentlich auf ihn hin anshygelegt ist 24

bull Schon der Gespraumlchsablauf weckt eine Spannung auf die Beshygruumlndung fuumlr die Zustimmung des Chefs der den Vorwand ja durchshyschaut Zugleich trennt das Druckbild durch einen Gedankenstrich und folgenden Sinnabschnitt die hier angefuumlhrten letzten Zeilen von den vorshyangehenden und nachdem schon zuvor die wechselnd vier- und fuumlnfshyhebigen Jamben sich zweimal gleichsam praumlludierend ins alexandrinische Maszlig vorgewagt hatten gewinnt der Schluszligteil in dem die Alexandriner sich voumlllig durchgesetzt haben auch metrische Bedeutungssteigerung Entshyscheidend aber ist der Pointencharakter des Ausgangs und dessen eigentshylicher Uberraschungseffekt entsteht durch die ironische Beziehung des vierten Gebotes auf die Absichten des Soldaten Den wichtigsten Beitrag zur Schluszligbeschwerung des Gedichtes leisten diese beiden zitierenden len mit denen ein vorgeformtes und vorbelastetes Redestuumlck als schwerer Endakzent dem vorangehenden Berichte aufgesetzt wird

~2 Ueber die Wirkung des Schleiers in Werken der darstellenden Kunstlaquo TI S 340 23 Die Gedichte werden im folgenden zitiert nach der Ausgabe von E COllsentius

2 Bde 1914 Hier I S238 21 VgL E Staigers Begriff der nproblematischen Dichtung (Grundbegriffe der

Poetik LAufl 1951 S162ff)

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Schluszligbeschwerungen sind fuumlr Buumlrgers Lyrik charakteristisch Sie hershyvorzubringen erscheint die eben beobachtete Verbindung eines praumlforshymierten Sprachstuumlckes mit vorausgehenden freien Formationen beshysonders geeignet - und es ist bemerkenswert daszlig der strukturell so beshydeutsame pointierte Ausgang tatsaumlchlich in nahezu einem Drittel aller Gedichte Buumlrgers auf den christlichen Sprachbereich zuruumlckweist

Wo seine Gedichtausgaumlnge einen formelhaften Redeschluszlig woumlrtlich oder nur geringfuumlgig abgewandelt uumlbernehmen wird die Endbetonung am spuumlrbarsten Aus einer Fuumllle von Beispielen koumlnnte man dafuumlr nennen

Gott lass es dem Edlen doch wohl ergehn Das bet ich herzinniglich Amen (I 207)

Gott behuumlte liebe Seele Gott behuumlte dich davor (I 32)

o Paradiesesglaube Erhalt und staumlrke mich (I 38) Komm Von hinnen laszlig uns scheiden Eia waumlren wir schon da - (I 68) Dein Name sei gebenedeit Von nun an bis in Ewigkeit (I 45)

Der jeweilige Ursprungsort dieser Schluszligformeln bedarf keiner Erlaumluteshyrung Was sie - in einen neuen Zusammenhang versetzt - fuumlr den Aufshybau des Gedichtes leisten koumlnnen zeigt sich im ersten Beispiel (raquoDie Kuhlaquo) mit der Hervorhebung des Erzaumlhlers der diesen Epilog spricht und mit der Zusammenfassung des Gedichtes zur geschlossenen Form im letzten Beispiel (raquoDankliedlaquo) in dem die schlieszligenden Zeilen des Gedichtes die der Anfangsstrophe wieder aufnehmen und die preisende Aufreihung der Gottesgaben mit einer aus dem liturgischen Ursprungsort der Formel heruumlberwirkenden Kraft zusammengreifen und erfuumlllen im Benedeien des goumlttlichen Gebers Von solchen Leistungen wird noch die Rede sein

Aumlhnliche Wirkungen entfalten die Schluumlsse in denen Bibelzitate parashyphrasiert und auf die vorangehenden Verse bezogen werden In raquoSchoumln Suschenlaquo etwa geben die letzten Zeilen

Drum Lieb ist wohl wie Wind im Meer Sein Sausen ihr wohl houmlrt Allein ihr wisset nicht woher Wiszligt nicht wohin er faumlhrt (I 155)

die aus Joh 3 8 hervorgehen Antwort auf die Eingangsfrage des Geshydichtes durch sie erfuumlllt es sich in der inneren Form von Raumltselstellung und Raumltselloumlsung Vergleichbares bewirkt der Schluszlig von raquoDie Eleshy

13 7439 Schoumlne Saumlkularisation (Palaestra 226) 193

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mentelaquo nachdem die Liebe als allbewegende Triebkraft der Natur geshyschildert worden ist zieht der Ausgang die Lehre fuumlr den lieblos geshywordenen Menschen

Du bist ein eiteltoumlnend Erz Bist leerer Klingklang einer Schelle Und Tosen einer Wasserwelle (I 70)

Die auffallend haumlufige Verwendung solcher zusammenfassenden abshyrundenden aufloumlsenden erklaumlrenden pointierenden Schluszligbeschwerunshygen die der Dichter dem christlichen Sprachbereich entlehnt muszlig durchshyaus als Charakteristikum Buumlrgerseher Gedichtsstruktur verstanden werden

Ober die Bestimmung ihrer sprachlichen Herkunft hinaus sind diese beschwerten Ausgaumlnge in einigen Verwendungs faumlllen nun auch auf eine genauer bestimmbare Form des Sprechens zu beziehen Da endet etwa Die Entfuumlhrunglaquo mit den Versen

So segne dann der auf uns sieht Euch segne Gott von Glied zu Glied Auf Wechselt Ring und Haumlnde Und hiermit Lied am Ende (I 181)

Das ist die Spredlweise des Geistlichen und in der Tat nimmt ja hier am Ende des houmldlst wel dichen Balladengeschehens der Vater des entfuumlhrshyten Fraumluleins mit Segen und Ringwechsel eine priesterliche Handlung vor Diese personale Gleichung macht aufmerksam auf eine grundsaumltzliche typologische Entsprechung zwisdlen der Schluszligbeschwerung des Gedichshytes und geistlidler Redeweise Nicht nur das durchgehend religioumls beshystimmte liturgische Sprechen endet mit einer gewichtigen Schluszligformell des Gebetes Segens oder Lobpreises auch die nicht mehr formgebundene freie Rede das Gespraumlch die Ansprache so zu schlieszligen daszlig weltlidles Sprechen am Ende durch einen religioumlsen Bezug ein praumlformiertes Redeshystuumlck erhoumlht gekroumlnt gewichtig beschlossen wird ist fuumlr den Geistlichen offenbar bis heute bezeichnend

Diese durch vorgegebene Schluszligformeln charakterisierte Redeweise zeigt ganz die gleiche Grundform die in der Untersuchung der Buumlrgershysehen Gedichte sichtbar wird - wie ja jene Gepflogenheit an weltliche Rede einen oft geradezu gewaltsam angehaumlngten formelhaft-religioumlsen Schluszlig zu fuumlgen selbst in dem oben genannten Briefausgang noch spuumlrbar wird ich heuumlrathete wol ein Kuh wenn sie nur an der bewusten Vershynunft keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte didl bei dieser Philoshysophie Amen Amen GABuumlrger Unter diesem Blickwinkel gewinnt die Stelle geradezu karikierende Zuumlge

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Beispielhaft fuumlr eine solche Analogie der Sprechweisen scheinen etwa die Schluumlsse

Die Liebe segne dich und sie Mit ihrem besten Segen (148) Die Liebe sagt Verdammet nicht Daszlig man nicht Euch verdammet (I 187) Diesen Trinker gnade Gott Lass ihn nicht verderben (I 73)

Sie aber deuten auf eine Analogie-Antithese zwischen dem Pfarrer als dem Diener der christlichen Kirche und dem Poeten der eines seiner Geshydichte mit den Worten schlieszligt

Doch wisse du Apolls Religion Schenkt dir die Glaubenspflicht und dringt auf gute

Werke (I 248) Als Gottesdienst der Wortverwaltung hat Buumlrger sein dichterisd1cs Amt verstanden

Bin geweiht zum Priester des Apoll Mit des Gottes Kranz und goldnem Stabe Seines Geistes bin ich froh und voll Warum nicht auch frommer Wundergabe - (I 94)

Und am Ende des Gedichtes (raquoGeweih tes Ang ebind e zu Lo uis ens Geburtstagelaquo) tritt diese vaumlterliche Mitgift diese Sprechhaltung des Geistlichen ganz ausdruumlcklich ins Wort

Freud und Lust von keinem Harm vergaumlllt Sei durch dich Ihr in die Brust gegossen Freud an Gottes ganzer weiter Welt Mich den Priester auch mit eingeschlossen

shy

Die Beobachtung der Schluszligbeschwerung lenkt auf die Frage nach ihrer Integration in das Gesamtgefuumlge des Gedichtes und nach der Wirkung die sie dort entfaltet raquoDer kluge Heldlaquo kann darauf kaum schon ershyschoumlpfende Antwort geben die massive Pointicrung die hier durch den Endakzent zustande kommt ist nur eine unter vielen Moumlglichkeiten seiner Leistung Weit komplizierter liegen diese Verhaumlltnisse in Buumlrgers Nachshydichtung der raquoCo n f ess i 0laquo des Archipoeta 25

25 Das Gedicht war Buumlrger in einer dem Walter Mapes zugeschriebenen Fassung beshykannt geworden (vgl seinen Brief an Sprickmann vom 21077) deutliche Bezuumlge zeigen sich zu seinen Strophen 12 13 16-19 Zitiert wird die lat Vorlage nach dem auf 5 Strophen verkuumlrzten Abdruck den Buumlrger in der Ausgabe seiner Gedichte VOll

1778 auf S 290 f gegeben hat (Ausgenommen die beiden dort nicht mitgeteilten hier auf S199 zitierten Verse Voluptatis avidus laquo)

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Zechlied

Im will einst bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Alles meinen Wein nur nimt Lass im frohen Erben Nam der letzten Olung soll Hefen nom mim faumlrben Dann zertruumlmmre mein Pokal In zehntausend Smerben Jedermann hat von Natur Seine sondre Weise Mir gelinget jedes Werk Nur nam Trank und Speise Speis und Trank erhalten mim In dem remten Gleise Wer gut smmiert der faumlhrt aum gut Auf der Lebensreise Im bin gar ein armer Wimt Bin die feigste Memme Halten Durst und Hungerqual Mim in Angst und Klemme Smon ein Knaumlbchen smuumlttelt mim Was im aum mim stemme Einem Riesen halt im Stand Wann im zem und smlemme Aumlmter Wein ist aumlmtes 01 Zur Verstandeslampe Gibt der Seele Kraft und Schwung Bis zum Sternenkampe Witz und Weisheit dunsten auf Aus gefuumlllter Wampe Baszlig gluumlckt Harfenspiel und Sang Wann im brav smlampampe Nuumlchtern bin im immerdar Nur ein Harfenstuumlmper Mir erlahmen Hand und Griff Welken Haupt und Wimper Wann der Wein in Himmelsklang Wandelt mein Geklimper Sind Homer und Ossian Gegen mim nur Stuumlmper

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Nimmer hat durch meinen Mund Hoher Geist gesungen Bis ich meinen lieben Bauch Weidlich vollgeschlungen Wann mein Kapitolium Baechus Kraft erschwungen Sing und red ich wundersam Gar in fremden Zungen Drum will ich bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Nach der letzten oumllung soll Hefen noch mich faumlrben Engelchoumlre weihen dann Mich zum Nektarerben Diesen Trinker gnade Gott

Lass ihn nicht verderben (1 72 f)

Da wird mit der ersten Strophe das Bekenntnis zu einer Lebensfuumlhrung abgelegt und geradezu beschworen die selbst eingedenk des Todes noch ganz im Irdischen verharrt Fuumlnf folgende Strophen dann begruumlnden den Entschluszlig den die erste verkuumlndete auch ihre Aussagen bleiben durchshyaus im Bereiche des weingeweihten Diesseits Die letzte aber tritt nachshydem sie zunaumlchst das Bekenntnis der ersten aufgenommen in eine durchshyaus andere Sphaumlre Zwar setzt auch dort das irdische Trinkerleben sich fort aber der Spott der eben noch die letzte oumllung traf der Entschluszlig der ersten Strophe im Tode den Pokal zu zertruumlmmern lassen dieses Ende nicht erwarten

Ut dicant eum venerint angelorum chori Deus sit propitius huic potatori

heiszligt es in der raquoC 0 n fes s i 0laquo und solcher Gesang der Engelchoumlre beshyschlieszligt nun auch Buumlrgers koumlnigliches Sauflied 26 ein im religioumlsen Sprachbereich ausgebildetes Gebet um Gnade fuumlr den Suumlnder 27 - an dessen Stelle nun der Trinker steht - setzt den kraumlftigen Endakzent Wenn so unvermittelt das Sauflied in die Gebetsformel muumlndet scheint sich im Wortschatz in der Sprechhaltung im Hinblick auf die Geschehnisshyebene ein bruchhafter Wechsel zu vollziehen der die Einheitlichkeit des ganzen Gedichtes in Frage stellt Zwar folgen Vers- und Strophenbau zushygleich mit dem Reimschema der gtConfessiolaquo entlehnt ebenso wie die rhythmische Anlage des Liedes gleichbleibenden Aufbauprinzipien und stiften so eine formale Geschlossenheit des Ganzen aber gerade das treibt

28 Brief an Boie 18977 27 Vgl Lue1B 13 Deus propitius esto mihi peceatori

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den Umbruch der Schluszligbeschwerung nur um so kraumlftiger heraus Daszlig hier in Wahrheit keineswegs ein Bruch vorliegt daszlig dieser Sphaumlrenshywechsel durchaus nicht unvermittelt geschieht wird jedoch einsichtig sobald man die Sprache der Mittelstrophen schaumlrfer ins Auge faszligt Dann zeigt sich daszlig hinter der Bedeutungsoberflaumlche der Wortaussage vorshygeformtes Sprachgut aus eben der Sphaumlre wirksam ist zu der die schlieshyszligenden Verse sich erheben

Dem Wein dem der Sprechende selbst eingedenk des irdischen Endes noch sein Dasein verschreibt setzt die zweite Strophe die Speise zur Seite Beide Trank und Speise sind fuumlr das Leben noumltig - doch offenshybar nicht im Sinne notwendiger Ernaumlhrung Das erhalten meint kein einfad1es am-Leben-erhalten sondern ein im rechten Gleise im rechshyten Leben erhalten Das Schluszligwort der Strophe laumlszligt aufmerken Lebensreise erscheint als ein deutlich vorbelastetes vorgeformtes Sprad1stuumlck der religioumlsen Sphaumlre das (ausgehend von Gen 47 9) die christliche Deutung des Lebens als einer Reise durch die Weh zum jenshyseitigen Ziele in sich faszligt Trank und Speise in solchem Bedeutungsfeld als Hilfen die Lebensreise recht zu fuumlhren sie machen hinter dem lauten Gesang des Trinkers im fuumlnften Vers die liturgische Stimme vershynehmbar die Stimme des Geistlichen der die Hostie und den Wein reicht Nehmet hin und esset Nehmet hin und trinket das staumlrke und erhalte euch im rechten Glauben zum ewigen Leben Amenlaquo 28 Von andeshyrem Trank und anderer Speise als der vom Vater dargebotenen spricht der Sohn Doch im Bekenntnis des Zechlieds klingen noch immer jene Worte nach die von der Kraft des heiligen Mahles kuumlndeten weil das 11edium der Sprad1e die mit der Abendmahlsliturgie in sie eingeganshygenen Bedeutungsenergien bewahrt und fuumlr die Dichtung verfuumlgbar macht

Von der zweiten Strophe aufgerufen bleibt dieser Bezug auch in der dritten vierten und fuumlnften lebendig Hinter dem Zecher den Essen und Trinken der Angst und Schwaumld1e entheben so daszlig er einem Riesen standshyzuhalten vennag steigt das Bild des gottgestaumlrkten David herauf der dem Goliath standhaumllt Der aumlchte Wein und das aumldlte oumll derert Kraft die Seele zum Sternengewoumllbe erhebt gewinnen neue Bedeutung Hinter dem Harfenspieler und dem Himmelsklang seines Gesanges toumlnt leise der Psalm Davids zur Harfe zu singen und in der trunkseligen Prahshylerei der Erhebung uumlber Homer und Ossian mag damit eine verborgene Rechtfertigung solcher Selbsteinschaumltzung sich andeuten Sind die uumlbershytragenen Worte und Bilder hier dem Text des raquoZechlieds so weitshy

e8 In der Abendmahlsliturgie folgt diese in verschiedenen Fassungen gebraumluchliche Spclldeformc1 auf den Einsetzungsbericht Ausfuumlhrlich daruumlber P Graff Geschichte der Aufloumlsung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschshylands I 1937 S 197 ff

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gehend anverwandelt daszlig sie als fremdes Sprachgut kaum erkennbar werden heben sie sich in der sechsten Strophe doch wieder staumlrker ab erst der Abglanz der Erleuchtungsflammen des Pfingstwunders erhellt die Reden des Trunkenen als einwundersames Reden gar in fremden Zungen

Ein Vergleich mit dem Vorbild der lateinischen Beichtparodie der dies e Durchsichtigkeit auf den hinter der eigentlichen Aussage liegenden Sprach- und Bildbereich gaumlnzlich fehlt zeigt daszlig in Buumlrgers uumlbertragung eine sehr bewuszligte Absicht waltete Man halte gegen seine sechste Strophe etwa die Verse

Mihi nunquam spiritus prophetiae datur Non nisi cum fuerit venter bene satur Cum in arce cerebri Bacchus dominatur In me Phoebus irruit ac miranda fatur

Die Grundhaltung beider Gedichte unterscheidet sich wesentlich Mit den fuumlr die ganze raquoC 0 n fes s i 0laquo verbindlichen Versen

Voluptatis avidus magis quam salutis Mortuus in anima curam gero cutis

setzt der Archipoeta Diesseits und Jenseits gegeneinander und faumlllt seine klare Entscheidung fuumlr das eine gegen das andere Buumlrger aber verschmilzt die Bereiche Getragen von den sprachgebundenen Bedeutungsenergien die aus dem christlichen in einen houmlchst weltlichen Bereich des Sprechens uumlberfuumlhrt werden erhebt der bekenntnishafte Lebensbericht des Zechers sich zum Heilsbericht zum Preis einer uumlberirdischen und das Irdische vershywandelnden Macht die am Sprechenden wirksam wird Erst diese Spuren des weihevoll-heiligen Pathos dem Weine des schwoumlrenden protzenden singenden Zechers und Schlemmers beigemischt als ein verborgenes Arom bewirken jenes Entzuumlcken das Buumlrger mit der Lektuumlre des Gedichtes seinen Freunden verhieszlig29 Sie bereiten die schluszligbeschwerende Gebetsshyformel vor und bewirken daszlig statt eines Bruches hier der Aufschwung in jene Sphaumlre erfolgt die am inneren Aufbau des Liedes schon von Anshyfang an beteiligt war So vollendet sich das bekennende Sprechen des raquoZechliedslaquo am Ende in der inneren Form einer ihrer urspriinglichen Erfuumlllung mit christlichem Gehalt entleerten Heilsverkuumlndigung

i-

Mit jener Sprechweise des Geistlichen auf welche die Schluszligbeschweshyrung deutete haumlngt diese Form der He i I sv e r k uuml n d i gun g aufs engste zusammen Sie steht in Buumlrgers Werk durchaus nicht vereinzelt die im

29 Brief an Boie 18977

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religioumlsen Sprachgebrauch ausgebildeten Formmodelle finden hier zahlshyreiche und vielfaumlltige Entsprechungen die um so deutlicher erkennbar werden als sie noch immer merkliche Spuren auch des urspruumlnglichen Gehaltes tragen Sie erweisen sich als weltliche Kontrafakturen der relishygioumlsen Vorbilder 30 von denen sie nicht allein das organisierende Formshyprinzip beziehen sondern zugleich jenen Zuwachs an Bedeutungshaumlhe und Wirkungskraft den das Modell nur dann hergibt wenn es selbst noch als bedeutungshaltig und wirkungsfaumlhig intakt bleibt Die Annaumlherung auch der inhaltlichen Erfuumlllung dieser saumlkularisierten Formen an den christshylichen Denk- und Sprachbereich befoumlrdert ja begruumlndet ihre reichhaltige Erscheinung in Buumlrgers Lyrik

Ich glaube Luther wuumlrde dies Gedicht fuumlr ein wuumlrdiges Kirchenlied anerkannt haben schrieb AWSchlegel uumlber Die Elementelaquo (B 518) Schon mit dem Eingangsvers tritt es in die Form der Lehrvershykuumlndigung Horch Hohe Dinge lehr ich dich (I 68) Und diese Lehre vom Wesen der Elemente ist mehr als bloszlige Kundgabe Sie wird Maszligstab fuumlr den Belehrten Richtschnur Grundlage fuumlr das kommende Gericht Immer dringlicher wendet sie sich im Fortgang des Gedichtes an den Houmlrer selbst Sieh hin und her und Nun pruumlfe dich bis mit den oben (S 194) genannten Schluszligversen das lehrende Sprechen ins urteilende und verdammende uumlbergeht

Eine besondere Form der lehrhaft-bekennenden Rede macht das raquoDankl iedlaquo sichtbar (I 44ff) das Buumlrger urspruumlnglich Psalm nennen wollte und zu dem Boie ihm schrieb den denkenden Christen wird es entzuumlcken und erbauen aber den groumlszligten Haufen und Pastor Zuch - (12972) Es zeigt eine ganz symmetrische Anlage Die Eingangsstrophe wendet sich lobend an Gott den Schoumlpfer sechs folgende Strophen reihen auf was der Sprechende aus seiner Hand empfangen hat (daszlig es dabei ausgerechnet um die Liebe den Wein und den Gesang geht muszligte Pastor Zuch freilich wurmen) zwei Mittelstrophen bekennen daszlig die Fuumllle der Schoumlpfergaben nicht zu zaumlhlen sei (Wer zaumlhlt die Gaben alle Wer) und wenden sich auf den Sprecher selbst wieder sechs Strophen nennen dann die leiblichen und geistigen Eigenschaften die Gott ihm verliehen hat Hinter dieser Gaben Wunderschau aber wird Luthers Erklaumlrung zum 1 Artikel des Glaubensbekenntnisses sichtbar in der es nach der FrageWas ist das heiszligt Ich glaube daszlig mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mit Leib und Seele Augen Ohren und alle Glieshyder Vernunft und alle Sinne gegeben hat Gemaumlszlig den Schluszligworten der Erklaumlrung des alles ich ihm zu danken und zu loben schuldig bin muumlndet die letzte Strophe preisend und benedeiend in den liturgisch beshy

ao Zur Begriffsbestimmung dieser Saumlkularisationskategorie vgL S 289 ff

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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dieGuumlnstlinge die dieses Ziel erreichen sind die gewaltigen Herzensshybezaumlhmer und Zauberer die ihre guumlldenen Staumlbe nie vergebens zucken und uumlber jedes Zei tal ter in immer lebendiger Kraft herrschen Nie verra uchen die Opfer auf ihren Altaumlren und unvergaumlnglich bluumlhen ihre Kraumlnze (B 178 f) Nur sie sprechen in Vollmacht Die Opferaltaumlre und der Bezug auf jene Staumlbe die vor dem Pharao von den aumlgyptischen Zauberern vergeblich dann aber von Moses und Aaron nie vergebens ausgereckt wurden 19

begruumlnden eine Priesterschaft der Wortverwaltung zu bestaumltigen die Wahrheit des Artikels woran ich festiglich glaube und welcher die Axe ist woherum meine ganze Poetik sich drehet Alle darstellende Bildshynerei kann und soll volksmaumlszligig seyn Denn das ist das Siegel ihrer Vollshykommenheit 20

Dieser Artikel von der Popularitaumlt der Dichtung Buumlrgers Glaubensshybekenntnis empfaumlngt in der Tat einen entscheidenden Anstoszlig aus der Predigt- und Seelsorgehaltung der er unter der vaumlterlichen Kanzel beshygegnete Wenn er scherzhaft an Meyer schreibt ein gottseliges Comite untersuche woher es wohl komme daszlig der Gottesdienst in der Unishyversitaumltskirche so sparsam besucht werde Ich denke mit Recht wird Euer gepredigtes Evangelium als eine der vornehmsten Ursachen oben an geshystellt werden (121 89) so liegt dem ganz der gleiche Gedanke zushygrunde der auch die Wirkungspoetik seiner Abhandlungen zur VolksshyPoesie bestimmt Es ist das saumlkularisierte Predigerethos das aus dem leishydenschaftlichen raquoHerzensausguszliglaquo spricht Durch Popularitaumlt mein ich soll die Poesie das wieder werden wozu sie Gott erschaffen und in die Seelen der Auserwaumlhlten gelegt hat Lebendiger Odem der uumlber aller Menschen Herzen und Sinnen hinweht Odem Gottes der vom Schlaf und Tod aufweckt Die Blinden sehend die Tauben houmlrend die Lahmen gehend und die Aussaumltzigen rein macht Und das Alles zum Heil und Frommen des Menschengeschlechts in diesem Jammerthaie (B 321) 21

Die Beobachtung solcher Umsetzungsvorgaumlnge die Buumlrgers theoretische Aumluszligerungen gedanklich und sprachlich bestimmen leitet zu unserer eigentlichen Frage nach der Bedeutung und Beschaffenheit der Saumlkularishysationsphaumlnomene in seinem d ich t e r i s c he n Werk

(wenn nicht gar aufhebenden) Satz zu entwickeln waumlre kann hier nicht ausgefuumlhrt werden Sie kommt in Schillers und A W Schlegels Buumlrger-Abhandlungen zur Sprache

Vgl Ex7-10 20 B S324 (Vorrede zur Ausgabe der Gedidlte 1778) 2 Ober eine ganz entsprechende neue Einstellung zum Volksganzen raquowelche die

seelsorgerliche Haltung des Vaters unmittelbar fortzusetzen scheint handelt H Schoumlffshyler Das literarische Zuumlrich 1925 S42f

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Unmittelbare und ausdruumlckliche biographische Zeugnisse fuumlr den Einshyfluszlig des religioumlsen Schrifttums gibt es kaum Immerhin finden sich einige Hinweise in den Aufzeichnungen Althofs die auf Buumlrgers eigenen freishylich sehr spaumlten muumlndlichen Auszligerungen beruhen Durch sie wird uumlbershyliefert daszlig der Junge bis in sein zehntes Lebensjahr hinein durchaus nicht mehr lernte als Lesen und Schreiben wohl aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse behielt was er sowohl in der Bibel als im Gesangshybuche las ja daszlig er wie er meinte das ganze Gesangbuch ohne Schwieshyrigkeit auswendig gelernt haben wuumlrde (B 431) Von den houmlchst aufshyschluszligreichen Einzelheiten dieser fruumlh gelegten Bibel- und Gesangbuch- kenntnisse muszlig spaumlter die Rede sein Hier wird zunaumlchst nur Althofs Mitteilung wichtig daszlig schon der Knabe ohne durch andere Muster als welche Bibel und Gesangbuch ihm lieferten dazu aufgefordert zu werden anfing Verse zu machen ehe er noch die allerersten Elemente der Grammatik erlernt hattelaquo (B 431) Das ist gewiszlig nicht so zu verstehen als habe der junge Verseschmied damals noch kein grammatisch fehlershyfreies Deutsch sprechen oder schreiben koumlnnen Grammatik lernte man an der Fremdsprache Buumlrger begegnete ihr also im lateinischen Untershyricht - und cr konnte ungeachtet aller Schlaumlge in zwei Jahren noch nicht Mensa decliniren (B 431) Diese Randbemerkung macht einsichtig

( daszlig es sich bei den poetischen Anregungen durch Bibel und Kirchenlied um ganz unreflektierte dem kontrollierenden Sprach- und Kunstbewuszligtshysein entzogene Vorgaumlnge handelt Das deckt sich voumlllig mit Althofs Aufshyzeichnung Buumlrger versicherte ferner So wenig diese Fertigkeiten als irgend eine andere Kenntniszlig seines nachfolgenden Lebens bis in sein maumlnnliches Alter haumltten ihm die geringste Anstrengung oder Muumlhe geshykostet es waumlre auch sehr wenig was er von Lehrern und aus Buumlchern geshylernt haumltte da es ihm immer in den Lehrstunden an Aufmerksamkeit und auszliger denselben an Geduld gefehlet ein Buch anhaltend aus zu lesen Er muumlszligte sich oft innerlich wundern wenn er einen Blick in die Vorrathsshykammer seiner Kenntnisse thaumlte wie und woher der Plunder alle hinein gekommen Das Meiste waumlre ihm hier und da und dort und uumlberall wie VOn selbst gleichsam angeflogen (B 431) Nichts konnte ihm so sehr von selbst anfliegen wie die Worte Bilder und Formen der heiligen Texte die von den Jugendjahren im vaumlterlichen Pfarrhaus bis zum Abbruch des theologischen Studiums in Halle sein taumlglicher Umgang waren Was aber fuumlr ihre Aufnahme gilt ist nicht weniger guumlltig fuumlr ihre Verwendung die Saumlkularisationsvorgaumlnge entziehen sich weithin dem Bewuszligtsein des Schreibenden Durch ihn hindurch aber oft ohne seine Absicht und ohne sein Dazutun wirkt hier die religioumlse Sprache auf das Kunstwerk ein

Der eigentliche Zugang zu diesen Phaumlnomenen kann deshalb nicht durch die Beschaumlftigung mit der Person des Autors gewonnen werden

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welches Forschers Geist hat Buumlrger selbst erklaumlrt kann sich immer so tief und innig in den Geist des Kuumlnstlers versenken um etwas mit Sicherheit auszumachen welches dieser oft selbst nicht recht weiszlig naumlmshylich was fuumlr Bestinunungsgruumlnde jeglichen seiner Schritte zum Ziele leitet haben 22 Nur im Ziele selbst im Zustandegekommenen WIrd wohl der eine oder andere Bestimmungsgrund erkennbar der Weg dahin fuumlhrt also nicht uumlber die Versenkung in den Geist des Kuumlnstlers sondern uumlber die Betrachtung des Kunstwerkes selbst

In dem 1782 entstandenen kleinen Gedicht raquoDer klug e Heldlaquo23 wird erzaumlhlt wie ein junger Soldat um der Gefahr zu entgehen am Tag vor der Schlacht einen Urlaub erbittet angeblich damit sein sterbender Vater ihm noch den Abschiedskuszlig geben koumlnne Die letzten Verse lauten

Sehr wohl versetzt der Chef und laumlchelt vor sich nieder Reis hurtig ab mein Sohn Denn nach der Bibel muszlig Dein Vater nach Gebuumlhr von dir geehret werden Auf daszlig dirs wohlergeh und du lang lebst auf Erden

Von verschiedenen Seiten aus wird einsichtig welch besonderes Gewicht dieser Schluszlig traumlgt ja daszlig das ganze Gedicht eigentlich auf ihn hin anshygelegt ist 24

bull Schon der Gespraumlchsablauf weckt eine Spannung auf die Beshygruumlndung fuumlr die Zustimmung des Chefs der den Vorwand ja durchshyschaut Zugleich trennt das Druckbild durch einen Gedankenstrich und folgenden Sinnabschnitt die hier angefuumlhrten letzten Zeilen von den vorshyangehenden und nachdem schon zuvor die wechselnd vier- und fuumlnfshyhebigen Jamben sich zweimal gleichsam praumlludierend ins alexandrinische Maszlig vorgewagt hatten gewinnt der Schluszligteil in dem die Alexandriner sich voumlllig durchgesetzt haben auch metrische Bedeutungssteigerung Entshyscheidend aber ist der Pointencharakter des Ausgangs und dessen eigentshylicher Uberraschungseffekt entsteht durch die ironische Beziehung des vierten Gebotes auf die Absichten des Soldaten Den wichtigsten Beitrag zur Schluszligbeschwerung des Gedichtes leisten diese beiden zitierenden len mit denen ein vorgeformtes und vorbelastetes Redestuumlck als schwerer Endakzent dem vorangehenden Berichte aufgesetzt wird

~2 Ueber die Wirkung des Schleiers in Werken der darstellenden Kunstlaquo TI S 340 23 Die Gedichte werden im folgenden zitiert nach der Ausgabe von E COllsentius

2 Bde 1914 Hier I S238 21 VgL E Staigers Begriff der nproblematischen Dichtung (Grundbegriffe der

Poetik LAufl 1951 S162ff)

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Schluszligbeschwerungen sind fuumlr Buumlrgers Lyrik charakteristisch Sie hershyvorzubringen erscheint die eben beobachtete Verbindung eines praumlforshymierten Sprachstuumlckes mit vorausgehenden freien Formationen beshysonders geeignet - und es ist bemerkenswert daszlig der strukturell so beshydeutsame pointierte Ausgang tatsaumlchlich in nahezu einem Drittel aller Gedichte Buumlrgers auf den christlichen Sprachbereich zuruumlckweist

Wo seine Gedichtausgaumlnge einen formelhaften Redeschluszlig woumlrtlich oder nur geringfuumlgig abgewandelt uumlbernehmen wird die Endbetonung am spuumlrbarsten Aus einer Fuumllle von Beispielen koumlnnte man dafuumlr nennen

Gott lass es dem Edlen doch wohl ergehn Das bet ich herzinniglich Amen (I 207)

Gott behuumlte liebe Seele Gott behuumlte dich davor (I 32)

o Paradiesesglaube Erhalt und staumlrke mich (I 38) Komm Von hinnen laszlig uns scheiden Eia waumlren wir schon da - (I 68) Dein Name sei gebenedeit Von nun an bis in Ewigkeit (I 45)

Der jeweilige Ursprungsort dieser Schluszligformeln bedarf keiner Erlaumluteshyrung Was sie - in einen neuen Zusammenhang versetzt - fuumlr den Aufshybau des Gedichtes leisten koumlnnen zeigt sich im ersten Beispiel (raquoDie Kuhlaquo) mit der Hervorhebung des Erzaumlhlers der diesen Epilog spricht und mit der Zusammenfassung des Gedichtes zur geschlossenen Form im letzten Beispiel (raquoDankliedlaquo) in dem die schlieszligenden Zeilen des Gedichtes die der Anfangsstrophe wieder aufnehmen und die preisende Aufreihung der Gottesgaben mit einer aus dem liturgischen Ursprungsort der Formel heruumlberwirkenden Kraft zusammengreifen und erfuumlllen im Benedeien des goumlttlichen Gebers Von solchen Leistungen wird noch die Rede sein

Aumlhnliche Wirkungen entfalten die Schluumlsse in denen Bibelzitate parashyphrasiert und auf die vorangehenden Verse bezogen werden In raquoSchoumln Suschenlaquo etwa geben die letzten Zeilen

Drum Lieb ist wohl wie Wind im Meer Sein Sausen ihr wohl houmlrt Allein ihr wisset nicht woher Wiszligt nicht wohin er faumlhrt (I 155)

die aus Joh 3 8 hervorgehen Antwort auf die Eingangsfrage des Geshydichtes durch sie erfuumlllt es sich in der inneren Form von Raumltselstellung und Raumltselloumlsung Vergleichbares bewirkt der Schluszlig von raquoDie Eleshy

13 7439 Schoumlne Saumlkularisation (Palaestra 226) 193

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mentelaquo nachdem die Liebe als allbewegende Triebkraft der Natur geshyschildert worden ist zieht der Ausgang die Lehre fuumlr den lieblos geshywordenen Menschen

Du bist ein eiteltoumlnend Erz Bist leerer Klingklang einer Schelle Und Tosen einer Wasserwelle (I 70)

Die auffallend haumlufige Verwendung solcher zusammenfassenden abshyrundenden aufloumlsenden erklaumlrenden pointierenden Schluszligbeschwerunshygen die der Dichter dem christlichen Sprachbereich entlehnt muszlig durchshyaus als Charakteristikum Buumlrgerseher Gedichtsstruktur verstanden werden

Ober die Bestimmung ihrer sprachlichen Herkunft hinaus sind diese beschwerten Ausgaumlnge in einigen Verwendungs faumlllen nun auch auf eine genauer bestimmbare Form des Sprechens zu beziehen Da endet etwa Die Entfuumlhrunglaquo mit den Versen

So segne dann der auf uns sieht Euch segne Gott von Glied zu Glied Auf Wechselt Ring und Haumlnde Und hiermit Lied am Ende (I 181)

Das ist die Spredlweise des Geistlichen und in der Tat nimmt ja hier am Ende des houmldlst wel dichen Balladengeschehens der Vater des entfuumlhrshyten Fraumluleins mit Segen und Ringwechsel eine priesterliche Handlung vor Diese personale Gleichung macht aufmerksam auf eine grundsaumltzliche typologische Entsprechung zwisdlen der Schluszligbeschwerung des Gedichshytes und geistlidler Redeweise Nicht nur das durchgehend religioumls beshystimmte liturgische Sprechen endet mit einer gewichtigen Schluszligformell des Gebetes Segens oder Lobpreises auch die nicht mehr formgebundene freie Rede das Gespraumlch die Ansprache so zu schlieszligen daszlig weltlidles Sprechen am Ende durch einen religioumlsen Bezug ein praumlformiertes Redeshystuumlck erhoumlht gekroumlnt gewichtig beschlossen wird ist fuumlr den Geistlichen offenbar bis heute bezeichnend

Diese durch vorgegebene Schluszligformeln charakterisierte Redeweise zeigt ganz die gleiche Grundform die in der Untersuchung der Buumlrgershysehen Gedichte sichtbar wird - wie ja jene Gepflogenheit an weltliche Rede einen oft geradezu gewaltsam angehaumlngten formelhaft-religioumlsen Schluszlig zu fuumlgen selbst in dem oben genannten Briefausgang noch spuumlrbar wird ich heuumlrathete wol ein Kuh wenn sie nur an der bewusten Vershynunft keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte didl bei dieser Philoshysophie Amen Amen GABuumlrger Unter diesem Blickwinkel gewinnt die Stelle geradezu karikierende Zuumlge

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Beispielhaft fuumlr eine solche Analogie der Sprechweisen scheinen etwa die Schluumlsse

Die Liebe segne dich und sie Mit ihrem besten Segen (148) Die Liebe sagt Verdammet nicht Daszlig man nicht Euch verdammet (I 187) Diesen Trinker gnade Gott Lass ihn nicht verderben (I 73)

Sie aber deuten auf eine Analogie-Antithese zwischen dem Pfarrer als dem Diener der christlichen Kirche und dem Poeten der eines seiner Geshydichte mit den Worten schlieszligt

Doch wisse du Apolls Religion Schenkt dir die Glaubenspflicht und dringt auf gute

Werke (I 248) Als Gottesdienst der Wortverwaltung hat Buumlrger sein dichterisd1cs Amt verstanden

Bin geweiht zum Priester des Apoll Mit des Gottes Kranz und goldnem Stabe Seines Geistes bin ich froh und voll Warum nicht auch frommer Wundergabe - (I 94)

Und am Ende des Gedichtes (raquoGeweih tes Ang ebind e zu Lo uis ens Geburtstagelaquo) tritt diese vaumlterliche Mitgift diese Sprechhaltung des Geistlichen ganz ausdruumlcklich ins Wort

Freud und Lust von keinem Harm vergaumlllt Sei durch dich Ihr in die Brust gegossen Freud an Gottes ganzer weiter Welt Mich den Priester auch mit eingeschlossen

shy

Die Beobachtung der Schluszligbeschwerung lenkt auf die Frage nach ihrer Integration in das Gesamtgefuumlge des Gedichtes und nach der Wirkung die sie dort entfaltet raquoDer kluge Heldlaquo kann darauf kaum schon ershyschoumlpfende Antwort geben die massive Pointicrung die hier durch den Endakzent zustande kommt ist nur eine unter vielen Moumlglichkeiten seiner Leistung Weit komplizierter liegen diese Verhaumlltnisse in Buumlrgers Nachshydichtung der raquoCo n f ess i 0laquo des Archipoeta 25

25 Das Gedicht war Buumlrger in einer dem Walter Mapes zugeschriebenen Fassung beshykannt geworden (vgl seinen Brief an Sprickmann vom 21077) deutliche Bezuumlge zeigen sich zu seinen Strophen 12 13 16-19 Zitiert wird die lat Vorlage nach dem auf 5 Strophen verkuumlrzten Abdruck den Buumlrger in der Ausgabe seiner Gedichte VOll

1778 auf S 290 f gegeben hat (Ausgenommen die beiden dort nicht mitgeteilten hier auf S199 zitierten Verse Voluptatis avidus laquo)

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Zechlied

Im will einst bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Alles meinen Wein nur nimt Lass im frohen Erben Nam der letzten Olung soll Hefen nom mim faumlrben Dann zertruumlmmre mein Pokal In zehntausend Smerben Jedermann hat von Natur Seine sondre Weise Mir gelinget jedes Werk Nur nam Trank und Speise Speis und Trank erhalten mim In dem remten Gleise Wer gut smmiert der faumlhrt aum gut Auf der Lebensreise Im bin gar ein armer Wimt Bin die feigste Memme Halten Durst und Hungerqual Mim in Angst und Klemme Smon ein Knaumlbchen smuumlttelt mim Was im aum mim stemme Einem Riesen halt im Stand Wann im zem und smlemme Aumlmter Wein ist aumlmtes 01 Zur Verstandeslampe Gibt der Seele Kraft und Schwung Bis zum Sternenkampe Witz und Weisheit dunsten auf Aus gefuumlllter Wampe Baszlig gluumlckt Harfenspiel und Sang Wann im brav smlampampe Nuumlchtern bin im immerdar Nur ein Harfenstuumlmper Mir erlahmen Hand und Griff Welken Haupt und Wimper Wann der Wein in Himmelsklang Wandelt mein Geklimper Sind Homer und Ossian Gegen mim nur Stuumlmper

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Nimmer hat durch meinen Mund Hoher Geist gesungen Bis ich meinen lieben Bauch Weidlich vollgeschlungen Wann mein Kapitolium Baechus Kraft erschwungen Sing und red ich wundersam Gar in fremden Zungen Drum will ich bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Nach der letzten oumllung soll Hefen noch mich faumlrben Engelchoumlre weihen dann Mich zum Nektarerben Diesen Trinker gnade Gott

Lass ihn nicht verderben (1 72 f)

Da wird mit der ersten Strophe das Bekenntnis zu einer Lebensfuumlhrung abgelegt und geradezu beschworen die selbst eingedenk des Todes noch ganz im Irdischen verharrt Fuumlnf folgende Strophen dann begruumlnden den Entschluszlig den die erste verkuumlndete auch ihre Aussagen bleiben durchshyaus im Bereiche des weingeweihten Diesseits Die letzte aber tritt nachshydem sie zunaumlchst das Bekenntnis der ersten aufgenommen in eine durchshyaus andere Sphaumlre Zwar setzt auch dort das irdische Trinkerleben sich fort aber der Spott der eben noch die letzte oumllung traf der Entschluszlig der ersten Strophe im Tode den Pokal zu zertruumlmmern lassen dieses Ende nicht erwarten

Ut dicant eum venerint angelorum chori Deus sit propitius huic potatori

heiszligt es in der raquoC 0 n fes s i 0laquo und solcher Gesang der Engelchoumlre beshyschlieszligt nun auch Buumlrgers koumlnigliches Sauflied 26 ein im religioumlsen Sprachbereich ausgebildetes Gebet um Gnade fuumlr den Suumlnder 27 - an dessen Stelle nun der Trinker steht - setzt den kraumlftigen Endakzent Wenn so unvermittelt das Sauflied in die Gebetsformel muumlndet scheint sich im Wortschatz in der Sprechhaltung im Hinblick auf die Geschehnisshyebene ein bruchhafter Wechsel zu vollziehen der die Einheitlichkeit des ganzen Gedichtes in Frage stellt Zwar folgen Vers- und Strophenbau zushygleich mit dem Reimschema der gtConfessiolaquo entlehnt ebenso wie die rhythmische Anlage des Liedes gleichbleibenden Aufbauprinzipien und stiften so eine formale Geschlossenheit des Ganzen aber gerade das treibt

28 Brief an Boie 18977 27 Vgl Lue1B 13 Deus propitius esto mihi peceatori

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den Umbruch der Schluszligbeschwerung nur um so kraumlftiger heraus Daszlig hier in Wahrheit keineswegs ein Bruch vorliegt daszlig dieser Sphaumlrenshywechsel durchaus nicht unvermittelt geschieht wird jedoch einsichtig sobald man die Sprache der Mittelstrophen schaumlrfer ins Auge faszligt Dann zeigt sich daszlig hinter der Bedeutungsoberflaumlche der Wortaussage vorshygeformtes Sprachgut aus eben der Sphaumlre wirksam ist zu der die schlieshyszligenden Verse sich erheben

Dem Wein dem der Sprechende selbst eingedenk des irdischen Endes noch sein Dasein verschreibt setzt die zweite Strophe die Speise zur Seite Beide Trank und Speise sind fuumlr das Leben noumltig - doch offenshybar nicht im Sinne notwendiger Ernaumlhrung Das erhalten meint kein einfad1es am-Leben-erhalten sondern ein im rechten Gleise im rechshyten Leben erhalten Das Schluszligwort der Strophe laumlszligt aufmerken Lebensreise erscheint als ein deutlich vorbelastetes vorgeformtes Sprad1stuumlck der religioumlsen Sphaumlre das (ausgehend von Gen 47 9) die christliche Deutung des Lebens als einer Reise durch die Weh zum jenshyseitigen Ziele in sich faszligt Trank und Speise in solchem Bedeutungsfeld als Hilfen die Lebensreise recht zu fuumlhren sie machen hinter dem lauten Gesang des Trinkers im fuumlnften Vers die liturgische Stimme vershynehmbar die Stimme des Geistlichen der die Hostie und den Wein reicht Nehmet hin und esset Nehmet hin und trinket das staumlrke und erhalte euch im rechten Glauben zum ewigen Leben Amenlaquo 28 Von andeshyrem Trank und anderer Speise als der vom Vater dargebotenen spricht der Sohn Doch im Bekenntnis des Zechlieds klingen noch immer jene Worte nach die von der Kraft des heiligen Mahles kuumlndeten weil das 11edium der Sprad1e die mit der Abendmahlsliturgie in sie eingeganshygenen Bedeutungsenergien bewahrt und fuumlr die Dichtung verfuumlgbar macht

Von der zweiten Strophe aufgerufen bleibt dieser Bezug auch in der dritten vierten und fuumlnften lebendig Hinter dem Zecher den Essen und Trinken der Angst und Schwaumld1e entheben so daszlig er einem Riesen standshyzuhalten vennag steigt das Bild des gottgestaumlrkten David herauf der dem Goliath standhaumllt Der aumlchte Wein und das aumldlte oumll derert Kraft die Seele zum Sternengewoumllbe erhebt gewinnen neue Bedeutung Hinter dem Harfenspieler und dem Himmelsklang seines Gesanges toumlnt leise der Psalm Davids zur Harfe zu singen und in der trunkseligen Prahshylerei der Erhebung uumlber Homer und Ossian mag damit eine verborgene Rechtfertigung solcher Selbsteinschaumltzung sich andeuten Sind die uumlbershytragenen Worte und Bilder hier dem Text des raquoZechlieds so weitshy

e8 In der Abendmahlsliturgie folgt diese in verschiedenen Fassungen gebraumluchliche Spclldeformc1 auf den Einsetzungsbericht Ausfuumlhrlich daruumlber P Graff Geschichte der Aufloumlsung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschshylands I 1937 S 197 ff

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gehend anverwandelt daszlig sie als fremdes Sprachgut kaum erkennbar werden heben sie sich in der sechsten Strophe doch wieder staumlrker ab erst der Abglanz der Erleuchtungsflammen des Pfingstwunders erhellt die Reden des Trunkenen als einwundersames Reden gar in fremden Zungen

Ein Vergleich mit dem Vorbild der lateinischen Beichtparodie der dies e Durchsichtigkeit auf den hinter der eigentlichen Aussage liegenden Sprach- und Bildbereich gaumlnzlich fehlt zeigt daszlig in Buumlrgers uumlbertragung eine sehr bewuszligte Absicht waltete Man halte gegen seine sechste Strophe etwa die Verse

Mihi nunquam spiritus prophetiae datur Non nisi cum fuerit venter bene satur Cum in arce cerebri Bacchus dominatur In me Phoebus irruit ac miranda fatur

Die Grundhaltung beider Gedichte unterscheidet sich wesentlich Mit den fuumlr die ganze raquoC 0 n fes s i 0laquo verbindlichen Versen

Voluptatis avidus magis quam salutis Mortuus in anima curam gero cutis

setzt der Archipoeta Diesseits und Jenseits gegeneinander und faumlllt seine klare Entscheidung fuumlr das eine gegen das andere Buumlrger aber verschmilzt die Bereiche Getragen von den sprachgebundenen Bedeutungsenergien die aus dem christlichen in einen houmlchst weltlichen Bereich des Sprechens uumlberfuumlhrt werden erhebt der bekenntnishafte Lebensbericht des Zechers sich zum Heilsbericht zum Preis einer uumlberirdischen und das Irdische vershywandelnden Macht die am Sprechenden wirksam wird Erst diese Spuren des weihevoll-heiligen Pathos dem Weine des schwoumlrenden protzenden singenden Zechers und Schlemmers beigemischt als ein verborgenes Arom bewirken jenes Entzuumlcken das Buumlrger mit der Lektuumlre des Gedichtes seinen Freunden verhieszlig29 Sie bereiten die schluszligbeschwerende Gebetsshyformel vor und bewirken daszlig statt eines Bruches hier der Aufschwung in jene Sphaumlre erfolgt die am inneren Aufbau des Liedes schon von Anshyfang an beteiligt war So vollendet sich das bekennende Sprechen des raquoZechliedslaquo am Ende in der inneren Form einer ihrer urspriinglichen Erfuumlllung mit christlichem Gehalt entleerten Heilsverkuumlndigung

i-

Mit jener Sprechweise des Geistlichen auf welche die Schluszligbeschweshyrung deutete haumlngt diese Form der He i I sv e r k uuml n d i gun g aufs engste zusammen Sie steht in Buumlrgers Werk durchaus nicht vereinzelt die im

29 Brief an Boie 18977

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religioumlsen Sprachgebrauch ausgebildeten Formmodelle finden hier zahlshyreiche und vielfaumlltige Entsprechungen die um so deutlicher erkennbar werden als sie noch immer merkliche Spuren auch des urspruumlnglichen Gehaltes tragen Sie erweisen sich als weltliche Kontrafakturen der relishygioumlsen Vorbilder 30 von denen sie nicht allein das organisierende Formshyprinzip beziehen sondern zugleich jenen Zuwachs an Bedeutungshaumlhe und Wirkungskraft den das Modell nur dann hergibt wenn es selbst noch als bedeutungshaltig und wirkungsfaumlhig intakt bleibt Die Annaumlherung auch der inhaltlichen Erfuumlllung dieser saumlkularisierten Formen an den christshylichen Denk- und Sprachbereich befoumlrdert ja begruumlndet ihre reichhaltige Erscheinung in Buumlrgers Lyrik

Ich glaube Luther wuumlrde dies Gedicht fuumlr ein wuumlrdiges Kirchenlied anerkannt haben schrieb AWSchlegel uumlber Die Elementelaquo (B 518) Schon mit dem Eingangsvers tritt es in die Form der Lehrvershykuumlndigung Horch Hohe Dinge lehr ich dich (I 68) Und diese Lehre vom Wesen der Elemente ist mehr als bloszlige Kundgabe Sie wird Maszligstab fuumlr den Belehrten Richtschnur Grundlage fuumlr das kommende Gericht Immer dringlicher wendet sie sich im Fortgang des Gedichtes an den Houmlrer selbst Sieh hin und her und Nun pruumlfe dich bis mit den oben (S 194) genannten Schluszligversen das lehrende Sprechen ins urteilende und verdammende uumlbergeht

Eine besondere Form der lehrhaft-bekennenden Rede macht das raquoDankl iedlaquo sichtbar (I 44ff) das Buumlrger urspruumlnglich Psalm nennen wollte und zu dem Boie ihm schrieb den denkenden Christen wird es entzuumlcken und erbauen aber den groumlszligten Haufen und Pastor Zuch - (12972) Es zeigt eine ganz symmetrische Anlage Die Eingangsstrophe wendet sich lobend an Gott den Schoumlpfer sechs folgende Strophen reihen auf was der Sprechende aus seiner Hand empfangen hat (daszlig es dabei ausgerechnet um die Liebe den Wein und den Gesang geht muszligte Pastor Zuch freilich wurmen) zwei Mittelstrophen bekennen daszlig die Fuumllle der Schoumlpfergaben nicht zu zaumlhlen sei (Wer zaumlhlt die Gaben alle Wer) und wenden sich auf den Sprecher selbst wieder sechs Strophen nennen dann die leiblichen und geistigen Eigenschaften die Gott ihm verliehen hat Hinter dieser Gaben Wunderschau aber wird Luthers Erklaumlrung zum 1 Artikel des Glaubensbekenntnisses sichtbar in der es nach der FrageWas ist das heiszligt Ich glaube daszlig mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mit Leib und Seele Augen Ohren und alle Glieshyder Vernunft und alle Sinne gegeben hat Gemaumlszlig den Schluszligworten der Erklaumlrung des alles ich ihm zu danken und zu loben schuldig bin muumlndet die letzte Strophe preisend und benedeiend in den liturgisch beshy

ao Zur Begriffsbestimmung dieser Saumlkularisationskategorie vgL S 289 ff

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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Unmittelbare und ausdruumlckliche biographische Zeugnisse fuumlr den Einshyfluszlig des religioumlsen Schrifttums gibt es kaum Immerhin finden sich einige Hinweise in den Aufzeichnungen Althofs die auf Buumlrgers eigenen freishylich sehr spaumlten muumlndlichen Auszligerungen beruhen Durch sie wird uumlbershyliefert daszlig der Junge bis in sein zehntes Lebensjahr hinein durchaus nicht mehr lernte als Lesen und Schreiben wohl aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse behielt was er sowohl in der Bibel als im Gesangshybuche las ja daszlig er wie er meinte das ganze Gesangbuch ohne Schwieshyrigkeit auswendig gelernt haben wuumlrde (B 431) Von den houmlchst aufshyschluszligreichen Einzelheiten dieser fruumlh gelegten Bibel- und Gesangbuch- kenntnisse muszlig spaumlter die Rede sein Hier wird zunaumlchst nur Althofs Mitteilung wichtig daszlig schon der Knabe ohne durch andere Muster als welche Bibel und Gesangbuch ihm lieferten dazu aufgefordert zu werden anfing Verse zu machen ehe er noch die allerersten Elemente der Grammatik erlernt hattelaquo (B 431) Das ist gewiszlig nicht so zu verstehen als habe der junge Verseschmied damals noch kein grammatisch fehlershyfreies Deutsch sprechen oder schreiben koumlnnen Grammatik lernte man an der Fremdsprache Buumlrger begegnete ihr also im lateinischen Untershyricht - und cr konnte ungeachtet aller Schlaumlge in zwei Jahren noch nicht Mensa decliniren (B 431) Diese Randbemerkung macht einsichtig

( daszlig es sich bei den poetischen Anregungen durch Bibel und Kirchenlied um ganz unreflektierte dem kontrollierenden Sprach- und Kunstbewuszligtshysein entzogene Vorgaumlnge handelt Das deckt sich voumlllig mit Althofs Aufshyzeichnung Buumlrger versicherte ferner So wenig diese Fertigkeiten als irgend eine andere Kenntniszlig seines nachfolgenden Lebens bis in sein maumlnnliches Alter haumltten ihm die geringste Anstrengung oder Muumlhe geshykostet es waumlre auch sehr wenig was er von Lehrern und aus Buumlchern geshylernt haumltte da es ihm immer in den Lehrstunden an Aufmerksamkeit und auszliger denselben an Geduld gefehlet ein Buch anhaltend aus zu lesen Er muumlszligte sich oft innerlich wundern wenn er einen Blick in die Vorrathsshykammer seiner Kenntnisse thaumlte wie und woher der Plunder alle hinein gekommen Das Meiste waumlre ihm hier und da und dort und uumlberall wie VOn selbst gleichsam angeflogen (B 431) Nichts konnte ihm so sehr von selbst anfliegen wie die Worte Bilder und Formen der heiligen Texte die von den Jugendjahren im vaumlterlichen Pfarrhaus bis zum Abbruch des theologischen Studiums in Halle sein taumlglicher Umgang waren Was aber fuumlr ihre Aufnahme gilt ist nicht weniger guumlltig fuumlr ihre Verwendung die Saumlkularisationsvorgaumlnge entziehen sich weithin dem Bewuszligtsein des Schreibenden Durch ihn hindurch aber oft ohne seine Absicht und ohne sein Dazutun wirkt hier die religioumlse Sprache auf das Kunstwerk ein

Der eigentliche Zugang zu diesen Phaumlnomenen kann deshalb nicht durch die Beschaumlftigung mit der Person des Autors gewonnen werden

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welches Forschers Geist hat Buumlrger selbst erklaumlrt kann sich immer so tief und innig in den Geist des Kuumlnstlers versenken um etwas mit Sicherheit auszumachen welches dieser oft selbst nicht recht weiszlig naumlmshylich was fuumlr Bestinunungsgruumlnde jeglichen seiner Schritte zum Ziele leitet haben 22 Nur im Ziele selbst im Zustandegekommenen WIrd wohl der eine oder andere Bestimmungsgrund erkennbar der Weg dahin fuumlhrt also nicht uumlber die Versenkung in den Geist des Kuumlnstlers sondern uumlber die Betrachtung des Kunstwerkes selbst

In dem 1782 entstandenen kleinen Gedicht raquoDer klug e Heldlaquo23 wird erzaumlhlt wie ein junger Soldat um der Gefahr zu entgehen am Tag vor der Schlacht einen Urlaub erbittet angeblich damit sein sterbender Vater ihm noch den Abschiedskuszlig geben koumlnne Die letzten Verse lauten

Sehr wohl versetzt der Chef und laumlchelt vor sich nieder Reis hurtig ab mein Sohn Denn nach der Bibel muszlig Dein Vater nach Gebuumlhr von dir geehret werden Auf daszlig dirs wohlergeh und du lang lebst auf Erden

Von verschiedenen Seiten aus wird einsichtig welch besonderes Gewicht dieser Schluszlig traumlgt ja daszlig das ganze Gedicht eigentlich auf ihn hin anshygelegt ist 24

bull Schon der Gespraumlchsablauf weckt eine Spannung auf die Beshygruumlndung fuumlr die Zustimmung des Chefs der den Vorwand ja durchshyschaut Zugleich trennt das Druckbild durch einen Gedankenstrich und folgenden Sinnabschnitt die hier angefuumlhrten letzten Zeilen von den vorshyangehenden und nachdem schon zuvor die wechselnd vier- und fuumlnfshyhebigen Jamben sich zweimal gleichsam praumlludierend ins alexandrinische Maszlig vorgewagt hatten gewinnt der Schluszligteil in dem die Alexandriner sich voumlllig durchgesetzt haben auch metrische Bedeutungssteigerung Entshyscheidend aber ist der Pointencharakter des Ausgangs und dessen eigentshylicher Uberraschungseffekt entsteht durch die ironische Beziehung des vierten Gebotes auf die Absichten des Soldaten Den wichtigsten Beitrag zur Schluszligbeschwerung des Gedichtes leisten diese beiden zitierenden len mit denen ein vorgeformtes und vorbelastetes Redestuumlck als schwerer Endakzent dem vorangehenden Berichte aufgesetzt wird

~2 Ueber die Wirkung des Schleiers in Werken der darstellenden Kunstlaquo TI S 340 23 Die Gedichte werden im folgenden zitiert nach der Ausgabe von E COllsentius

2 Bde 1914 Hier I S238 21 VgL E Staigers Begriff der nproblematischen Dichtung (Grundbegriffe der

Poetik LAufl 1951 S162ff)

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Schluszligbeschwerungen sind fuumlr Buumlrgers Lyrik charakteristisch Sie hershyvorzubringen erscheint die eben beobachtete Verbindung eines praumlforshymierten Sprachstuumlckes mit vorausgehenden freien Formationen beshysonders geeignet - und es ist bemerkenswert daszlig der strukturell so beshydeutsame pointierte Ausgang tatsaumlchlich in nahezu einem Drittel aller Gedichte Buumlrgers auf den christlichen Sprachbereich zuruumlckweist

Wo seine Gedichtausgaumlnge einen formelhaften Redeschluszlig woumlrtlich oder nur geringfuumlgig abgewandelt uumlbernehmen wird die Endbetonung am spuumlrbarsten Aus einer Fuumllle von Beispielen koumlnnte man dafuumlr nennen

Gott lass es dem Edlen doch wohl ergehn Das bet ich herzinniglich Amen (I 207)

Gott behuumlte liebe Seele Gott behuumlte dich davor (I 32)

o Paradiesesglaube Erhalt und staumlrke mich (I 38) Komm Von hinnen laszlig uns scheiden Eia waumlren wir schon da - (I 68) Dein Name sei gebenedeit Von nun an bis in Ewigkeit (I 45)

Der jeweilige Ursprungsort dieser Schluszligformeln bedarf keiner Erlaumluteshyrung Was sie - in einen neuen Zusammenhang versetzt - fuumlr den Aufshybau des Gedichtes leisten koumlnnen zeigt sich im ersten Beispiel (raquoDie Kuhlaquo) mit der Hervorhebung des Erzaumlhlers der diesen Epilog spricht und mit der Zusammenfassung des Gedichtes zur geschlossenen Form im letzten Beispiel (raquoDankliedlaquo) in dem die schlieszligenden Zeilen des Gedichtes die der Anfangsstrophe wieder aufnehmen und die preisende Aufreihung der Gottesgaben mit einer aus dem liturgischen Ursprungsort der Formel heruumlberwirkenden Kraft zusammengreifen und erfuumlllen im Benedeien des goumlttlichen Gebers Von solchen Leistungen wird noch die Rede sein

Aumlhnliche Wirkungen entfalten die Schluumlsse in denen Bibelzitate parashyphrasiert und auf die vorangehenden Verse bezogen werden In raquoSchoumln Suschenlaquo etwa geben die letzten Zeilen

Drum Lieb ist wohl wie Wind im Meer Sein Sausen ihr wohl houmlrt Allein ihr wisset nicht woher Wiszligt nicht wohin er faumlhrt (I 155)

die aus Joh 3 8 hervorgehen Antwort auf die Eingangsfrage des Geshydichtes durch sie erfuumlllt es sich in der inneren Form von Raumltselstellung und Raumltselloumlsung Vergleichbares bewirkt der Schluszlig von raquoDie Eleshy

13 7439 Schoumlne Saumlkularisation (Palaestra 226) 193

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mentelaquo nachdem die Liebe als allbewegende Triebkraft der Natur geshyschildert worden ist zieht der Ausgang die Lehre fuumlr den lieblos geshywordenen Menschen

Du bist ein eiteltoumlnend Erz Bist leerer Klingklang einer Schelle Und Tosen einer Wasserwelle (I 70)

Die auffallend haumlufige Verwendung solcher zusammenfassenden abshyrundenden aufloumlsenden erklaumlrenden pointierenden Schluszligbeschwerunshygen die der Dichter dem christlichen Sprachbereich entlehnt muszlig durchshyaus als Charakteristikum Buumlrgerseher Gedichtsstruktur verstanden werden

Ober die Bestimmung ihrer sprachlichen Herkunft hinaus sind diese beschwerten Ausgaumlnge in einigen Verwendungs faumlllen nun auch auf eine genauer bestimmbare Form des Sprechens zu beziehen Da endet etwa Die Entfuumlhrunglaquo mit den Versen

So segne dann der auf uns sieht Euch segne Gott von Glied zu Glied Auf Wechselt Ring und Haumlnde Und hiermit Lied am Ende (I 181)

Das ist die Spredlweise des Geistlichen und in der Tat nimmt ja hier am Ende des houmldlst wel dichen Balladengeschehens der Vater des entfuumlhrshyten Fraumluleins mit Segen und Ringwechsel eine priesterliche Handlung vor Diese personale Gleichung macht aufmerksam auf eine grundsaumltzliche typologische Entsprechung zwisdlen der Schluszligbeschwerung des Gedichshytes und geistlidler Redeweise Nicht nur das durchgehend religioumls beshystimmte liturgische Sprechen endet mit einer gewichtigen Schluszligformell des Gebetes Segens oder Lobpreises auch die nicht mehr formgebundene freie Rede das Gespraumlch die Ansprache so zu schlieszligen daszlig weltlidles Sprechen am Ende durch einen religioumlsen Bezug ein praumlformiertes Redeshystuumlck erhoumlht gekroumlnt gewichtig beschlossen wird ist fuumlr den Geistlichen offenbar bis heute bezeichnend

Diese durch vorgegebene Schluszligformeln charakterisierte Redeweise zeigt ganz die gleiche Grundform die in der Untersuchung der Buumlrgershysehen Gedichte sichtbar wird - wie ja jene Gepflogenheit an weltliche Rede einen oft geradezu gewaltsam angehaumlngten formelhaft-religioumlsen Schluszlig zu fuumlgen selbst in dem oben genannten Briefausgang noch spuumlrbar wird ich heuumlrathete wol ein Kuh wenn sie nur an der bewusten Vershynunft keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte didl bei dieser Philoshysophie Amen Amen GABuumlrger Unter diesem Blickwinkel gewinnt die Stelle geradezu karikierende Zuumlge

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Beispielhaft fuumlr eine solche Analogie der Sprechweisen scheinen etwa die Schluumlsse

Die Liebe segne dich und sie Mit ihrem besten Segen (148) Die Liebe sagt Verdammet nicht Daszlig man nicht Euch verdammet (I 187) Diesen Trinker gnade Gott Lass ihn nicht verderben (I 73)

Sie aber deuten auf eine Analogie-Antithese zwischen dem Pfarrer als dem Diener der christlichen Kirche und dem Poeten der eines seiner Geshydichte mit den Worten schlieszligt

Doch wisse du Apolls Religion Schenkt dir die Glaubenspflicht und dringt auf gute

Werke (I 248) Als Gottesdienst der Wortverwaltung hat Buumlrger sein dichterisd1cs Amt verstanden

Bin geweiht zum Priester des Apoll Mit des Gottes Kranz und goldnem Stabe Seines Geistes bin ich froh und voll Warum nicht auch frommer Wundergabe - (I 94)

Und am Ende des Gedichtes (raquoGeweih tes Ang ebind e zu Lo uis ens Geburtstagelaquo) tritt diese vaumlterliche Mitgift diese Sprechhaltung des Geistlichen ganz ausdruumlcklich ins Wort

Freud und Lust von keinem Harm vergaumlllt Sei durch dich Ihr in die Brust gegossen Freud an Gottes ganzer weiter Welt Mich den Priester auch mit eingeschlossen

shy

Die Beobachtung der Schluszligbeschwerung lenkt auf die Frage nach ihrer Integration in das Gesamtgefuumlge des Gedichtes und nach der Wirkung die sie dort entfaltet raquoDer kluge Heldlaquo kann darauf kaum schon ershyschoumlpfende Antwort geben die massive Pointicrung die hier durch den Endakzent zustande kommt ist nur eine unter vielen Moumlglichkeiten seiner Leistung Weit komplizierter liegen diese Verhaumlltnisse in Buumlrgers Nachshydichtung der raquoCo n f ess i 0laquo des Archipoeta 25

25 Das Gedicht war Buumlrger in einer dem Walter Mapes zugeschriebenen Fassung beshykannt geworden (vgl seinen Brief an Sprickmann vom 21077) deutliche Bezuumlge zeigen sich zu seinen Strophen 12 13 16-19 Zitiert wird die lat Vorlage nach dem auf 5 Strophen verkuumlrzten Abdruck den Buumlrger in der Ausgabe seiner Gedichte VOll

1778 auf S 290 f gegeben hat (Ausgenommen die beiden dort nicht mitgeteilten hier auf S199 zitierten Verse Voluptatis avidus laquo)

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Zechlied

Im will einst bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Alles meinen Wein nur nimt Lass im frohen Erben Nam der letzten Olung soll Hefen nom mim faumlrben Dann zertruumlmmre mein Pokal In zehntausend Smerben Jedermann hat von Natur Seine sondre Weise Mir gelinget jedes Werk Nur nam Trank und Speise Speis und Trank erhalten mim In dem remten Gleise Wer gut smmiert der faumlhrt aum gut Auf der Lebensreise Im bin gar ein armer Wimt Bin die feigste Memme Halten Durst und Hungerqual Mim in Angst und Klemme Smon ein Knaumlbchen smuumlttelt mim Was im aum mim stemme Einem Riesen halt im Stand Wann im zem und smlemme Aumlmter Wein ist aumlmtes 01 Zur Verstandeslampe Gibt der Seele Kraft und Schwung Bis zum Sternenkampe Witz und Weisheit dunsten auf Aus gefuumlllter Wampe Baszlig gluumlckt Harfenspiel und Sang Wann im brav smlampampe Nuumlchtern bin im immerdar Nur ein Harfenstuumlmper Mir erlahmen Hand und Griff Welken Haupt und Wimper Wann der Wein in Himmelsklang Wandelt mein Geklimper Sind Homer und Ossian Gegen mim nur Stuumlmper

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Nimmer hat durch meinen Mund Hoher Geist gesungen Bis ich meinen lieben Bauch Weidlich vollgeschlungen Wann mein Kapitolium Baechus Kraft erschwungen Sing und red ich wundersam Gar in fremden Zungen Drum will ich bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Nach der letzten oumllung soll Hefen noch mich faumlrben Engelchoumlre weihen dann Mich zum Nektarerben Diesen Trinker gnade Gott

Lass ihn nicht verderben (1 72 f)

Da wird mit der ersten Strophe das Bekenntnis zu einer Lebensfuumlhrung abgelegt und geradezu beschworen die selbst eingedenk des Todes noch ganz im Irdischen verharrt Fuumlnf folgende Strophen dann begruumlnden den Entschluszlig den die erste verkuumlndete auch ihre Aussagen bleiben durchshyaus im Bereiche des weingeweihten Diesseits Die letzte aber tritt nachshydem sie zunaumlchst das Bekenntnis der ersten aufgenommen in eine durchshyaus andere Sphaumlre Zwar setzt auch dort das irdische Trinkerleben sich fort aber der Spott der eben noch die letzte oumllung traf der Entschluszlig der ersten Strophe im Tode den Pokal zu zertruumlmmern lassen dieses Ende nicht erwarten

Ut dicant eum venerint angelorum chori Deus sit propitius huic potatori

heiszligt es in der raquoC 0 n fes s i 0laquo und solcher Gesang der Engelchoumlre beshyschlieszligt nun auch Buumlrgers koumlnigliches Sauflied 26 ein im religioumlsen Sprachbereich ausgebildetes Gebet um Gnade fuumlr den Suumlnder 27 - an dessen Stelle nun der Trinker steht - setzt den kraumlftigen Endakzent Wenn so unvermittelt das Sauflied in die Gebetsformel muumlndet scheint sich im Wortschatz in der Sprechhaltung im Hinblick auf die Geschehnisshyebene ein bruchhafter Wechsel zu vollziehen der die Einheitlichkeit des ganzen Gedichtes in Frage stellt Zwar folgen Vers- und Strophenbau zushygleich mit dem Reimschema der gtConfessiolaquo entlehnt ebenso wie die rhythmische Anlage des Liedes gleichbleibenden Aufbauprinzipien und stiften so eine formale Geschlossenheit des Ganzen aber gerade das treibt

28 Brief an Boie 18977 27 Vgl Lue1B 13 Deus propitius esto mihi peceatori

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den Umbruch der Schluszligbeschwerung nur um so kraumlftiger heraus Daszlig hier in Wahrheit keineswegs ein Bruch vorliegt daszlig dieser Sphaumlrenshywechsel durchaus nicht unvermittelt geschieht wird jedoch einsichtig sobald man die Sprache der Mittelstrophen schaumlrfer ins Auge faszligt Dann zeigt sich daszlig hinter der Bedeutungsoberflaumlche der Wortaussage vorshygeformtes Sprachgut aus eben der Sphaumlre wirksam ist zu der die schlieshyszligenden Verse sich erheben

Dem Wein dem der Sprechende selbst eingedenk des irdischen Endes noch sein Dasein verschreibt setzt die zweite Strophe die Speise zur Seite Beide Trank und Speise sind fuumlr das Leben noumltig - doch offenshybar nicht im Sinne notwendiger Ernaumlhrung Das erhalten meint kein einfad1es am-Leben-erhalten sondern ein im rechten Gleise im rechshyten Leben erhalten Das Schluszligwort der Strophe laumlszligt aufmerken Lebensreise erscheint als ein deutlich vorbelastetes vorgeformtes Sprad1stuumlck der religioumlsen Sphaumlre das (ausgehend von Gen 47 9) die christliche Deutung des Lebens als einer Reise durch die Weh zum jenshyseitigen Ziele in sich faszligt Trank und Speise in solchem Bedeutungsfeld als Hilfen die Lebensreise recht zu fuumlhren sie machen hinter dem lauten Gesang des Trinkers im fuumlnften Vers die liturgische Stimme vershynehmbar die Stimme des Geistlichen der die Hostie und den Wein reicht Nehmet hin und esset Nehmet hin und trinket das staumlrke und erhalte euch im rechten Glauben zum ewigen Leben Amenlaquo 28 Von andeshyrem Trank und anderer Speise als der vom Vater dargebotenen spricht der Sohn Doch im Bekenntnis des Zechlieds klingen noch immer jene Worte nach die von der Kraft des heiligen Mahles kuumlndeten weil das 11edium der Sprad1e die mit der Abendmahlsliturgie in sie eingeganshygenen Bedeutungsenergien bewahrt und fuumlr die Dichtung verfuumlgbar macht

Von der zweiten Strophe aufgerufen bleibt dieser Bezug auch in der dritten vierten und fuumlnften lebendig Hinter dem Zecher den Essen und Trinken der Angst und Schwaumld1e entheben so daszlig er einem Riesen standshyzuhalten vennag steigt das Bild des gottgestaumlrkten David herauf der dem Goliath standhaumllt Der aumlchte Wein und das aumldlte oumll derert Kraft die Seele zum Sternengewoumllbe erhebt gewinnen neue Bedeutung Hinter dem Harfenspieler und dem Himmelsklang seines Gesanges toumlnt leise der Psalm Davids zur Harfe zu singen und in der trunkseligen Prahshylerei der Erhebung uumlber Homer und Ossian mag damit eine verborgene Rechtfertigung solcher Selbsteinschaumltzung sich andeuten Sind die uumlbershytragenen Worte und Bilder hier dem Text des raquoZechlieds so weitshy

e8 In der Abendmahlsliturgie folgt diese in verschiedenen Fassungen gebraumluchliche Spclldeformc1 auf den Einsetzungsbericht Ausfuumlhrlich daruumlber P Graff Geschichte der Aufloumlsung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschshylands I 1937 S 197 ff

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gehend anverwandelt daszlig sie als fremdes Sprachgut kaum erkennbar werden heben sie sich in der sechsten Strophe doch wieder staumlrker ab erst der Abglanz der Erleuchtungsflammen des Pfingstwunders erhellt die Reden des Trunkenen als einwundersames Reden gar in fremden Zungen

Ein Vergleich mit dem Vorbild der lateinischen Beichtparodie der dies e Durchsichtigkeit auf den hinter der eigentlichen Aussage liegenden Sprach- und Bildbereich gaumlnzlich fehlt zeigt daszlig in Buumlrgers uumlbertragung eine sehr bewuszligte Absicht waltete Man halte gegen seine sechste Strophe etwa die Verse

Mihi nunquam spiritus prophetiae datur Non nisi cum fuerit venter bene satur Cum in arce cerebri Bacchus dominatur In me Phoebus irruit ac miranda fatur

Die Grundhaltung beider Gedichte unterscheidet sich wesentlich Mit den fuumlr die ganze raquoC 0 n fes s i 0laquo verbindlichen Versen

Voluptatis avidus magis quam salutis Mortuus in anima curam gero cutis

setzt der Archipoeta Diesseits und Jenseits gegeneinander und faumlllt seine klare Entscheidung fuumlr das eine gegen das andere Buumlrger aber verschmilzt die Bereiche Getragen von den sprachgebundenen Bedeutungsenergien die aus dem christlichen in einen houmlchst weltlichen Bereich des Sprechens uumlberfuumlhrt werden erhebt der bekenntnishafte Lebensbericht des Zechers sich zum Heilsbericht zum Preis einer uumlberirdischen und das Irdische vershywandelnden Macht die am Sprechenden wirksam wird Erst diese Spuren des weihevoll-heiligen Pathos dem Weine des schwoumlrenden protzenden singenden Zechers und Schlemmers beigemischt als ein verborgenes Arom bewirken jenes Entzuumlcken das Buumlrger mit der Lektuumlre des Gedichtes seinen Freunden verhieszlig29 Sie bereiten die schluszligbeschwerende Gebetsshyformel vor und bewirken daszlig statt eines Bruches hier der Aufschwung in jene Sphaumlre erfolgt die am inneren Aufbau des Liedes schon von Anshyfang an beteiligt war So vollendet sich das bekennende Sprechen des raquoZechliedslaquo am Ende in der inneren Form einer ihrer urspriinglichen Erfuumlllung mit christlichem Gehalt entleerten Heilsverkuumlndigung

i-

Mit jener Sprechweise des Geistlichen auf welche die Schluszligbeschweshyrung deutete haumlngt diese Form der He i I sv e r k uuml n d i gun g aufs engste zusammen Sie steht in Buumlrgers Werk durchaus nicht vereinzelt die im

29 Brief an Boie 18977

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religioumlsen Sprachgebrauch ausgebildeten Formmodelle finden hier zahlshyreiche und vielfaumlltige Entsprechungen die um so deutlicher erkennbar werden als sie noch immer merkliche Spuren auch des urspruumlnglichen Gehaltes tragen Sie erweisen sich als weltliche Kontrafakturen der relishygioumlsen Vorbilder 30 von denen sie nicht allein das organisierende Formshyprinzip beziehen sondern zugleich jenen Zuwachs an Bedeutungshaumlhe und Wirkungskraft den das Modell nur dann hergibt wenn es selbst noch als bedeutungshaltig und wirkungsfaumlhig intakt bleibt Die Annaumlherung auch der inhaltlichen Erfuumlllung dieser saumlkularisierten Formen an den christshylichen Denk- und Sprachbereich befoumlrdert ja begruumlndet ihre reichhaltige Erscheinung in Buumlrgers Lyrik

Ich glaube Luther wuumlrde dies Gedicht fuumlr ein wuumlrdiges Kirchenlied anerkannt haben schrieb AWSchlegel uumlber Die Elementelaquo (B 518) Schon mit dem Eingangsvers tritt es in die Form der Lehrvershykuumlndigung Horch Hohe Dinge lehr ich dich (I 68) Und diese Lehre vom Wesen der Elemente ist mehr als bloszlige Kundgabe Sie wird Maszligstab fuumlr den Belehrten Richtschnur Grundlage fuumlr das kommende Gericht Immer dringlicher wendet sie sich im Fortgang des Gedichtes an den Houmlrer selbst Sieh hin und her und Nun pruumlfe dich bis mit den oben (S 194) genannten Schluszligversen das lehrende Sprechen ins urteilende und verdammende uumlbergeht

Eine besondere Form der lehrhaft-bekennenden Rede macht das raquoDankl iedlaquo sichtbar (I 44ff) das Buumlrger urspruumlnglich Psalm nennen wollte und zu dem Boie ihm schrieb den denkenden Christen wird es entzuumlcken und erbauen aber den groumlszligten Haufen und Pastor Zuch - (12972) Es zeigt eine ganz symmetrische Anlage Die Eingangsstrophe wendet sich lobend an Gott den Schoumlpfer sechs folgende Strophen reihen auf was der Sprechende aus seiner Hand empfangen hat (daszlig es dabei ausgerechnet um die Liebe den Wein und den Gesang geht muszligte Pastor Zuch freilich wurmen) zwei Mittelstrophen bekennen daszlig die Fuumllle der Schoumlpfergaben nicht zu zaumlhlen sei (Wer zaumlhlt die Gaben alle Wer) und wenden sich auf den Sprecher selbst wieder sechs Strophen nennen dann die leiblichen und geistigen Eigenschaften die Gott ihm verliehen hat Hinter dieser Gaben Wunderschau aber wird Luthers Erklaumlrung zum 1 Artikel des Glaubensbekenntnisses sichtbar in der es nach der FrageWas ist das heiszligt Ich glaube daszlig mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mit Leib und Seele Augen Ohren und alle Glieshyder Vernunft und alle Sinne gegeben hat Gemaumlszlig den Schluszligworten der Erklaumlrung des alles ich ihm zu danken und zu loben schuldig bin muumlndet die letzte Strophe preisend und benedeiend in den liturgisch beshy

ao Zur Begriffsbestimmung dieser Saumlkularisationskategorie vgL S 289 ff

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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welches Forschers Geist hat Buumlrger selbst erklaumlrt kann sich immer so tief und innig in den Geist des Kuumlnstlers versenken um etwas mit Sicherheit auszumachen welches dieser oft selbst nicht recht weiszlig naumlmshylich was fuumlr Bestinunungsgruumlnde jeglichen seiner Schritte zum Ziele leitet haben 22 Nur im Ziele selbst im Zustandegekommenen WIrd wohl der eine oder andere Bestimmungsgrund erkennbar der Weg dahin fuumlhrt also nicht uumlber die Versenkung in den Geist des Kuumlnstlers sondern uumlber die Betrachtung des Kunstwerkes selbst

In dem 1782 entstandenen kleinen Gedicht raquoDer klug e Heldlaquo23 wird erzaumlhlt wie ein junger Soldat um der Gefahr zu entgehen am Tag vor der Schlacht einen Urlaub erbittet angeblich damit sein sterbender Vater ihm noch den Abschiedskuszlig geben koumlnne Die letzten Verse lauten

Sehr wohl versetzt der Chef und laumlchelt vor sich nieder Reis hurtig ab mein Sohn Denn nach der Bibel muszlig Dein Vater nach Gebuumlhr von dir geehret werden Auf daszlig dirs wohlergeh und du lang lebst auf Erden

Von verschiedenen Seiten aus wird einsichtig welch besonderes Gewicht dieser Schluszlig traumlgt ja daszlig das ganze Gedicht eigentlich auf ihn hin anshygelegt ist 24

bull Schon der Gespraumlchsablauf weckt eine Spannung auf die Beshygruumlndung fuumlr die Zustimmung des Chefs der den Vorwand ja durchshyschaut Zugleich trennt das Druckbild durch einen Gedankenstrich und folgenden Sinnabschnitt die hier angefuumlhrten letzten Zeilen von den vorshyangehenden und nachdem schon zuvor die wechselnd vier- und fuumlnfshyhebigen Jamben sich zweimal gleichsam praumlludierend ins alexandrinische Maszlig vorgewagt hatten gewinnt der Schluszligteil in dem die Alexandriner sich voumlllig durchgesetzt haben auch metrische Bedeutungssteigerung Entshyscheidend aber ist der Pointencharakter des Ausgangs und dessen eigentshylicher Uberraschungseffekt entsteht durch die ironische Beziehung des vierten Gebotes auf die Absichten des Soldaten Den wichtigsten Beitrag zur Schluszligbeschwerung des Gedichtes leisten diese beiden zitierenden len mit denen ein vorgeformtes und vorbelastetes Redestuumlck als schwerer Endakzent dem vorangehenden Berichte aufgesetzt wird

~2 Ueber die Wirkung des Schleiers in Werken der darstellenden Kunstlaquo TI S 340 23 Die Gedichte werden im folgenden zitiert nach der Ausgabe von E COllsentius

2 Bde 1914 Hier I S238 21 VgL E Staigers Begriff der nproblematischen Dichtung (Grundbegriffe der

Poetik LAufl 1951 S162ff)

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Schluszligbeschwerungen sind fuumlr Buumlrgers Lyrik charakteristisch Sie hershyvorzubringen erscheint die eben beobachtete Verbindung eines praumlforshymierten Sprachstuumlckes mit vorausgehenden freien Formationen beshysonders geeignet - und es ist bemerkenswert daszlig der strukturell so beshydeutsame pointierte Ausgang tatsaumlchlich in nahezu einem Drittel aller Gedichte Buumlrgers auf den christlichen Sprachbereich zuruumlckweist

Wo seine Gedichtausgaumlnge einen formelhaften Redeschluszlig woumlrtlich oder nur geringfuumlgig abgewandelt uumlbernehmen wird die Endbetonung am spuumlrbarsten Aus einer Fuumllle von Beispielen koumlnnte man dafuumlr nennen

Gott lass es dem Edlen doch wohl ergehn Das bet ich herzinniglich Amen (I 207)

Gott behuumlte liebe Seele Gott behuumlte dich davor (I 32)

o Paradiesesglaube Erhalt und staumlrke mich (I 38) Komm Von hinnen laszlig uns scheiden Eia waumlren wir schon da - (I 68) Dein Name sei gebenedeit Von nun an bis in Ewigkeit (I 45)

Der jeweilige Ursprungsort dieser Schluszligformeln bedarf keiner Erlaumluteshyrung Was sie - in einen neuen Zusammenhang versetzt - fuumlr den Aufshybau des Gedichtes leisten koumlnnen zeigt sich im ersten Beispiel (raquoDie Kuhlaquo) mit der Hervorhebung des Erzaumlhlers der diesen Epilog spricht und mit der Zusammenfassung des Gedichtes zur geschlossenen Form im letzten Beispiel (raquoDankliedlaquo) in dem die schlieszligenden Zeilen des Gedichtes die der Anfangsstrophe wieder aufnehmen und die preisende Aufreihung der Gottesgaben mit einer aus dem liturgischen Ursprungsort der Formel heruumlberwirkenden Kraft zusammengreifen und erfuumlllen im Benedeien des goumlttlichen Gebers Von solchen Leistungen wird noch die Rede sein

Aumlhnliche Wirkungen entfalten die Schluumlsse in denen Bibelzitate parashyphrasiert und auf die vorangehenden Verse bezogen werden In raquoSchoumln Suschenlaquo etwa geben die letzten Zeilen

Drum Lieb ist wohl wie Wind im Meer Sein Sausen ihr wohl houmlrt Allein ihr wisset nicht woher Wiszligt nicht wohin er faumlhrt (I 155)

die aus Joh 3 8 hervorgehen Antwort auf die Eingangsfrage des Geshydichtes durch sie erfuumlllt es sich in der inneren Form von Raumltselstellung und Raumltselloumlsung Vergleichbares bewirkt der Schluszlig von raquoDie Eleshy

13 7439 Schoumlne Saumlkularisation (Palaestra 226) 193

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mentelaquo nachdem die Liebe als allbewegende Triebkraft der Natur geshyschildert worden ist zieht der Ausgang die Lehre fuumlr den lieblos geshywordenen Menschen

Du bist ein eiteltoumlnend Erz Bist leerer Klingklang einer Schelle Und Tosen einer Wasserwelle (I 70)

Die auffallend haumlufige Verwendung solcher zusammenfassenden abshyrundenden aufloumlsenden erklaumlrenden pointierenden Schluszligbeschwerunshygen die der Dichter dem christlichen Sprachbereich entlehnt muszlig durchshyaus als Charakteristikum Buumlrgerseher Gedichtsstruktur verstanden werden

Ober die Bestimmung ihrer sprachlichen Herkunft hinaus sind diese beschwerten Ausgaumlnge in einigen Verwendungs faumlllen nun auch auf eine genauer bestimmbare Form des Sprechens zu beziehen Da endet etwa Die Entfuumlhrunglaquo mit den Versen

So segne dann der auf uns sieht Euch segne Gott von Glied zu Glied Auf Wechselt Ring und Haumlnde Und hiermit Lied am Ende (I 181)

Das ist die Spredlweise des Geistlichen und in der Tat nimmt ja hier am Ende des houmldlst wel dichen Balladengeschehens der Vater des entfuumlhrshyten Fraumluleins mit Segen und Ringwechsel eine priesterliche Handlung vor Diese personale Gleichung macht aufmerksam auf eine grundsaumltzliche typologische Entsprechung zwisdlen der Schluszligbeschwerung des Gedichshytes und geistlidler Redeweise Nicht nur das durchgehend religioumls beshystimmte liturgische Sprechen endet mit einer gewichtigen Schluszligformell des Gebetes Segens oder Lobpreises auch die nicht mehr formgebundene freie Rede das Gespraumlch die Ansprache so zu schlieszligen daszlig weltlidles Sprechen am Ende durch einen religioumlsen Bezug ein praumlformiertes Redeshystuumlck erhoumlht gekroumlnt gewichtig beschlossen wird ist fuumlr den Geistlichen offenbar bis heute bezeichnend

Diese durch vorgegebene Schluszligformeln charakterisierte Redeweise zeigt ganz die gleiche Grundform die in der Untersuchung der Buumlrgershysehen Gedichte sichtbar wird - wie ja jene Gepflogenheit an weltliche Rede einen oft geradezu gewaltsam angehaumlngten formelhaft-religioumlsen Schluszlig zu fuumlgen selbst in dem oben genannten Briefausgang noch spuumlrbar wird ich heuumlrathete wol ein Kuh wenn sie nur an der bewusten Vershynunft keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte didl bei dieser Philoshysophie Amen Amen GABuumlrger Unter diesem Blickwinkel gewinnt die Stelle geradezu karikierende Zuumlge

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Beispielhaft fuumlr eine solche Analogie der Sprechweisen scheinen etwa die Schluumlsse

Die Liebe segne dich und sie Mit ihrem besten Segen (148) Die Liebe sagt Verdammet nicht Daszlig man nicht Euch verdammet (I 187) Diesen Trinker gnade Gott Lass ihn nicht verderben (I 73)

Sie aber deuten auf eine Analogie-Antithese zwischen dem Pfarrer als dem Diener der christlichen Kirche und dem Poeten der eines seiner Geshydichte mit den Worten schlieszligt

Doch wisse du Apolls Religion Schenkt dir die Glaubenspflicht und dringt auf gute

Werke (I 248) Als Gottesdienst der Wortverwaltung hat Buumlrger sein dichterisd1cs Amt verstanden

Bin geweiht zum Priester des Apoll Mit des Gottes Kranz und goldnem Stabe Seines Geistes bin ich froh und voll Warum nicht auch frommer Wundergabe - (I 94)

Und am Ende des Gedichtes (raquoGeweih tes Ang ebind e zu Lo uis ens Geburtstagelaquo) tritt diese vaumlterliche Mitgift diese Sprechhaltung des Geistlichen ganz ausdruumlcklich ins Wort

Freud und Lust von keinem Harm vergaumlllt Sei durch dich Ihr in die Brust gegossen Freud an Gottes ganzer weiter Welt Mich den Priester auch mit eingeschlossen

shy

Die Beobachtung der Schluszligbeschwerung lenkt auf die Frage nach ihrer Integration in das Gesamtgefuumlge des Gedichtes und nach der Wirkung die sie dort entfaltet raquoDer kluge Heldlaquo kann darauf kaum schon ershyschoumlpfende Antwort geben die massive Pointicrung die hier durch den Endakzent zustande kommt ist nur eine unter vielen Moumlglichkeiten seiner Leistung Weit komplizierter liegen diese Verhaumlltnisse in Buumlrgers Nachshydichtung der raquoCo n f ess i 0laquo des Archipoeta 25

25 Das Gedicht war Buumlrger in einer dem Walter Mapes zugeschriebenen Fassung beshykannt geworden (vgl seinen Brief an Sprickmann vom 21077) deutliche Bezuumlge zeigen sich zu seinen Strophen 12 13 16-19 Zitiert wird die lat Vorlage nach dem auf 5 Strophen verkuumlrzten Abdruck den Buumlrger in der Ausgabe seiner Gedichte VOll

1778 auf S 290 f gegeben hat (Ausgenommen die beiden dort nicht mitgeteilten hier auf S199 zitierten Verse Voluptatis avidus laquo)

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Zechlied

Im will einst bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Alles meinen Wein nur nimt Lass im frohen Erben Nam der letzten Olung soll Hefen nom mim faumlrben Dann zertruumlmmre mein Pokal In zehntausend Smerben Jedermann hat von Natur Seine sondre Weise Mir gelinget jedes Werk Nur nam Trank und Speise Speis und Trank erhalten mim In dem remten Gleise Wer gut smmiert der faumlhrt aum gut Auf der Lebensreise Im bin gar ein armer Wimt Bin die feigste Memme Halten Durst und Hungerqual Mim in Angst und Klemme Smon ein Knaumlbchen smuumlttelt mim Was im aum mim stemme Einem Riesen halt im Stand Wann im zem und smlemme Aumlmter Wein ist aumlmtes 01 Zur Verstandeslampe Gibt der Seele Kraft und Schwung Bis zum Sternenkampe Witz und Weisheit dunsten auf Aus gefuumlllter Wampe Baszlig gluumlckt Harfenspiel und Sang Wann im brav smlampampe Nuumlchtern bin im immerdar Nur ein Harfenstuumlmper Mir erlahmen Hand und Griff Welken Haupt und Wimper Wann der Wein in Himmelsklang Wandelt mein Geklimper Sind Homer und Ossian Gegen mim nur Stuumlmper

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Nimmer hat durch meinen Mund Hoher Geist gesungen Bis ich meinen lieben Bauch Weidlich vollgeschlungen Wann mein Kapitolium Baechus Kraft erschwungen Sing und red ich wundersam Gar in fremden Zungen Drum will ich bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Nach der letzten oumllung soll Hefen noch mich faumlrben Engelchoumlre weihen dann Mich zum Nektarerben Diesen Trinker gnade Gott

Lass ihn nicht verderben (1 72 f)

Da wird mit der ersten Strophe das Bekenntnis zu einer Lebensfuumlhrung abgelegt und geradezu beschworen die selbst eingedenk des Todes noch ganz im Irdischen verharrt Fuumlnf folgende Strophen dann begruumlnden den Entschluszlig den die erste verkuumlndete auch ihre Aussagen bleiben durchshyaus im Bereiche des weingeweihten Diesseits Die letzte aber tritt nachshydem sie zunaumlchst das Bekenntnis der ersten aufgenommen in eine durchshyaus andere Sphaumlre Zwar setzt auch dort das irdische Trinkerleben sich fort aber der Spott der eben noch die letzte oumllung traf der Entschluszlig der ersten Strophe im Tode den Pokal zu zertruumlmmern lassen dieses Ende nicht erwarten

Ut dicant eum venerint angelorum chori Deus sit propitius huic potatori

heiszligt es in der raquoC 0 n fes s i 0laquo und solcher Gesang der Engelchoumlre beshyschlieszligt nun auch Buumlrgers koumlnigliches Sauflied 26 ein im religioumlsen Sprachbereich ausgebildetes Gebet um Gnade fuumlr den Suumlnder 27 - an dessen Stelle nun der Trinker steht - setzt den kraumlftigen Endakzent Wenn so unvermittelt das Sauflied in die Gebetsformel muumlndet scheint sich im Wortschatz in der Sprechhaltung im Hinblick auf die Geschehnisshyebene ein bruchhafter Wechsel zu vollziehen der die Einheitlichkeit des ganzen Gedichtes in Frage stellt Zwar folgen Vers- und Strophenbau zushygleich mit dem Reimschema der gtConfessiolaquo entlehnt ebenso wie die rhythmische Anlage des Liedes gleichbleibenden Aufbauprinzipien und stiften so eine formale Geschlossenheit des Ganzen aber gerade das treibt

28 Brief an Boie 18977 27 Vgl Lue1B 13 Deus propitius esto mihi peceatori

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den Umbruch der Schluszligbeschwerung nur um so kraumlftiger heraus Daszlig hier in Wahrheit keineswegs ein Bruch vorliegt daszlig dieser Sphaumlrenshywechsel durchaus nicht unvermittelt geschieht wird jedoch einsichtig sobald man die Sprache der Mittelstrophen schaumlrfer ins Auge faszligt Dann zeigt sich daszlig hinter der Bedeutungsoberflaumlche der Wortaussage vorshygeformtes Sprachgut aus eben der Sphaumlre wirksam ist zu der die schlieshyszligenden Verse sich erheben

Dem Wein dem der Sprechende selbst eingedenk des irdischen Endes noch sein Dasein verschreibt setzt die zweite Strophe die Speise zur Seite Beide Trank und Speise sind fuumlr das Leben noumltig - doch offenshybar nicht im Sinne notwendiger Ernaumlhrung Das erhalten meint kein einfad1es am-Leben-erhalten sondern ein im rechten Gleise im rechshyten Leben erhalten Das Schluszligwort der Strophe laumlszligt aufmerken Lebensreise erscheint als ein deutlich vorbelastetes vorgeformtes Sprad1stuumlck der religioumlsen Sphaumlre das (ausgehend von Gen 47 9) die christliche Deutung des Lebens als einer Reise durch die Weh zum jenshyseitigen Ziele in sich faszligt Trank und Speise in solchem Bedeutungsfeld als Hilfen die Lebensreise recht zu fuumlhren sie machen hinter dem lauten Gesang des Trinkers im fuumlnften Vers die liturgische Stimme vershynehmbar die Stimme des Geistlichen der die Hostie und den Wein reicht Nehmet hin und esset Nehmet hin und trinket das staumlrke und erhalte euch im rechten Glauben zum ewigen Leben Amenlaquo 28 Von andeshyrem Trank und anderer Speise als der vom Vater dargebotenen spricht der Sohn Doch im Bekenntnis des Zechlieds klingen noch immer jene Worte nach die von der Kraft des heiligen Mahles kuumlndeten weil das 11edium der Sprad1e die mit der Abendmahlsliturgie in sie eingeganshygenen Bedeutungsenergien bewahrt und fuumlr die Dichtung verfuumlgbar macht

Von der zweiten Strophe aufgerufen bleibt dieser Bezug auch in der dritten vierten und fuumlnften lebendig Hinter dem Zecher den Essen und Trinken der Angst und Schwaumld1e entheben so daszlig er einem Riesen standshyzuhalten vennag steigt das Bild des gottgestaumlrkten David herauf der dem Goliath standhaumllt Der aumlchte Wein und das aumldlte oumll derert Kraft die Seele zum Sternengewoumllbe erhebt gewinnen neue Bedeutung Hinter dem Harfenspieler und dem Himmelsklang seines Gesanges toumlnt leise der Psalm Davids zur Harfe zu singen und in der trunkseligen Prahshylerei der Erhebung uumlber Homer und Ossian mag damit eine verborgene Rechtfertigung solcher Selbsteinschaumltzung sich andeuten Sind die uumlbershytragenen Worte und Bilder hier dem Text des raquoZechlieds so weitshy

e8 In der Abendmahlsliturgie folgt diese in verschiedenen Fassungen gebraumluchliche Spclldeformc1 auf den Einsetzungsbericht Ausfuumlhrlich daruumlber P Graff Geschichte der Aufloumlsung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschshylands I 1937 S 197 ff

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gehend anverwandelt daszlig sie als fremdes Sprachgut kaum erkennbar werden heben sie sich in der sechsten Strophe doch wieder staumlrker ab erst der Abglanz der Erleuchtungsflammen des Pfingstwunders erhellt die Reden des Trunkenen als einwundersames Reden gar in fremden Zungen

Ein Vergleich mit dem Vorbild der lateinischen Beichtparodie der dies e Durchsichtigkeit auf den hinter der eigentlichen Aussage liegenden Sprach- und Bildbereich gaumlnzlich fehlt zeigt daszlig in Buumlrgers uumlbertragung eine sehr bewuszligte Absicht waltete Man halte gegen seine sechste Strophe etwa die Verse

Mihi nunquam spiritus prophetiae datur Non nisi cum fuerit venter bene satur Cum in arce cerebri Bacchus dominatur In me Phoebus irruit ac miranda fatur

Die Grundhaltung beider Gedichte unterscheidet sich wesentlich Mit den fuumlr die ganze raquoC 0 n fes s i 0laquo verbindlichen Versen

Voluptatis avidus magis quam salutis Mortuus in anima curam gero cutis

setzt der Archipoeta Diesseits und Jenseits gegeneinander und faumlllt seine klare Entscheidung fuumlr das eine gegen das andere Buumlrger aber verschmilzt die Bereiche Getragen von den sprachgebundenen Bedeutungsenergien die aus dem christlichen in einen houmlchst weltlichen Bereich des Sprechens uumlberfuumlhrt werden erhebt der bekenntnishafte Lebensbericht des Zechers sich zum Heilsbericht zum Preis einer uumlberirdischen und das Irdische vershywandelnden Macht die am Sprechenden wirksam wird Erst diese Spuren des weihevoll-heiligen Pathos dem Weine des schwoumlrenden protzenden singenden Zechers und Schlemmers beigemischt als ein verborgenes Arom bewirken jenes Entzuumlcken das Buumlrger mit der Lektuumlre des Gedichtes seinen Freunden verhieszlig29 Sie bereiten die schluszligbeschwerende Gebetsshyformel vor und bewirken daszlig statt eines Bruches hier der Aufschwung in jene Sphaumlre erfolgt die am inneren Aufbau des Liedes schon von Anshyfang an beteiligt war So vollendet sich das bekennende Sprechen des raquoZechliedslaquo am Ende in der inneren Form einer ihrer urspriinglichen Erfuumlllung mit christlichem Gehalt entleerten Heilsverkuumlndigung

i-

Mit jener Sprechweise des Geistlichen auf welche die Schluszligbeschweshyrung deutete haumlngt diese Form der He i I sv e r k uuml n d i gun g aufs engste zusammen Sie steht in Buumlrgers Werk durchaus nicht vereinzelt die im

29 Brief an Boie 18977

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religioumlsen Sprachgebrauch ausgebildeten Formmodelle finden hier zahlshyreiche und vielfaumlltige Entsprechungen die um so deutlicher erkennbar werden als sie noch immer merkliche Spuren auch des urspruumlnglichen Gehaltes tragen Sie erweisen sich als weltliche Kontrafakturen der relishygioumlsen Vorbilder 30 von denen sie nicht allein das organisierende Formshyprinzip beziehen sondern zugleich jenen Zuwachs an Bedeutungshaumlhe und Wirkungskraft den das Modell nur dann hergibt wenn es selbst noch als bedeutungshaltig und wirkungsfaumlhig intakt bleibt Die Annaumlherung auch der inhaltlichen Erfuumlllung dieser saumlkularisierten Formen an den christshylichen Denk- und Sprachbereich befoumlrdert ja begruumlndet ihre reichhaltige Erscheinung in Buumlrgers Lyrik

Ich glaube Luther wuumlrde dies Gedicht fuumlr ein wuumlrdiges Kirchenlied anerkannt haben schrieb AWSchlegel uumlber Die Elementelaquo (B 518) Schon mit dem Eingangsvers tritt es in die Form der Lehrvershykuumlndigung Horch Hohe Dinge lehr ich dich (I 68) Und diese Lehre vom Wesen der Elemente ist mehr als bloszlige Kundgabe Sie wird Maszligstab fuumlr den Belehrten Richtschnur Grundlage fuumlr das kommende Gericht Immer dringlicher wendet sie sich im Fortgang des Gedichtes an den Houmlrer selbst Sieh hin und her und Nun pruumlfe dich bis mit den oben (S 194) genannten Schluszligversen das lehrende Sprechen ins urteilende und verdammende uumlbergeht

Eine besondere Form der lehrhaft-bekennenden Rede macht das raquoDankl iedlaquo sichtbar (I 44ff) das Buumlrger urspruumlnglich Psalm nennen wollte und zu dem Boie ihm schrieb den denkenden Christen wird es entzuumlcken und erbauen aber den groumlszligten Haufen und Pastor Zuch - (12972) Es zeigt eine ganz symmetrische Anlage Die Eingangsstrophe wendet sich lobend an Gott den Schoumlpfer sechs folgende Strophen reihen auf was der Sprechende aus seiner Hand empfangen hat (daszlig es dabei ausgerechnet um die Liebe den Wein und den Gesang geht muszligte Pastor Zuch freilich wurmen) zwei Mittelstrophen bekennen daszlig die Fuumllle der Schoumlpfergaben nicht zu zaumlhlen sei (Wer zaumlhlt die Gaben alle Wer) und wenden sich auf den Sprecher selbst wieder sechs Strophen nennen dann die leiblichen und geistigen Eigenschaften die Gott ihm verliehen hat Hinter dieser Gaben Wunderschau aber wird Luthers Erklaumlrung zum 1 Artikel des Glaubensbekenntnisses sichtbar in der es nach der FrageWas ist das heiszligt Ich glaube daszlig mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mit Leib und Seele Augen Ohren und alle Glieshyder Vernunft und alle Sinne gegeben hat Gemaumlszlig den Schluszligworten der Erklaumlrung des alles ich ihm zu danken und zu loben schuldig bin muumlndet die letzte Strophe preisend und benedeiend in den liturgisch beshy

ao Zur Begriffsbestimmung dieser Saumlkularisationskategorie vgL S 289 ff

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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Schluszligbeschwerungen sind fuumlr Buumlrgers Lyrik charakteristisch Sie hershyvorzubringen erscheint die eben beobachtete Verbindung eines praumlforshymierten Sprachstuumlckes mit vorausgehenden freien Formationen beshysonders geeignet - und es ist bemerkenswert daszlig der strukturell so beshydeutsame pointierte Ausgang tatsaumlchlich in nahezu einem Drittel aller Gedichte Buumlrgers auf den christlichen Sprachbereich zuruumlckweist

Wo seine Gedichtausgaumlnge einen formelhaften Redeschluszlig woumlrtlich oder nur geringfuumlgig abgewandelt uumlbernehmen wird die Endbetonung am spuumlrbarsten Aus einer Fuumllle von Beispielen koumlnnte man dafuumlr nennen

Gott lass es dem Edlen doch wohl ergehn Das bet ich herzinniglich Amen (I 207)

Gott behuumlte liebe Seele Gott behuumlte dich davor (I 32)

o Paradiesesglaube Erhalt und staumlrke mich (I 38) Komm Von hinnen laszlig uns scheiden Eia waumlren wir schon da - (I 68) Dein Name sei gebenedeit Von nun an bis in Ewigkeit (I 45)

Der jeweilige Ursprungsort dieser Schluszligformeln bedarf keiner Erlaumluteshyrung Was sie - in einen neuen Zusammenhang versetzt - fuumlr den Aufshybau des Gedichtes leisten koumlnnen zeigt sich im ersten Beispiel (raquoDie Kuhlaquo) mit der Hervorhebung des Erzaumlhlers der diesen Epilog spricht und mit der Zusammenfassung des Gedichtes zur geschlossenen Form im letzten Beispiel (raquoDankliedlaquo) in dem die schlieszligenden Zeilen des Gedichtes die der Anfangsstrophe wieder aufnehmen und die preisende Aufreihung der Gottesgaben mit einer aus dem liturgischen Ursprungsort der Formel heruumlberwirkenden Kraft zusammengreifen und erfuumlllen im Benedeien des goumlttlichen Gebers Von solchen Leistungen wird noch die Rede sein

Aumlhnliche Wirkungen entfalten die Schluumlsse in denen Bibelzitate parashyphrasiert und auf die vorangehenden Verse bezogen werden In raquoSchoumln Suschenlaquo etwa geben die letzten Zeilen

Drum Lieb ist wohl wie Wind im Meer Sein Sausen ihr wohl houmlrt Allein ihr wisset nicht woher Wiszligt nicht wohin er faumlhrt (I 155)

die aus Joh 3 8 hervorgehen Antwort auf die Eingangsfrage des Geshydichtes durch sie erfuumlllt es sich in der inneren Form von Raumltselstellung und Raumltselloumlsung Vergleichbares bewirkt der Schluszlig von raquoDie Eleshy

13 7439 Schoumlne Saumlkularisation (Palaestra 226) 193

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mentelaquo nachdem die Liebe als allbewegende Triebkraft der Natur geshyschildert worden ist zieht der Ausgang die Lehre fuumlr den lieblos geshywordenen Menschen

Du bist ein eiteltoumlnend Erz Bist leerer Klingklang einer Schelle Und Tosen einer Wasserwelle (I 70)

Die auffallend haumlufige Verwendung solcher zusammenfassenden abshyrundenden aufloumlsenden erklaumlrenden pointierenden Schluszligbeschwerunshygen die der Dichter dem christlichen Sprachbereich entlehnt muszlig durchshyaus als Charakteristikum Buumlrgerseher Gedichtsstruktur verstanden werden

Ober die Bestimmung ihrer sprachlichen Herkunft hinaus sind diese beschwerten Ausgaumlnge in einigen Verwendungs faumlllen nun auch auf eine genauer bestimmbare Form des Sprechens zu beziehen Da endet etwa Die Entfuumlhrunglaquo mit den Versen

So segne dann der auf uns sieht Euch segne Gott von Glied zu Glied Auf Wechselt Ring und Haumlnde Und hiermit Lied am Ende (I 181)

Das ist die Spredlweise des Geistlichen und in der Tat nimmt ja hier am Ende des houmldlst wel dichen Balladengeschehens der Vater des entfuumlhrshyten Fraumluleins mit Segen und Ringwechsel eine priesterliche Handlung vor Diese personale Gleichung macht aufmerksam auf eine grundsaumltzliche typologische Entsprechung zwisdlen der Schluszligbeschwerung des Gedichshytes und geistlidler Redeweise Nicht nur das durchgehend religioumls beshystimmte liturgische Sprechen endet mit einer gewichtigen Schluszligformell des Gebetes Segens oder Lobpreises auch die nicht mehr formgebundene freie Rede das Gespraumlch die Ansprache so zu schlieszligen daszlig weltlidles Sprechen am Ende durch einen religioumlsen Bezug ein praumlformiertes Redeshystuumlck erhoumlht gekroumlnt gewichtig beschlossen wird ist fuumlr den Geistlichen offenbar bis heute bezeichnend

Diese durch vorgegebene Schluszligformeln charakterisierte Redeweise zeigt ganz die gleiche Grundform die in der Untersuchung der Buumlrgershysehen Gedichte sichtbar wird - wie ja jene Gepflogenheit an weltliche Rede einen oft geradezu gewaltsam angehaumlngten formelhaft-religioumlsen Schluszlig zu fuumlgen selbst in dem oben genannten Briefausgang noch spuumlrbar wird ich heuumlrathete wol ein Kuh wenn sie nur an der bewusten Vershynunft keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte didl bei dieser Philoshysophie Amen Amen GABuumlrger Unter diesem Blickwinkel gewinnt die Stelle geradezu karikierende Zuumlge

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Beispielhaft fuumlr eine solche Analogie der Sprechweisen scheinen etwa die Schluumlsse

Die Liebe segne dich und sie Mit ihrem besten Segen (148) Die Liebe sagt Verdammet nicht Daszlig man nicht Euch verdammet (I 187) Diesen Trinker gnade Gott Lass ihn nicht verderben (I 73)

Sie aber deuten auf eine Analogie-Antithese zwischen dem Pfarrer als dem Diener der christlichen Kirche und dem Poeten der eines seiner Geshydichte mit den Worten schlieszligt

Doch wisse du Apolls Religion Schenkt dir die Glaubenspflicht und dringt auf gute

Werke (I 248) Als Gottesdienst der Wortverwaltung hat Buumlrger sein dichterisd1cs Amt verstanden

Bin geweiht zum Priester des Apoll Mit des Gottes Kranz und goldnem Stabe Seines Geistes bin ich froh und voll Warum nicht auch frommer Wundergabe - (I 94)

Und am Ende des Gedichtes (raquoGeweih tes Ang ebind e zu Lo uis ens Geburtstagelaquo) tritt diese vaumlterliche Mitgift diese Sprechhaltung des Geistlichen ganz ausdruumlcklich ins Wort

Freud und Lust von keinem Harm vergaumlllt Sei durch dich Ihr in die Brust gegossen Freud an Gottes ganzer weiter Welt Mich den Priester auch mit eingeschlossen

shy

Die Beobachtung der Schluszligbeschwerung lenkt auf die Frage nach ihrer Integration in das Gesamtgefuumlge des Gedichtes und nach der Wirkung die sie dort entfaltet raquoDer kluge Heldlaquo kann darauf kaum schon ershyschoumlpfende Antwort geben die massive Pointicrung die hier durch den Endakzent zustande kommt ist nur eine unter vielen Moumlglichkeiten seiner Leistung Weit komplizierter liegen diese Verhaumlltnisse in Buumlrgers Nachshydichtung der raquoCo n f ess i 0laquo des Archipoeta 25

25 Das Gedicht war Buumlrger in einer dem Walter Mapes zugeschriebenen Fassung beshykannt geworden (vgl seinen Brief an Sprickmann vom 21077) deutliche Bezuumlge zeigen sich zu seinen Strophen 12 13 16-19 Zitiert wird die lat Vorlage nach dem auf 5 Strophen verkuumlrzten Abdruck den Buumlrger in der Ausgabe seiner Gedichte VOll

1778 auf S 290 f gegeben hat (Ausgenommen die beiden dort nicht mitgeteilten hier auf S199 zitierten Verse Voluptatis avidus laquo)

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Zechlied

Im will einst bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Alles meinen Wein nur nimt Lass im frohen Erben Nam der letzten Olung soll Hefen nom mim faumlrben Dann zertruumlmmre mein Pokal In zehntausend Smerben Jedermann hat von Natur Seine sondre Weise Mir gelinget jedes Werk Nur nam Trank und Speise Speis und Trank erhalten mim In dem remten Gleise Wer gut smmiert der faumlhrt aum gut Auf der Lebensreise Im bin gar ein armer Wimt Bin die feigste Memme Halten Durst und Hungerqual Mim in Angst und Klemme Smon ein Knaumlbchen smuumlttelt mim Was im aum mim stemme Einem Riesen halt im Stand Wann im zem und smlemme Aumlmter Wein ist aumlmtes 01 Zur Verstandeslampe Gibt der Seele Kraft und Schwung Bis zum Sternenkampe Witz und Weisheit dunsten auf Aus gefuumlllter Wampe Baszlig gluumlckt Harfenspiel und Sang Wann im brav smlampampe Nuumlchtern bin im immerdar Nur ein Harfenstuumlmper Mir erlahmen Hand und Griff Welken Haupt und Wimper Wann der Wein in Himmelsklang Wandelt mein Geklimper Sind Homer und Ossian Gegen mim nur Stuumlmper

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Nimmer hat durch meinen Mund Hoher Geist gesungen Bis ich meinen lieben Bauch Weidlich vollgeschlungen Wann mein Kapitolium Baechus Kraft erschwungen Sing und red ich wundersam Gar in fremden Zungen Drum will ich bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Nach der letzten oumllung soll Hefen noch mich faumlrben Engelchoumlre weihen dann Mich zum Nektarerben Diesen Trinker gnade Gott

Lass ihn nicht verderben (1 72 f)

Da wird mit der ersten Strophe das Bekenntnis zu einer Lebensfuumlhrung abgelegt und geradezu beschworen die selbst eingedenk des Todes noch ganz im Irdischen verharrt Fuumlnf folgende Strophen dann begruumlnden den Entschluszlig den die erste verkuumlndete auch ihre Aussagen bleiben durchshyaus im Bereiche des weingeweihten Diesseits Die letzte aber tritt nachshydem sie zunaumlchst das Bekenntnis der ersten aufgenommen in eine durchshyaus andere Sphaumlre Zwar setzt auch dort das irdische Trinkerleben sich fort aber der Spott der eben noch die letzte oumllung traf der Entschluszlig der ersten Strophe im Tode den Pokal zu zertruumlmmern lassen dieses Ende nicht erwarten

Ut dicant eum venerint angelorum chori Deus sit propitius huic potatori

heiszligt es in der raquoC 0 n fes s i 0laquo und solcher Gesang der Engelchoumlre beshyschlieszligt nun auch Buumlrgers koumlnigliches Sauflied 26 ein im religioumlsen Sprachbereich ausgebildetes Gebet um Gnade fuumlr den Suumlnder 27 - an dessen Stelle nun der Trinker steht - setzt den kraumlftigen Endakzent Wenn so unvermittelt das Sauflied in die Gebetsformel muumlndet scheint sich im Wortschatz in der Sprechhaltung im Hinblick auf die Geschehnisshyebene ein bruchhafter Wechsel zu vollziehen der die Einheitlichkeit des ganzen Gedichtes in Frage stellt Zwar folgen Vers- und Strophenbau zushygleich mit dem Reimschema der gtConfessiolaquo entlehnt ebenso wie die rhythmische Anlage des Liedes gleichbleibenden Aufbauprinzipien und stiften so eine formale Geschlossenheit des Ganzen aber gerade das treibt

28 Brief an Boie 18977 27 Vgl Lue1B 13 Deus propitius esto mihi peceatori

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den Umbruch der Schluszligbeschwerung nur um so kraumlftiger heraus Daszlig hier in Wahrheit keineswegs ein Bruch vorliegt daszlig dieser Sphaumlrenshywechsel durchaus nicht unvermittelt geschieht wird jedoch einsichtig sobald man die Sprache der Mittelstrophen schaumlrfer ins Auge faszligt Dann zeigt sich daszlig hinter der Bedeutungsoberflaumlche der Wortaussage vorshygeformtes Sprachgut aus eben der Sphaumlre wirksam ist zu der die schlieshyszligenden Verse sich erheben

Dem Wein dem der Sprechende selbst eingedenk des irdischen Endes noch sein Dasein verschreibt setzt die zweite Strophe die Speise zur Seite Beide Trank und Speise sind fuumlr das Leben noumltig - doch offenshybar nicht im Sinne notwendiger Ernaumlhrung Das erhalten meint kein einfad1es am-Leben-erhalten sondern ein im rechten Gleise im rechshyten Leben erhalten Das Schluszligwort der Strophe laumlszligt aufmerken Lebensreise erscheint als ein deutlich vorbelastetes vorgeformtes Sprad1stuumlck der religioumlsen Sphaumlre das (ausgehend von Gen 47 9) die christliche Deutung des Lebens als einer Reise durch die Weh zum jenshyseitigen Ziele in sich faszligt Trank und Speise in solchem Bedeutungsfeld als Hilfen die Lebensreise recht zu fuumlhren sie machen hinter dem lauten Gesang des Trinkers im fuumlnften Vers die liturgische Stimme vershynehmbar die Stimme des Geistlichen der die Hostie und den Wein reicht Nehmet hin und esset Nehmet hin und trinket das staumlrke und erhalte euch im rechten Glauben zum ewigen Leben Amenlaquo 28 Von andeshyrem Trank und anderer Speise als der vom Vater dargebotenen spricht der Sohn Doch im Bekenntnis des Zechlieds klingen noch immer jene Worte nach die von der Kraft des heiligen Mahles kuumlndeten weil das 11edium der Sprad1e die mit der Abendmahlsliturgie in sie eingeganshygenen Bedeutungsenergien bewahrt und fuumlr die Dichtung verfuumlgbar macht

Von der zweiten Strophe aufgerufen bleibt dieser Bezug auch in der dritten vierten und fuumlnften lebendig Hinter dem Zecher den Essen und Trinken der Angst und Schwaumld1e entheben so daszlig er einem Riesen standshyzuhalten vennag steigt das Bild des gottgestaumlrkten David herauf der dem Goliath standhaumllt Der aumlchte Wein und das aumldlte oumll derert Kraft die Seele zum Sternengewoumllbe erhebt gewinnen neue Bedeutung Hinter dem Harfenspieler und dem Himmelsklang seines Gesanges toumlnt leise der Psalm Davids zur Harfe zu singen und in der trunkseligen Prahshylerei der Erhebung uumlber Homer und Ossian mag damit eine verborgene Rechtfertigung solcher Selbsteinschaumltzung sich andeuten Sind die uumlbershytragenen Worte und Bilder hier dem Text des raquoZechlieds so weitshy

e8 In der Abendmahlsliturgie folgt diese in verschiedenen Fassungen gebraumluchliche Spclldeformc1 auf den Einsetzungsbericht Ausfuumlhrlich daruumlber P Graff Geschichte der Aufloumlsung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschshylands I 1937 S 197 ff

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gehend anverwandelt daszlig sie als fremdes Sprachgut kaum erkennbar werden heben sie sich in der sechsten Strophe doch wieder staumlrker ab erst der Abglanz der Erleuchtungsflammen des Pfingstwunders erhellt die Reden des Trunkenen als einwundersames Reden gar in fremden Zungen

Ein Vergleich mit dem Vorbild der lateinischen Beichtparodie der dies e Durchsichtigkeit auf den hinter der eigentlichen Aussage liegenden Sprach- und Bildbereich gaumlnzlich fehlt zeigt daszlig in Buumlrgers uumlbertragung eine sehr bewuszligte Absicht waltete Man halte gegen seine sechste Strophe etwa die Verse

Mihi nunquam spiritus prophetiae datur Non nisi cum fuerit venter bene satur Cum in arce cerebri Bacchus dominatur In me Phoebus irruit ac miranda fatur

Die Grundhaltung beider Gedichte unterscheidet sich wesentlich Mit den fuumlr die ganze raquoC 0 n fes s i 0laquo verbindlichen Versen

Voluptatis avidus magis quam salutis Mortuus in anima curam gero cutis

setzt der Archipoeta Diesseits und Jenseits gegeneinander und faumlllt seine klare Entscheidung fuumlr das eine gegen das andere Buumlrger aber verschmilzt die Bereiche Getragen von den sprachgebundenen Bedeutungsenergien die aus dem christlichen in einen houmlchst weltlichen Bereich des Sprechens uumlberfuumlhrt werden erhebt der bekenntnishafte Lebensbericht des Zechers sich zum Heilsbericht zum Preis einer uumlberirdischen und das Irdische vershywandelnden Macht die am Sprechenden wirksam wird Erst diese Spuren des weihevoll-heiligen Pathos dem Weine des schwoumlrenden protzenden singenden Zechers und Schlemmers beigemischt als ein verborgenes Arom bewirken jenes Entzuumlcken das Buumlrger mit der Lektuumlre des Gedichtes seinen Freunden verhieszlig29 Sie bereiten die schluszligbeschwerende Gebetsshyformel vor und bewirken daszlig statt eines Bruches hier der Aufschwung in jene Sphaumlre erfolgt die am inneren Aufbau des Liedes schon von Anshyfang an beteiligt war So vollendet sich das bekennende Sprechen des raquoZechliedslaquo am Ende in der inneren Form einer ihrer urspriinglichen Erfuumlllung mit christlichem Gehalt entleerten Heilsverkuumlndigung

i-

Mit jener Sprechweise des Geistlichen auf welche die Schluszligbeschweshyrung deutete haumlngt diese Form der He i I sv e r k uuml n d i gun g aufs engste zusammen Sie steht in Buumlrgers Werk durchaus nicht vereinzelt die im

29 Brief an Boie 18977

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religioumlsen Sprachgebrauch ausgebildeten Formmodelle finden hier zahlshyreiche und vielfaumlltige Entsprechungen die um so deutlicher erkennbar werden als sie noch immer merkliche Spuren auch des urspruumlnglichen Gehaltes tragen Sie erweisen sich als weltliche Kontrafakturen der relishygioumlsen Vorbilder 30 von denen sie nicht allein das organisierende Formshyprinzip beziehen sondern zugleich jenen Zuwachs an Bedeutungshaumlhe und Wirkungskraft den das Modell nur dann hergibt wenn es selbst noch als bedeutungshaltig und wirkungsfaumlhig intakt bleibt Die Annaumlherung auch der inhaltlichen Erfuumlllung dieser saumlkularisierten Formen an den christshylichen Denk- und Sprachbereich befoumlrdert ja begruumlndet ihre reichhaltige Erscheinung in Buumlrgers Lyrik

Ich glaube Luther wuumlrde dies Gedicht fuumlr ein wuumlrdiges Kirchenlied anerkannt haben schrieb AWSchlegel uumlber Die Elementelaquo (B 518) Schon mit dem Eingangsvers tritt es in die Form der Lehrvershykuumlndigung Horch Hohe Dinge lehr ich dich (I 68) Und diese Lehre vom Wesen der Elemente ist mehr als bloszlige Kundgabe Sie wird Maszligstab fuumlr den Belehrten Richtschnur Grundlage fuumlr das kommende Gericht Immer dringlicher wendet sie sich im Fortgang des Gedichtes an den Houmlrer selbst Sieh hin und her und Nun pruumlfe dich bis mit den oben (S 194) genannten Schluszligversen das lehrende Sprechen ins urteilende und verdammende uumlbergeht

Eine besondere Form der lehrhaft-bekennenden Rede macht das raquoDankl iedlaquo sichtbar (I 44ff) das Buumlrger urspruumlnglich Psalm nennen wollte und zu dem Boie ihm schrieb den denkenden Christen wird es entzuumlcken und erbauen aber den groumlszligten Haufen und Pastor Zuch - (12972) Es zeigt eine ganz symmetrische Anlage Die Eingangsstrophe wendet sich lobend an Gott den Schoumlpfer sechs folgende Strophen reihen auf was der Sprechende aus seiner Hand empfangen hat (daszlig es dabei ausgerechnet um die Liebe den Wein und den Gesang geht muszligte Pastor Zuch freilich wurmen) zwei Mittelstrophen bekennen daszlig die Fuumllle der Schoumlpfergaben nicht zu zaumlhlen sei (Wer zaumlhlt die Gaben alle Wer) und wenden sich auf den Sprecher selbst wieder sechs Strophen nennen dann die leiblichen und geistigen Eigenschaften die Gott ihm verliehen hat Hinter dieser Gaben Wunderschau aber wird Luthers Erklaumlrung zum 1 Artikel des Glaubensbekenntnisses sichtbar in der es nach der FrageWas ist das heiszligt Ich glaube daszlig mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mit Leib und Seele Augen Ohren und alle Glieshyder Vernunft und alle Sinne gegeben hat Gemaumlszlig den Schluszligworten der Erklaumlrung des alles ich ihm zu danken und zu loben schuldig bin muumlndet die letzte Strophe preisend und benedeiend in den liturgisch beshy

ao Zur Begriffsbestimmung dieser Saumlkularisationskategorie vgL S 289 ff

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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mentelaquo nachdem die Liebe als allbewegende Triebkraft der Natur geshyschildert worden ist zieht der Ausgang die Lehre fuumlr den lieblos geshywordenen Menschen

Du bist ein eiteltoumlnend Erz Bist leerer Klingklang einer Schelle Und Tosen einer Wasserwelle (I 70)

Die auffallend haumlufige Verwendung solcher zusammenfassenden abshyrundenden aufloumlsenden erklaumlrenden pointierenden Schluszligbeschwerunshygen die der Dichter dem christlichen Sprachbereich entlehnt muszlig durchshyaus als Charakteristikum Buumlrgerseher Gedichtsstruktur verstanden werden

Ober die Bestimmung ihrer sprachlichen Herkunft hinaus sind diese beschwerten Ausgaumlnge in einigen Verwendungs faumlllen nun auch auf eine genauer bestimmbare Form des Sprechens zu beziehen Da endet etwa Die Entfuumlhrunglaquo mit den Versen

So segne dann der auf uns sieht Euch segne Gott von Glied zu Glied Auf Wechselt Ring und Haumlnde Und hiermit Lied am Ende (I 181)

Das ist die Spredlweise des Geistlichen und in der Tat nimmt ja hier am Ende des houmldlst wel dichen Balladengeschehens der Vater des entfuumlhrshyten Fraumluleins mit Segen und Ringwechsel eine priesterliche Handlung vor Diese personale Gleichung macht aufmerksam auf eine grundsaumltzliche typologische Entsprechung zwisdlen der Schluszligbeschwerung des Gedichshytes und geistlidler Redeweise Nicht nur das durchgehend religioumls beshystimmte liturgische Sprechen endet mit einer gewichtigen Schluszligformell des Gebetes Segens oder Lobpreises auch die nicht mehr formgebundene freie Rede das Gespraumlch die Ansprache so zu schlieszligen daszlig weltlidles Sprechen am Ende durch einen religioumlsen Bezug ein praumlformiertes Redeshystuumlck erhoumlht gekroumlnt gewichtig beschlossen wird ist fuumlr den Geistlichen offenbar bis heute bezeichnend

Diese durch vorgegebene Schluszligformeln charakterisierte Redeweise zeigt ganz die gleiche Grundform die in der Untersuchung der Buumlrgershysehen Gedichte sichtbar wird - wie ja jene Gepflogenheit an weltliche Rede einen oft geradezu gewaltsam angehaumlngten formelhaft-religioumlsen Schluszlig zu fuumlgen selbst in dem oben genannten Briefausgang noch spuumlrbar wird ich heuumlrathete wol ein Kuh wenn sie nur an der bewusten Vershynunft keinen Mangel haumltte Gott staumlrke und erhalte didl bei dieser Philoshysophie Amen Amen GABuumlrger Unter diesem Blickwinkel gewinnt die Stelle geradezu karikierende Zuumlge

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Beispielhaft fuumlr eine solche Analogie der Sprechweisen scheinen etwa die Schluumlsse

Die Liebe segne dich und sie Mit ihrem besten Segen (148) Die Liebe sagt Verdammet nicht Daszlig man nicht Euch verdammet (I 187) Diesen Trinker gnade Gott Lass ihn nicht verderben (I 73)

Sie aber deuten auf eine Analogie-Antithese zwischen dem Pfarrer als dem Diener der christlichen Kirche und dem Poeten der eines seiner Geshydichte mit den Worten schlieszligt

Doch wisse du Apolls Religion Schenkt dir die Glaubenspflicht und dringt auf gute

Werke (I 248) Als Gottesdienst der Wortverwaltung hat Buumlrger sein dichterisd1cs Amt verstanden

Bin geweiht zum Priester des Apoll Mit des Gottes Kranz und goldnem Stabe Seines Geistes bin ich froh und voll Warum nicht auch frommer Wundergabe - (I 94)

Und am Ende des Gedichtes (raquoGeweih tes Ang ebind e zu Lo uis ens Geburtstagelaquo) tritt diese vaumlterliche Mitgift diese Sprechhaltung des Geistlichen ganz ausdruumlcklich ins Wort

Freud und Lust von keinem Harm vergaumlllt Sei durch dich Ihr in die Brust gegossen Freud an Gottes ganzer weiter Welt Mich den Priester auch mit eingeschlossen

shy

Die Beobachtung der Schluszligbeschwerung lenkt auf die Frage nach ihrer Integration in das Gesamtgefuumlge des Gedichtes und nach der Wirkung die sie dort entfaltet raquoDer kluge Heldlaquo kann darauf kaum schon ershyschoumlpfende Antwort geben die massive Pointicrung die hier durch den Endakzent zustande kommt ist nur eine unter vielen Moumlglichkeiten seiner Leistung Weit komplizierter liegen diese Verhaumlltnisse in Buumlrgers Nachshydichtung der raquoCo n f ess i 0laquo des Archipoeta 25

25 Das Gedicht war Buumlrger in einer dem Walter Mapes zugeschriebenen Fassung beshykannt geworden (vgl seinen Brief an Sprickmann vom 21077) deutliche Bezuumlge zeigen sich zu seinen Strophen 12 13 16-19 Zitiert wird die lat Vorlage nach dem auf 5 Strophen verkuumlrzten Abdruck den Buumlrger in der Ausgabe seiner Gedichte VOll

1778 auf S 290 f gegeben hat (Ausgenommen die beiden dort nicht mitgeteilten hier auf S199 zitierten Verse Voluptatis avidus laquo)

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Zechlied

Im will einst bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Alles meinen Wein nur nimt Lass im frohen Erben Nam der letzten Olung soll Hefen nom mim faumlrben Dann zertruumlmmre mein Pokal In zehntausend Smerben Jedermann hat von Natur Seine sondre Weise Mir gelinget jedes Werk Nur nam Trank und Speise Speis und Trank erhalten mim In dem remten Gleise Wer gut smmiert der faumlhrt aum gut Auf der Lebensreise Im bin gar ein armer Wimt Bin die feigste Memme Halten Durst und Hungerqual Mim in Angst und Klemme Smon ein Knaumlbchen smuumlttelt mim Was im aum mim stemme Einem Riesen halt im Stand Wann im zem und smlemme Aumlmter Wein ist aumlmtes 01 Zur Verstandeslampe Gibt der Seele Kraft und Schwung Bis zum Sternenkampe Witz und Weisheit dunsten auf Aus gefuumlllter Wampe Baszlig gluumlckt Harfenspiel und Sang Wann im brav smlampampe Nuumlchtern bin im immerdar Nur ein Harfenstuumlmper Mir erlahmen Hand und Griff Welken Haupt und Wimper Wann der Wein in Himmelsklang Wandelt mein Geklimper Sind Homer und Ossian Gegen mim nur Stuumlmper

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Nimmer hat durch meinen Mund Hoher Geist gesungen Bis ich meinen lieben Bauch Weidlich vollgeschlungen Wann mein Kapitolium Baechus Kraft erschwungen Sing und red ich wundersam Gar in fremden Zungen Drum will ich bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Nach der letzten oumllung soll Hefen noch mich faumlrben Engelchoumlre weihen dann Mich zum Nektarerben Diesen Trinker gnade Gott

Lass ihn nicht verderben (1 72 f)

Da wird mit der ersten Strophe das Bekenntnis zu einer Lebensfuumlhrung abgelegt und geradezu beschworen die selbst eingedenk des Todes noch ganz im Irdischen verharrt Fuumlnf folgende Strophen dann begruumlnden den Entschluszlig den die erste verkuumlndete auch ihre Aussagen bleiben durchshyaus im Bereiche des weingeweihten Diesseits Die letzte aber tritt nachshydem sie zunaumlchst das Bekenntnis der ersten aufgenommen in eine durchshyaus andere Sphaumlre Zwar setzt auch dort das irdische Trinkerleben sich fort aber der Spott der eben noch die letzte oumllung traf der Entschluszlig der ersten Strophe im Tode den Pokal zu zertruumlmmern lassen dieses Ende nicht erwarten

Ut dicant eum venerint angelorum chori Deus sit propitius huic potatori

heiszligt es in der raquoC 0 n fes s i 0laquo und solcher Gesang der Engelchoumlre beshyschlieszligt nun auch Buumlrgers koumlnigliches Sauflied 26 ein im religioumlsen Sprachbereich ausgebildetes Gebet um Gnade fuumlr den Suumlnder 27 - an dessen Stelle nun der Trinker steht - setzt den kraumlftigen Endakzent Wenn so unvermittelt das Sauflied in die Gebetsformel muumlndet scheint sich im Wortschatz in der Sprechhaltung im Hinblick auf die Geschehnisshyebene ein bruchhafter Wechsel zu vollziehen der die Einheitlichkeit des ganzen Gedichtes in Frage stellt Zwar folgen Vers- und Strophenbau zushygleich mit dem Reimschema der gtConfessiolaquo entlehnt ebenso wie die rhythmische Anlage des Liedes gleichbleibenden Aufbauprinzipien und stiften so eine formale Geschlossenheit des Ganzen aber gerade das treibt

28 Brief an Boie 18977 27 Vgl Lue1B 13 Deus propitius esto mihi peceatori

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den Umbruch der Schluszligbeschwerung nur um so kraumlftiger heraus Daszlig hier in Wahrheit keineswegs ein Bruch vorliegt daszlig dieser Sphaumlrenshywechsel durchaus nicht unvermittelt geschieht wird jedoch einsichtig sobald man die Sprache der Mittelstrophen schaumlrfer ins Auge faszligt Dann zeigt sich daszlig hinter der Bedeutungsoberflaumlche der Wortaussage vorshygeformtes Sprachgut aus eben der Sphaumlre wirksam ist zu der die schlieshyszligenden Verse sich erheben

Dem Wein dem der Sprechende selbst eingedenk des irdischen Endes noch sein Dasein verschreibt setzt die zweite Strophe die Speise zur Seite Beide Trank und Speise sind fuumlr das Leben noumltig - doch offenshybar nicht im Sinne notwendiger Ernaumlhrung Das erhalten meint kein einfad1es am-Leben-erhalten sondern ein im rechten Gleise im rechshyten Leben erhalten Das Schluszligwort der Strophe laumlszligt aufmerken Lebensreise erscheint als ein deutlich vorbelastetes vorgeformtes Sprad1stuumlck der religioumlsen Sphaumlre das (ausgehend von Gen 47 9) die christliche Deutung des Lebens als einer Reise durch die Weh zum jenshyseitigen Ziele in sich faszligt Trank und Speise in solchem Bedeutungsfeld als Hilfen die Lebensreise recht zu fuumlhren sie machen hinter dem lauten Gesang des Trinkers im fuumlnften Vers die liturgische Stimme vershynehmbar die Stimme des Geistlichen der die Hostie und den Wein reicht Nehmet hin und esset Nehmet hin und trinket das staumlrke und erhalte euch im rechten Glauben zum ewigen Leben Amenlaquo 28 Von andeshyrem Trank und anderer Speise als der vom Vater dargebotenen spricht der Sohn Doch im Bekenntnis des Zechlieds klingen noch immer jene Worte nach die von der Kraft des heiligen Mahles kuumlndeten weil das 11edium der Sprad1e die mit der Abendmahlsliturgie in sie eingeganshygenen Bedeutungsenergien bewahrt und fuumlr die Dichtung verfuumlgbar macht

Von der zweiten Strophe aufgerufen bleibt dieser Bezug auch in der dritten vierten und fuumlnften lebendig Hinter dem Zecher den Essen und Trinken der Angst und Schwaumld1e entheben so daszlig er einem Riesen standshyzuhalten vennag steigt das Bild des gottgestaumlrkten David herauf der dem Goliath standhaumllt Der aumlchte Wein und das aumldlte oumll derert Kraft die Seele zum Sternengewoumllbe erhebt gewinnen neue Bedeutung Hinter dem Harfenspieler und dem Himmelsklang seines Gesanges toumlnt leise der Psalm Davids zur Harfe zu singen und in der trunkseligen Prahshylerei der Erhebung uumlber Homer und Ossian mag damit eine verborgene Rechtfertigung solcher Selbsteinschaumltzung sich andeuten Sind die uumlbershytragenen Worte und Bilder hier dem Text des raquoZechlieds so weitshy

e8 In der Abendmahlsliturgie folgt diese in verschiedenen Fassungen gebraumluchliche Spclldeformc1 auf den Einsetzungsbericht Ausfuumlhrlich daruumlber P Graff Geschichte der Aufloumlsung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschshylands I 1937 S 197 ff

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gehend anverwandelt daszlig sie als fremdes Sprachgut kaum erkennbar werden heben sie sich in der sechsten Strophe doch wieder staumlrker ab erst der Abglanz der Erleuchtungsflammen des Pfingstwunders erhellt die Reden des Trunkenen als einwundersames Reden gar in fremden Zungen

Ein Vergleich mit dem Vorbild der lateinischen Beichtparodie der dies e Durchsichtigkeit auf den hinter der eigentlichen Aussage liegenden Sprach- und Bildbereich gaumlnzlich fehlt zeigt daszlig in Buumlrgers uumlbertragung eine sehr bewuszligte Absicht waltete Man halte gegen seine sechste Strophe etwa die Verse

Mihi nunquam spiritus prophetiae datur Non nisi cum fuerit venter bene satur Cum in arce cerebri Bacchus dominatur In me Phoebus irruit ac miranda fatur

Die Grundhaltung beider Gedichte unterscheidet sich wesentlich Mit den fuumlr die ganze raquoC 0 n fes s i 0laquo verbindlichen Versen

Voluptatis avidus magis quam salutis Mortuus in anima curam gero cutis

setzt der Archipoeta Diesseits und Jenseits gegeneinander und faumlllt seine klare Entscheidung fuumlr das eine gegen das andere Buumlrger aber verschmilzt die Bereiche Getragen von den sprachgebundenen Bedeutungsenergien die aus dem christlichen in einen houmlchst weltlichen Bereich des Sprechens uumlberfuumlhrt werden erhebt der bekenntnishafte Lebensbericht des Zechers sich zum Heilsbericht zum Preis einer uumlberirdischen und das Irdische vershywandelnden Macht die am Sprechenden wirksam wird Erst diese Spuren des weihevoll-heiligen Pathos dem Weine des schwoumlrenden protzenden singenden Zechers und Schlemmers beigemischt als ein verborgenes Arom bewirken jenes Entzuumlcken das Buumlrger mit der Lektuumlre des Gedichtes seinen Freunden verhieszlig29 Sie bereiten die schluszligbeschwerende Gebetsshyformel vor und bewirken daszlig statt eines Bruches hier der Aufschwung in jene Sphaumlre erfolgt die am inneren Aufbau des Liedes schon von Anshyfang an beteiligt war So vollendet sich das bekennende Sprechen des raquoZechliedslaquo am Ende in der inneren Form einer ihrer urspriinglichen Erfuumlllung mit christlichem Gehalt entleerten Heilsverkuumlndigung

i-

Mit jener Sprechweise des Geistlichen auf welche die Schluszligbeschweshyrung deutete haumlngt diese Form der He i I sv e r k uuml n d i gun g aufs engste zusammen Sie steht in Buumlrgers Werk durchaus nicht vereinzelt die im

29 Brief an Boie 18977

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religioumlsen Sprachgebrauch ausgebildeten Formmodelle finden hier zahlshyreiche und vielfaumlltige Entsprechungen die um so deutlicher erkennbar werden als sie noch immer merkliche Spuren auch des urspruumlnglichen Gehaltes tragen Sie erweisen sich als weltliche Kontrafakturen der relishygioumlsen Vorbilder 30 von denen sie nicht allein das organisierende Formshyprinzip beziehen sondern zugleich jenen Zuwachs an Bedeutungshaumlhe und Wirkungskraft den das Modell nur dann hergibt wenn es selbst noch als bedeutungshaltig und wirkungsfaumlhig intakt bleibt Die Annaumlherung auch der inhaltlichen Erfuumlllung dieser saumlkularisierten Formen an den christshylichen Denk- und Sprachbereich befoumlrdert ja begruumlndet ihre reichhaltige Erscheinung in Buumlrgers Lyrik

Ich glaube Luther wuumlrde dies Gedicht fuumlr ein wuumlrdiges Kirchenlied anerkannt haben schrieb AWSchlegel uumlber Die Elementelaquo (B 518) Schon mit dem Eingangsvers tritt es in die Form der Lehrvershykuumlndigung Horch Hohe Dinge lehr ich dich (I 68) Und diese Lehre vom Wesen der Elemente ist mehr als bloszlige Kundgabe Sie wird Maszligstab fuumlr den Belehrten Richtschnur Grundlage fuumlr das kommende Gericht Immer dringlicher wendet sie sich im Fortgang des Gedichtes an den Houmlrer selbst Sieh hin und her und Nun pruumlfe dich bis mit den oben (S 194) genannten Schluszligversen das lehrende Sprechen ins urteilende und verdammende uumlbergeht

Eine besondere Form der lehrhaft-bekennenden Rede macht das raquoDankl iedlaquo sichtbar (I 44ff) das Buumlrger urspruumlnglich Psalm nennen wollte und zu dem Boie ihm schrieb den denkenden Christen wird es entzuumlcken und erbauen aber den groumlszligten Haufen und Pastor Zuch - (12972) Es zeigt eine ganz symmetrische Anlage Die Eingangsstrophe wendet sich lobend an Gott den Schoumlpfer sechs folgende Strophen reihen auf was der Sprechende aus seiner Hand empfangen hat (daszlig es dabei ausgerechnet um die Liebe den Wein und den Gesang geht muszligte Pastor Zuch freilich wurmen) zwei Mittelstrophen bekennen daszlig die Fuumllle der Schoumlpfergaben nicht zu zaumlhlen sei (Wer zaumlhlt die Gaben alle Wer) und wenden sich auf den Sprecher selbst wieder sechs Strophen nennen dann die leiblichen und geistigen Eigenschaften die Gott ihm verliehen hat Hinter dieser Gaben Wunderschau aber wird Luthers Erklaumlrung zum 1 Artikel des Glaubensbekenntnisses sichtbar in der es nach der FrageWas ist das heiszligt Ich glaube daszlig mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mit Leib und Seele Augen Ohren und alle Glieshyder Vernunft und alle Sinne gegeben hat Gemaumlszlig den Schluszligworten der Erklaumlrung des alles ich ihm zu danken und zu loben schuldig bin muumlndet die letzte Strophe preisend und benedeiend in den liturgisch beshy

ao Zur Begriffsbestimmung dieser Saumlkularisationskategorie vgL S 289 ff

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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Beispielhaft fuumlr eine solche Analogie der Sprechweisen scheinen etwa die Schluumlsse

Die Liebe segne dich und sie Mit ihrem besten Segen (148) Die Liebe sagt Verdammet nicht Daszlig man nicht Euch verdammet (I 187) Diesen Trinker gnade Gott Lass ihn nicht verderben (I 73)

Sie aber deuten auf eine Analogie-Antithese zwischen dem Pfarrer als dem Diener der christlichen Kirche und dem Poeten der eines seiner Geshydichte mit den Worten schlieszligt

Doch wisse du Apolls Religion Schenkt dir die Glaubenspflicht und dringt auf gute

Werke (I 248) Als Gottesdienst der Wortverwaltung hat Buumlrger sein dichterisd1cs Amt verstanden

Bin geweiht zum Priester des Apoll Mit des Gottes Kranz und goldnem Stabe Seines Geistes bin ich froh und voll Warum nicht auch frommer Wundergabe - (I 94)

Und am Ende des Gedichtes (raquoGeweih tes Ang ebind e zu Lo uis ens Geburtstagelaquo) tritt diese vaumlterliche Mitgift diese Sprechhaltung des Geistlichen ganz ausdruumlcklich ins Wort

Freud und Lust von keinem Harm vergaumlllt Sei durch dich Ihr in die Brust gegossen Freud an Gottes ganzer weiter Welt Mich den Priester auch mit eingeschlossen

shy

Die Beobachtung der Schluszligbeschwerung lenkt auf die Frage nach ihrer Integration in das Gesamtgefuumlge des Gedichtes und nach der Wirkung die sie dort entfaltet raquoDer kluge Heldlaquo kann darauf kaum schon ershyschoumlpfende Antwort geben die massive Pointicrung die hier durch den Endakzent zustande kommt ist nur eine unter vielen Moumlglichkeiten seiner Leistung Weit komplizierter liegen diese Verhaumlltnisse in Buumlrgers Nachshydichtung der raquoCo n f ess i 0laquo des Archipoeta 25

25 Das Gedicht war Buumlrger in einer dem Walter Mapes zugeschriebenen Fassung beshykannt geworden (vgl seinen Brief an Sprickmann vom 21077) deutliche Bezuumlge zeigen sich zu seinen Strophen 12 13 16-19 Zitiert wird die lat Vorlage nach dem auf 5 Strophen verkuumlrzten Abdruck den Buumlrger in der Ausgabe seiner Gedichte VOll

1778 auf S 290 f gegeben hat (Ausgenommen die beiden dort nicht mitgeteilten hier auf S199 zitierten Verse Voluptatis avidus laquo)

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Zechlied

Im will einst bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Alles meinen Wein nur nimt Lass im frohen Erben Nam der letzten Olung soll Hefen nom mim faumlrben Dann zertruumlmmre mein Pokal In zehntausend Smerben Jedermann hat von Natur Seine sondre Weise Mir gelinget jedes Werk Nur nam Trank und Speise Speis und Trank erhalten mim In dem remten Gleise Wer gut smmiert der faumlhrt aum gut Auf der Lebensreise Im bin gar ein armer Wimt Bin die feigste Memme Halten Durst und Hungerqual Mim in Angst und Klemme Smon ein Knaumlbchen smuumlttelt mim Was im aum mim stemme Einem Riesen halt im Stand Wann im zem und smlemme Aumlmter Wein ist aumlmtes 01 Zur Verstandeslampe Gibt der Seele Kraft und Schwung Bis zum Sternenkampe Witz und Weisheit dunsten auf Aus gefuumlllter Wampe Baszlig gluumlckt Harfenspiel und Sang Wann im brav smlampampe Nuumlchtern bin im immerdar Nur ein Harfenstuumlmper Mir erlahmen Hand und Griff Welken Haupt und Wimper Wann der Wein in Himmelsklang Wandelt mein Geklimper Sind Homer und Ossian Gegen mim nur Stuumlmper

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Nimmer hat durch meinen Mund Hoher Geist gesungen Bis ich meinen lieben Bauch Weidlich vollgeschlungen Wann mein Kapitolium Baechus Kraft erschwungen Sing und red ich wundersam Gar in fremden Zungen Drum will ich bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Nach der letzten oumllung soll Hefen noch mich faumlrben Engelchoumlre weihen dann Mich zum Nektarerben Diesen Trinker gnade Gott

Lass ihn nicht verderben (1 72 f)

Da wird mit der ersten Strophe das Bekenntnis zu einer Lebensfuumlhrung abgelegt und geradezu beschworen die selbst eingedenk des Todes noch ganz im Irdischen verharrt Fuumlnf folgende Strophen dann begruumlnden den Entschluszlig den die erste verkuumlndete auch ihre Aussagen bleiben durchshyaus im Bereiche des weingeweihten Diesseits Die letzte aber tritt nachshydem sie zunaumlchst das Bekenntnis der ersten aufgenommen in eine durchshyaus andere Sphaumlre Zwar setzt auch dort das irdische Trinkerleben sich fort aber der Spott der eben noch die letzte oumllung traf der Entschluszlig der ersten Strophe im Tode den Pokal zu zertruumlmmern lassen dieses Ende nicht erwarten

Ut dicant eum venerint angelorum chori Deus sit propitius huic potatori

heiszligt es in der raquoC 0 n fes s i 0laquo und solcher Gesang der Engelchoumlre beshyschlieszligt nun auch Buumlrgers koumlnigliches Sauflied 26 ein im religioumlsen Sprachbereich ausgebildetes Gebet um Gnade fuumlr den Suumlnder 27 - an dessen Stelle nun der Trinker steht - setzt den kraumlftigen Endakzent Wenn so unvermittelt das Sauflied in die Gebetsformel muumlndet scheint sich im Wortschatz in der Sprechhaltung im Hinblick auf die Geschehnisshyebene ein bruchhafter Wechsel zu vollziehen der die Einheitlichkeit des ganzen Gedichtes in Frage stellt Zwar folgen Vers- und Strophenbau zushygleich mit dem Reimschema der gtConfessiolaquo entlehnt ebenso wie die rhythmische Anlage des Liedes gleichbleibenden Aufbauprinzipien und stiften so eine formale Geschlossenheit des Ganzen aber gerade das treibt

28 Brief an Boie 18977 27 Vgl Lue1B 13 Deus propitius esto mihi peceatori

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den Umbruch der Schluszligbeschwerung nur um so kraumlftiger heraus Daszlig hier in Wahrheit keineswegs ein Bruch vorliegt daszlig dieser Sphaumlrenshywechsel durchaus nicht unvermittelt geschieht wird jedoch einsichtig sobald man die Sprache der Mittelstrophen schaumlrfer ins Auge faszligt Dann zeigt sich daszlig hinter der Bedeutungsoberflaumlche der Wortaussage vorshygeformtes Sprachgut aus eben der Sphaumlre wirksam ist zu der die schlieshyszligenden Verse sich erheben

Dem Wein dem der Sprechende selbst eingedenk des irdischen Endes noch sein Dasein verschreibt setzt die zweite Strophe die Speise zur Seite Beide Trank und Speise sind fuumlr das Leben noumltig - doch offenshybar nicht im Sinne notwendiger Ernaumlhrung Das erhalten meint kein einfad1es am-Leben-erhalten sondern ein im rechten Gleise im rechshyten Leben erhalten Das Schluszligwort der Strophe laumlszligt aufmerken Lebensreise erscheint als ein deutlich vorbelastetes vorgeformtes Sprad1stuumlck der religioumlsen Sphaumlre das (ausgehend von Gen 47 9) die christliche Deutung des Lebens als einer Reise durch die Weh zum jenshyseitigen Ziele in sich faszligt Trank und Speise in solchem Bedeutungsfeld als Hilfen die Lebensreise recht zu fuumlhren sie machen hinter dem lauten Gesang des Trinkers im fuumlnften Vers die liturgische Stimme vershynehmbar die Stimme des Geistlichen der die Hostie und den Wein reicht Nehmet hin und esset Nehmet hin und trinket das staumlrke und erhalte euch im rechten Glauben zum ewigen Leben Amenlaquo 28 Von andeshyrem Trank und anderer Speise als der vom Vater dargebotenen spricht der Sohn Doch im Bekenntnis des Zechlieds klingen noch immer jene Worte nach die von der Kraft des heiligen Mahles kuumlndeten weil das 11edium der Sprad1e die mit der Abendmahlsliturgie in sie eingeganshygenen Bedeutungsenergien bewahrt und fuumlr die Dichtung verfuumlgbar macht

Von der zweiten Strophe aufgerufen bleibt dieser Bezug auch in der dritten vierten und fuumlnften lebendig Hinter dem Zecher den Essen und Trinken der Angst und Schwaumld1e entheben so daszlig er einem Riesen standshyzuhalten vennag steigt das Bild des gottgestaumlrkten David herauf der dem Goliath standhaumllt Der aumlchte Wein und das aumldlte oumll derert Kraft die Seele zum Sternengewoumllbe erhebt gewinnen neue Bedeutung Hinter dem Harfenspieler und dem Himmelsklang seines Gesanges toumlnt leise der Psalm Davids zur Harfe zu singen und in der trunkseligen Prahshylerei der Erhebung uumlber Homer und Ossian mag damit eine verborgene Rechtfertigung solcher Selbsteinschaumltzung sich andeuten Sind die uumlbershytragenen Worte und Bilder hier dem Text des raquoZechlieds so weitshy

e8 In der Abendmahlsliturgie folgt diese in verschiedenen Fassungen gebraumluchliche Spclldeformc1 auf den Einsetzungsbericht Ausfuumlhrlich daruumlber P Graff Geschichte der Aufloumlsung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschshylands I 1937 S 197 ff

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gehend anverwandelt daszlig sie als fremdes Sprachgut kaum erkennbar werden heben sie sich in der sechsten Strophe doch wieder staumlrker ab erst der Abglanz der Erleuchtungsflammen des Pfingstwunders erhellt die Reden des Trunkenen als einwundersames Reden gar in fremden Zungen

Ein Vergleich mit dem Vorbild der lateinischen Beichtparodie der dies e Durchsichtigkeit auf den hinter der eigentlichen Aussage liegenden Sprach- und Bildbereich gaumlnzlich fehlt zeigt daszlig in Buumlrgers uumlbertragung eine sehr bewuszligte Absicht waltete Man halte gegen seine sechste Strophe etwa die Verse

Mihi nunquam spiritus prophetiae datur Non nisi cum fuerit venter bene satur Cum in arce cerebri Bacchus dominatur In me Phoebus irruit ac miranda fatur

Die Grundhaltung beider Gedichte unterscheidet sich wesentlich Mit den fuumlr die ganze raquoC 0 n fes s i 0laquo verbindlichen Versen

Voluptatis avidus magis quam salutis Mortuus in anima curam gero cutis

setzt der Archipoeta Diesseits und Jenseits gegeneinander und faumlllt seine klare Entscheidung fuumlr das eine gegen das andere Buumlrger aber verschmilzt die Bereiche Getragen von den sprachgebundenen Bedeutungsenergien die aus dem christlichen in einen houmlchst weltlichen Bereich des Sprechens uumlberfuumlhrt werden erhebt der bekenntnishafte Lebensbericht des Zechers sich zum Heilsbericht zum Preis einer uumlberirdischen und das Irdische vershywandelnden Macht die am Sprechenden wirksam wird Erst diese Spuren des weihevoll-heiligen Pathos dem Weine des schwoumlrenden protzenden singenden Zechers und Schlemmers beigemischt als ein verborgenes Arom bewirken jenes Entzuumlcken das Buumlrger mit der Lektuumlre des Gedichtes seinen Freunden verhieszlig29 Sie bereiten die schluszligbeschwerende Gebetsshyformel vor und bewirken daszlig statt eines Bruches hier der Aufschwung in jene Sphaumlre erfolgt die am inneren Aufbau des Liedes schon von Anshyfang an beteiligt war So vollendet sich das bekennende Sprechen des raquoZechliedslaquo am Ende in der inneren Form einer ihrer urspriinglichen Erfuumlllung mit christlichem Gehalt entleerten Heilsverkuumlndigung

i-

Mit jener Sprechweise des Geistlichen auf welche die Schluszligbeschweshyrung deutete haumlngt diese Form der He i I sv e r k uuml n d i gun g aufs engste zusammen Sie steht in Buumlrgers Werk durchaus nicht vereinzelt die im

29 Brief an Boie 18977

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religioumlsen Sprachgebrauch ausgebildeten Formmodelle finden hier zahlshyreiche und vielfaumlltige Entsprechungen die um so deutlicher erkennbar werden als sie noch immer merkliche Spuren auch des urspruumlnglichen Gehaltes tragen Sie erweisen sich als weltliche Kontrafakturen der relishygioumlsen Vorbilder 30 von denen sie nicht allein das organisierende Formshyprinzip beziehen sondern zugleich jenen Zuwachs an Bedeutungshaumlhe und Wirkungskraft den das Modell nur dann hergibt wenn es selbst noch als bedeutungshaltig und wirkungsfaumlhig intakt bleibt Die Annaumlherung auch der inhaltlichen Erfuumlllung dieser saumlkularisierten Formen an den christshylichen Denk- und Sprachbereich befoumlrdert ja begruumlndet ihre reichhaltige Erscheinung in Buumlrgers Lyrik

Ich glaube Luther wuumlrde dies Gedicht fuumlr ein wuumlrdiges Kirchenlied anerkannt haben schrieb AWSchlegel uumlber Die Elementelaquo (B 518) Schon mit dem Eingangsvers tritt es in die Form der Lehrvershykuumlndigung Horch Hohe Dinge lehr ich dich (I 68) Und diese Lehre vom Wesen der Elemente ist mehr als bloszlige Kundgabe Sie wird Maszligstab fuumlr den Belehrten Richtschnur Grundlage fuumlr das kommende Gericht Immer dringlicher wendet sie sich im Fortgang des Gedichtes an den Houmlrer selbst Sieh hin und her und Nun pruumlfe dich bis mit den oben (S 194) genannten Schluszligversen das lehrende Sprechen ins urteilende und verdammende uumlbergeht

Eine besondere Form der lehrhaft-bekennenden Rede macht das raquoDankl iedlaquo sichtbar (I 44ff) das Buumlrger urspruumlnglich Psalm nennen wollte und zu dem Boie ihm schrieb den denkenden Christen wird es entzuumlcken und erbauen aber den groumlszligten Haufen und Pastor Zuch - (12972) Es zeigt eine ganz symmetrische Anlage Die Eingangsstrophe wendet sich lobend an Gott den Schoumlpfer sechs folgende Strophen reihen auf was der Sprechende aus seiner Hand empfangen hat (daszlig es dabei ausgerechnet um die Liebe den Wein und den Gesang geht muszligte Pastor Zuch freilich wurmen) zwei Mittelstrophen bekennen daszlig die Fuumllle der Schoumlpfergaben nicht zu zaumlhlen sei (Wer zaumlhlt die Gaben alle Wer) und wenden sich auf den Sprecher selbst wieder sechs Strophen nennen dann die leiblichen und geistigen Eigenschaften die Gott ihm verliehen hat Hinter dieser Gaben Wunderschau aber wird Luthers Erklaumlrung zum 1 Artikel des Glaubensbekenntnisses sichtbar in der es nach der FrageWas ist das heiszligt Ich glaube daszlig mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mit Leib und Seele Augen Ohren und alle Glieshyder Vernunft und alle Sinne gegeben hat Gemaumlszlig den Schluszligworten der Erklaumlrung des alles ich ihm zu danken und zu loben schuldig bin muumlndet die letzte Strophe preisend und benedeiend in den liturgisch beshy

ao Zur Begriffsbestimmung dieser Saumlkularisationskategorie vgL S 289 ff

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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Zechlied

Im will einst bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Alles meinen Wein nur nimt Lass im frohen Erben Nam der letzten Olung soll Hefen nom mim faumlrben Dann zertruumlmmre mein Pokal In zehntausend Smerben Jedermann hat von Natur Seine sondre Weise Mir gelinget jedes Werk Nur nam Trank und Speise Speis und Trank erhalten mim In dem remten Gleise Wer gut smmiert der faumlhrt aum gut Auf der Lebensreise Im bin gar ein armer Wimt Bin die feigste Memme Halten Durst und Hungerqual Mim in Angst und Klemme Smon ein Knaumlbchen smuumlttelt mim Was im aum mim stemme Einem Riesen halt im Stand Wann im zem und smlemme Aumlmter Wein ist aumlmtes 01 Zur Verstandeslampe Gibt der Seele Kraft und Schwung Bis zum Sternenkampe Witz und Weisheit dunsten auf Aus gefuumlllter Wampe Baszlig gluumlckt Harfenspiel und Sang Wann im brav smlampampe Nuumlchtern bin im immerdar Nur ein Harfenstuumlmper Mir erlahmen Hand und Griff Welken Haupt und Wimper Wann der Wein in Himmelsklang Wandelt mein Geklimper Sind Homer und Ossian Gegen mim nur Stuumlmper

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Nimmer hat durch meinen Mund Hoher Geist gesungen Bis ich meinen lieben Bauch Weidlich vollgeschlungen Wann mein Kapitolium Baechus Kraft erschwungen Sing und red ich wundersam Gar in fremden Zungen Drum will ich bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Nach der letzten oumllung soll Hefen noch mich faumlrben Engelchoumlre weihen dann Mich zum Nektarerben Diesen Trinker gnade Gott

Lass ihn nicht verderben (1 72 f)

Da wird mit der ersten Strophe das Bekenntnis zu einer Lebensfuumlhrung abgelegt und geradezu beschworen die selbst eingedenk des Todes noch ganz im Irdischen verharrt Fuumlnf folgende Strophen dann begruumlnden den Entschluszlig den die erste verkuumlndete auch ihre Aussagen bleiben durchshyaus im Bereiche des weingeweihten Diesseits Die letzte aber tritt nachshydem sie zunaumlchst das Bekenntnis der ersten aufgenommen in eine durchshyaus andere Sphaumlre Zwar setzt auch dort das irdische Trinkerleben sich fort aber der Spott der eben noch die letzte oumllung traf der Entschluszlig der ersten Strophe im Tode den Pokal zu zertruumlmmern lassen dieses Ende nicht erwarten

Ut dicant eum venerint angelorum chori Deus sit propitius huic potatori

heiszligt es in der raquoC 0 n fes s i 0laquo und solcher Gesang der Engelchoumlre beshyschlieszligt nun auch Buumlrgers koumlnigliches Sauflied 26 ein im religioumlsen Sprachbereich ausgebildetes Gebet um Gnade fuumlr den Suumlnder 27 - an dessen Stelle nun der Trinker steht - setzt den kraumlftigen Endakzent Wenn so unvermittelt das Sauflied in die Gebetsformel muumlndet scheint sich im Wortschatz in der Sprechhaltung im Hinblick auf die Geschehnisshyebene ein bruchhafter Wechsel zu vollziehen der die Einheitlichkeit des ganzen Gedichtes in Frage stellt Zwar folgen Vers- und Strophenbau zushygleich mit dem Reimschema der gtConfessiolaquo entlehnt ebenso wie die rhythmische Anlage des Liedes gleichbleibenden Aufbauprinzipien und stiften so eine formale Geschlossenheit des Ganzen aber gerade das treibt

28 Brief an Boie 18977 27 Vgl Lue1B 13 Deus propitius esto mihi peceatori

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den Umbruch der Schluszligbeschwerung nur um so kraumlftiger heraus Daszlig hier in Wahrheit keineswegs ein Bruch vorliegt daszlig dieser Sphaumlrenshywechsel durchaus nicht unvermittelt geschieht wird jedoch einsichtig sobald man die Sprache der Mittelstrophen schaumlrfer ins Auge faszligt Dann zeigt sich daszlig hinter der Bedeutungsoberflaumlche der Wortaussage vorshygeformtes Sprachgut aus eben der Sphaumlre wirksam ist zu der die schlieshyszligenden Verse sich erheben

Dem Wein dem der Sprechende selbst eingedenk des irdischen Endes noch sein Dasein verschreibt setzt die zweite Strophe die Speise zur Seite Beide Trank und Speise sind fuumlr das Leben noumltig - doch offenshybar nicht im Sinne notwendiger Ernaumlhrung Das erhalten meint kein einfad1es am-Leben-erhalten sondern ein im rechten Gleise im rechshyten Leben erhalten Das Schluszligwort der Strophe laumlszligt aufmerken Lebensreise erscheint als ein deutlich vorbelastetes vorgeformtes Sprad1stuumlck der religioumlsen Sphaumlre das (ausgehend von Gen 47 9) die christliche Deutung des Lebens als einer Reise durch die Weh zum jenshyseitigen Ziele in sich faszligt Trank und Speise in solchem Bedeutungsfeld als Hilfen die Lebensreise recht zu fuumlhren sie machen hinter dem lauten Gesang des Trinkers im fuumlnften Vers die liturgische Stimme vershynehmbar die Stimme des Geistlichen der die Hostie und den Wein reicht Nehmet hin und esset Nehmet hin und trinket das staumlrke und erhalte euch im rechten Glauben zum ewigen Leben Amenlaquo 28 Von andeshyrem Trank und anderer Speise als der vom Vater dargebotenen spricht der Sohn Doch im Bekenntnis des Zechlieds klingen noch immer jene Worte nach die von der Kraft des heiligen Mahles kuumlndeten weil das 11edium der Sprad1e die mit der Abendmahlsliturgie in sie eingeganshygenen Bedeutungsenergien bewahrt und fuumlr die Dichtung verfuumlgbar macht

Von der zweiten Strophe aufgerufen bleibt dieser Bezug auch in der dritten vierten und fuumlnften lebendig Hinter dem Zecher den Essen und Trinken der Angst und Schwaumld1e entheben so daszlig er einem Riesen standshyzuhalten vennag steigt das Bild des gottgestaumlrkten David herauf der dem Goliath standhaumllt Der aumlchte Wein und das aumldlte oumll derert Kraft die Seele zum Sternengewoumllbe erhebt gewinnen neue Bedeutung Hinter dem Harfenspieler und dem Himmelsklang seines Gesanges toumlnt leise der Psalm Davids zur Harfe zu singen und in der trunkseligen Prahshylerei der Erhebung uumlber Homer und Ossian mag damit eine verborgene Rechtfertigung solcher Selbsteinschaumltzung sich andeuten Sind die uumlbershytragenen Worte und Bilder hier dem Text des raquoZechlieds so weitshy

e8 In der Abendmahlsliturgie folgt diese in verschiedenen Fassungen gebraumluchliche Spclldeformc1 auf den Einsetzungsbericht Ausfuumlhrlich daruumlber P Graff Geschichte der Aufloumlsung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschshylands I 1937 S 197 ff

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gehend anverwandelt daszlig sie als fremdes Sprachgut kaum erkennbar werden heben sie sich in der sechsten Strophe doch wieder staumlrker ab erst der Abglanz der Erleuchtungsflammen des Pfingstwunders erhellt die Reden des Trunkenen als einwundersames Reden gar in fremden Zungen

Ein Vergleich mit dem Vorbild der lateinischen Beichtparodie der dies e Durchsichtigkeit auf den hinter der eigentlichen Aussage liegenden Sprach- und Bildbereich gaumlnzlich fehlt zeigt daszlig in Buumlrgers uumlbertragung eine sehr bewuszligte Absicht waltete Man halte gegen seine sechste Strophe etwa die Verse

Mihi nunquam spiritus prophetiae datur Non nisi cum fuerit venter bene satur Cum in arce cerebri Bacchus dominatur In me Phoebus irruit ac miranda fatur

Die Grundhaltung beider Gedichte unterscheidet sich wesentlich Mit den fuumlr die ganze raquoC 0 n fes s i 0laquo verbindlichen Versen

Voluptatis avidus magis quam salutis Mortuus in anima curam gero cutis

setzt der Archipoeta Diesseits und Jenseits gegeneinander und faumlllt seine klare Entscheidung fuumlr das eine gegen das andere Buumlrger aber verschmilzt die Bereiche Getragen von den sprachgebundenen Bedeutungsenergien die aus dem christlichen in einen houmlchst weltlichen Bereich des Sprechens uumlberfuumlhrt werden erhebt der bekenntnishafte Lebensbericht des Zechers sich zum Heilsbericht zum Preis einer uumlberirdischen und das Irdische vershywandelnden Macht die am Sprechenden wirksam wird Erst diese Spuren des weihevoll-heiligen Pathos dem Weine des schwoumlrenden protzenden singenden Zechers und Schlemmers beigemischt als ein verborgenes Arom bewirken jenes Entzuumlcken das Buumlrger mit der Lektuumlre des Gedichtes seinen Freunden verhieszlig29 Sie bereiten die schluszligbeschwerende Gebetsshyformel vor und bewirken daszlig statt eines Bruches hier der Aufschwung in jene Sphaumlre erfolgt die am inneren Aufbau des Liedes schon von Anshyfang an beteiligt war So vollendet sich das bekennende Sprechen des raquoZechliedslaquo am Ende in der inneren Form einer ihrer urspriinglichen Erfuumlllung mit christlichem Gehalt entleerten Heilsverkuumlndigung

i-

Mit jener Sprechweise des Geistlichen auf welche die Schluszligbeschweshyrung deutete haumlngt diese Form der He i I sv e r k uuml n d i gun g aufs engste zusammen Sie steht in Buumlrgers Werk durchaus nicht vereinzelt die im

29 Brief an Boie 18977

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religioumlsen Sprachgebrauch ausgebildeten Formmodelle finden hier zahlshyreiche und vielfaumlltige Entsprechungen die um so deutlicher erkennbar werden als sie noch immer merkliche Spuren auch des urspruumlnglichen Gehaltes tragen Sie erweisen sich als weltliche Kontrafakturen der relishygioumlsen Vorbilder 30 von denen sie nicht allein das organisierende Formshyprinzip beziehen sondern zugleich jenen Zuwachs an Bedeutungshaumlhe und Wirkungskraft den das Modell nur dann hergibt wenn es selbst noch als bedeutungshaltig und wirkungsfaumlhig intakt bleibt Die Annaumlherung auch der inhaltlichen Erfuumlllung dieser saumlkularisierten Formen an den christshylichen Denk- und Sprachbereich befoumlrdert ja begruumlndet ihre reichhaltige Erscheinung in Buumlrgers Lyrik

Ich glaube Luther wuumlrde dies Gedicht fuumlr ein wuumlrdiges Kirchenlied anerkannt haben schrieb AWSchlegel uumlber Die Elementelaquo (B 518) Schon mit dem Eingangsvers tritt es in die Form der Lehrvershykuumlndigung Horch Hohe Dinge lehr ich dich (I 68) Und diese Lehre vom Wesen der Elemente ist mehr als bloszlige Kundgabe Sie wird Maszligstab fuumlr den Belehrten Richtschnur Grundlage fuumlr das kommende Gericht Immer dringlicher wendet sie sich im Fortgang des Gedichtes an den Houmlrer selbst Sieh hin und her und Nun pruumlfe dich bis mit den oben (S 194) genannten Schluszligversen das lehrende Sprechen ins urteilende und verdammende uumlbergeht

Eine besondere Form der lehrhaft-bekennenden Rede macht das raquoDankl iedlaquo sichtbar (I 44ff) das Buumlrger urspruumlnglich Psalm nennen wollte und zu dem Boie ihm schrieb den denkenden Christen wird es entzuumlcken und erbauen aber den groumlszligten Haufen und Pastor Zuch - (12972) Es zeigt eine ganz symmetrische Anlage Die Eingangsstrophe wendet sich lobend an Gott den Schoumlpfer sechs folgende Strophen reihen auf was der Sprechende aus seiner Hand empfangen hat (daszlig es dabei ausgerechnet um die Liebe den Wein und den Gesang geht muszligte Pastor Zuch freilich wurmen) zwei Mittelstrophen bekennen daszlig die Fuumllle der Schoumlpfergaben nicht zu zaumlhlen sei (Wer zaumlhlt die Gaben alle Wer) und wenden sich auf den Sprecher selbst wieder sechs Strophen nennen dann die leiblichen und geistigen Eigenschaften die Gott ihm verliehen hat Hinter dieser Gaben Wunderschau aber wird Luthers Erklaumlrung zum 1 Artikel des Glaubensbekenntnisses sichtbar in der es nach der FrageWas ist das heiszligt Ich glaube daszlig mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mit Leib und Seele Augen Ohren und alle Glieshyder Vernunft und alle Sinne gegeben hat Gemaumlszlig den Schluszligworten der Erklaumlrung des alles ich ihm zu danken und zu loben schuldig bin muumlndet die letzte Strophe preisend und benedeiend in den liturgisch beshy

ao Zur Begriffsbestimmung dieser Saumlkularisationskategorie vgL S 289 ff

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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Nimmer hat durch meinen Mund Hoher Geist gesungen Bis ich meinen lieben Bauch Weidlich vollgeschlungen Wann mein Kapitolium Baechus Kraft erschwungen Sing und red ich wundersam Gar in fremden Zungen Drum will ich bei Ja und Nein Vor dem Zapfen sterben Nach der letzten oumllung soll Hefen noch mich faumlrben Engelchoumlre weihen dann Mich zum Nektarerben Diesen Trinker gnade Gott

Lass ihn nicht verderben (1 72 f)

Da wird mit der ersten Strophe das Bekenntnis zu einer Lebensfuumlhrung abgelegt und geradezu beschworen die selbst eingedenk des Todes noch ganz im Irdischen verharrt Fuumlnf folgende Strophen dann begruumlnden den Entschluszlig den die erste verkuumlndete auch ihre Aussagen bleiben durchshyaus im Bereiche des weingeweihten Diesseits Die letzte aber tritt nachshydem sie zunaumlchst das Bekenntnis der ersten aufgenommen in eine durchshyaus andere Sphaumlre Zwar setzt auch dort das irdische Trinkerleben sich fort aber der Spott der eben noch die letzte oumllung traf der Entschluszlig der ersten Strophe im Tode den Pokal zu zertruumlmmern lassen dieses Ende nicht erwarten

Ut dicant eum venerint angelorum chori Deus sit propitius huic potatori

heiszligt es in der raquoC 0 n fes s i 0laquo und solcher Gesang der Engelchoumlre beshyschlieszligt nun auch Buumlrgers koumlnigliches Sauflied 26 ein im religioumlsen Sprachbereich ausgebildetes Gebet um Gnade fuumlr den Suumlnder 27 - an dessen Stelle nun der Trinker steht - setzt den kraumlftigen Endakzent Wenn so unvermittelt das Sauflied in die Gebetsformel muumlndet scheint sich im Wortschatz in der Sprechhaltung im Hinblick auf die Geschehnisshyebene ein bruchhafter Wechsel zu vollziehen der die Einheitlichkeit des ganzen Gedichtes in Frage stellt Zwar folgen Vers- und Strophenbau zushygleich mit dem Reimschema der gtConfessiolaquo entlehnt ebenso wie die rhythmische Anlage des Liedes gleichbleibenden Aufbauprinzipien und stiften so eine formale Geschlossenheit des Ganzen aber gerade das treibt

28 Brief an Boie 18977 27 Vgl Lue1B 13 Deus propitius esto mihi peceatori

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den Umbruch der Schluszligbeschwerung nur um so kraumlftiger heraus Daszlig hier in Wahrheit keineswegs ein Bruch vorliegt daszlig dieser Sphaumlrenshywechsel durchaus nicht unvermittelt geschieht wird jedoch einsichtig sobald man die Sprache der Mittelstrophen schaumlrfer ins Auge faszligt Dann zeigt sich daszlig hinter der Bedeutungsoberflaumlche der Wortaussage vorshygeformtes Sprachgut aus eben der Sphaumlre wirksam ist zu der die schlieshyszligenden Verse sich erheben

Dem Wein dem der Sprechende selbst eingedenk des irdischen Endes noch sein Dasein verschreibt setzt die zweite Strophe die Speise zur Seite Beide Trank und Speise sind fuumlr das Leben noumltig - doch offenshybar nicht im Sinne notwendiger Ernaumlhrung Das erhalten meint kein einfad1es am-Leben-erhalten sondern ein im rechten Gleise im rechshyten Leben erhalten Das Schluszligwort der Strophe laumlszligt aufmerken Lebensreise erscheint als ein deutlich vorbelastetes vorgeformtes Sprad1stuumlck der religioumlsen Sphaumlre das (ausgehend von Gen 47 9) die christliche Deutung des Lebens als einer Reise durch die Weh zum jenshyseitigen Ziele in sich faszligt Trank und Speise in solchem Bedeutungsfeld als Hilfen die Lebensreise recht zu fuumlhren sie machen hinter dem lauten Gesang des Trinkers im fuumlnften Vers die liturgische Stimme vershynehmbar die Stimme des Geistlichen der die Hostie und den Wein reicht Nehmet hin und esset Nehmet hin und trinket das staumlrke und erhalte euch im rechten Glauben zum ewigen Leben Amenlaquo 28 Von andeshyrem Trank und anderer Speise als der vom Vater dargebotenen spricht der Sohn Doch im Bekenntnis des Zechlieds klingen noch immer jene Worte nach die von der Kraft des heiligen Mahles kuumlndeten weil das 11edium der Sprad1e die mit der Abendmahlsliturgie in sie eingeganshygenen Bedeutungsenergien bewahrt und fuumlr die Dichtung verfuumlgbar macht

Von der zweiten Strophe aufgerufen bleibt dieser Bezug auch in der dritten vierten und fuumlnften lebendig Hinter dem Zecher den Essen und Trinken der Angst und Schwaumld1e entheben so daszlig er einem Riesen standshyzuhalten vennag steigt das Bild des gottgestaumlrkten David herauf der dem Goliath standhaumllt Der aumlchte Wein und das aumldlte oumll derert Kraft die Seele zum Sternengewoumllbe erhebt gewinnen neue Bedeutung Hinter dem Harfenspieler und dem Himmelsklang seines Gesanges toumlnt leise der Psalm Davids zur Harfe zu singen und in der trunkseligen Prahshylerei der Erhebung uumlber Homer und Ossian mag damit eine verborgene Rechtfertigung solcher Selbsteinschaumltzung sich andeuten Sind die uumlbershytragenen Worte und Bilder hier dem Text des raquoZechlieds so weitshy

e8 In der Abendmahlsliturgie folgt diese in verschiedenen Fassungen gebraumluchliche Spclldeformc1 auf den Einsetzungsbericht Ausfuumlhrlich daruumlber P Graff Geschichte der Aufloumlsung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschshylands I 1937 S 197 ff

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gehend anverwandelt daszlig sie als fremdes Sprachgut kaum erkennbar werden heben sie sich in der sechsten Strophe doch wieder staumlrker ab erst der Abglanz der Erleuchtungsflammen des Pfingstwunders erhellt die Reden des Trunkenen als einwundersames Reden gar in fremden Zungen

Ein Vergleich mit dem Vorbild der lateinischen Beichtparodie der dies e Durchsichtigkeit auf den hinter der eigentlichen Aussage liegenden Sprach- und Bildbereich gaumlnzlich fehlt zeigt daszlig in Buumlrgers uumlbertragung eine sehr bewuszligte Absicht waltete Man halte gegen seine sechste Strophe etwa die Verse

Mihi nunquam spiritus prophetiae datur Non nisi cum fuerit venter bene satur Cum in arce cerebri Bacchus dominatur In me Phoebus irruit ac miranda fatur

Die Grundhaltung beider Gedichte unterscheidet sich wesentlich Mit den fuumlr die ganze raquoC 0 n fes s i 0laquo verbindlichen Versen

Voluptatis avidus magis quam salutis Mortuus in anima curam gero cutis

setzt der Archipoeta Diesseits und Jenseits gegeneinander und faumlllt seine klare Entscheidung fuumlr das eine gegen das andere Buumlrger aber verschmilzt die Bereiche Getragen von den sprachgebundenen Bedeutungsenergien die aus dem christlichen in einen houmlchst weltlichen Bereich des Sprechens uumlberfuumlhrt werden erhebt der bekenntnishafte Lebensbericht des Zechers sich zum Heilsbericht zum Preis einer uumlberirdischen und das Irdische vershywandelnden Macht die am Sprechenden wirksam wird Erst diese Spuren des weihevoll-heiligen Pathos dem Weine des schwoumlrenden protzenden singenden Zechers und Schlemmers beigemischt als ein verborgenes Arom bewirken jenes Entzuumlcken das Buumlrger mit der Lektuumlre des Gedichtes seinen Freunden verhieszlig29 Sie bereiten die schluszligbeschwerende Gebetsshyformel vor und bewirken daszlig statt eines Bruches hier der Aufschwung in jene Sphaumlre erfolgt die am inneren Aufbau des Liedes schon von Anshyfang an beteiligt war So vollendet sich das bekennende Sprechen des raquoZechliedslaquo am Ende in der inneren Form einer ihrer urspriinglichen Erfuumlllung mit christlichem Gehalt entleerten Heilsverkuumlndigung

i-

Mit jener Sprechweise des Geistlichen auf welche die Schluszligbeschweshyrung deutete haumlngt diese Form der He i I sv e r k uuml n d i gun g aufs engste zusammen Sie steht in Buumlrgers Werk durchaus nicht vereinzelt die im

29 Brief an Boie 18977

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religioumlsen Sprachgebrauch ausgebildeten Formmodelle finden hier zahlshyreiche und vielfaumlltige Entsprechungen die um so deutlicher erkennbar werden als sie noch immer merkliche Spuren auch des urspruumlnglichen Gehaltes tragen Sie erweisen sich als weltliche Kontrafakturen der relishygioumlsen Vorbilder 30 von denen sie nicht allein das organisierende Formshyprinzip beziehen sondern zugleich jenen Zuwachs an Bedeutungshaumlhe und Wirkungskraft den das Modell nur dann hergibt wenn es selbst noch als bedeutungshaltig und wirkungsfaumlhig intakt bleibt Die Annaumlherung auch der inhaltlichen Erfuumlllung dieser saumlkularisierten Formen an den christshylichen Denk- und Sprachbereich befoumlrdert ja begruumlndet ihre reichhaltige Erscheinung in Buumlrgers Lyrik

Ich glaube Luther wuumlrde dies Gedicht fuumlr ein wuumlrdiges Kirchenlied anerkannt haben schrieb AWSchlegel uumlber Die Elementelaquo (B 518) Schon mit dem Eingangsvers tritt es in die Form der Lehrvershykuumlndigung Horch Hohe Dinge lehr ich dich (I 68) Und diese Lehre vom Wesen der Elemente ist mehr als bloszlige Kundgabe Sie wird Maszligstab fuumlr den Belehrten Richtschnur Grundlage fuumlr das kommende Gericht Immer dringlicher wendet sie sich im Fortgang des Gedichtes an den Houmlrer selbst Sieh hin und her und Nun pruumlfe dich bis mit den oben (S 194) genannten Schluszligversen das lehrende Sprechen ins urteilende und verdammende uumlbergeht

Eine besondere Form der lehrhaft-bekennenden Rede macht das raquoDankl iedlaquo sichtbar (I 44ff) das Buumlrger urspruumlnglich Psalm nennen wollte und zu dem Boie ihm schrieb den denkenden Christen wird es entzuumlcken und erbauen aber den groumlszligten Haufen und Pastor Zuch - (12972) Es zeigt eine ganz symmetrische Anlage Die Eingangsstrophe wendet sich lobend an Gott den Schoumlpfer sechs folgende Strophen reihen auf was der Sprechende aus seiner Hand empfangen hat (daszlig es dabei ausgerechnet um die Liebe den Wein und den Gesang geht muszligte Pastor Zuch freilich wurmen) zwei Mittelstrophen bekennen daszlig die Fuumllle der Schoumlpfergaben nicht zu zaumlhlen sei (Wer zaumlhlt die Gaben alle Wer) und wenden sich auf den Sprecher selbst wieder sechs Strophen nennen dann die leiblichen und geistigen Eigenschaften die Gott ihm verliehen hat Hinter dieser Gaben Wunderschau aber wird Luthers Erklaumlrung zum 1 Artikel des Glaubensbekenntnisses sichtbar in der es nach der FrageWas ist das heiszligt Ich glaube daszlig mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mit Leib und Seele Augen Ohren und alle Glieshyder Vernunft und alle Sinne gegeben hat Gemaumlszlig den Schluszligworten der Erklaumlrung des alles ich ihm zu danken und zu loben schuldig bin muumlndet die letzte Strophe preisend und benedeiend in den liturgisch beshy

ao Zur Begriffsbestimmung dieser Saumlkularisationskategorie vgL S 289 ff

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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den Umbruch der Schluszligbeschwerung nur um so kraumlftiger heraus Daszlig hier in Wahrheit keineswegs ein Bruch vorliegt daszlig dieser Sphaumlrenshywechsel durchaus nicht unvermittelt geschieht wird jedoch einsichtig sobald man die Sprache der Mittelstrophen schaumlrfer ins Auge faszligt Dann zeigt sich daszlig hinter der Bedeutungsoberflaumlche der Wortaussage vorshygeformtes Sprachgut aus eben der Sphaumlre wirksam ist zu der die schlieshyszligenden Verse sich erheben

Dem Wein dem der Sprechende selbst eingedenk des irdischen Endes noch sein Dasein verschreibt setzt die zweite Strophe die Speise zur Seite Beide Trank und Speise sind fuumlr das Leben noumltig - doch offenshybar nicht im Sinne notwendiger Ernaumlhrung Das erhalten meint kein einfad1es am-Leben-erhalten sondern ein im rechten Gleise im rechshyten Leben erhalten Das Schluszligwort der Strophe laumlszligt aufmerken Lebensreise erscheint als ein deutlich vorbelastetes vorgeformtes Sprad1stuumlck der religioumlsen Sphaumlre das (ausgehend von Gen 47 9) die christliche Deutung des Lebens als einer Reise durch die Weh zum jenshyseitigen Ziele in sich faszligt Trank und Speise in solchem Bedeutungsfeld als Hilfen die Lebensreise recht zu fuumlhren sie machen hinter dem lauten Gesang des Trinkers im fuumlnften Vers die liturgische Stimme vershynehmbar die Stimme des Geistlichen der die Hostie und den Wein reicht Nehmet hin und esset Nehmet hin und trinket das staumlrke und erhalte euch im rechten Glauben zum ewigen Leben Amenlaquo 28 Von andeshyrem Trank und anderer Speise als der vom Vater dargebotenen spricht der Sohn Doch im Bekenntnis des Zechlieds klingen noch immer jene Worte nach die von der Kraft des heiligen Mahles kuumlndeten weil das 11edium der Sprad1e die mit der Abendmahlsliturgie in sie eingeganshygenen Bedeutungsenergien bewahrt und fuumlr die Dichtung verfuumlgbar macht

Von der zweiten Strophe aufgerufen bleibt dieser Bezug auch in der dritten vierten und fuumlnften lebendig Hinter dem Zecher den Essen und Trinken der Angst und Schwaumld1e entheben so daszlig er einem Riesen standshyzuhalten vennag steigt das Bild des gottgestaumlrkten David herauf der dem Goliath standhaumllt Der aumlchte Wein und das aumldlte oumll derert Kraft die Seele zum Sternengewoumllbe erhebt gewinnen neue Bedeutung Hinter dem Harfenspieler und dem Himmelsklang seines Gesanges toumlnt leise der Psalm Davids zur Harfe zu singen und in der trunkseligen Prahshylerei der Erhebung uumlber Homer und Ossian mag damit eine verborgene Rechtfertigung solcher Selbsteinschaumltzung sich andeuten Sind die uumlbershytragenen Worte und Bilder hier dem Text des raquoZechlieds so weitshy

e8 In der Abendmahlsliturgie folgt diese in verschiedenen Fassungen gebraumluchliche Spclldeformc1 auf den Einsetzungsbericht Ausfuumlhrlich daruumlber P Graff Geschichte der Aufloumlsung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschshylands I 1937 S 197 ff

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gehend anverwandelt daszlig sie als fremdes Sprachgut kaum erkennbar werden heben sie sich in der sechsten Strophe doch wieder staumlrker ab erst der Abglanz der Erleuchtungsflammen des Pfingstwunders erhellt die Reden des Trunkenen als einwundersames Reden gar in fremden Zungen

Ein Vergleich mit dem Vorbild der lateinischen Beichtparodie der dies e Durchsichtigkeit auf den hinter der eigentlichen Aussage liegenden Sprach- und Bildbereich gaumlnzlich fehlt zeigt daszlig in Buumlrgers uumlbertragung eine sehr bewuszligte Absicht waltete Man halte gegen seine sechste Strophe etwa die Verse

Mihi nunquam spiritus prophetiae datur Non nisi cum fuerit venter bene satur Cum in arce cerebri Bacchus dominatur In me Phoebus irruit ac miranda fatur

Die Grundhaltung beider Gedichte unterscheidet sich wesentlich Mit den fuumlr die ganze raquoC 0 n fes s i 0laquo verbindlichen Versen

Voluptatis avidus magis quam salutis Mortuus in anima curam gero cutis

setzt der Archipoeta Diesseits und Jenseits gegeneinander und faumlllt seine klare Entscheidung fuumlr das eine gegen das andere Buumlrger aber verschmilzt die Bereiche Getragen von den sprachgebundenen Bedeutungsenergien die aus dem christlichen in einen houmlchst weltlichen Bereich des Sprechens uumlberfuumlhrt werden erhebt der bekenntnishafte Lebensbericht des Zechers sich zum Heilsbericht zum Preis einer uumlberirdischen und das Irdische vershywandelnden Macht die am Sprechenden wirksam wird Erst diese Spuren des weihevoll-heiligen Pathos dem Weine des schwoumlrenden protzenden singenden Zechers und Schlemmers beigemischt als ein verborgenes Arom bewirken jenes Entzuumlcken das Buumlrger mit der Lektuumlre des Gedichtes seinen Freunden verhieszlig29 Sie bereiten die schluszligbeschwerende Gebetsshyformel vor und bewirken daszlig statt eines Bruches hier der Aufschwung in jene Sphaumlre erfolgt die am inneren Aufbau des Liedes schon von Anshyfang an beteiligt war So vollendet sich das bekennende Sprechen des raquoZechliedslaquo am Ende in der inneren Form einer ihrer urspriinglichen Erfuumlllung mit christlichem Gehalt entleerten Heilsverkuumlndigung

i-

Mit jener Sprechweise des Geistlichen auf welche die Schluszligbeschweshyrung deutete haumlngt diese Form der He i I sv e r k uuml n d i gun g aufs engste zusammen Sie steht in Buumlrgers Werk durchaus nicht vereinzelt die im

29 Brief an Boie 18977

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religioumlsen Sprachgebrauch ausgebildeten Formmodelle finden hier zahlshyreiche und vielfaumlltige Entsprechungen die um so deutlicher erkennbar werden als sie noch immer merkliche Spuren auch des urspruumlnglichen Gehaltes tragen Sie erweisen sich als weltliche Kontrafakturen der relishygioumlsen Vorbilder 30 von denen sie nicht allein das organisierende Formshyprinzip beziehen sondern zugleich jenen Zuwachs an Bedeutungshaumlhe und Wirkungskraft den das Modell nur dann hergibt wenn es selbst noch als bedeutungshaltig und wirkungsfaumlhig intakt bleibt Die Annaumlherung auch der inhaltlichen Erfuumlllung dieser saumlkularisierten Formen an den christshylichen Denk- und Sprachbereich befoumlrdert ja begruumlndet ihre reichhaltige Erscheinung in Buumlrgers Lyrik

Ich glaube Luther wuumlrde dies Gedicht fuumlr ein wuumlrdiges Kirchenlied anerkannt haben schrieb AWSchlegel uumlber Die Elementelaquo (B 518) Schon mit dem Eingangsvers tritt es in die Form der Lehrvershykuumlndigung Horch Hohe Dinge lehr ich dich (I 68) Und diese Lehre vom Wesen der Elemente ist mehr als bloszlige Kundgabe Sie wird Maszligstab fuumlr den Belehrten Richtschnur Grundlage fuumlr das kommende Gericht Immer dringlicher wendet sie sich im Fortgang des Gedichtes an den Houmlrer selbst Sieh hin und her und Nun pruumlfe dich bis mit den oben (S 194) genannten Schluszligversen das lehrende Sprechen ins urteilende und verdammende uumlbergeht

Eine besondere Form der lehrhaft-bekennenden Rede macht das raquoDankl iedlaquo sichtbar (I 44ff) das Buumlrger urspruumlnglich Psalm nennen wollte und zu dem Boie ihm schrieb den denkenden Christen wird es entzuumlcken und erbauen aber den groumlszligten Haufen und Pastor Zuch - (12972) Es zeigt eine ganz symmetrische Anlage Die Eingangsstrophe wendet sich lobend an Gott den Schoumlpfer sechs folgende Strophen reihen auf was der Sprechende aus seiner Hand empfangen hat (daszlig es dabei ausgerechnet um die Liebe den Wein und den Gesang geht muszligte Pastor Zuch freilich wurmen) zwei Mittelstrophen bekennen daszlig die Fuumllle der Schoumlpfergaben nicht zu zaumlhlen sei (Wer zaumlhlt die Gaben alle Wer) und wenden sich auf den Sprecher selbst wieder sechs Strophen nennen dann die leiblichen und geistigen Eigenschaften die Gott ihm verliehen hat Hinter dieser Gaben Wunderschau aber wird Luthers Erklaumlrung zum 1 Artikel des Glaubensbekenntnisses sichtbar in der es nach der FrageWas ist das heiszligt Ich glaube daszlig mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mit Leib und Seele Augen Ohren und alle Glieshyder Vernunft und alle Sinne gegeben hat Gemaumlszlig den Schluszligworten der Erklaumlrung des alles ich ihm zu danken und zu loben schuldig bin muumlndet die letzte Strophe preisend und benedeiend in den liturgisch beshy

ao Zur Begriffsbestimmung dieser Saumlkularisationskategorie vgL S 289 ff

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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gehend anverwandelt daszlig sie als fremdes Sprachgut kaum erkennbar werden heben sie sich in der sechsten Strophe doch wieder staumlrker ab erst der Abglanz der Erleuchtungsflammen des Pfingstwunders erhellt die Reden des Trunkenen als einwundersames Reden gar in fremden Zungen

Ein Vergleich mit dem Vorbild der lateinischen Beichtparodie der dies e Durchsichtigkeit auf den hinter der eigentlichen Aussage liegenden Sprach- und Bildbereich gaumlnzlich fehlt zeigt daszlig in Buumlrgers uumlbertragung eine sehr bewuszligte Absicht waltete Man halte gegen seine sechste Strophe etwa die Verse

Mihi nunquam spiritus prophetiae datur Non nisi cum fuerit venter bene satur Cum in arce cerebri Bacchus dominatur In me Phoebus irruit ac miranda fatur

Die Grundhaltung beider Gedichte unterscheidet sich wesentlich Mit den fuumlr die ganze raquoC 0 n fes s i 0laquo verbindlichen Versen

Voluptatis avidus magis quam salutis Mortuus in anima curam gero cutis

setzt der Archipoeta Diesseits und Jenseits gegeneinander und faumlllt seine klare Entscheidung fuumlr das eine gegen das andere Buumlrger aber verschmilzt die Bereiche Getragen von den sprachgebundenen Bedeutungsenergien die aus dem christlichen in einen houmlchst weltlichen Bereich des Sprechens uumlberfuumlhrt werden erhebt der bekenntnishafte Lebensbericht des Zechers sich zum Heilsbericht zum Preis einer uumlberirdischen und das Irdische vershywandelnden Macht die am Sprechenden wirksam wird Erst diese Spuren des weihevoll-heiligen Pathos dem Weine des schwoumlrenden protzenden singenden Zechers und Schlemmers beigemischt als ein verborgenes Arom bewirken jenes Entzuumlcken das Buumlrger mit der Lektuumlre des Gedichtes seinen Freunden verhieszlig29 Sie bereiten die schluszligbeschwerende Gebetsshyformel vor und bewirken daszlig statt eines Bruches hier der Aufschwung in jene Sphaumlre erfolgt die am inneren Aufbau des Liedes schon von Anshyfang an beteiligt war So vollendet sich das bekennende Sprechen des raquoZechliedslaquo am Ende in der inneren Form einer ihrer urspriinglichen Erfuumlllung mit christlichem Gehalt entleerten Heilsverkuumlndigung

i-

Mit jener Sprechweise des Geistlichen auf welche die Schluszligbeschweshyrung deutete haumlngt diese Form der He i I sv e r k uuml n d i gun g aufs engste zusammen Sie steht in Buumlrgers Werk durchaus nicht vereinzelt die im

29 Brief an Boie 18977

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religioumlsen Sprachgebrauch ausgebildeten Formmodelle finden hier zahlshyreiche und vielfaumlltige Entsprechungen die um so deutlicher erkennbar werden als sie noch immer merkliche Spuren auch des urspruumlnglichen Gehaltes tragen Sie erweisen sich als weltliche Kontrafakturen der relishygioumlsen Vorbilder 30 von denen sie nicht allein das organisierende Formshyprinzip beziehen sondern zugleich jenen Zuwachs an Bedeutungshaumlhe und Wirkungskraft den das Modell nur dann hergibt wenn es selbst noch als bedeutungshaltig und wirkungsfaumlhig intakt bleibt Die Annaumlherung auch der inhaltlichen Erfuumlllung dieser saumlkularisierten Formen an den christshylichen Denk- und Sprachbereich befoumlrdert ja begruumlndet ihre reichhaltige Erscheinung in Buumlrgers Lyrik

Ich glaube Luther wuumlrde dies Gedicht fuumlr ein wuumlrdiges Kirchenlied anerkannt haben schrieb AWSchlegel uumlber Die Elementelaquo (B 518) Schon mit dem Eingangsvers tritt es in die Form der Lehrvershykuumlndigung Horch Hohe Dinge lehr ich dich (I 68) Und diese Lehre vom Wesen der Elemente ist mehr als bloszlige Kundgabe Sie wird Maszligstab fuumlr den Belehrten Richtschnur Grundlage fuumlr das kommende Gericht Immer dringlicher wendet sie sich im Fortgang des Gedichtes an den Houmlrer selbst Sieh hin und her und Nun pruumlfe dich bis mit den oben (S 194) genannten Schluszligversen das lehrende Sprechen ins urteilende und verdammende uumlbergeht

Eine besondere Form der lehrhaft-bekennenden Rede macht das raquoDankl iedlaquo sichtbar (I 44ff) das Buumlrger urspruumlnglich Psalm nennen wollte und zu dem Boie ihm schrieb den denkenden Christen wird es entzuumlcken und erbauen aber den groumlszligten Haufen und Pastor Zuch - (12972) Es zeigt eine ganz symmetrische Anlage Die Eingangsstrophe wendet sich lobend an Gott den Schoumlpfer sechs folgende Strophen reihen auf was der Sprechende aus seiner Hand empfangen hat (daszlig es dabei ausgerechnet um die Liebe den Wein und den Gesang geht muszligte Pastor Zuch freilich wurmen) zwei Mittelstrophen bekennen daszlig die Fuumllle der Schoumlpfergaben nicht zu zaumlhlen sei (Wer zaumlhlt die Gaben alle Wer) und wenden sich auf den Sprecher selbst wieder sechs Strophen nennen dann die leiblichen und geistigen Eigenschaften die Gott ihm verliehen hat Hinter dieser Gaben Wunderschau aber wird Luthers Erklaumlrung zum 1 Artikel des Glaubensbekenntnisses sichtbar in der es nach der FrageWas ist das heiszligt Ich glaube daszlig mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mit Leib und Seele Augen Ohren und alle Glieshyder Vernunft und alle Sinne gegeben hat Gemaumlszlig den Schluszligworten der Erklaumlrung des alles ich ihm zu danken und zu loben schuldig bin muumlndet die letzte Strophe preisend und benedeiend in den liturgisch beshy

ao Zur Begriffsbestimmung dieser Saumlkularisationskategorie vgL S 289 ff

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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religioumlsen Sprachgebrauch ausgebildeten Formmodelle finden hier zahlshyreiche und vielfaumlltige Entsprechungen die um so deutlicher erkennbar werden als sie noch immer merkliche Spuren auch des urspruumlnglichen Gehaltes tragen Sie erweisen sich als weltliche Kontrafakturen der relishygioumlsen Vorbilder 30 von denen sie nicht allein das organisierende Formshyprinzip beziehen sondern zugleich jenen Zuwachs an Bedeutungshaumlhe und Wirkungskraft den das Modell nur dann hergibt wenn es selbst noch als bedeutungshaltig und wirkungsfaumlhig intakt bleibt Die Annaumlherung auch der inhaltlichen Erfuumlllung dieser saumlkularisierten Formen an den christshylichen Denk- und Sprachbereich befoumlrdert ja begruumlndet ihre reichhaltige Erscheinung in Buumlrgers Lyrik

Ich glaube Luther wuumlrde dies Gedicht fuumlr ein wuumlrdiges Kirchenlied anerkannt haben schrieb AWSchlegel uumlber Die Elementelaquo (B 518) Schon mit dem Eingangsvers tritt es in die Form der Lehrvershykuumlndigung Horch Hohe Dinge lehr ich dich (I 68) Und diese Lehre vom Wesen der Elemente ist mehr als bloszlige Kundgabe Sie wird Maszligstab fuumlr den Belehrten Richtschnur Grundlage fuumlr das kommende Gericht Immer dringlicher wendet sie sich im Fortgang des Gedichtes an den Houmlrer selbst Sieh hin und her und Nun pruumlfe dich bis mit den oben (S 194) genannten Schluszligversen das lehrende Sprechen ins urteilende und verdammende uumlbergeht

Eine besondere Form der lehrhaft-bekennenden Rede macht das raquoDankl iedlaquo sichtbar (I 44ff) das Buumlrger urspruumlnglich Psalm nennen wollte und zu dem Boie ihm schrieb den denkenden Christen wird es entzuumlcken und erbauen aber den groumlszligten Haufen und Pastor Zuch - (12972) Es zeigt eine ganz symmetrische Anlage Die Eingangsstrophe wendet sich lobend an Gott den Schoumlpfer sechs folgende Strophen reihen auf was der Sprechende aus seiner Hand empfangen hat (daszlig es dabei ausgerechnet um die Liebe den Wein und den Gesang geht muszligte Pastor Zuch freilich wurmen) zwei Mittelstrophen bekennen daszlig die Fuumllle der Schoumlpfergaben nicht zu zaumlhlen sei (Wer zaumlhlt die Gaben alle Wer) und wenden sich auf den Sprecher selbst wieder sechs Strophen nennen dann die leiblichen und geistigen Eigenschaften die Gott ihm verliehen hat Hinter dieser Gaben Wunderschau aber wird Luthers Erklaumlrung zum 1 Artikel des Glaubensbekenntnisses sichtbar in der es nach der FrageWas ist das heiszligt Ich glaube daszlig mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mit Leib und Seele Augen Ohren und alle Glieshyder Vernunft und alle Sinne gegeben hat Gemaumlszlig den Schluszligworten der Erklaumlrung des alles ich ihm zu danken und zu loben schuldig bin muumlndet die letzte Strophe preisend und benedeiend in den liturgisch beshy

ao Zur Begriffsbestimmung dieser Saumlkularisationskategorie vgL S 289 ff

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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schwerten Schluszlig Eine katechetische Form des Sprechens deutet sich an

Sie tritt staumlrker noch in raquoDas Maumldel das ich meinelaquo hervor Hier wird die auf das Hohelied weisende Aufzaumlhlung der Schoumlnheiten der Geshyliebten voumlllig auf die Form der Fragebelehrung gebracht

Wer lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn Der liebe Gott der gute Geist Der goldne Saaten reifen heiszligt Der lieszlig vom Nacken blond und schoumln Des Maumldels seidne Locken wehn (I 65)

Von den Eingangs- und Schluszligversen abgesehen fassen auf solche Weise alle Strophen die Schilderung der Holden in eine zweizeilige Frage nach dem der ihr diese Eigenschaft gegeben und jeweils vier folgende Zeilen sprechen am Ende die Beschreibung der Anfangsverse wiederholend die Antwort die im Geschoumlpf den Schoumlpfer erkennt

Lob sei 0 Bildner deiner Kunst Und hoher Dank fuumlr deine Gunst

- modellgetreu erhebt sich am Ende die Katechese zum Lob e des Schoumlpshyfers Das aber ist eine fuumlr Buumlrgers Liebesgedichte uumlberaus kennzeichnende Bewegung immer wieder erfuumlllt sich der Preis der Geliebten damit in einer Form die sie selber uumlbersteigt

Spricht hier der Lobende gleichsam uumlber sie hinweg auf das Houmlhere zu so zeigen andere Gedichte daszlig auch die Geliebte selbst uumlber sich hinausshygehoben wird Diese sei kein Erdenweib heiszligt es in dem kleinen Minnelied raquoGabrielelaquo und Buumlrger hat hier zur Erhoumlhung seines darzustellenden Ideals von vollkommener Weibesschoumlnheit und Tugend wie er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte erlaumlutert (B 324) seine Gabriele selbst der Gottesmutter an die Seite gestellt Schon ist sie mehr als das was ihr preisend zugesprochen ist mehr als nur schoumln an Seel und Leib schon ist sie fast verklaumlrt wie Himmelsbraumlute und se I b e reine Hochgebenedeite (I 39)

Solcher Zusammenklang der irdisch liebenden und der uumlberirdisch lobenden Stimme fuumlhrt in den Versen gtAn Aga thelaquo (I 42 f) wie es die Vorbemerkung Nach einem Gespraumlche uumlber ihre irdischen Leiden und Aussichten in die Ewigkeit erwarten laumlszligt schon ganz in die Naumlhe des geistlichen Liedes Nicht mehr das Thema sondern eine Widmung gibt die Uumlberschrift nicht mehr der Inhalt sondern die Richtung des Sprechens wird durch sie bezeichnet Und die Frau der diese Verse gelten ist in ihrer aumluszligeren Erscheinung nicht mehr genannt als Individuum nicht mehr greifbar denn was da an geistlicher Lehre auf sie bezogen wird gilt fuumlr

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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all und jeden So kann sie seI bs t zur Mittlerin der Erloumlsung werden zur Fuumlhrerin in die Gefilde jener Welt Zeuch mich hin nach dir sagt das Kirchenlied und meint Christus raquoAn Agathelaquo richten sich die gleichen Worte - aufwaumlrts gerichtete Worte mit denen das geistliche Lied sich nun in der inneren Form des Gebetes erfuumlllt

Zeuch mich dir geliebte Fromme An der Liebe Banden nach Daszlig auch ich zu Engeln komme Zeuch du Engel dir mich nach

Mit besonderer Deutlichkeit in der raquoLust am Liebchenlaquo (I 26f) ausgebildet gehoumlrt auch die SeI i g pr eis u n g in diese Reihe Bereits mit den Eingangsversen stellt das Gedicht sich unter die in der Bergpredigt beispielhaft gewordene Form Ihr wiederkehrendes Selig sind in dem Praumldikatsadjektiv und Verbum dem Substantiv vorangehen und den eindrucksstarken Anfangsakzent setzen wirkt hier deutlich nach

Wie selig wer sein Liebchen hat Wie selig lebt der Mann

Zwei verschiedene Formtypen zeigt das neutestamentliche Vorbild Der erste ist antithetisch gebaut auf die Darstellung des gegenwaumlrtigen Zushystandes folgt die des verheiszligenen Selig sind die da Leid tragen denn sie sollen getroumlstet werden (Matth 5 4) Dem entspricht es wenn vom selig gepriesenen liebenden Mann in diesen Versen gesagt wird

Selbst arm bis auf den letzten Deut Duumlnkt er sich kroumlsus reich

Als zweite in der Bergpredigt vorgebildete Moumlglichkeit zeigt sich die Konshysekution Selig sind die reinen Herzens sind denn sie werden Gott schauen (Matth 5 8) Auch diese Form erscheint in der L u s t am L ie bshyehenlaquo wobei Grund- und Folgesatz in der vorletzten Strophe nur mehr umgestellt werden

In Goumltterfreuden schwimmt der Mann Die kein Gedanke miszligt Der singen oder sagen kann Daszlig ihn sein Liebchen kuumlszligt

Ein entscheidendes Kennzeichen des Formmodells freilich scheint in Buumlrshygers Versen zu fehlen Immer geht es in der Seligpreisung um ein Sein und einWerden die Antithese oder Konsekution liegt im Zukuumlnftigen Darauf beruht die Verheiszligung - an deren Stelle hier das im Selbstshygefuumlhl des Seliggepriesenen antithetisch oder konsekutiv schon jet z t Empfangene und Erreichte tritt Aber die Verheiszligung ohne die von Seligpreisung als innerer Form des Gedichtes eigentlich nicht gesprochen werden duumlrfte wird auf uumlberraschende Art in der Schluszligstrophe nachshy

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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getragen Dort naumlmlich tritt der Sprecher selbst hervor und macht deutshylich daszlig er keineswegs eins war mit dem seliggepriesenen Liebenden der vorangehenden Verse sondern diese Seligpreisung als kuumlnftige Moumlglichshykeit sich selber zusprach

Doch ach was sing ich in den Wind Und habe selber keins

das meint kein Liebchen und damit keinen Grund sich selig Zu preisen shy

o Evchen Evchen komm geschwind o komm und werde meins

Die uumlberwiegende Zahl der auf religioumlse Vorbilder weisenden Beishyspielfaumllle solcher lyrischen Formen findet sich in den Liebesgedichten Buumlrshygers Schon fuumlr Gebet und Katechese mehr noch fuumlr Heilsverkuumlndigung und Seligpreisung am deutlichsten fuumlr den Lobgesang gilt daszlig sie aus dem - erwuumlnschten oder erfuumlllten - Grundgefuumlhl einer Beg I uuml c k u n g des Sprechenden gebildet werden Sie ist der Zustand aumluszligerster Annaumlheshyrung an das religioumlse Erlebnis

Fuumlhlet wohl ein Gottesseher Wann sein Seelenaug entzuumlckt In die bessern Welten blickt Fuumlhlt er seinen Busen houmlher Unaussprechlicher begluumlckt

uumlberall wo raquoDas hohe Lied von der Einzigenlaquo (I 99ff) die Geshyliebte uumlbersteigt und im Lobgesang auf den Hochzeitsgott gipfelt stroumlmt so der Wortschatz des Kirchenliedes in seine Verse Um Hymen sammeln sich die Attribute des Heilands er wird Himmelsgast Schuldversoumlhner Grambezwinger Wiederbringer aller Huld Und von dem grenzenlos Begluumlckten selbst der das Lied in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermaumlhlung heiszligt es gar

Wie aus hoffnungslosen Banden Wie aus Nacht und Moderduft Einer tiefen Kerkergruft Fuumlhlt er froh sich auferstanden 31

Das geistliche Lied muszlig seine Sprache und Ausdruckskraft leihen um sagbar zu machen was ihm die Vereinigung mit der Geliebten bedeutet Nun hat alle Fehd ein Ende Denn diese Begluumlckung ist zugleich der Zustand aumluszligerster Ausdrucksnot raquoD a s ho heL i e dlaquo hat die Einsicht

31 Text der uumlberarbeitung II S268

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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in die Armut des Sprechvermoumlgens die den Entzuumlckten uumlberfaumlllt selbst zum Gegenstand der Aussage gemacht

Doch - du fuumlhlest dich verlassen Lied in dieser Region Lange weigern sich dir schon Das Unsaumlgliche zu fassen Bild Gedanke Wort und Ton

Hier wird die Umschlagstelle zwischen beiden Sprachbereichen sichtbar Im Feuer der Begluumlckung verschmilzt das Wort des entzuumlckten Gottesshysehers mit dem des beseligten Sprechers stellt sein innres Seelenstuumlckshychen sich unter die religioumlse Form

Von wohlgesonnenen Freunden und uumlbelgesinnten Kritikern ist an Buumlrger nicht selten die Frage nach der Angemessenheit solcher uumlbertrashygungen gestellt worden In der uumlberarbeitung seines raquoHohen Liedeslaquo hat er dieses Bedenken sogar ausdruumlcklich aufgenommen

Doch - dein Auge blickt bedenklich Und ich ahnde was es schilt Irdisch nennt es und vergaumlnglich Was mit Lust so uumlberschwenglich Nur der Sinne Hunger stillt - (II 273)

Der Einwand gilt genau besehen ja durchaus der uumlberschwenglichen der unangemessenen Dar stell u n g des Vergaumlnglichen die in solcher Sprache und Form nur dem uumlberirdischen zukommt Aber Buumlrgers Antwort traumlgt keine Scheu den liebenden Gott selbst dasWesen aus dem Goumlttersaale zu Hilfe zu rufen gegen diesen kalten Tadlerlaquo Die Sprache bleibt im uumlberschwang der Begluumlckung und weiszlig in ihm sich gerechtfertigt denn das Erlebnis des Irdischen wird als uumlberirdisches empfunden die weltliche Kontrafaktur erscheint als legitimer Ausdruck der Gleichung homogener Bereiche

Toumlne wie vom Himmel sprechen Labsal dir und Segen zu shy

Dieser Sprechhaltung ganz entgegengesetzt und eben dadurch doch auf die Antithese der Begluumlckung bezogen erscheinen mit zahlreichen Beispielen in Buumlrgers Dichtung die lyrischen Formen der Klage in denen die urspruumlnglich rituelle Funktion einer Erweichung des Gottesshyzornes uumlberdauert sei es daszlig die Klage (ausdruumlcklich oder unausshygesprochen) noch immer an die houmlhere Macht sich richtet sei es daszlig sie der widerstrebenden sich versagenden sich abwendenden Geliebten zushygesprochen wird

Sehr bezeichnend ist dabei die religioumlse Bezuumlglichkeit der KlageshyFormen Wohl liegt der vordergruumlndige Klage-Anlaszlig im Liebesleid aber

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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dahinter stehen Suumlndenbekenntnis (Selbstanklage) Hiobssituation (Anshyklage) goumlttliche Heimsuchung (Klagelied)Erfahrung irdischer Unzulaumlngshylichkeit (Beklagung) u auml 32 Und so deutet die Moumlglichkeit von Erloumlsung Heilung Troumlstung sich an welche die Klage hindert in Verzweiflung umzuschlagen In denSchluszligversendesSonettes raquoV erl u S tlaquo etwa heiszligt es

Wehe mir Seitdem du schwandest trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde Honig traumlgt nur meine Todesstunde (I 110)

Nur auf dem schmalen zwischen Verzweiflung und Troumlstung gespannten von beiden bestimmten und doch keinem ganz geoumlffneten Bereich kann Klage durchgehalten werden In unserem Beispiel faumlngt die Gewiszligheit eines aus irdischem Leid erloumlsenden Endes die Klage ab bevor sie sich in Hoffnungslosigkeit verliert Aber zugleich praumlgt doch der Weheruf des Eingangs die Gestalt des Terzetts seine Kraft erlahmt nicht mit dem Ende der zweiten Zeile sondern umgreift auch die dritte unterwirft auch sie der inneren Form und bezieht noch die troumlstliche Verheiszligung in den Raum der Klage ein

Solche aus dem religioumlsen Sprachbereich uumlbernommenen Sprechhaltunshygen und Formen erscheinen in Buumlrgers lyrischer Dichtung als das bedeutshysamste Ergebnis der kontra faktischen Saumlkularisation Lyrik ist das Ausshydrucksfeld in dem sie sich am reinsten verwirklichen und eine das ganze Gebilde umspannende Formkraft gewinnen koumlnnen

Aber nicht hier sondern in der Balladen-Dichtung hat sich Buumlrgers poetische Begabung am staumlrksten und uumlberzeugendsten entfaltet Eine Untersuchung der Saumlkularisationsphaumlnomene seines Werkes hat deshalb in diesem Bereich ihre Bewaumlhrungsprobe zu leisten denn daszlig mit dem Wechsel der Gattung auch eine grundsaumltzlichgleichbleibendeAusbeutungsshyweise der religioumlsen Texte zu anderen Formen und Wirkungen fuumlhren muszlig liegt auf der Hand Sie festzustellen und zu bestimmen wenden wir uns jener Ballade zu die schon A W Schlegel als des Dichters raquogluumlckshylichster und gelungenster Wurf erschien (B 513)33

lt

Die wissenschaftliche Untersuchung der raquoLenorelaquo hat sich vorshywiegend mit ihrer stofflichen und das heiszligt in diesem Falle mit ihrer

32 Zu Klage Anklage Beklagung s W Kayser Das sprachliche Kunstwerk 4 Auf 1956 S344

33 Der Vf uumlbernimmt im folgenden die in seinem Aufsatz Buumlrgers Lenore (DVjs XXVIII 1954 S 324 ff) ausfuumlhrlich entwickelten Voraussetzungen in gekuumlrzter Form die Hauptergebnisse nahezu unveraumlndert - Ein an manchen Stellen abweichender Vorshyabdruck des Folgenden findet sich auszligerdem in Die deutsche Lyrik Form und Geshyschichte hrsg B v Wiese I Bd 1956 S 190 ff

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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v 0 I k s t uuml m I ich e n Komponente beschaumlftigt Sie hat dargelegt und durch zahlreiche Zeugnisse beglaubigt daszlig der Lenorenstoff einem weitvershyzweigten indogermanischen Sagenbereiche zuzuordnen ist 34 der auf der Vorstellung beruht daszlig das Leben Verbindungen von einer Festigkeit und Innigkeit zu stiften vermag welche selbst der Tod nicht mehr loumlsen kann Eine der besonderen Auspraumlgungen ist dann die daszlig aus der Kraft einer uumlber das Grab hinaus wirkenden Liebe die Toten wiederkehren und die Lebenden durch die Beruumlhrung mit ihnen selber dem Tode verfallen Freilich ist fuumlr das Verstaumlndnis unserer Ballade selbst die Vielzahl der motivverwandten Sagen und Volkslieder von geringfuumlgiger Bedeutung und auf die entstehungsgeschichtlich interessierte Frage welche Anregunshygen Buumlrger von hier tatsaumlchlich erfahren hat gibt es keine wirklich zushyreichende Antwort Der Einfluszlig von Percys Reliques of Ancient English Poetry den besonders die englische Forschung uumlberschaumltzt hat ist mit leichten Anklaumlngen an die zunaumlchst durch Herders uumlbersetzung vermitshytelte Ballade ~S w e e t Will i a m s G h 0 s tlaquo erschoumlpft In diesen englischen Versen bleibt die Situation zwischen William und Margaret eine durchaus andere als die zwischen Wilhelm und Lenore in der deutschen Ballade und die bedeutsamere Anregung fuumlr Buumlrger kam wohl aus einer deutschen Fassung der Lenoren-Sage von der in seinem Briefwechsel mit den Goumltshytingern als von einer herrlichen Romanzengeschichte aus einer uralten Ballade die Rede ist an deren vollstaumlndigen Text er freilich nicht geshylangen konnte 35 Die bruchstuumlckhaften Nachrichten uumlber dieses Urbild seiner Ballade lassen vermuten daszlig auch Buumlrgers Gewaumlhrsmann vershymutlich ein Bauernmaumldchen seines Gerichtssprengels den vollen Wortlaut des alten Spinnstubenliedes nicht mehr kannte und nur die plattdeutshyschen ZeilenWo lise wo lose I Rege hei den Ring noch im Ohr hatte die im zarten Klang der Buumlrgerschen Verse fortleben

Und horch und horch den Pfortenring Ganz lose leise klinglingling

Auch die dreimal wiederholte Wechselrede in der der Reiter das Maumldshychen fragt ob es ihm nicht graue im hellen Mondschein und sie ihm antshywortet nein warum sollte es mich grauen du bist ja bei mir oder ich bin ja bei dir hat Buumlrger wohl dieser Quelle entnommen die trotz aller Beshymuumlhungen nicht mehr feststell bar war als die Philologen begannen sich mit der Frage nach der Originalitaumlt der Ballade zu befassen Erich Schmidt hat diese Vorlage durch Vergleich mit den verwandten Lenorenshy

middot34 Vgl W Wackernagel Zur Erklaumlrung und BeurtheiJung von Buumlrgers Lenore Kl Schriften 21873 S399ff H~r9hlejS77ff ESchmidt Buumlrgers Lenore Charakshyteristiken I 2 Aufl 1902 u a-shy

35 Brief an Boie 19473 - W-E Peuckcrt (tenore FFC 158 1955) vermutet daszlig Buumlrger in Wahrheit eine Prosa fassung mit eingesprengten Verszeilen vorgelegen hat

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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maumlrchen aus Westfalen und Schleswig-Holstein rekonstruiert Ein Maumldshychen weiszlig nicht ob der Geliebte ein Kriegsmann noch am Leben ist Sie erschoumlpft sich in Klagen bis er nachts angeritten kommt Sie schwingt sich zu ihm aufs Pferd umfaszligt ihn Es folgt ein atemloser Ritt dreimalige Wedlselrede Kirchhof offene Graumlber Roszlig und Reiter versdlwinden Ob der Schluszlig den Tod des Maumldchens brachte steht dahin l6

Buumlrgers Briefe spiegeln die Begeisterung in die ihn dieser Fund und die von ihm ausgehende Anregung zur eigenen veredelten lebendigen darshystellenden Volkspoesie versetzte und als ihm waumlhrend der Arbeit an der raquoLenorelaquo Herders raquoAuszug aus einem Briefwechsel uumlber Ossian und die Lieder alter Voumllkerlaquo zukam schrieb er an Boie Der [TonJ den Herder auferwec~t hat der schon lang auch in meiner Seele auftoumlnte hat nun dieselbe ganz erfuumlllt und - ich muszlig entweder durchaus nichts von mir selbst wissen oder ich bin in meinem Elemente o Boie Boie welche Wonne als ich fand daszlig ein Mann wie Herder eben das VOll der Lyric des Volks und mithin der Natur deuumltlicher und bestimmter lehrte was ich dunkel davon schon laumlngst gedacht und empshyfunden hatte Ich denke Lenore soll Herders Lehre einiger Maszligen entshysprechen (18673) Es traf sich gluumlcklich daszlig ihm zur gleichen Zeit mit dem raquoGouml tzlaquo eine Dichtung bekannt wurde in der er voller Freude seine eigenen poetischen Absichten verwirklicht sah Dieser G v B hat mich wieder zu 3 neuumlen Strophen zur Lenore begeistert - Herr nichts wenimiddotmiddot ger in ihrer Art soll sie werden als was dieser Goumltz in seiner ist 37 Im gluumlckhaften Gefuumlhl einer Bestaumlrkung durch die vornehmsten Geister seishyner Zeit dichtete er seine groszlige Ballade das Kleinod den kostbaren Ring wodurch er mit Schlegel zu reden sich der Volkspoesie wie der Doge von Venedig dem Meere fuumlr immer antraute (B 513)

Volkstuumlmlich ist nun aber nicht allein der uumlberkommene Stoff sonshydern in gewisser Hinsicht durchaus auch seine Darbietung Am sichtshybarsten wird das an der Figur des Erz auml h I er s der zwar nirgends ausshydruumlcklich vorgefuumlhrt oder genannt wird als sprechende Figur jedoch deutshylich bestimmbar ist und keineswegs einfach mit dem Dichter gleichgesetzt werden kann Von Buumlrger der in theoretischer uumlberlegung und dichteshyrischer Arbeit formalen Fragen groszlige Aufmerksamkeit widmete weiszlig man daszlig er ein sehr feines Gefuumlhl fuumlr die Reinheit der Reime besaszlig Liest man nun

Geschmuumlckt mit gruumlnen Reisern Zog heim zu seinen Haumlusern

so darf man im unreinen Reim dieser Verse durchaus nicht ein peinliches Versehen erblicken Hier wird ein Sprecher vernehmbar der niemals wie Buumlrger eine Theorie der Reimkunst verfaszligt hat ein schlichter unshy

36 ESchmidt S211 37 Brief an Boie 8773

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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gelehrter volkstuumlmlicher Erzaumlhler der in dieser Weise ganz bewuszligt konzipiert wurde 38 Was an den Formalien deutlich wird zeigt sich auch im inhaltlichen Bereich

Der Koumlnig und die Kaiserin Des langen Haders muumlde Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede

Den 1763 abgeschlossenen Frieden von Hubertusburg hat Buumlrger selbst wohl schwerlich auf eine so naive Art begruumlnden wollen aber voumlllig uumlbershyzeugend ist diese Erklaumlrung innerhalb der Denk- und Sprechweise des volkstuumlmlichen Erzaumlhlers durch dessen Vermittlung wir die Ballade houmlren

Gebannt vom wilden Auffahren des Maumldchens uumlberwaumlltigt vom Schicksal der Verlassenen setzt er mit einer jaumlhen Ausdrucksgebaumlrde ein ehe er sich zur erklaumlrenden ruhig-berichtenden Erzaumlhlung wendet Sie greift zuruumlck und versetzt dabei die zur Abfassungszeit des Gedichtes doch erst sechzehn Jahre vergangene Prager Schlacht zwischen Friedrich und dem Marschall Daun und das Ende des Siebenjaumlhrigen Krieges in die geschichtsferne Erzaumlhlweise des Maumlrchens In ihrer einfaumlltigen holzshyschnitthaft-derben Manier den Ereignisablauf durch die Mosaiksteinchen kleiner schlichter Einzelbegebenheiten markierend klingt sie wie der im Volks- und Soldatenlied zersungene Bericht eines Augen- und Ohrenshyzeugen jener historischen Ereignisse In scheinbar naivem tatsaumlchlich aber sehr kunstvollem und folgerichtigem Aufbau lenkt der Erzaumlhler wieder auf das Maumldchen und die Ausgangssituation der Ballade zuruumlck vom Koumlnig und der Kaiserin fuumlhrt er zum Friedensschluszlig zur Ruumlckkehr des Heeres zu den schon in den Wohnort der Lenore zu denkenden Dankshyund Jubelrufen der Frauen und Kinder - bis zur endguumlltigen den Beshyricht mit einem Ausruf der Teilnahme unterbrechenden Hinwendung zu dem Maumldchen dessen Geliebter nicht zuruumlckgekommen ist

Ach aber fuumlr Lenoren War Gruszlig und Kuszlig verloren

In dieser teilnehmenden Naumlhe bleibt er das ganze Gedicht hindurch sie laumlszligt ihn zum bestuumlrzten Zeugen des Dialogs von Mutter und Tochter werden zum Begleiter des atemlosen Rittes und reiszligt ihn endlich hinein in den heulenden Wirbel der Geister

Freilich Buumlrgers volkstuumlmliche Gestaltung dieses volkstuumlmlichen Stofshyfes entfernt sich in mancher Hinsicht doch recht deutlich von den niedershydeutschen Liedern aus denen man auf das Urbild der Ballade geschlossen hat Dem Versuch die raquoLenorelaquo allein vom Volkstuumlmlichen her und im

38 Vgl WKayser Vom Werten der Dichtung (Wirk Wort 2195152 S353f)

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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Sinne der alten Wiederginger-Moritat zu deuten stehen besonders im Hinblick auf das Verstaumlndnis Wilhelms erhebliche Schwierigkeiten entshygegen Er ist nicht mehr einfach als der wiederkehrende Geliebte zu beshygreifen und wirklich wird ja selbst in seiner dreimal vliederholten Frage Graut Liebchen auch vor Toten die innige Fuumlrsorglichkeit die sie im Volkslied trug VOll einem boshaft-ironischen Ton uumlberdeckt Sofern es in dem Sagenkreis der das Lenorenmotiv behandelt nicht um Bestrafung der Untreue geht erscheint (trotz des gelegentlichen Entsetzens welches das Maumldchen am Ende uumlberfaumlllt) das Eingehen ins Grab als Zeugnis einer Liebe die uumlber den Tod hinaus dauert Rosen wachsen empor aus den Leibern der endlich Vereinigten they grew in a true lovers knot 39

Doch fuumlr die raquoLenorelaquo triff das nicht mehr zu und so hat Wilhelm Wackernagel von Wilhelm erklaumlrt er traumlte als himmlischer Raumlcher auf um fiir Lenorens Frevel fuumlr ihr verzweifelndes Hadern mit Gott ihr junges Leben hin zu opfern 40 Freilich kann sich diese weitverbreitete Deutung nur auf die Erzaumlhlstrophe

Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern

und auf das Geistergeheul des Schlusses berufen Mit Gott im Himmel hadre nicht uumlber das erste dieser Zeugnisse wird noch zu reden sein Die zweite Stelle ist als Schluszligmoral der Ballade schon dadurch in Frage geshystellt daszlig das Gesindel vom Hochgericht der houmlllische Geisterschwarm sie heult sie traumlgt den Beigeschmack einer infernalischen Ironie und scheint wenig geeignet ein Urteil uumlber Lenores Versuumlndigung zu begruumln den aus dem dann die eigentliche Intention der Ballade abzuleiten waumlre D aszlig der volkstuumlmliche Stoff des Gedichtes uumlberformt worden sei bleibt dadurch unbestritten Aber wenn es nicht die Schuld und Suumlhne-Idee ist welche Kraft hat diese uumlberformung dann bewirkt

Buumlrger schrieb am 6 Mai 1773 zwei Briefe an seine Freunde die offenshybar einen Einblick in den dichterischen Schaffensvorgang ermoumlglichen Boie erhaumllt (in einer spaumlter umgearbeiteten Fassung) die erste Strophe der raquoLenorelaquo Wenige Wochen zuvor schon als Buumlrger die alte RomanzenshyGeschichte entdeckt hatte war eine Ankuumlndigung an den Freund geshygangen Nachdem dieser Reiz inzwischen die eigene Produktion hervorshygelockt hat schreibt er jetzt beim uumlbersenden der ersten Probe zu dem entstehenden Gedicht Und ganz original Ganz von eigner Erfindung Eine erstaunliche Behauptung denn zunaumlchst bleibt gaumlnzlich unklar worin die Originalitaumlt eigener Erfindung eigentlich bestehen sollte - anshygesichts der insonderheit an den Sprachstil von Houmlltys ernsten Balladen

39 raquoFair Margaret and Sweet Williamlaquo (Percy III S125) 40 A a O S 424

14 7439 Sd1oumlnc Saumlkularisation (Palacstra 226) 209

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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von raquoAdelstan und Roumlschenlaquo und raquoDie Nonnelaquo angelehnten Beshyhandlung einer uumlberlieferten Volkslied-Fabel 41

Am gleichen Tage erhaumllt auch Freund Tesdorpf einen Brief in dem das Gedicht freilich nicht erwaumlhnt wird sondern lediglich eine Untershystuumltzungsbitte Geldnoumlte und ein drohender Prozeszlig zur Sprache komshymen Dieses Schreiben aber erscheint nun als eine houmlchst auffaumlllige und eindrucksvolle Kompilation von Worten Bildern Gleichnissen rhetorishyschen und syntaktischen Figuren aus Gesangbuch und Bibel als ein ershystaunliches Zeugnis der Verfuumlgbarkeit christlicher Sprache fuumlr die Mitshyteilung auszligerreligioumlser Gehalte Kein Satz faumlllt aus diesem Centostil heraus noch der Briefschluszlig lautet Und das Wort des Herrn geschah abermal zu mir und sprach Du Menschenkind schreib auf dieses Gesicht und sende es gen Goumlttingen an Tesdorpf aus der Stadt Luumlbeck so da lieget am Meer und ich thaumlt gleichwie der Mund des Herrn geboten hatte B

Waumlhrend Buumlrger die raquoLenorelaquo dichtet verfaszligt er diesen Brief in der Sprache des Johannes der die Sendschreiben der Offenbarung an die christlichen Gemeinden richtet erprobt er gleichsam scherzhaft die Vershyfuumlgbarkeit der Gesangbuch- und Bibelsprache fuumlr einen weltlichen Gegenshystand Eben darin aber ist der Schluumlssel zu finden zum Verstaumlndnis jener Originalitaumlt von der er an Boie schrieb seine ganz eigene Erfindung liegt in einer uumlberformung der uumlberlieferten Balladenfabel durch die Eleshymente einer in der Dichtung fruchtbar werdenden religioumlsen Sprache

Schon die Untersuchung der Aufbauformen unserer Ballade fuumlhrt zu einem zwiegesichtigen Ergebnis mit der Ordnungseinheit volkstuumlmlichshyvierhebiger Verse verbindet sich das Gewicht langer festgefuumlgter Kirchenshyliedstrophen In JChrGUumlnthers Versen raquoAn Lenorenlaquo42 ist der Stroshyphenbau der raquoLenorelaquo vorgebildet man vermutete daszlig Buumlrger ihn von dorther uumlbernommen habe 43 Von der Namensentsprechung abgesehen scheinen Motiv-Anklaumlnge das zu rechtfertigen Aber eine unmittelbare uumlbernahme dieser Bauform aus dem Kirchenlied ist sehr viel wahrscheinshylicher 44 PGerhardts raquoAlso hat Gott die Welt geliebtlaquo undJRists raquoErmuntre dich mein schwacher Geistlaquo sind in LeonorenshyStrophen geschrieben 45 Man wird vermuten duumlrfen daszlig diese Form

41 Vgl WKayser Geschichte der deutschen Ballade 1936 588 ff 42 Saumlmtl Werke hrsg WKraumlmer 1930 I 5209ff 43 ESchmidt 5219 ebenso RMMeyer Guumlnther und Buumlrger (Euph IV 1897

S 485 ff) 44 Vgl VBeyer Die Begruumlndung der ernsten Ballade durch GA Buumlrger 1905S22 45 Obgleich er diese Hinweise von Beyer uumlbernimmt behauptet E Staumluble (G A

Buumlrgers Ballade Lenore Eine Deutung In Der Dcutschunterricht 10 1958 H2 5111) Zur achtzciligcn Strophen form mit dem Reimschema ab ab ce dd suchen wmiddotir vergeblich eine genaue Entsprechung beim Kirchenlied Bei Gerhardt haumltte er die Vers- und Strophen form bei Rist dazu noch das Reimsdlema der raquoLenorelaquo sehr wohl also eine gen aue Entsprechung gefunden

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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bereits in einem uns nicht mehr erhaltenen Versuch des Siebzehnjaumlhrigen nachgebildet war der Althof noch vorlag und von dem er vermerkt es handle sich um ein Fragment von siebzehn achtzeiligen Strophen welches die Aufschrift fuumlhrt Die Feuersbruumlnste am 4 Januar und 1 April des 1764 Jahres zu Aschersleben geschildert von Gottfried August Buumlrshyger d F K und W B Dieses Product hat wenigstens das vorhin geshyruumlhmte Verdienst der Richtigkeit in Reim und Sylbenmaszlig Es ist durchaus voll religioumlser Gefuumlhle (B 432)

Buumlrger hat die Lenoren-Strophe spaumlter noch zweimal verwendet shybeide Male in Balladen die in Verbindung mit der raquoLenorelaquo betrachtet die Vermutung nahelegen daszlig fuumlr den ausgepraumlgten Formsinn des Dichshyters geradezu eine Affinitaumlt dieser Strophe zu bestimmten Gehalten beshystand 1778 erscheint sie in einer Uumlbertragung von raquoT h e Chi I d 0 f Ellelaquo46 in raquoDie Entfuumlhrung oder Ritter Kar von Eichenshyhorst und Fraumlulein Gertrude von Hochburglaquo Auch hier klagt in ihrer Kammer die Braut um den Geliebten und verlangt nach dem Tod auch hier folgen die unverhoffte Ankunft des Reiters das Gespraumlch zwishyschen den Liebenden mit der Aufforderung des Mannes das Maumldchen solle zu ihm aufs Pferd steigen und der mitternaumlchtig-schreckensvolle Ritt

Aber noch ein zweiter Motivstrang zieht sich durch die Balladen in denen die Lenoren-Strophe herrscht Die Worte mit denen in der raquoEntshyfuumlhrunglaquo das Maumldchen zu seinem Vater fleht

o Vater habt Barmherzigkeit Mi t euerm armen Kinde Verzeih euch wie ihr uns verzeiht Der Himmel auch die Suumlnde (I 180)

weisen auf die flehenden Rufe der Lenoren-Mutter zum Gottvater Ach daszlig sich Gott erbarme und

Hilf Gott hilf Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde Sie weiszlig nicht was die Zunge spricht Behalt ihr nicht die Suumlnde

Dieser zweite religioumls bestimmte Bezug im Gebrauch der Lenoren-Strophe erscheint nun auch in ihrer dritten Verwendung im raquoSanct Stephanlaquo von 1777 in dem die biblische Maumlrtyrergeschichte zum Balladenstoff wird und die aus der Apostelgeschichte (759) entlehnten Worte

Behalt 0 Herr fuumlr dein Gericht Dem Volke diese Suumlnde nicht

auf die oben bezeichneten Verse aus der raquoL e n 0 r elaquo zuruumlckweisen So scheint es als habe Buumlrger im Falle dieser Strophe ein Entsprechungsvershy

46 Percy I S 90 ff

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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haumlltnis von Form und Gehalt empfunden das ihr zwei deutlidl umshysmreibbare Inhalte zuwies erstens die volkstuumlmlime Motivsmimt von der klagenden nam dem Tod verlangenden Braut in ihrer Kammer und dem naumlmtlictten Ritt mit dem geliebten Entfuumlhrer zweitens die religioumlsen Motive der Auseinandersetzung mit einem gottverhaumlngten Gesmick des Gebetes um Barmherzigkeit und Vergebung des Unterworfenseins unter Suumlnde und Gericht

Wir blicken zuruumlck auf die Verse mit denen der erste Abschnitt der y L e n 0 r e endet auf die wilde ausdrucksgeladene Gestik des Maumlddlens

Zerraufte sie ihr Rabenhaar Und warf sim hin zur Erde Mit wuumltiger Geberde

Wolfgang Kayser hat darauf hingewiesen daszlig eine traditionsgemaumlszlig als Mittel der Komik verwendete Gebaumlrde hier zum Ausdruck tiefer Vershyzweiflung wird 47 Man muszlig einen entsmeidenden Grund fuumlr solme Ausshydruckswirkung wohl in der Tatsadle sehen daszlig Lenores Verhalten auf ein maumlmtiges Vorbild verweist ihre Verzweiflungsgebaumlrde ist die des von Gott mit dem Tode seiner Kinder geschlagenen und mit seinem Smidsal hadernden Hiob Er zerriszlig sein Kleid und raufte sein Haupt und fiel auf die Erde (120)

Der Aufruf dieser Assoziation besitzt als Besmluszlig der ersten Strophenshygruppe nimt allein Bedeutung fuumlr die aumluszligere Form der Ballade Indem er den naumlmsten Absmnitt einleitet marakterisiert er ihn zugleim denn der neue Ton den er ansmlaumlgt praumlludiert smon den des folgenden Dialogs zwischen Mutter und Tomter jener uumlber ganze sieben Strophen hinshygefuumlhrten kurzen Saumltze selten uumlber die Gedimtzeile hinausgehend jamshybismer Drei- und Viertakter im Bau der lutherismen Kirmenlieder in denen die muumltterlichen Troumlstungsversurne und Zuspruumlme das Maumldmen immer tiefer in die maszliglose Leidensmaft seiner Verzweiflungsausbruumlme treiben Mit dem Beginn dieses durm die Hiob-Assoziation eingeleiteten Zwiegespraumlms tritt die volkstuumlmlime Komponente zuruumlck und eine relishygioumls bestimmte wird simtbar

Man braumt nur die in den Dialogstrophen der raquoLenorelaquo und in den beiden Smluszligstrophen verwendeten Substantive (soweit sie nimt am Ende der Ballade aussmlieszliglim auf den gegenstaumlndlimen Vorgang beshyzogen sind) zu isolieren und zu ordnen um zu erkennen aus welchen Quellen dieser Wortsmatz gespeist wird Welt Wahn Mutter Leib Zunge Meineid Herz Arme Suumlnde Namt Graus Leid Jammer Vershyzweiflung ich Arme Gerimt Houmllle Feuerfunken Gewinsel Geheul

47 Vom Werten der Dichtung a a O S 354

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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Tod Gruft die Toten Vorsehung ErbZlrmen Gott Vater Kind Beten Vaterunser Geduld SZlkrament Gewinn Glauben Licht Himmel Braumlushytigam Seligkeit Es ist das Vokabubr der Lutherbibe1 und des evangelishyschen Gesangbuches Und deren Einfluszlig reicht nun uumlber das Einzelwort weit hinaus Schon in den rhetorischen Figuren werden Anregungen der Kirchenlieder deutlich und ganz unverkennbar wird dieser Tatbestand in den Trostreden der Mutter die Buumlrger nicht nur aus verschieden stark abgewandelten sondern auch aus woumlrtlich aufgenommenen Gesangbuchshyversen zusammengesetzt hat Drei solcher Entsprechungen hat Herben Schoumlffler entdeckt 48 sie koumlnnen soweit vervollstaumlndigt werden daszlig ein luumlckenloses Geflecht kontrafaktischer Beziehungen zwischen den Reden der Mutter und den lutherischen Kirchenliedern sichtbar wird 49

Schon den Zeitgenossen wurden solche Bezuumlge deutlich und Buumlrgers freund Cramer nahm in einem Brief an den Lenoren-Dichter vom Sepshytember 1773 mit einer scherzhaften Parodie die erwartete Kritik vorshyweg Manche Mutter so schrieb er wuumlrde ihr Toumlchterlein mit den Versen warnen Laszlig fahren Kind sein Lied dahin Deszlig hat er nimmermehr Geshywinn Wenn Seel und Leib sich trennen Wird die Ballad ihn brennen Gleich nach dem ersten Abdruck der raquoL e n 0 r elaquo im Goumlttinger Musenshyalmanach auf 1774 wurde solcher Einspruch laut in den Freywilligen Beitraumlgen zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Geshylehrsamkeit unternahm der Consistorialrat Professor Reinhard einen scharfen Angriff auf die Goumlttingischen Gelehrten Anzeigen in denen eine Rezension des Musenalmanachs erschienen war Er erklaumlrte Die ungeachtet mancher poetischen Schoumlnheiten doch wirklich verabscheuensshywuumlrdige Romanze Lenore von Hr Buumlrger kritisiert der Recensent zwar in etwas allein er verstellt den ganzen Gesichtspunkt und das aumlrgerliche und gottlose darin uumlbergeht er mit Stillschweigen oder sucht es zu beshyschoumlnigen Er sagt Die Mutter stelle in diesem Liede der Tochter den erhabensten Trost der Religion vor Fidem vestram Quiritis Die Stroshyphen worin dieses vorkommen soll sind ein so unertraumlgliches Gespoumltte mit den ehrwuumlrdigsten Dingen der christlichen Religion so ein unverzeihshylicher Miszligbrauch biblischer Ausdruumlcke und Lehren daszlig man sich wunshydern muszlig nidlt daszlig Leute sind die schlecht genug denken um dergleichen zu schreiben und solchen Dingen Beyfali zu geben sondern daszlig eine so irgerliche Lieder-Sammlung entweder die Censur passiert ist oder doch nicht oumlffentlich gerugt und verboten wird 5degNun in Wien wurde der

48 Buumlrgers Lenore (Die Sammlung 2 1946 S 6f) Jo Vgl Sdloumlne DVjs XXVIII 1954 S 331 ff 50 Wiederabdruck i Zeitschr f d ges Imh Theologie u Kirche 32 1871 S461

Buumlrger erfuhr durch Cramers Brief vom 7374 von dieser Kritik Strodtmalln druckt im Briefwechsel (I S201) Rheichard merkt an der undeutlidl geschriebene Name

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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Musenalmanach tatsaumlchlich derraquoL e n 0 r elaquo wegen beschlagnahmt und vershyboten wenngleich der eifernde Consistorialrat Reinhard mit seinem Vorshywurf laumlsterlichen Gespoumlttes die aumlngstliche Gesangbuchfroumlmmigkeit der muumltterlichen Trostworte wohl nur unzureichend verstanden hatte

170 Jahre spaumlter war Schoumlffler der erste der in Reinhards Sinne nid1t mehr den ganzen Gesichtspunkt verstellte Er kam dabei freilich zu anderen Ergebnissen nannte die raquoLenorelaquo das alte und doch so selten verstandene Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens und gruumlndete dieses Urteil nicht auf die Worte der Mutter sondern auf die Art in der Buumlrshyger das Maumldchen die Anklaumlnge und Entlehnungen aus dem lutherischen Gesangbuch verwenden lieszlig Daszlig die Worte Gott hat an mir nicht wohlshygethanl eine Antwort auf die aus dem Kirchenlied bezogenen Worte der Mutter sind Was Gott thut das ist wohlgethan daszlig in einer Fruumlhfassung Lcnores Aufschrei

Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Kein 01 mag Glanz und Leben Mags nimmer wieder geben

an Verse aus Dreses raquoSeelenbraumlutigamlaquo erinnert

Meines Glaubens Licht laszlig verloumlschen nicht salbe mich mit Freudenoumlle daszlig hinfort in meiner Seele ja verloumlsche nicht meines Glaubens Licht

das veranlaszligte Schoumlfflers These vom Zerfall eines Gottesglaubens die Aufbegehrende und mit Gott Hadernde so meinte er verdrehe die Worte des Altluthertums ins Negative Aber Lenore begehrt auf gegen die Trostshyversuche einer Mutter die ihrem Schmerz so verstaumlndnislos gegenuumlbershysteht daszlig sie die versteifte Gesangbuchsfroumlmmigkeit ihres Was Gott thut das ist wohlgethan in einem Augenblick anbringt in dem die Tochter dafuumlr wahrhaftig nicht zugaumlnglich sein kann Lenore hadert wie Hiob auf den schon ihre wilde Verzweiflungsgebaumlrde am Ende der vierten Strophe deutete Und der Zusammenhang mit Hiob-Worten ist unvershykennbar Der Tag muumlsse verloren sein darinnen ich geboren bin Ich begehre nicht mehr zu leben Laszlig ab von mir denn meine Tage sind eitel so merkt doch einmal daszlig mir Gott unrecht tut und hat mich mit seinem Jagestrick umgeben 51

koumlnne auch raquoRheinhard oder raquo5chuchard heiszligen vermutet aber daszlig es sich um den Kapellmeister Joh Friedr Reichard handele Daszlig der oben genannte Reinhard gemeint war wird durch das Zitat verabscheuenswuumlrdige Romanze in Cramers Brief sicher

51 Job33 716 196

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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Schoumlffler bezog Lenores Wort Nun fahre Welt und alles hin auf Verse aus Hesses raquo0 Welt ich muszlig dich lassenlaquo

Damit ich fahr von hinnen o Weh tu dich besinnen

Ihrem Aufschrei Der Tod der Tod ist mein Gewinn glaubte er eine Stelle aus Albinus raquoAlle Menschen muumlssen sterbenlaquo zugrunde legen zu koumlnnen

Jesus ist fuumlr mich gestorben und sein Tod ist mein Gewinn

So erkannte er auf Verdrehung und Verlaumlsterung 52bull Aber die Vorbilder dieser beiden gewichtigen Verse finden sich an ganz anderen Stellen des lutherischen Gesangbuches Lenores Nun fahre Welt und alles hin entshyspricht einem Vers aus Schuumltzs raquoWas mich auf dieser Welt beshytruumlbtlaquo

Drum fahr 0 Welt mi t Ehr und Geld und deiner Wollust hin

und ihr Der Tod der Tod ist mein Gewinn o waumlr ich nie geboren

weist in Wahrheit auf die zahlreichen nach Phil1 21 gedichteten Gesangshybuchverse in denen wie etwa in Leons raquoIch hab mich Gott ershygebenlaquo dem Lenoren-Wort entsprechend durchaus der eigene Tod als Gewinn verstanden wird nicht der des Erloumlsers

Der Tod kann mir nicht schaden er ist nur mein Gewinn

Deutlicher noch wird das in Mollers gtAch Gott wie manches Herzeleidlaquo wo es heiszligt

Wenn ich an dir nicht Freude haumltt so wollt den Tod ich wuumlnschen her ja daszlig ich nie geboren waumlr

Damit aber ist eine entscheidende Einsicht gewonnen An beiden Stelshylen werden nicht etwa Worte des Altluthertums durch Lenore laumlsterlich ins Negative verdreht sondern vielmehr ganz in ihrer eigentlichen Beshydeutung aufgenommen Nur - sie werden anders bezogen sie erscheinen als weltliche Kontrafaktur Denn der an dem das Maumldchen nun keine Freude mehr hat der um dessetwillen sie den Tod wuumlnscht und daszlig sie nie geboren waumlre ist nicht wie in den Kirchenlied-Modellen Christus

52 AaO Sl1

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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sondern der Geliebte ist Wilhelm Ganz deutlich wird dieser Gestaltenshytausch am Ende des Gespraumlches zwischen Mutter und Tochter in der elften Strophe die nichts anderes gibt als Lenores woumlrtliche Rede

o Mutter Was ist Seligkeit o Mutter Was ist Houml11e Bei ihm bei ihm ist Seligkeit Und ohne Wilhelm Houml11e -Lisch aus mein Licht auf ewig aus Stirb hin stirb hin in Nacht und Graus Ohn ihn mag ich auf Erden Mag dort nicht selig werden

Die dritte Zeile lehnt sich an Rambachs S e i w i 11 kom m e n Da v i d s Sohnlaquo hier ach hier ist Seligkeit und die beiden letzten die deutshylich an die Strophenschluumlsse

laszlig fahren was auf Erden wi11lieber selig werden

aus Kiels Herr Gott nun schleuss den Himmel auflaquo erinnern entsprechen in ihrem Gehalt ganz dem 25 Vers des 73Psalms Wenn ich nur dich habe so frage ich nichts nach Himmel und Erde Bedarf es noch einer Verdeutlichung dessen daszlig hier nur der Name Wilhelms nur der fuumlnfte und sechste Vers in denen Lenore ihre verzweifelte Folgerung aus seinem Tode zieht im Weg stehen um die ganze Strophe als glaumlubiges Bekenntnis zu Christus erscheinen zu lassen 53 so mag A11endorfs Vers aus Mein Herz ach rede mir nicht dreinlaquo ihr gegenuumlbergeste11t werden

Herr Jesu ohne dich muszlig mir die Welt zur Houml11e werden ich habe hang ich nur an dir den Himmel schon auf Erden

~ L Kaim (G A Buumlrgers Lenore in Weimarer Beitraumlge II 1956-1 hier S 42 f Anm19) zitiert diese Worte aus dem oben (Anm33) erwaumlhnten Aufsatz des Vf und erklaumlrt es werde in ihm versucht den religioumlsen Protest in der Lenore zum relishygioumlsen Bekenntnis umzudeuten dem Gedicht den plebejisch-rebellischen Charakter zu nehmen und Buumlrger als glaumlubigen Christen hinzustellen Sie spricht von einem der Versudle die progressiven Tendenzen der klassischen deutschen Literatur zu leugnen und klerikal zu verfaumllschen (- waumlhrend sie selbst uumlber Schoumlfflers These vom Glaushybenszerfall hinaus die raquoL e n 0 r elaquo als religioumlsen Protest deutet der sich gegen die feudal-absolutistische Gesellschaftsordnung richte und die buumlrgerliche Revolution vorshybereite) Man kann schreibt sie zur Begruumlndung dieser Kritik nicht das Wesentshylichste wissentlich uumlbersehen wenn man ein Gedicht interpretieren moumlchte und das Wesentlichste in dieser [oben zitierten elften JStrophe ist eben daszlig Lenore den Menschen Wilheim an die Stelle Christi gesetzt hat Der kritisierte Aufsatz hat diesen Tatbestand

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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Es liegt nahe zu fragen wie dieser Mann der an die Tuumlr des Maumldchens klopft um mit ihm in den Tod zu reiten und an dessen Erscheinung die allein auf das Volkstuumlmliche zielenden Interpretationsversuche sdleishyterten denn nun eigentlich zu deuten sei Die Anregungen die Buumlrger wie man annehmen darf aus dem niederdeutschen Volkslied empfing lieszligen Wilhelm unter zwei Gesichtspunkten sehen Als derTote erscheint er dort und als der Liebende der zum Wiedergaumlngerwird Beide Wesenszuumlge blieben ihm erhalten in unserer Ballade beide aber wurden ausgeweitet durch eine Gleichsetzung mit anderen Gestalten die des WiedergaumlngershyGeliebten mit dem auferstandenen Christus die des Toten mit dem Tod Beide Verbindungen hat Buumlrger herstellen und kuumlnstlerisch glaubhaft machen koumlnnen durch den Einschub einer gleichsam nach beiden Seiten vermittelnden Zwischengestalt die er jeweils der neutestamentlichen Symbolik entnahm Zwischen den Wiedergaumlnger-Geliebten und Christus schob er den Braumlutigam zwischen den Toten und den Tod den aposhykalyptischen Reiter Eine zweifache Dreieinigkeit bestimmt Wilshyhelms Erscheinung

Fuumlr die Fuumllle der Gleichungen zwischen Lenoren-Versen und Kirchenshyliedzeilen haben wir in Buumlrgers Lebensgeschichte hinreichende aumluszligere Erklaumlrungen gefunden Als er die Ballade dichtete hatte er das Theologiestudium in Halle hinter sich die Schulzeit auf dem Hallenser Koumlniglichen Paumldagogium und vor allem die Kindheit im vaumlterlichen Dorfshypfarrhaus aus der uns durch Althofs Bericht eine houmlchst aufschluszligreiche Mitteilung uumlberkommen ist Der Biograph berichtet naumlmlich Bis in sein zehntes Jahr lernte er durchaus weiter nichts als lesen und schreiben beshyhielt aber mit groszliger Leichtigkeit im Gedaumlchtnisse was er sowohl in der Bibel als im Gesangbume las Er liebte vorzuumlglich die historismen Buumlmer die Psalmen und Propheten am allermeisten aber die Offenbarung Johannis Auch aus dem Gesangbume behielt er viele Lieder die er einige Male gelesen hatte auswendig Seine Lieblingslieder waren Eine feste Burg ist unser Gott Us w 0 Ewigkeit du Donnerwort u w Es ist geshywiszliglich an der Zeit u w und eins das sim anfing Du 0 schoumlnes Weltshygebaumlude u w Er erinnerte sich nom kurz vor seinem Tode der Begeisteshyrung zu welcher ihn das erste jener Lieder oft erhoben hatte und bei einigen Strophen des Liedes Es ist gewiszliglich an der Zeit u s w toumlnten

aber keineswegsraquo wissentlich uumlbersehen sondern ihn ebenso deutlich formuliert wie L K selbst die das von dort uumlbernommene als ihre eigene Gegenthese hinstellt Was sie anshygreift ist in Wahrheit ein von ihr selber zurechtgefaumllschtes Paradebeispiel buumlrgerlichshyreaktionaumlrer Literaturwissenschaft - Diese (in L Kaim-Kloock GA Buumlrger Berlin~ Ost 1963 S343 wiederholte) ibszligerllng h~ll-E5laumlPJgtk=~Jili~~U~lCbe

~tfi1it QuellenkritIK nahezu woumlrtha1aumlbgeschrieben der Vf versucht die LenorT--~ ----zu emem religiosen lekenntniSumzuaeuten und Buumlrger aIsti-nerschuumltterlich glaumlubigen

Christen hinzustellen (A a O S 107 Anrn 18) (

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saiten seiner Seele welche nachher ausgeklungen haben (B 431) Dieses Lied von Bartholomaumlus Ringwaldt das Althof nennt gibt hinsichtlich der Frage welche Stelle schon die Phantasie des Jungen so nachhaltig angeruumlhrt haben koumlnnte durchaus kein Raumltsel auf Nichts anderes kann dafuumlr in Betradlt kommen als die Verse

Posaunen wird man houmlren gehn an aller Welten Ende darauf bald werden auferstehn all Toten gar behende die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

i Bestaumlrkt durch die Tatsache daszlig diese Strophe ganz das gleiche Metrum traumlgt das der fuumlr solche Formfragen houmlchst empfaumlngliche und empfindshyliche Dichter der raquoLenorelaquo zugrunde legte - allein mit dem Untershyschied der bei Ringwaldt fehlenden achten Zeile - geht man gewiszlig nidlt fehl in der Vermutung daszlig Buumlrger mit seiner von Althof berichteten 1tuszligerung einerseits die angefuumlhrte Kirchenliedstrophe andererseits aber die raquoL e n 0 r elaquo im Auge hatte Denn eben hier haben jene Saiten ausshygeklungen die einst das Auferstehungslied in der Seele des Knaben anshyruumlhrte eben hier geht es um Tod und gar behende Wiederkehr um Sterben und Auferstehung und um die gespenstische Verwandlung und V erneuung der Lebenden

Des Maumldchens wilder Schmerz um Wilhelms Tod greift uumlber den Einzelfall hinaus wird zum Klageruf uumlber den Tod selbst und zur Vershyzweiflung an der Auferstehung denn

Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben

Sie klagt wie die Frauen am Grabe Christi klagen um den der gestorben ist und begraben Ohne ihn mag sie weder im Himmel noch auf Erden selig werden denn allein durch ihn ist Seligkeit ohne ihn die Houmllle Schon die Mutter hatte den Braumlutigam Wilhelm und den Seelenbraumlutigam Christus gegeneinander gesetzt Jetzt vollzieht sich in der naumlchtlichen Ankunft des Mannes an dessen Ruumlckkehr ins Leben das Maumldchen nicht mehr geglaubt hatte um dessetwillen die toumlrichte Jungfrau mutwillig ihr Licht ausloumlschen wollte die Verbindung zwischen Wiedergaumlnger und Aufshyerstandenem Bei Nacht kommt der Braumlutigam zur Hochzeit und sieht zu ob die Braut schlaumlft oder wacht Bei den Evangelisten lauten die entshysprechenden Verse Da nun der Braumlutigam verzog [ausblieb] wurden sie alle schlaumlfrig und entschliefen Zur Mitternacht aber ward ein Geshy

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

4 Brief an Boic 20973

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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schrei Siehe der Braumlutigam kommt gehet aus ihm entgegen Die toumlrichten aber sprachen zu den klugen [Jungfrauen] Gebt uns von eurem oumlle denn unsre Lampen verloumlschen (Matth255ff) Lasset eure Lenshyden umguumlrtet sein und eure Lichter brennen Und seid gleich den Menshyschen die auf ihren Herrn warten wann er aufbrechen wird von der [zur] Hochzeit auf daszlig wann er kommt und anklopfet sie ihm alsbald auftun (Luc 1235 f) Und Lenore auch wenn sie ihr Licht verloumlschte ist gleich den Menschen die auf ihren Herrn warten

Geweinet hab ich und gewacht Ach groszliges Leid erlitten Wo kommst du hergeritten

Die Strophe aus Hermans Sterbelied gtWenn mein Stuumlndlein vorshyha n den istlaquo wird auch ohne daszlig woumlrtliche Anklaumlnge auftraumlten in jeder einzelnen Zeile zum genau zutreffenden Ausdruck von Lenores Denshyken und Handeln

Weil du vom Tod erstanden bist werd ich im Grab nicht bleiben mein houmlchster Trost dein Auffahrt ist Tods Furcht kann sie vertreiben denn wo du bist da komm ich hin daszlig ich stets bei dir leb und bin drum fahr ich hin mit Freuden

Mit Wilhelms Auffahrt setzen die Lautmalereien ein die sich nun bis ans Ende der Ballade ziehen Als stilistisches Mittel sind sie dem Bereich des Geisterhaft-Gespenstischen der Erscheinung des Toten zugeordnet Die Worte es klirrt der Sporn hat Buumlrger gegen den Einwurf der Goumltshytinger Freunde verteidigt Mann muszlig sich in den Spornen eines Geshyspenstes eine magische Kraffi vorstelleni4 - der Tote steht unter unshyheimlichen auszligermenschlichen Zwaumlngen Mit dem Vers Ich darf allhier nicht hausen bricht in seine Rede zum ersten Male das Grauenhaft-Geshyheimnisvolle seiner Existenz ein dessen Deutlichkeit sich durch die Zeilen

Wir und die Toten reiten schnell

Hurra die Toten reiten schnell

Die Toten reiten schnelle Wir sind wir sind zur Stelle

immer mehr steigert bis es sich im graumlszliglich Wunder des Endes offenshybart Die Grenze zwischen Leben und Tod scheidet die Bereiche aus denen

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

222

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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Lenore und Wilhe1m zueinander reden dieses unheimliche Gespraumlch zwishyschen der Lebenden und dem Toten das mit dem Anklopfen des Braumlutishygams an die Tuumlr beginnt und dann den ganzen Ritt begleitet bleibt in grauenhaft ironische Miszligverstaumlndnisse verstrickt Sie will den Geliebten zu sich hereinholen fragt nach seinem Kaumlmmerlein nach dem Hodlzeitsshybettchen - er der nur um Mitternad1t satteln darf meint allein das Hochzeitsbett des Grabes nach dem es ihn verlangt Und ihre bedingungsshylose Liebe erliegt dem Trug und folgt ihm nach zu dem naumlchtlichen Ritt

Dreimal ist die Reiterstrophe gesetzt deren gleichlautende zweite Haumllfte auf das Volkslied-Vorbild verweist Und immer wilder wird dieser Ritt immer rasender immer daumlmonisch-uumlbermenschlicher Anger Heide und Land die rechts und links an den beiden voruumlberfliegen Bruumldcen die unter dem Hufschlag donnern das bleibt noch ganz der Wirklichkeit verbunden Aber schon wenn in der zweiten Reiterstrophe rechts und links die Gebirge fliegen geht es uumlber das Menschliche hinaus steigt hinter der Gestalt des Toten der auf seinem wilden Roszlig dahinshystuumlrmt das Bild des apokalyptischen Reiters auf der uumlber die Erde jagt Die dritte Strophe weitet diese schreckensvolle groszligartige Szene ins Kosshymische aus der Himmel und die Erde fliegen mit auf dem unerhoumlrten Ritte Ist ein Ritt wo einem deuumlcht daszlig das ganze Firmament mit allen Sternen oben uumlberhin fliegt nicht eine Shakespearsche Idee - Das merkshywuumlrdigste ist daszlig ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande geshytraumlumt habe schreibt Buumlrger an die Grafen Stolberg 55 bull Als apokalypshytisdle Vision ersdleint hier die Darstellung Der unheimliche Sog des Ritshytes reiszligt das windige Gesindel am Hochgericht diesen houmlllischen Geistershyschwarm mit sich fort Er liebte schrieb Althof am allermeisten aber die Offenbarung Johannis siehe ein fahl Pferd und der drauf saszlig des Name hieszlig Tod und die Houmllle folgete ihm nach (Apoc 6 8) Aber nicht nur der Geisterschwarm auch der Leichenzug mit Kuumlster und Phff der eben noch den Vers aus dem Begraumlbnisliede sang Laszligt uns den Leib begrabence selbst das Wirkliche und Lebendige folgt dem magischen vershywandelnden Anruf des apokalyptisdlen Reiters bei einigen Strophen schrieb Althof toumlnten wie er sagte schon damals ganz dumpf die Saishyten seiner Seele welche nachher ausgeklungen habenlaquo

die aber noch das Leben habn die wird der Herr von Stunden an verwandeln und verneuen

Sdlon durdl das Bild der flattemden Raben schon durch den Vergleich des Grabgesangs mit dem Unkenruf ist die Trauergemeinde einbezogen in die Unheimlichkeit dieser Nacht in der die Geister unterwegs sind Doch erst bei der Begeg11ng mit dem Reiter verstummt ihr Gesang verschwindet

55 Brief von Ende Sept 73

220

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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die Totenbahre fallen die Verbindungen zur Lebenswirklichkeit und wie durch einen Zauberschbg springt der Leichenzug aus der menschlidlen Existenz in den gespenstischen Wirbel hinuumlber wird schrecklich vershywandelt und vernellt in den wilden Geisterschwarm der dem Reiter Tod gehorsam folgt So endet der Ritt bei den Graumlbern

Noch einmal stellen Wilhelms Worte Vollbracht vollbracht ist unser Lauf die untergruumlndige Verbindung zu Christus her zu seinem Es ist vollbracht Dann faumlllt die Huumllle von ihm ab Stundenglas und Hippe werden sichtbar sein wahres Wesen offenbart sich dem grauenhaft irreshygefuumlhrten Maumldchen Die Dreieinigkeit von heimkehrendem Geliebten von Braumlutigam von auferstandenem Christus erweist sich als schreckshylicher Trug eine andere Dreiheit ist an ihre Stelle getreten der Geliebte ist ein Toter der vermeintliche Braumlutigam der apokalyptische Reiter nicht Christus ist Lenore gefolgt sondern dem Tode Das graumlszligliche Wunder der Offenbarung des Todes widerspricht dem seligen Wunder der Verklaumlrung des lebendigen Erloumlsers die unter Geheul und Gewinsel sich vollziehende Abfahrt in die Tiefe scheidet sich von seiner Auffahrt gen Himmel 56 Von hier aus koumlnnen die Verse

Lenorens Herz mit Beben Rang zwischen Tod und Leben

nicht mehr so verstanden werden als ginge es um ihr irdisches Weitershyleben denn schon nach dem Wortlaut der Schluszligstrophe Des Leibes bist du ledig ist unmiszligverstaumlndlich der leibliche Tod ihr TeiL Tod und Leben zwischen denen ihr Herz ringt - die Bedeutung dieser Worte folgt dem Sprachgebrauch des Kirchenliedes

Wie oft bist du in groszlige Not durch eignen Willen kommen da dein verblendter Sinn den Tod fuumlrs Leben angenommen

heiszligt es in Paul Gerhardts raquoDu bist ein Mensch das weiszligt du wohllaquo Diese Verse aber treffen genau das was man als die Laumlsterung als den Frevel Lenores bezeichnet hat und was doch letzten Endes als ein Ver-fehlen einsichtig wird Der himmlische Braumlutigam ihrer Seele dessen Zuumlge das Bild des Geliebten angenommen hatte als der Unbedingtshyheit ihrer Liebe nur noch die christlichen Vorstellungsformen und die glaumlubige Lcidensdlaft zu Nachfolge und Hingabe genuumlgten er ist es der spricht ich bin die Auferstehung und das Leben Der Tote aber der aposhykalyptische Reiter mit Stundenglas und Hippe dem Lenore in Wahrheit

50 Dazu W Wackernage1 raquoJa zuletzt ist es (und wir koumlnnen nicht umhin diese Wenshydung als geschmacklos zu bezeichnen ) zuletzt ist es nicht einmal der Geliebte sonshydern der Tod selbst der sich in Wilhe1ms Leib nur gekleidet hat der Tod in den dieser sich gleichsam verklaumlrt (a a O S424)

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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gefolgt war spricht dem Seelenbraumlutigam antwortend ich bin die Grabshyfahrt und der Tod Zwischen diesem Tod und diesem Leben zwischen Houmllle und Seligkeit ringt Lenores Herz - dem antwortet der letzte Vers der Ballade Gott sei der Seele gnaumldig der den Strophenschluumlssen in Loumlschers 0 Koumlnig dessen Majestaumltlaquo entspricht welche lauten Gott sei mir Suumlnder gnaumldig

Kontrafaktische Saumlkularisation schafft so die hintergruumlndige Gewalt des Gedichtes aus dem Bereich christlichen Sprechens und dem Bildershyschatz der religioumlsen Texte stammt das uumlberwirkliche Grauenerregende Wunderbare Inkommensurable das in Buumlrgers Versen lebtA WSchlegel hat - als er in seinem Buumlrger-Aufsatz die Gleichsetzung der vom Dichshyter postulierten Popularitaumlt mit einer vo1lkommenen Einsichtigkeit anshygriff von solchen Bezuumlgen manches gespuumlrt er schrieb daszlig die Poesie aus den Tiefen des Unbegreiflichen hervorgehe und dieses Unbegreifliche niemals voumlllig aufloumlsen wolle Beispiele wahrer Popularitaumlt entdeckte er so in der Bibel und dem alten Kirchenlied - weil in ihnen etwas lebe was das Gemuumlth ploumltzlich trifft und es in die Mitte desjenigen versetzt was ihm durch foumlrmliche Belehrung nicht zugaumlnglich werden wuumlrde Mit einem Wort wer fuumlr das Volk etwas schreiben will das uumlber dessen irdische Beduumlrfnisse hinausgehen soll darf in der weiszligen Magie oder in der Kunst der Offenbarung durch Wort und Zeichen nicht unerfahren seyn (B 507)

Auch fuumlr den Dichter der raquoLenorelaquo gaben die Bibel und das Kirchenshylied Beispiele wahrer Popularitaumlt - ja sie wurden Ursprung und Que1le seiner weiszligen Magie Dabei bleibt es unerheblich ob diese Obershytragungen in seiner bewuszligten Absicht lagen oder nicht Das Zustandeshygekommene allein ist maszliggeblich und leidet keine Einbuszlige wenn offenshybar Ungewolltes und Unbewuszligtes zum Gelingen beitrug Aber Buumlrgers eigener von Althof uumlbermittelter Hinweis auf das Ringwaldtsche Lied gibt neben den weniger deutlichen Zeugnissen die wir angefuumlhrt haben doch Anlaszlig zu der Vermutung daszlig jene Transpositionen hier die Schwelle des Unbewuszligten uumlberschritten haben Und in den raquoFragmenten und Herzensergieszligungen uumlber Poesie und Kunstlaquo hat er spaumlter hinter die Geschehnisse in der raquo L e no r elaquo noch einmal ausdruumlcklich das Geheimnis der christlichen Mysterien gestellt Wie viel soll man nun von euerm Glauben an Religions-Geheimnisse halten schreibt er raquoZur Beshyherzigung an die Philosophunculoslaquo wenn ihr die anderen weil ihr sie nicht verstehet fuumlr Undinge anbetet Warum sollen euch die Gestalten abgeschiedener Menschen oder uumlberirdischer Wesen nicht ershyscheinen koumlnnen da ihr an die Fortdauer der Seelen der ersten und Wiederauferweckung ihrer Leiber glaubet Warum soll es keine Wirshykungen aus Ursachen geben deren Zusammenhang nicht in dicken

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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schweren Hemmkette oder einem Ankerseile euern groben Sinnen betastshybar ist (B 323)

Das Lied vom Zerfall eines Gottesglaubens hatte Schaumlffler in der Ballade gesehen denn er [Buumlrger] glaubte das ganze Zeug nicht mehr Wie sehr diese Deutung den eigentlichen entscheidenden Sachverhalt vershystellt ist einsichtig geworden7 Was aber ihre biographische Begruumlnshydung betrifft so ist auch hier uumlber Glaubensfragen schwer zu entscheiden Es gibt Zeugnisse die anders urteilen lassen Wenn Buumlrger seinem Vershyleger Dieterich schreibt Glaube doch deine Tochter und wir alle sind in Gottes Hand Ist es ihr und dein Gewinn so sey fest uumlberzeuumlgt daszlig du sie behaumlltst das Lebensfuumlnkchen mag auch jetzt noch so schwach glimshymen Nimmt sie dir aber Gott weg nun so kannst du auch sicher glauben daszlig es weder zu ihrem noch deinem und der Deinigen Besten gereichte noch laumlnger zu leben Du kennst mich wohl keineswegs als einen Kopfshyhaumlnger und Andaumlchtler Aber desto sicherer kannst du mir zutrauen daszlig ich an die obige Wahrheit fest und maumlnnlich glaube (30 7 82) so bekennt er sich ja entgegen Schoumlfflers Behauptung ganz zu der gleichen Wahrshyheit die den Reden der Lenoren-Mutter zugrunde liegt Gewiszlig sind ihre Worte kein Bekenntnis des Dichters Diese Kontrafaktur (und das gilt fuumlr kontrafaktische Gestaltung uumlberhaupt) setzt einerseits zwar die voumlllige Aufloumlsung der Kodifikation voraus beruht aber andererseits gerade darauf daszlig die Bedeutungskraft und Vorbildlichkeit des religioumlsen Bereiches erhalten bleibt denn nur dann vermag das Kunstwerk aus ihm die eigene Steigerung und Vertiefung zu gewinnen Es ist uumlberaus beshyzeichnend fuumlr diesen Sachverhalt wenn Buumlrger am 18Februar 1774 ein Jahr also nach der Entstehung seiner raquoLenorelaquo uumlber Dorette Leonhart an Gleim schreibt Die Welt hat fuumlr mich nur zwei Theile den wo Sie ist und den wo Sie nicht ist Jener ist der himmlische Freuumldensaal und dieser das dunkle J ammerthal Denn hier wird ganz der gleiche Dbershytragungsvorgang deutlich der die Worte der Lenore bestimmt Und geradezu beklemmend erscheint diese biographische Kontrafaktur der eigenen Dichtung wenn er zwei Monate nach dem Tode Mollys an Boie das groszlige Bekenntnis seiner Liebe zu der Verstorbenen schreibt und darin zweimal die Worte der Lenore gleichsam zitiert hin ist ja nun hin Verlohren ist verlohren (1631786)

Aber der Balladendichter war kein Kopfhaumlnger und Andaumlchtler ihm war die AlltagsleyerMelodey durchaus nicht mehr das Wichtigste und in dem innren Seelenstuumlckchen seiner raquoLenorelaquo ging es ihm weder um die Erhaltung des alten Gottesglaubens noch um seinen Zerfall sondern vielmehr darum daszlig die kirchlich-dogmatische Versicherung wie sie in der versteiften Gesangbuchsfroumlmmigkeit der Mutter vertreten ist nicht

57 Vgl dazu S 295 ff

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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mehr ausreicht den unendlichen Schmerz des liebenden Maumldchens um den Verlust des Geliebten zu stillen darum daszlig die Gewalt ihrer Leishydenschaft alle Inbrunst die der Christ auf den Erloumlser richtet alle Klage mit der er seinen Tod beweint alle Freude mit der er seine Aufshyerstehung und Verklaumlrung feiert alle an Christus gebundene Gewiszligheit um Seligkeit oder Verdammnis nun auf den Geliebten wirft Denn aus dieser Umsetzung bezieht seine Ballade ihre eigentliche Kraft Nicht Glaubenszerfall ist hier gedichtet sondern jene Unbedingtheit der Liebe die in tragiso1e Verfehlung stuumlrzt die in dem Toten den heimkehrenden Lebenden im apokalyptischen Reiter den Braumlutigam der sie zur Hochshyzeit fuumlhrt im Tod das Leben und die Seligkeit zu finden glaubt Auch darin mag man noch eine Gotteslaumlsterung sehen - aber es waumlre nicht die weldle Wackernagel als Grundidee des Gedichtes feststellen wollte sonshydern die gleiche deren Buumlrger sich auch seinem Brief uumlber Molly schuldig machte und die er zeitlebens ohne Scheu begangen hat die der Verwenshydung des heiligen Wortes fuumlr eine weltliche Sache

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