SMETANA - Die Münchner Philharmoniker · KILAR »Orawa« für Streichorchester LUTOSŁAWSKI...

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KILAR »Orawa« für Streichorchester LUTOSŁAWSKI Konzert für Orchester SMETANA »Vyšehrad«, »Vltava« (Die Moldau) und »Šárka« aus dem Zyklus »Má Vlast« (Mein Vaterland) URBAŃSKI, Dirigent Sonntag 14_02_2016 11 Uhr Dienstag 16_02_2016 20 Uhr Mittwoch 17_02_2016 20 Uhr

Transcript of SMETANA - Die Münchner Philharmoniker · KILAR »Orawa« für Streichorchester LUTOSŁAWSKI...

KILAR»Orawa« für Streichorchester

LUTOSŁAWSKIKonzert für Orchester

SMETANA»Vyšehrad«, »Vltava« (Die Moldau) und »Šárka« aus dem Zyklus »Má Vlast« (Mein Vaterland)

URBAŃSKI, Dirigent

Sonntag14_02_2016 11 UhrDienstag16_02_2016 20 UhrMittwoch17_02_2016 20 Uhr

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118. Spielzeit seit der Gründung 1893

VALERY GERGIEV, ChefdirigentPAUL MÜLLER, Intendant

WOJCIECH KILAR»Orawa« für Streichorchester

WITOLD LUTOSŁAWSKIKonzert für Orchester

1. Intrada: Allegro maestoso2. Capriccio notturno e Arioso: Vivace

3. Passacaglia, Toccata e Corale: Andante con moto – Allegro giusto

BEDŘICH SMETANADrei Tondichtungen aus dem symphonischen Zyklus

»Má Vlast« (Mein Vaterland)

1. »Vyšehrad«2. »Vltava« (Die Moldau)

3. »Šárka«

KRZYSZTOF URBAŃSKIDirigent

Eine Aufzeichnung der Konzertserie durch den Bayerischen Rundfunk

wird am Mittwoch, dem 24. Februar 2016, ab 20.03 Uhr auf BR KLASSIK gesendet.

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Wojciech Kilar: »Orawa«

Hommage an die Karpaten

MARTIN DEMMLER

WOJCIECH KILAR(1932–2013)

»Orawa« für Streichorchester

LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN

Geboren am 17. Juli 1932 in Lwiw (Lemberg)/ Ukraine; gestorben am 29. Dezember 2013 in Katowice (Kattowitz) / Polen.

ENTSTEHUNG

Wojciech Artur Kilar komponierte »Orawa« im Jahr 1986 und veröffentlichte das etwa 10-minütige Werk zunächst in einer Fas-sung für Streichorchester. Nach dem großen Erfolg der Uraufführung erstellte Kilar auch Versionen für zahlreiche andere instrumen-tale Besetzungen; »Orawa« zählt heute zu seinen beliebtesten und meist gespielten Schöpfungen. Die originelle Mischung aus energiegeladener volksmusikalischer Tradi-tion und minimalistischen Strukturen nimmt unmittelbar gefangen.

URAUFFÜHRUNG

Am 10. März 1986 im südlich von Krakau in den Karpaten gelegenen Erholungsort Zakopane (Polska Orkiestra Kameralna – die heutige Sinfonia Varsovia – unter Leitung von Wojciech Michniewski).

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Wojciech Kilar auf dem Gipfel des Szpiglasowym in den Karpaten (1975)

Wojciech Kilar: »Orawa«

Hommage an die Karpaten

MARTIN DEMMLER

EIN GRUSS AUS POLEN

Polnische Komponisten haben in den Jahren nach Ende des Zweiten Weltkrieges einen entscheidenden Beitrag zur europäischen Avantgarde geleistet. Neben Witold Lu-tosławski, Witold Szalonek, Bogusław Schaeffer und Krzysztof Penderecki gehör-te in jenen Jahren auch Wojciech Kilar zu den Vertretern der polnischen Moderne. Seine Werke wurden damals mit großem Er-folg bei dem renommierten Festival »War-schauer Herbst« aufgeführt, dem wichtigs-ten Zentrum für moderne Musik in Osteuro-pa. Doch später setzte er diesen Weg nicht fort, sondern wandte sich einer eher an der Volksmusik und einfachen melodischen Strukturen orientierten Musik zu. Heute sind es vor allem die Werke aus seiner spä-teren Schaffenszeit, die noch häufig in den Konzertsälen zu hören sind.

ANFÄNGE ALS AVANTGARDIST

Geboren 1932 im ukrainischen Lwiw, stu-dierte Wojciech Kilar Klavier und Komposi-tion an der Musikakademie in Katowice, wo Boresław Szabelski und Władysława Mar-kiewiczówna zu seinen Lehrern zählten. Nach Abschluss seiner Studien führte ihn ein Stipendium des französischen Staats nach Paris, wo er seine Ausbildung bei Na-dia Boulanger fortsetzte. Lange betrachte-te er die französische Hauptstadt als seine zweite Heimat. Zurück in Polen, etablierte er sich bald als einer der führenden Kompo-nisten seines Landes. Er erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen für sein Schaf-fen, darunter den Lili Boulanger Memorial Fund Award, den Preis des polnischen Kom-ponistenverbandes und den A.S.C.A.P. Award in Los Angeles.

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ZWISCHEN ERNSTER UND UNTERHALTSAMER MUSIK

Nach seinen Anfängen als Vertreter der Avantgarde in den 1950er und 1960er Jah-ren kümmerte sich Kilar kaum noch um die Grenzen zwischen ernster und unterhaltsa-mer Musik. In seinen Arbeiten können ganz unterschiedliche Idiome zum Tragen kom-men. Er kannte keine Berührungsängste, was den Umgang mit der Tradition betraf. Neben Werken im spätromantischen Tonfall und Experimenten mit minimalistischen Techniken oder Adaptionen osteuropäi-scher Folklore machte er sich vor allem auch als Filmkomponist einen Namen. Er schrieb die Musik zu zahlreichen Filmen wie Roman Polanskis »Der Tod und das Mädchen« und »Der Pianist«, wofür er auch den französi-schen Filmpreis César erhielt, Francis Ford Coppolas »Bram Stoker’s Dracula« oder zu Jane Campions »The Portrait of a Lady«, um nur einige der bekannteren zu nennen. Die-se Arbeiten ermöglichten ihm ein relativ sorgenfreies Leben als freischaffender Komponist. Wojciech Kilar starb 2013 in Ka-towice.

VERANKERUNG IN DER TRADITION

Als sich Wojciech Kilar in den 1970er und 1980er Jahren einer deutlich einfacheren Tonsprache zuwandte, stand er damit kei-neswegs alleine. Im westlichen Europa machten die Komponisten der sogenannten »Neuen Einfachheit« auf sich aufmerksam. Expressivität und Subjektivität erlebten eine Art Renaissance, etwa in den Werken von Wolfgang Rihm, Manfred Trojahn oder Wilhelm Killmayer. Auch in Osteuropa war diese Tendenz spürbar. Neben Kilar waren es dort vor allem Henryk Gorecki oder der

Este Arvo Pärt, die in archaisch anmutenden Werken Linien der Tradition wiederzubele-ben versuchten. Doch anders als Gorecki, der etwa in seinen »Drei Stücken im alten Stil« den Rückgriff auf vergangene musika-lische Epochen ausdrücklich thematisierte, war für Kilar die Verwendung eines einfa-cheren Idioms keine bewusste ästhetische Entscheidung, sondern eine Selbstver-ständlichkeit. Die Beschäftigung mit der Tradition bis hin zur Volksmusik hatte von jeher zu seinem kompositorischen Fundus gezählt. Daneben etablierte sich in jenen Jahren auch die »minimal music«, die die komplexen Modelle der seriellen Musik durch repetitive Strukturen und übereinan-der geschichtete Muster ablöste. In ihr fand Kilar einen Anknüpfungspunkt für sein ei-genes Schaffen.

FOLKLORISTISCHE ELEMENTE

»Orawa« für Streichorchester entstand 1986 und bildet den Abschluss einer kleinen Werkserie, die auf Volksmusik aus Kilars Heimat basiert. Hier ist es die Musik aus der Region Orava an der polnisch-slowakischen Grenze, die im Zentrum steht. Diese Ge-birgslandschaft der westlichen Karpaten mit ihren ausladenden Weiden und Wäldern, ihren Gipfeln und Tälern, diente ihm als In-spirationsquelle, wobei die Volksmusik die-ser Region über weite Strecken das musika-lische Fundament bildet. Kilar benutzt ganz handfeste musikalische Muster, um die Klangwelt Oravas lebendig werden zu las-sen. Eingebettet wird diese in einen zu-nächst fast minimalistischen Tonsatz, der sich aus einfachsten melodischen Elemen-ten zusammensetzt. Einzelne Streicher-figuren beginnen fast zögernd, bevor sich das Geschehen zunehmend verdichtet.

Wojciech Kilar: »Orawa«

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Dass Kilar ein hervorragender Filmmusik- Komponist war, ist auch in dieser Partitur deutlich herauszuhören. Denn er versteht es wie wenige seiner Zunft, dramaturgische Entwicklungen spannungsreich und vielsei-tig zu gestalten: Zum zunächst eher flächi-gen Satz treten in »Orawa« immer neue Elemente der Folklore – einzelne melodi-sche Wendungen, ein harmonisches Funda-ment, ein Bordun-Bass. Obwohl für klassi-sches Streichorchester komponiert, stellt sich der Klangeindruck einer ländlichen Blaskapelle ein. Dieser Volksmusikton ge-winnt zunehmend an Kontur und bestimmt schließlich den musikalischen Satz weitge-hend. Dabei hebt sich Kilar einen besonde-ren Gag bis zum Schluss auf.

WELTWEITER HIT IM KONZERTSAAL

Seit der Uraufführung 1986 in Zakopane hat sich »Orawa« zu einem regelrechten Hit in den Konzertsälen entwickelt. Die Vielzahl von Arrangements ist dafür ein eindrückli-cher Beleg. Die Spontaneität, Energie und Lebendigkeit dieser Musik nehmen unmit-telbar gefangen. Kilar selbst, der lange von einem Stück geträumt hatte, das von einer ländlichen Musikkapelle inspiriert sein soll-te, hat »Orawa« außerordentlich geschätzt. In einem Interview bekannte der Kompo-nist: »Dies ist ein Stück für eine erweiterte Volksmusikgruppe und eines der wenigen Beispiele, wo ich wirklich glücklich mit mei-ner Musik war.«

Wojciech Kilar: »Orawa«

Wojciech Kilar (3.v.r.) und Henryk Gorecki (2.v.l.) nach der Uraufführung von »Orawa« in Zakopane am 10. März 1986

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Solo für AlleSUSANNE STÄHR

Witold Lutosławski: Konzert für Orchester

WITOLD LUTOSŁAWSKI(1913–1994)

Konzert für Orchester

1. Intrada: Allegro maestoso2. Capriccio notturno e Arioso: Vivace 3. Passacaglia, Toccata e Corale: Andante con moto – Allegro giusto

LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN

Geboren am 25. Januar 1913 in Warschau / Polen; gestorben am 7. Februar 1994 in War-schau.

ENTSTEHUNG

Ende der 1940er Jahre befand sich Witold Lutosławski in einer schwierigen Situation. Seine 1. Symphonie, die im April 1948 urauf-geführt worden war, wurde von den kommu-nistischen Machthabern in Polen als »for-malistisch« abgeurteilt und im Folgejahr verboten. Als er 1950 den Auftrag des Diri-genten Witold Rowicki erhielt, ein an-

spruchsvolles Orchesterwerk für die wie-dergegründete Warschauer Philharmonie zu schreiben, erschien ihm dies wie ein Ret-tungsanker: »Dieser Vorschlag war für mich ein Ausweg«, urteilte Lutosławski. »Er half mir dabei, meine psychische Krise zu über-winden. Ich begann mit der Arbeit und brauchte vier Jahre, um das Konzert für Or-chester zu vollenden.« Mit dem Titel folgte er Béla Bartóks gleichnamigem Werk aus dem Jahr 1943 und setzte analog zu diesem Vorbild alle Instrumente des Orchesters exponiert und quasi-solistisch ein.

WIDMUNG

Lutosławski widmete seine Partitur dem Auftraggeber der Komposition, dem polni-schen Dirigenten Witold Rowicki (1914–1989), damals Chefdirigent der wiederge-gründeten Warschauer Philharmonie.

URAUFFÜHRUNG

Am 26. November 1954 in Warschau (War-schauer Philharmonie unter Leitung von Witold Rowicki).

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Witold Lutosławski: Konzert für Orchester

AM ABGRUND DER GESCHICHTE

Als der Zweite Weltkrieg endlich vorüber war und Polen von der deutschen Besat-zung befreit, da hoffte auch Witold Lu-tosławski für sich persönlich, für seine Ar-beit als Komponist, auf bessere Zeiten. Turbulent genug war sein Leben bis dahin verlaufen – schon als Kind hatte er die Aus-wirkungen der Zeitläufte und der Politik am eigenen Leib zu spüren bekommen. Als er zwei Jahre alt war, im Kriegsjahr 1915, zog seine Familie, die aus altem Landadel stammte, auf der Flucht vor den Deutschen nach Moskau. Dort war sein Vater, ein Agrar-ökonom, in der polnischen Unabhängig-keitsbewegung tätig, aber genau das weck-te nach der Oktoberrevolution den Argwohn der Bolschewiki: Józef Lutosławski wurde inhaftiert und erschossen, noch ehe es überhaupt zu einem Gerichtsprozess ge-kommen war. Gut zwanzig Jahre später ge-riet Sohn Witold dann selbst in höchste Gefahr. Als die deutsche Wehrmacht 1939 sein Heimatland überfiel, wurde er zum Mi-litärdienst eingezogen und gelangte schon nach drei Wochen in deutsche Kriegsgefan-genschaft. Wie durch ein Wunder glückten ihm die Flucht und die Rückkehr nach War-schau, die er zu Fuß antrat, über lange 400 Kilometer. Freilich musste er in der von deutschen Truppen eingenommenen Haupt-stadt fortan in der Halblegalität leben – sein Brot verdiente er sich als Pianist in Kaffee-häusern oder als Klavierbegleiter von Schlagersängern. Doch seinen Traum von einem Studium in Paris konnte Lutosławski nur noch begraben, und eine Möglichkeit, Werke von höherem kompositorischem An-spruch zu schreiben und zur Aufführung zu bringen, die gab es auch nicht.

DIE NEUE ZEIT

Die Freiheit, die sich Lutosławski für die Nachkriegszeit erhofft hatte, erwies sich indes als trügerisch, denn nun geriet er in die Schusslinie der neuen, der kommunisti-schen Machthaber. 1949 wurde seine Erste Symphonie, die ihn sieben Jahre Arbeit ge-kostet hatte, als »formalistisch« gebrand-markt und verboten. »Nach der letzten Auf-führung in der polnischen Staatsphilharmo-nie soll der damalige Minister für Kultur im Dirigentenzimmer gesagt haben, dass man einen solchen Komponisten wie mich unter die Straßenbahn werfen sollte«, erinnerte sich Lutosławski später. »Und das Interes-sante dabei ist, er meinte es nicht im Scherz, sondern er war ehrlich empört !« Allerdings stand Lutosławski vor dem Di-lemma, dass er weder über eine feste An-stellung noch über einen Schülerkreis ver-fügte, der seinen Lebensunterhalt hätte gewährleisten können; seine Einnahmen bezog er allein aus der kompositorischen Arbeit. In dieser Situation suchte er Zuflucht bei verschiedenen Genres der Gebrauchs-musik: Er arrangierte Volks-, Weihnachts- und Kinderlieder, schrieb Soldatenchöre, pädagogische Werke für den Klavierunter-richt oder polnische Tänze für Schulorches-ter. Die Regierung wertete diese Arbeiten als Ausweis seiner gewachsenen Reife und als Einsicht in die Maximen des sozialisti-schen Realismus. Lutosławski selbst sah es nüchterner. Er habe diese Stücke immerhin mit Vergnügen geschrieben, gab er 1988 der »New York Times« zu Protokoll: »Es bot mir Gelegenheit, einen charakteristischen Stil auszuprägen, der folkloristische Elemente mit atonalen Kontrapunkten und Harmonien verbindet.«

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Witold Lutosławski (Oktober 1946)

Witold Lutosławski: Konzert für Orchester

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LIEDER AUS MASOWIEN

Als ihn 1950 der polnische Dirigent Witold Rowicki bat, ein großes Orchesterwerk für die gerade erst wiedergegründete War-schauer Philharmonie zu schreiben, moch-te Lutosławski dieser Auftrag wie ein Ge-schenk des Himmels erschienen sein. Er setzte sich zum Ziel, als Hommage an die-sen Klangkörper eine Partitur zu schaffen, die alle Instrumentengruppen mit ihren charakteristischen Klangfarben und vir-tuosen Möglichkeiten ins beste Licht rücken sollte. Deshalb schrieb er sein Kon-zert für Orchester, das auf einen Solisten verzichtet, dafür aber sämtliche Musike-rinnen und Musiker prägnant in Szene setzt. Das Vorbild dabei lag auf der Hand – denn wer denkt bei diesem Titel nicht an Béla Bartók und sein gleichnamiges Werk, das 1943 im amerikanischen Exil entstan-den war, für das fabelhafte Boston Sym-phony Orchestra. Tatsächlich haben Lu-tosławskis und Bartóks Konzert für Or-chester einiges gemeinsam, voran ihren Rückbezug auf die traditionelle Volksmu-sik. Aber während Bartók nur bestimmte Melodiefloskeln, rhythmische Formeln oder harmonische Verläufe als Grundmus-ter nahm, um sie frei seiner eigenen Klang-sprache anzuverwandeln, pflegte Lutos-ławski durchaus die Praxis des wörtlichen Zitats: Er verwendete acht Themen aus einer von Oskar Kolberg im späten 19. Jahr-hundert zusammengetragenen Sammlung mit Liedern aus Masowien, also der Region um Warschau, die er über das ganze Werk verteilte, kontrapunktisch auslotete, kraft voll rhythmisierte und mit raffinier-ten, farbenreichen Harmonien unterlegte. Das erste dieser Themen erklingt gleich im zweiten Takt des Kopfsatzes, und zwar zu-nächst in den Violoncelli: Es ist eine Weise

aus dem Dorf Czersk, die mehrfach wieder-holt wird und dabei durch die verschiede-nen Instrumente wandert.

DER »SACRE« UND DAS ZDF

Dass sich Lutosławski bei der Komposition seines Konzerts für Orchester ohnehin an der Tradition orientierte, belegen schon die Titel der drei Sätze, die auf barocke Formen zurückgreifen: »Intrada«, »Capriccio not-turno e Arioso« und »Passacaglia, Toccata e Corale«. Aber auch andere Vorbilder ge-ben sich zu erkennen. Die stampfenden Rhythmen und brillanten Holzbläsereinwür-fe, die sich in der »Intrada« an das folkloris-tische Eingangsthema anschließen, verra-ten eine Nähe zu Igor Strawinsky und sei-nem »Sacre du printemps« (ältere Hörerin-nen und Hörer erinnern sich vielleicht noch, dass diese Passage fast zwanzig Jahre lang, bis 1988, als »Erkennungsmelodie« des ZDF-Magazins diente). Doch Lutosław-ski überführt diese perkussive und bedroh-liche Musik zu einer breit angelegten und pathetisch aufgeladenen Apotheose, die fast etwas broadwayhaft anmutet. Am Ende des Satzes aber steht wieder die Volkslied-weise aus Czersk, nun silbrig hingetupft über zarten Tonrepetitionen der Celesta und gläsernen Flageoletts.

VERSCHWIEGENE NAMEN

Als surreales Nachtstück – darin folgt er wieder einer Vorliebe Béla Bartóks – legt Lutosławski den zweiten Satz an, das »Capriccio notturno«, das mit schwirren-den und flirrenden Motiven der mit Dämpfer spielenden Violinen und Bratschen anhebt, mit atemlos schnellen, abermals der Volks-musik entlehnten Figurationen, die einan-der zu jagen scheinen. Nur im Mittelstück,

Witold Lutosławski: Konzert für Orchester

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Witold Lutosławski: Konzert für Orchester

dem »Arioso«, gibt Lutosławski einem brei-teren, liedhaften Thema Raum, das er auf einen dynamischen Höhepunkt im dreifa-chen Fortissimo treibt, ehe erneut das Ge-wisper des Anfangsteils die Oberhand ge-winnt. An einen Mückenschwarm mag man da denken, besonders am Ende, wenn Lu-tosławski die rhythmische Grundstruktur der Motivik nur noch der Rührtrommel und der Großen Trommel überlässt, also zwei reinen Geräuschinstrumenten – vielleicht der avantgardistischste Moment des ge-samten Konzerts. Zögerlich setzt darauf in der Harfe und den Kontrabässen das Thema der finalen Passacaglia ein, das Lutosław-ski durch fünfzehn Variationen führt und mit magisch beschwörenden Instrumental-soli garniert. Danach erklingt erstmals das Thema des leuchtenden, verklärenden Cho-rals, das zwar zunächst noch einmal von einer aufgepeitschten Toccata vertrieben wird, schließlich aber die Oberhand ge-winnt: abermals eine Reverenz an Bartók, der im zweiten Satz seines Konzerts für Orchester ebenfalls einen Choral anstimmt. Ganz am Ende aber lässt Lutosławski un-überhörbar und etliche Male das Mono-gramm des Komponisten Dmitrij Schosta-kowitsch ertönen, die in Noten übertrage-nen Initialen D-Es-C-H, und huldigt damit einem Musiker, den er, der genauso wie sein russischer Kollege von den Kultur-wächtern des sozialistischen Realismus gegängelt worden war, als einen Leidens-genossen empfand. An diesem Punkt aller-dings setzt sich Lutosławski von Bartók ab, der in seinem Orchesterkonzert ein Schostakowitsch-Zitat aus der »Leningra-der Symphonie« ganz bewusst als Persifla-ge (und Kritik) verwendet hatte.

DISTANZIERUNG

Trotz aller Querbezüge: Als Witold Lu-tosławski in den sechziger Jahren gefragt wurde, welcher ältere Komponist ihn am meisten beeinflusst habe, fehlte zunächst der Name Bartók. Erst als der Gesprächs-partner nachhakte und Lutosławski direkt auf den Ungarn ansprach, ließ er sich das Zugeständnis abringen, dass Bartók fraglos »eine Schlüsselfigur der Musik des zwan-zigsten Jahrhunderts« sei. Zugleich beton-te er: »Offen gesagt, ich interessiere mich nicht so sehr für die von der Folklore inspi-rierte Seite von Bartóks Schaffen, denn sie ist unter musikgeschichtlichem Aspekt we-niger relevant. Vielleicht aber war Bartók unter seinen Zeitgenossen der einzige, der die Beethovenschen Höhen des menschli-chen Denkens und Fühlens erklommen hat.« Auch zu seinem frühen Konzert für Orches-ter hegte Lutosławski, nachdem er sich ab 1960 dem Serialismus und der Aleatorik zugewandt hatte, ein eher distanziertes Verhältnis. Immerhin räumte er ein, dass er nicht umhin könne, das Werk unter seine »wichtigsten Kompositionen einzureihen«. Die Trennlinie zwischen Klassik und Avant-garde verlaufe »zwischen Werken mit blei-bendem, autonomem, zeitlosem Wert und solchen, die für die Entwicklung der Spra-che, des Stils, der Ästhetik zum jeweiligen kunsthistorischen Zeitpunkt Bedeutung haben«, erklärte er außerdem. Folgt man dieser Definition, hat Witold Lutosławski mit seinem Konzert für Orchester zweifellos einen Klassiker geschaffen.

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»Gedanken und Gefühle beim Anblick der

böhmischen Heimat«PETER ANDRASCHKE

Bedřich Smetana: »Má Vlast«

BEDŘICH SMETANA(1824–1884)

Drei Tondichtungen aus dem symphoni-schen Zyklus »Má Vlast« (Mein Vaterland)

1. »Vyšehrad«2. »Vltava« (Die Moldau)3. »Šárka«

LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN

Geboren am 2. März 1824 in Lytomyšl (Böh-men); gestorben am 12. Mai 1884 in Prag.

ENTSTEHUNG

Smetana hat »Má Vlast« (Mein Vaterland) vermutlich von Beginn an als Zyklus konzi-piert, denn er komponierte die sechs Teile nacheinander in der endgültigen Reihenfol-ge in den Jahren 1874 bis 1879. Die Idee zu dem Projekt reicht möglicherweise bis 1867 zurück. Wie Moric Anger, der damals Geiger unter Smetana am Interimstheater in Prag war, berichtet, soll Smetana durch den An-blick der beiden Moldau-Quellen dazu an-geregt worden sein. Die Abschlussdaten der einzelnen Kompositionen lauten für »Vyšehrad« 18. November 1874, für »Die Moldau« 8. Dezember 1874, für »Šárka« 20. Februar 1875, für »Aus Böhmens Hain und Flur« 18. Oktober 1875, für »Tábor« 13. De-zember 1878 und für »Blaník« 9. März 1879. Eine größere Unterbrechung von drei Jahren findet sich nach 1875. In dieser Zeit sind u. a. die Opern »Der Kuss«, »Das Geheimnis«

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Bedřich Smetana: »Má Vlast«

und das Streichquartett e-Moll »Aus mei-nem Leben« entstanden. Vielleicht sind die beiden letzten Kompositionen erst danach geplant worden, denn sie bilden musika-lisch und gedanklich eine thematische Ein-heit, und in seinem privaten Werkverzeich-nis von 1875 hatte Smetana neben die Titel der bereits fertiggestellten vier Stücke die Bemerkung »Geschaffen als Ganzes« no-tiert. Smetana war im Oktober 1874 bereits völlig ertaubt und hat »Má Vlast« folglich ohne jedes Gehör komponiert.

URAUFFÜHRUNG

Gesamter Zyklus: Am 5. November 1882 in Prag (Orchester des Königlich-Tschechischen Landestheaters unter Leitung von Adolf Čech); das Orchester war verstärkt durch Laienmusiker und Mitglieder der sog. »Phil-harmonie«, die sich aus Musikern des tsche-chischen und deutschen Theaters in Prag zusammensetzte. Einzelne Teile des Zyklus hatte Čech bereits vorher in Prag zur Auffüh-rung gebracht: »Vyšehrad« und »Die Mol-dau« am 4. April 1876, »Tábor« und »Blaník« in einem Festkonzert am 4. Januar 1880 zu Ehren Smetanas in Erinnerung an sein erstes öffentliches Auftreten in Prag vor 50 Jahren. Über die erste Aufführung des Gesamtzyklus berichtet Václav Vladimír Zelený voll patrio-tischer Begeisterung: »Die grandiosen Ton-bilder, aus denen sich ›Mein Vaterland‹ zu-sammensetzt, sind seit sieben Jahren, seit der Uraufführung des ›Vyšehrad‹ und seit Smetanas Konzert im Jahre 1875, die größte Zierde unserer Konzertprogramme. Aber nun lernten wir sie erst als gewaltiges Ganzes, als ein einheitliches Werk verstehen, als die größte dichterische Schöpfung Smetanas, als die stolzeste Huldigung, die je ein schöp-ferischer Geist seinem Vaterlande darge-bracht hat.«

SMETANA, LISZT UND DIE »SYMPHONISCHE DICHTUNG«

Mozart, Beethoven, Schumann und Chopin waren für Smetana zunächst wichtige Vor-bilder, doch am stärksten wirkten auf ihn Richard Wagner und Franz Liszt. Insbeson-dere Liszt war ihm »mein Meister, mein Muster, und für alle wohl ein unerreichbares Vorbild.« Dies gilt vor allem für das Orches-terschaffen Smetanas, in dem die sympho-nischen Dichtungen zentral sind. Doch bei aller Verehrung urteilte er selbstbewusst über sein Verhältnis zur sogenannten »Neu-deutschen Schule« unter Führung von Liszt: Er gehöre ihr an, soweit sie »den Fortschritt predigt [...], im Übrigen mir selbst.«

Liszt hat die »Symphonische Dichtung« als eine Gattung der Programmmusik begrün-det. Es sind in der Regel einsätzige Orches-terwerke, deren außermusikalische Bedeu-tung durch Überschriften bzw. ergänzende Texte angedeutet sind. Nach Liszts Auffas-sung handelt es sich um eine neue Gattung mit symphonischem Anspruch und zugleich um Werke, die Dichtung in Tönen sein wol-len. »In der Programm-Musik«, so Liszt, »ist Wiederkehr, Wechsel, Veränderung und Mo-dulation der Motive durch ihre Beziehung zu einem poetischen Gedanken bedingt.« Die Musik übernimmt mit den ihr eigenen Mög-lichkeiten den Versuch, das in dichterischen oder bildnerischen Werken nicht Darstell-bare, etwa Momente des Religiösen oder Metaphysischen, die Schilderung innerer Vorgänge und konkreter Gefühlsgehalte, das heißt neue Erlebnis- und Ausdrucksqua-litäten zu erschließen und klanglich zu ver-mitteln.

Am offenkundigsten ist der Einfluss Liszts auf Smetana in den in Göteborg entstande-

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Bedřich Smetana: »Má Vlast«

Bedřich Smetana zur Entstehungszeit von »Má Vlast« (1875)

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Bedřich Smetana: »Má Vlast«

nen symphonischen Dichtungen, die sich auf internationale Literatur gründen: »Richard III.« (nach William Shakespeare, 1858), »Wallensteins Lager« (nach Friedrich Schiller, 1859) und »Hakon Jarl« (nach Adam Gottlob Oehlenschläger, 1861): »Ich schrieb sie in Schweden eben unter dem Eindruck, den auf mich in Weimar Liszts symphoni-sche Dichtungen gemacht haben. Sie haben ganz die Form Liszts. Meine Gegner werden dies vielleicht auch gegen die symphoni-schen Dichtungen ›Má Vlast‹ verwenden, aber mit denen verhält es sich gänzlich an-ders: in diesen erlaubte ich mir eine beson-dere, ganz neue Form zu bestimmen. Sie tragen eigentlich nur noch den Namen ›Symphonische Dichtungen‹. Deshalb sind sie allerdings ein Schrecken für diejenigen, welche nichts vom Fortschritt in der Musik hören wollen und denen nur das gefällt, was immerfort nach dem alten Schuh gemacht ist.« Und an anderer Stelle bekennt er: »Meine Werke werden zwar oft gespielt, aber nicht selten ganz falsch. Meine Kom-positionen gehören nicht in das Gebiet der ›absoluten Musik‹, in welcher man schließ-lich gut mit musikalischen Zeichen und mit dem Metronom auskommt. Ausschließlich diese Mittel jedoch reichen für meine Werke nicht aus. Alle meine Arbeiten kristallisier-ten sich aus bestimmten inneren Stimmun-gen meiner Seele heraus. Dies muss der ausführende Musiker, der meine Werke werkgetreu spielen soll, kennen, um die Zu-hörer in die gleiche seelische Stimmung zu bringen.«

Auf die Neuheit der Zyklusform weist schon der bekannte tschechische Komponist Alois Hába hin. Für ihn ist »Má Vlast« vom »musikalischen Standpunkte jener Zeit be-trachtet der erste neue Typus einer Sym-phonie, die sich nicht an die traditionellen klassischen Formtypen der einzelnen Sät-

ze, auch nicht an deren Anzahl bindet. Be-denken wir, dass in Deutschland und an-derswo noch lange Zeit die klassische for-male Tradition herrschte, so begreifen wir die fortschrittliche Bedeutung des sympho-nischen Schaffens Smetanas. Auch vom klanglichen Standpunkte blieb Smetana den europäischen Bestrebungen seiner Zeit nichts schuldig. Er war Mitkämpfer um neue, klangliche Errungenschaften.«

Von Smetana existieren knappe Programme zu den Stücken, die er als »kurzen Abriss des Inhalts der symphonischen Dichtun-gen« im Mai an seinen Verleger František Augustin Urbánek schickte. Der mit ihm be-freundete Schriftsteller Václav Vladimír Zelený hat sie in Absprache mit dem Kom-ponisten weiter ausgeführt; sie sind den vierhändigen Klavierauszügen vorange-stellt. Auf dieser Grundlage hat Jan (Spáčil-) Žeranovský für die Uraufführung des ge-samten Zyklus neue und noch stärker ins Detail gehende Programmeinführungen formuliert. Im Folgenden werden zu den einzelnen Stücken Smetanas Kommentare nach der Übertragung durch František Bar-toš zitiert (»Smetana in Erinnerungen und Briefen«, Prag 1954). Nur bei »Vyšehrad« wird zusätzlich die Version Zelenýs zitiert, damit die Unterschiede zwischen Smetanas Interpretation und der seiner Exegeten deutlich werden.

»VYŠEHRAD«

»Die Harfen der Wahrsager beginnen; ein prophetischer Gesang (Bardengesang) über die Ereignisse in Vyšehrad, über den Ruhm und die Herrlichkeit, Turniere und Schlach-ten, bis zum endgültigen Verfall und Unter-gang. Das Werk endet mit einem elegischen Ton (Nachgesang der Barden).«

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Bedřich Smetana: »Má Vlast«

Im tschechischen Text finden sich zwei deutsche Formulierungen zur Verdeutli-chung des Inhalts: »Bardengesang« und »Nachgesang der Barden«. Die charakteris-tischen Unterstreichungen im Autograph kennzeichnen die emotionale Haltung Sme-tanas und setzen thematische Gewichtun-gen. Ausführlicher beschreibt Smetana das Werk in einem nachfolgenden Brief an Ur-bánek. Breit ausgeschmückt ist die spätere Schilderung von Zelený, die in Absprache mit dem Komponisten entstanden ist: »In Sicht des majestätischen Felsens von Vyšehrad, werden die Erinnerungen des Dichters aus der tiefen Vergangenheit, be-gleitet vom Klang der Harfe Lumirs, vermit-telt. Inmitten dieser Klänge steigt Vyšehrad in seiner früheren Prächtigkeit auf, gekrönt vom glänzenden goldenen Allerheiligsten und dem stolzen Sitz der Fürsten und Köni-ge von Přemysl, voller kriegerischer Herr-lichkeit. Hier in der Burg, beim fröhlichen Fanfarenklang der Trommeln und Trompe-ten, steigt kühnes Rittertum prunkend zu Pferde. Hier begeben sich die Truppen lär-mend hinunter zu ihren siegreichen Schlachten, und ihre Rüstungen strahlen im blendenden Sonnenlicht. Vyšehrad erzit-tert unter erhabenen Hymnen und Sieges-feiern. Während sich der Dichter nach dem längst vergangenen Ruhm Vyšehrads sehnt, wohnt er seiner Zerstörung bei. Entfesselte Leidenschaften führen in grausamen Schlachten dazu, dass die hohen Türme fal-len, das Heiligtum verbrennt und der fürst-liche Sitz zerstört wird. Anstatt unter den erhabenen Hymnen und Siegesfeiern, erzit-tert Vyšehrad nun unter dem wilden Tumult des Krieges. Der fürchterliche Sturm legt sich. Vyšehrad bleibt als ein verlassener Überrest seines einstigen Ruhms bestehen. Das klagende Echo des langen stillen Ge-sangs von Lumir hört auf in den Ruinen widerzuhallen.«

Zwar wird in der Literatur oft genug betont, dass die Formgebung in »Má Vlast« im Prin-zip einfach sei, doch beweisen die Ergeb-nisse der Analysen das Gegenteil. Das Neue der formalen Gestaltung sperrt sich her-kömmlichen Darstellungen in einem Maße, dass es keinen Konsens gibt. Das ist auch bei »Vyšehrad« der Fall. Zudem erstaunt die zum Teil verschiedene, auch unterschied-lich detaillierte Zuordnung des außermusi-kalischen Geschehens auf die Musik. Sme-tana hat eben nicht nach einer ausführli-chen und im einzelnen ausgearbeiteten Grundlage eines Programms komponiert und diese quasi abhakend musikalisch illus-triert, sondern vielmehr kommentierte er eine »poetische Idee«, die z. B. in »Vyšeh-rad« einen Entwicklungsverlauf (Aufstieg, Blüte, Verfall) hat, als Ausdrucksmusik in vielfältigen Gefühlslagen und Empfindun-gen. Dabei ergibt sich ein beständiger Wechsel zwischen die Handlung andeuten-den Partien und solchen, an denen der Kom-ponist verweilt, um über das Geschehen zu reflektieren. Gerade diese Folge von erzäh-lenden Strukturen und verweilenden Mo-menten bildet die eigentliche Grundlage der neuen Formgestaltung und scheint sich der herkömmlichen Analyse zu versperren. Den Entwicklungsbogen, den die Musik im Gro-ßen beschreibt, kann der Hörer in dieser primär auf sein Empfinden abzielenden Mu-sik durchaus nachvollziehen; doch wird er das Detail mit aus der eigenen Phantasie herrührenden auch bildhaften Vorstellun-gen individuell ausfüllen.

Thema von »Vyšehrad« ist Aufstieg und Fall der Fürstenburg, einem Symbol der Hoff-nung in der bewegten nationalen Geschich-te, das in der tschechischen Literatur ver-schiedentlich aufgegriffen worden ist. Der musikalische Verlauf ist damit im Groben festgelegt. Eine Einleitung mit dem Gesang

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Bedřich Smetana: »Má Vlast«

des Barden Lumir zur Harfenbegleitung und die das Werk abschließende Rückbesinnung voller Schmerz, Wehmut und Hoffnung rah-men den Hauptteil ein. Die thematische Ar-beit ist vor allem auf das sogenannte Vyšehrad-Motiv konzentriert, das zuerst von Lumir vorgetragen und später in der »Mol-dau« und in »Blaník« zitiert wird, wenn Be-zug auf diese Burg genommen wird. Es ent-stammt Smetanas nationaler Oper »Libuše« und erklingt dort bei der Erwähnung von Vyšehrad. Auch der zweite zentrale Gedan-ke in diesem Werk stammt aus dieser Oper: Es ist in seiner Grundform ein gebrochener Dur-Sextakkord. Die beiden weiteren Themen, die im Werk eigenständige Entwicklungen erlangen, sind Varianten des Vyšehrad- Motivs. Das eine verwandelt seine diatoni-sche Grundgestalt in eine chromatische Formulierung und bestimmt als »negative« Geste den dramatischsten Abschnitt des Werkes, den Kampf, der um die Burg geführt wird.

»VLTAVA«

»Diese Komposition schildert den Lauf der Vltava [Moldau]. Sie belauscht ihre ersten zwei Quellen, die warme und die kalte Vlta-va, verfolgt dann die Vereinigung beider Bäche und den Lauf des Vltava-Stromes über die weiten Wiesen und Haine, durch Gegenden, wo die Bewohner gerade fröhli-che Feste feiern. Im silbernen Mondlicht führen Wassernymphen ihre Reigen auf, stolze Burgen, Schlösser und ehrwürdige Ruinen, mit den wilden Felsen verwachsen, ziehen vorbei. Die Vltava schäumt und wir-belt in den Stromschnellen zu St. Johanni, strömt in breitem Flusse weiter Prag zu, die Burg Vyšehrad taucht an ihrem Ufer auf. Ma-jestätisch strebt die Vltava weiter, ent-schwindet den Blicken und ergießt sich schließlich in die Elbe.«

Smetana hat in die Partitur der »Moldau« programmatische Wegweiser eingetragen, was eine Ausnahme in diesem Zyklus ist. Zum Beginn steht bei den Flöten: »Die ers-te Quelle der Moldau«, zum Einsetzen der Klarinetten im Takt 16: »Die zweite Quelle der Moldau«, das eigentliche Moldau- Thema am Zusammenfluss der beiden Quellflüsse hat er nicht eigens bezeichnet. Der darauf folgende Abschnitt mit den Hör-nerfanfaren heißt »Waldjagd«, die »Bauern-hochzeit« fällt durch ihre tänzerische Rhythmik auf, »Mondschein, Nymphenrei-gen« ist ein zartes Stimmungsbild. Es folgt wieder das bekannte Moldau-Thema, und bald erreicht der Fluss die gefährlichen »St. Johannis-Stromschnellen«; heute sind sie einem Stausee gewichen. »Die Moldau strömt breit dahin« heißt es am Beginn des letzten Teils, in dem das Moldau-Thema in E-Dur erstrahlt. Als der Fluss Prag erreicht und an der ehrwürdigen Burg vorbei fließt, erklingt in den Bläsern fortissimo das Vyšehrad-Motiv, was ausdrücklich gekenn-zeichnet ist. In der Ferne entschwindet die Moldau, die Musik wird immer leiser. Sehr deutlich und überzeugend ist der gesamte Ablauf musikalisch gegliedert. Die Form des Satzes wird als dreiteilige Liedform mit Einleitung und Coda erklärt, zuweilen auch, aufgrund der mehrfachen Wiederkehr des Hauptthemas, als Rondo bestimmt.

Die »Moldau« wurde das populärste Werk des Zyklus. Gefördert hat dies die eingän-gige melodische Gestaltung. Das Haupt-thema gehört zu einem weit verbreiteten Melodietypus der Folklore, bei dem die Linie der Haupttöne vom Grundton stufenweise zur Sexte und wieder zurückführt. Als mit Smetanas Thema eng verwandt werden im-mer wieder kulturell so weit entfernte Bei-spiele angeführt wie die israelische Natio-nalhymne »Hatikwa«, die auf ein (rumä-

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Bedřich Smetana: »Má Vlast«

nisch-) moldawisches Volkslied zurück-geht, und sogar das deutsche Kinderlied »Alle meine Entchen«. Gerade die letzte Beziehung ist recht weit hergeholt, da es eine Dur-Variante ist und zudem ein ganz anderer Rhythmus vorliegt. Smetana zitiert hier keineswegs Folklore, und er bezieht sich auch nicht allgemein auf derartige Be-lege, sondern schafft sein eigenes volks-tümlich gefärbtes Thema. Übrigens schrieb Bertolt Brecht für sein Stück »Schweyk im zweiten Weltkrieg« den Text »Es wechseln die Zeiten«, der die Verse enthält »Am Grun-de der Moldau wandern die Steine. / Es lie-gen drei Kaiser begraben in Prag«. Hanns Eisler vertonte ihn unter dem Titel »Das Lied von der Moldau« und zitierte dabei einen Teil des Moldau-Themas. Brecht notierte während der Arbeit an dem Moldau-Lied: »Nach einer Sage, welche die armen Leute der Stadt wissen, ist das Wasser der Moldau nichts als die Tränen, die das Volk geweint und gelacht hat.«

»ŠÁRKA«

Ohne den Titel und die Erläuterungen Sme-tanas würde man die Musik zu dieser sym-phonischen Dichtung mit ihrem Wechsel von hochdramatischen und lyrischen Parti-en, zwischen groß besetztem Klang und den einstimmigen Linien mit ihrem erzählenden Ton sicher anders deuten, jeder Hörer für sich individuell. Nach Smetanas Äußerun-gen liegt der Komposition ein geradezu männerfeindliches und männermordendes Sujet zu Grunde: »In dieser Komposition ist nicht die Gegend [das Tal der Šárka liegt in der nördlichen Umgebung von Prag] festge-halten, sondern die Handlung, die Sage von der Maid Šárka, die in leidenschaftlichem Zorn über die Untreue des Geliebten dem ganzen männlichen Geschlecht bittere Ra-

che schwört. Aus der Ferne dringt Waffen-lärm. Ctirad ist mit seinen Knappen im An-marsch, um die streitbaren Mädchen zu bezwingen und zu bestrafen. Er vernimmt schon von weitem das (nur listig vorge-schützte) Klagen einer Maid, erblickt Šárka an einen Baum gebunden und ist von ihrer Schönheit bezaubert. Er entbrennt in heißer Leidenschaft zu ihr und befreit sie. Šárka versetzt mit einem bereit gehaltenen Trun-ke Ctirad und seine Knappen in Rausch und zuletzt in tiefen Schlaf. Auf ein gegebenes Hornsignal, das die Gefährtinnen Šárkas in der Ferne erwidern, stürzen diese aus dem Wald und richten ein Blutbad an. Ein schau-erliches Gemetzel, blindes Wüten der ihre Rache stillenden Šárka beschließt die Dich-tung.«

Durch diesen Kommentar wird die semanti-sche Bedeutung der Musik in eine bestimm-te Richtung gelenkt, denn klangliche Dar-stellungen allein können nichts Definitives aussagen, sondern öffnen Erlebnis- und Empfindungswelten und vermitteln Eindrü-cke, die im Rahmen des vorgegebenen Aus-drucksbereichs unterschiedlich gedeutet werden können. Ein Beispiel ist der Anfang. Der dramatisch-feurige Gestus verweist nach Smetana auf die leidenschaftlich auf Rache sinnende Amazone Šárka. Zelený, im Einverständnis mit Smetana, beschreibt die Musik anders: »Zu Beginn bleibt die Phan-tasie am Šárka-Felsen hängen. Der Blick schweift über die wilden Schönheiten des romantischen Tales bis nach Prag, wo einst Devin, die Burg der tschechischen Amazo-nen, dem Vyšehrad gegenüberstand. Und schon zerfließt vor den Blicken das zauber-hafte Tal in den Nebeln altertümlicher Sa-gen. Aus den Nebeln steigt eine majestäti-sche und doch schmachtende, eine stolze und doch reizende Mädchengestalt auf.

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Eine glänzende Brünne, ein kühner Helm, ein goldenes Horn, Armbrust und Schwert – Šárka ist’s.«

Heinrich Kretzschmar deutet in seinem ver-breiteten »Führer durch den Konzertsaal« dagegen den Anfang als »Amazonenmusik« und hört in der Thematik des Beginns be-reits »Krieg und Kämpfe«, und zur nachfol-genden Kantilene bemerkt er: »Soll in ihr des Weibes eigentliches Wesen die Amazo-nenmaske durchbrechen ?« Alle drei Inter-pretationen entsprechen durchaus dem Gestus der Musik, die somit im Detail diffe-renziert empfunden werden kann. Der Hörer ist nicht sklavisch an die programmatischen Vorgaben des Komponisten gebunden, der, wie die Ausführungen seines Freundes Zelený zeigen, für differenzierende Deutun-gen seiner Musik offen war. Immer wieder finden wir bei außermusikalisch motivierten Kompositionen, etwa von Liszt oder von Mahler, unterschiedliche programmatische Erläuterungen.

Man kann die Musik aufgrund des von Sme-tana bzw. Zelený verbalisierten Gesche-hens gut verfolgen. Wie bei den anderen Kompositionen in diesem Zyklus liegt keine traditionelle Form zugrunde, die aufgrund des Sujets variiert wurde, den Verlauf be-stimmt vielmehr a priori das zielgerichtete Programm. Der dramatische Anfang wird kurz unterbrochen durch einen lieblichen Streichersatz von wenigen Takten, der die frauliche Seite Šárkas anspricht. Der nächs-te Abschnitt ist ein Marsch, der allerdings nicht kriegerisch, sondern freundlich wirkt. Ahnungslos nähern sich die Knappen des Ctirad dem Schauplatz des Geschehens. Aus dem Orchestersatz heraus lösen sich zwei unbegleitete Soli von anmutiger Melo-diegebung. Das erste in den Klarinetten verweist auf Šárka, das zweite im tieferen

Cello auf Ctirad, der von dem Anblick des gefesselten Mädchens gerührt ist. Es folgt ein Abschnitt mit ausgeprägter Liebesthe-matik und danach ein volksmusikalisch tän-zerischer Teil, der auf ein Fest verweist. An seinem Ende wird die Musik leiser, die trun-kenen Männer schlafen ein. Mit einem Ruf des Solohorns, der von den anderen Hörnern erwidert wird, setzt eine leise von Tremoli der Streicher und Pauken grundierte kla-gende Klarinettenmelodie (zuvor das In-strument der Šárka) ein, die »doloroso qua-si recitando« und »piagendo« (weinend) vorgetragen wird. Weint hier die Amazone um den nahen Tod eines Geliebten, da sie die geplante Tat nicht mehr verhindern kann ? Die Musik steigert sich zu einem turbulen-ten Schlussteil, in dem lediglich die Vor-tragsanweisung »frenetico« das allgemeine Gemetzel andeutet, das den Gang der Hand-lung beschließt: Smetanas Musik, auch wenn sie noch so lautstark klingt, kann nie so blutrünstig wirken, wie sie gemeint ist.

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Der Stolz der Tschechen

WOLFGANG STÄHR

Bedřich Smetana: »Má Vlast«

VOLK DER »FIEDLER« UND MUSIKANTEN ?

Eine demütigende Kränkung stieß Bedřich Smetana auf den Weg, der ihm vorgezeich-net war. Anfang September des Jahres 1857 kam der tschechische Musiker in das fest-lich geschmückte Weimar, das ganz im Zei-chen der Feiern zum 100. Geburtstag Carl Augusts stand, des allseits verehrten Her-zogs und Goethe-Freundes. Die Grundstein-legung für ein Denkmal des kunstsinnigen Regenten, die umjubelte Enthüllung des Goethe- und Schiller-Monuments vor dem Hoftheater, die Uraufführung der epochalen »Faust-Symphonie« des Großherzoglichen Hofkapellmeisters Franz Liszt – es waren aufregende, unvergessliche Tage, die Sme-tana in Weimar verbrachte, zumal er als Gast seines Förderers Liszt auf der Altenburg logieren durfte. Und doch wurde seine Hochstimmung durch eine beschämende Begebenheit am Rande getrübt. Bei einer musikalischen Soirée ließ sich der Wiener Dirigent Johann Herbeck, der spätere Hof-operndirektor, zu der abschätzigen Äuße-rung hinreißen, die Böhmen seien zwar brauchbare Musikanten und »Fiedler«, aber große Komponisten suche man bei ihnen

vergebens. Franz Liszt, der Gastgeber des Abends, antwortete auf seine Weise. Mit großer Geste setzte er sich an den Flügel und spielte die »Six morceaux caractéris-tiques«, das Opus 1 seines tschechischen Schützlings. »Hier haben Sie den Komponis-ten mit dem echt böhmischen Herzen, den von Gott begnadeten Künstler«, sprach er und lenkte die Blicke der Gesellschaft auf den verlegenen Smetana. Noch in derselben Nacht legte Bedřich Smetana den Schwur ab, sich fortan ganz seinem Volk zu widmen und seine schöpferische Kraft in den Dienst der tschechischen Musik zu stellen: ein feierlicher Augenblick.

VON BÖHMEN HINAUS IN DIE WELT

Mögen sich in der Überlieferung dieser Wei-marer Episode auch die Tatsachen zur Le-gende verklärt haben, der Vorfall erhellt doch schlagartig den Konflikt, aus dem die Nationalmusik der Tschechen im 19. Jahr-hundert gewaltig hervorbrach. Generatio-nen von Musikern waren aus Böhmen, dem »Konservatorium Europas«, fortgegangen in die weite Welt, Jan Dismas Zelenka, die Familien Benda und Stamitz, die Gebrüder Wranitzky, Florian Leopold Gassmann, Jo-

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sef Mysliveček, Adalbert Gyrowetz, Antoine (Antonín) Reicha und wie sie alle hießen: bedeutende, ja sogar wegweisende Kompo-nisten, und keineswegs bloß bodenständi-ge »Fiedler«. An jedem Ort, auf jedem Ge-biet hatten sie reüssiert – was wäre die Mannheimer Schule, die italienische Oper, das Pariser »Concert spirituel«, was wären Wien, Dresden oder Berlin gewesen ohne sie ? Das nationale Kriterium spielte für die-se böhmischen Musiker deutscher oder tschechischer Provenienz noch keine Rolle, und so bereisten und bereicherten sie die europäischen Länder, verschenkten ihre überreichen Gaben, komponierten, brillier-ten, unterrichteten, ohne dass sich ihr ver-streutes Wirken je zu einer tschechischen Musikgeschichte verknüpft hätte. Dieses Manko in einen Vorwurf umzumünzen, wie der Wiener Herbeck es tat, kam einer sub-tilen Bosheit gleich. Wer den Tschechen ankreidete, dass sie ihre Talente in den Dienst anderer Nationen stellten, ver-schloss die Augen vor den Verhältnissen, die in Smetanas böhmischer Heimat herrschten.

DIE NATIONALE WIEDERGEBURT

In zwei Jahrhunderten war die tschechische Kultur nahezu ausgelöscht worden. Die Schlacht am Weißen Berg, der Sieg der kai-serlichen Truppen über das böhmische Heer hatte 1620 mit der staatsrechtlichen Selbst-ständigkeit auch die nationale Eigenart der Tschechen zerstört. Der habsburgische Zentralismus und die katholische Gegenre-formation zwangen das Land brutal in die Knie, unterdrückten das protestantische Bekenntnis und beraubten die Menschen ihrer kulturellen Identität. Das Tschechi-sche, die Sprache des Reformators Jan Hus, sank ab zum Dialekt der Unterprivilegier-ten. Die Gebildeten und Besitzenden, das

städtische Patriziat und der Adel sprachen deutsch. Bedřich Smetana bildete da keine Ausnahme, weder in der Familie noch in der Schule hatte er tschechisch gesprochen, und sogar sein Tagebuch führte er auf deutsch. In einem seiner frühesten tsche-chischen Briefe entschuldigt sich Smetana für die orthographischen und grammatika-lischen Fehler: »Es war mir bis zum heutigen Tage nicht gegönnt, mich in meiner Mutter-sprache zu vervollkommnen.« Doch die Zei-ten änderten sich. Die tschechischen Ge-lehrten besannen sich auf ihr verschüttetes Erbe; Wörterbücher, Literaturgeschichten, Volksliedsammlungen erzielten eine unge-ahnte Breitenwirkung, vaterländische Ge-sänge, Epen und Balladen trafen auf ein gleichgesinntes Publikum. Überall im Land wurden Chöre und Gesangsvereine gegrün-det, die Tschechen begeisterten sich für ihre heimatlichen Lieder und Tänze, für ihre Sagen, Märchen und Mythen, und mit der Erinnerung an die legendäre Vergangenheit der Přemysliden und Hussiten wuchs das nationale Selbstbewusstsein. »Ich bin mit Leib und Seele Tscheche«, bekannte Sme-tana, »und stolz darauf, mich einen Sohn unserer ruhmreichen Nation nennen zu dür-fen.« Es gärte gewaltig in den habsburgi-schen Kronländern Böhmen und Mähren. Die schweigende Mehrheit hatte ihre Spra-che wiedergefunden, ihre Geschichte und ihren Mut. Die machtvolle Bewegung der »tschechisch nationalen Wiedergeburt« war nicht mehr aufzuhalten.

FREIWILLIGE EMIGRATION NACH GÖTEBORG

Den jungen Smetana hatten die Unruhen des politischen Vormärz noch wenig be-rührt. Der Sohn eines musizierfreudigen Brauereipächters aus dem böhmischen Litomyšl – dort wurde er am 2. März 1824

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geboren – lebte ganz in seiner schöngeis-tigen Welt, schuf poetische Salonstücke für Klavier und gefühlvolle Lieder und träumte davon, »in der Mechanik ein Liszt, in dem Componieren ein Mozart« zu wer-den. Aber die Realität holte ihn grausam ein, als der junge Pianist 1848 die blutige Niederschlagung des Prager Pfingstauf-standes durch die Soldaten des Fürsten Windischgraetz mitansehen musste. Sme-tana, von dem Vorbild seiner patriotischen Freunde beeindruckt, hatte selbst als Wa-che schiebender Nationalgardist die Volks-erhebung unterstützt, einen Marsch für die Prager Studenten-Legion komponiert und ein martialisches »Lied der Freiheit« ge-schrieben: »Wer da Tscheche ist, ergreife das Schwert !« Im selben Jahr der geschei-terten Revolution eröffnete er in Prag eine private Musikschule, ein »Lehr-Institut im Pianoforte-Spiele«. Vom bedrängenden Konkurrenzkampf zermürbt und deprimiert über die Perspektivlosigkeit im heimi-schen Musikleben, resignierte Smetana schon bald, packte die Koffer und folgte 1856 einer Empfehlung nach Göteborg. Als Klavierlehrer höherer Töchter ließ es sich auskömmlich leben in der schwedischen Hafenstadt. Dem böhmischen Gast wurde sogar die Chorleitung der »Harmonischen Gesellschaft« übertragen, und er nutzte die angesehene Position, um Oratorien vom »Messias« bis zum »Elias« einzustu-dieren und wagemutig auch Chöre aus Wagners »Tannhäuser« und »Lohengrin« zu Gehör zu bringen. Trotz aller Erfolge und materiellen Wohltaten hielt es ihn aber auf Dauer nicht in der Fremde, schon gar nicht, als er von den Plänen zur Gründung eines tschechischen Theaters in Prag erfuhr, ein elektrisierendes Vorhaben. Bis dahin wur-den lediglich am Sonntagnachmittag im deutschen Ständetheater Aufführungen in tschechischer Sprache geboten, Schau-

spiele und Opern in Übersetzungen, selten auch Originalwerke wie die tschechischen Singspiele von František Škroup. Das deut-sche Bildungsbürgertum zeigte wenig Ver-ständnis für die nationale Theaterbegeis-terung der tschechischen Mehrheit, ja es kursierte sogar der hässliche Spottvers: »Schuster, Schneider, Handwerksleut’ / haben nur am Sonntag Zeit.« Was sollte denn eine tschechische Bühne ihren Zuhö-rern zu bieten haben ?

DER VATER DER TSCHECHISCHEN NATIONALOPER

Diese Vorurteile schienen sich auch zu be-stätigen, als das Nationaltheater 1862 in sein provisorisches Gebäude, das »Königlich- Böhmische Landes-Interimstheater«, ein-zog und mit einer französischen Comédie lyrique, Cherubinis »Les deux journées«, seine Pforten öffnete. Diesen Missstand zu beheben und der Prager Bühne ein authen-tisches Repertoire tschechischer Musikdra-men zu schaffen, darin bestand die histori-sche Mission und die Berufung Bedřich Smetanas, sein Lebenswerk. War er auch nicht der einzige und nicht einmal der erste, der diesen Weg beschritt, so gebührt ihm doch mit vollem Recht der Ehrentitel des »Schöpfers« oder »Vaters« der tschechi-schen Nationaloper. Gleich die erste seiner insgesamt acht (vollendeten) Opern, »Die Brandenburger in Böhmen«, wurde 1866 im Interimstheater uraufgeführt und gewann überdies den Ersten Preis in einem Wettbe-werb, den der Fürst Jan Harrach veranstal-tete, um die beste Oper über einen Stoff »aus der Geschichte der böhmischen Kro-ne« oder dem »tschechisch-slawischen Volksleben« auszuzeichnen. Wenige Mona-te nach den »Brandenburgern«, am 30. Mai 1866, ging die Urfassung der »Verkauften Braut« in Szene, der Beginn eines Welter-

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Bedřich Smetana: »Má Vlast«

folgs, den der Komponist selbst freilich nicht mehr erleben sollte. Immerhin durfte er 1882 noch die Festivitäten zur 100. Auf-führung seiner »Prodaná nevĕsta« genie-ßen, doch war seine Freude an diesem Jubi-läum nicht frei von Bitterkeit: »Wenn ich die ›Verkaufte Braut‹ übermäßig loben höre, habe ich den Eindruck, als ob die Leute mei-ne übrigen Opern schmähen würden.« Das böhmische Dorfidyll, die heitere Intrigen-handlung um die schöne Bauerntochter Mařenka, ihren Geliebten Jeník und den Heiratsvermittler Kecal, dieser frühlings-hafte Bilderreigen mit Kirchweihfest, Wan-derzirkus und Volkstanz hat die Herzen der Opernfreunde erobert, gleich welcher Nati-onalität sie angehören. Smetana selbst jedoch hielt seine anderen Musikdramen für die besseren Werke. Welche kennt man außerhalb des tschechischen Kulturkrei-ses ? Die »Zwei Witwen«, »Der Kuss« oder »Das Geheimnis«, komische Opern alle drei, haben nur in Smetanas Heimat ihr Publikum gefunden; die schaurig-romantische »Teu-felswand« rangiert selbst dort nur als Rari-tät.

»MEIN TEURES BÖHMENVOLK WIRD NICHT VERGEH’N«

Bedřich Smetana blieb in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens der National-theaterbewegung aufs engste verbunden. Am Interims-Haus wirkte er für acht Spiel-zeiten als Kapellmeister, dirigierte ein Or-chester aus 35 Musikern, leitete philharmo-nische Konzerte und förderte das aufblü-hende Schaffen seiner Landsleute, nament-lich Antonín Dvořák (der als Bratschist am Theater engagiert war), Zdeněk Fibich und Vilém Blodek. Am 16. Mai 1868, dem großen Tag der Grundsteinlegung für das definitive, nicht länger nur provisorische Gebäude des tschechischen Nationaltheaters, erklang in

Prag Smetanas tragische Oper »Dalibor« zum ersten Mal, ein Sagenstoff aus der böhmischen Historie, die Geschichte vom Tod des aufständischen Ritters Dalibor, den das Volk zum Helden und zur nationalen Identifikationsfigur erhob. Der patriotische Überschwang dieses Werkes wurde noch weit übertroffen von Smetanas Oper »Libuše«, mit dem am 11. Juni 1881 der Neorenaissance-Bau an der Moldau einge-weiht wurde, das ersehnte, aus Spenden bezahlte, zum Heiligtum der Tschechen er-klärte Nationaltheater. Nach nur zwei Mo-naten brannte es ab, wurde mit dem Geld der Bürger sogleich wieder aufgebaut und 1883 zum zweiten Mal eröffnet, abermals mit der »Libuše«. Diese Oper war und blieb das Glanzstück tschechischer Weihestun-den und Staatsakte, der Inbegriff nationaler Kunst: Smetana hielt es für sein »gelungen-stes Werk auf dem Gebiete des höheren Dramas«. Da geht es nicht um Handlung oder Psychologie, sondern um Symbol und Legende: um die sagenhafte Gründerin der Stadt Prag, Libuše, die Ahnherrin der Přemysliden, des mittelalterlichen Herr-schergeschlechts der böhmischen Herzöge und Könige. Im letzten Akt erstehen vor Li-bušes geistigem Auge die Bilder künftiger nationaler Glorie, eine Folge prachtvoller Tableaux vivants, gekrönt von Libušes Weissagung: »Mein teures Böhmenvolk wird nicht vergeh’n, / Aus Grabesnächten herrlich aufersteh’n !« Ein solches nationa-les Pathos war Balsam für die gedemütigte tschechische Seele, deren Traum von staat-licher Unabhängigkeit noch Jahrzehnte auf seine Verwirklichung warten musste.

AUF DEM WEG ZU »MÁ VLAST«

Im Rückblick könnte man leicht zu dem Ein-druck gelangen, Bedřich Smetana sei schon zu seinen Lebzeiten der unumstrittene Na-

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Bedřich Smetana: »Má Vlast«

tionalkomponist der Tschechen gewesen. Aber die Realität sah anders aus. Umjubelte Premieren wechselten mit deprimierenden Reinfällen – dem von Gustav Mahler hoch-geschätzten »Dalibor« etwa war durchaus kein Erfolg beschieden –, Bewunderung und Anfeindung hielten sich bestenfalls die Waage. In der aufgeheizten nationalisti-schen Atmosphäre warfen Smetanas Geg-ner ihm »lebensunfähige Ausländerei« vor und geißelten ihn als »Wagnerianer« und »Germanisator«. Und wenngleich auch die Intrigen und Kampagnen gegen den Kapell-meister in Wirklichkeit von ganz banalen Motiven, Eifersüchteleien und Eitelkeiten genährt wurden, so rührten sie doch an einen ernsten Streitpunkt. Schon der Wettbewerb des Fürsten Harrach, der Opern »nationalen Charakters« anregen wollte, verlangte Par-tituren, die auf »Tschecho-Slawischen Volks-liedern und der zu diesen gehörenden Mu-sik« basieren sollten. Smetana widerstrebte diese Forderung von Anfang an, mit »zahmen Nachahmungen« schaffe man keinen natio-nalen Stil, »von dramatischer Echtheit ganz zu schweigen«. Das änderte natürlich nichts daran, dass manche seiner Arien zu wahren Volkliedern wurden und die mitreißenden Rhythmen der Polka, des Furiant oder der Sousedská sich allenthalben in Smetanas Musik finden. Für die »städtische Folklore« zeigte er sich durchaus empfänglich, auch für solche aus zweiter Hand; sein künstleri-sches Bekenntnis jedoch gründete auf den Ideen der »neudeutschen Schule«, des Wagner’schen Gesamtkunstwerks und der Liszt’schen Programmmusik. So wie er nach Konstanz pilgerte, an die Hinrichtungsstät-te des als Ketzer verbrannten Jan Hus, reis-te er auch nach München, um Wagners Dra-men am Hoftheater hören zu können. Und seinem Mentor Franz Liszt versicherte er: »Betrachten Sie mich als einen der eifrigs-ten Jünger unserer Kunstrichtung, der mit

Wort und That für deren heilige Wahrheit einsteht und wirkt.« Noch in späten Jahren nannte er Liszt seinen »Meister« – »und für alle wohl ein unerreichbares Vorbild«. Unter dem Eindruck des Weimar-Besuches im Herbst 1857 hatte Smetana seine ersten Tondichtungen komponiert: »Richard III.« (nach Shakespeare), »Wallensteins Lager« (nach Schiller) und »Hakon Jarl« (über einen norwegischen Despoten). 1872 begann er jene sechs programmatischen Orchester-werke zu schreiben, die er schließlich als Zyklus unter dem Titel »Má Vlast« (Mein Vaterland) zusammenfassen sollte, sym-phonische Dichtungen auf der Höhe der Zeit und des »musikalischen Fortschritts«, die den Ruhm der tschechischen Nation besin-gen: den Vyšehrad, den alten Prager Burg-felsen; Tábor, die Festung der radikalen Hussiten; den Blaník, den tschechischen Kyffhäuser; die mythische Gestalt der Šárka und ihres wilden Amazonenheeres; aber auch die friedliche Schönheit von »Böh-mens Hain und Flur« und den Lauf der Mol-dau von der Quelle bis zur Hauptstadt Prag.

EIN GRAB AUF DEM VYŠEHRAD

Die absolute Musik der »tönend bewegten Formen« lag Smetana dagegen fern. Zwar komponierte er 1855 ein g-Moll-Klaviertrio, aber es war ein autobiographisches Werk, die Klage über den Tod der ältesten Tochter. Sein e-Moll-Streichquartett, das er nach 21-jähriger Enthaltsamkeit auf dem Gebiet der Kammermusik schuf, überschrieb er mit dem bekenntnishaften Titel: »Aus meinem Leben«. Der letzte Satz scheint mit lauter Jubel und überschwänglicher Freude zu en-den, bevor nach einer jähen Generalpause die erste Violine über dem Tremolo der Un-terstimmen einen stechenden Ton an-stimmt, ein viergestrichenes »e«, mit dem Smetana das »schicksalsschwere Pfeifen in

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Bedřich Smetana: »Má Vlast«

den höchsten Tönen« darzustellen versuch-te, »das im Jahre 1874 in meinen Ohren ent-stand und meine beginnende Taubheit an-meldete«. Diese Krankheit schritt mit scho-nungsloser Gewalt voran: Binnen weniger Wochen war Smetana völlig ertaubt, muss-te sein Kapellmeisteramt aufgeben, die pianistischen Auftritte, den Klavierunter-richt. Die unvermittelt hereinbrechende materielle Not zwang ihn, sein geliebtes Prag zu verlassen und bei Žofie, seiner Tochter aus erster Ehe, und ihrem Mann in einem abgelegenen Forsthaus Asyl zu erbit-ten. Schon die Uraufführungen des »Vyšeh-rad« und der »Moldau« im Frühjahr 1875 konnte Smetana nicht mehr hören. Und bei der Galavorstellung der »Libuše« im wie-dererrichteten Nationaltheater musste er sich um eine Freikarte bemühen, da er das Geld für ein Billett nicht mehr aufzubringen vermochte ! So ging es zu Ende mit dem Komponisten, der den Tschechen eine neue, eigenständige Nationalmusik geschenkt hatte. Das Prager Opernhaus, das ihm so viel verdankte, speiste ihn mit einem küm-merlichen Gnadengehalt ab. Vereinsamt und verbittert kämpfte Smetana den aus-sichtslosen Kampf gegen die schleichende Zerstörung seiner Physis und die fortschrei-tende Zerrüttung seiner Geisteskräfte. Nachdem er in einem Wahnsinnsanfall das Mobiliar zertrümmert und bedrohlich mit einem Revolver hantiert hatte, wurde er im April 1884 in die Landesirrenanstalt nach Prag verbracht. Dort starb Bedřich Smetana am 12. Mai im Alter von sechzig Jahren. Als »Stolz des tschechischen Volkes« und »Op-fer der tschechischen Verhältnisse«, wie es in der Trauerrede hieß, wurde er begraben, der »Komponist des Vaterlands«: auf dem Ehrenfriedhof des Vyšehrad, hoch über der Moldau...

VATERLÄNDISCHE GESINNUNG UND WELTRUHM

Die Überbetonung des Nationalen, wie sie uns in Smetanas Werk begegnet, nimmt in der abendländischen Musikgeschichte eine Außenseiterstellung ein. In einem kurzen historischen Augenblick vereinten sich vater ländische Gesinnung und künstleri-sche Inspiration. Ob es auch ein glücklicher Moment war, steht auf einem anderen Blatt. Der Anspruch auf nationale Kultur, so be-fand Albert Schweitzer in den Jahren des Ersten Weltkrieges, sei eine krankhafte Erscheinung. »Auf allen Gebieten wird in steigendem Maße darauf hingearbeitet, dass an den Erzeugnissen das Empfinden, Auffassen und Denken des Volkstums, aus dem sie hervorgegangen sind, möglichst stark sichtbar werde. Diese mit Absicht ge-wahrte und gepflegte Eigenart zeigt an, dass die natürliche verloren gegangen ist. Die Besonderheit der Persönlichkeit des Volkes spielt nicht mehr als etwas Unbe-wusstes und Halbbewusstes mit wechseln-den Lichtern in das Allgemeine des geisti-gen Lebens hinein. Sie wird Manie, Künstelei, Mode, Mache.« In Bedřich Sme-tanas Schaffen liegt das Zeitlose und Zeit-gebundene, liegen Weitsicht und Ideologie, warmherzige Heimatliebe und aggressiver Nationalismus in einem teils fruchtbaren, teils lähmenden Wettstreit. Die Größe sei-nes Werkes leuchtet dort auf, wo er die Grenzen der tschechischen Musik zu einem offenen Horizont weitet. Die Moldau fließt heute durch alle Welt, und der Vyšehrad prangt auch über New York und München.

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Der Künstler

DIRIGENT

Krzysztof Urbański

Der polnische Dirigent Krzysztof Urbański schloss 2007 seine Studien an der Fryderyk- Chopin-Musikuniversität in Warschau ab. Im selben Jahr gewann er mit einstimmigem Juryvotum den ersten Preis des Internatio-nalen Dirigentenwettbewerbs »Prager Früh-ling«. 2013 konzertierte Krzysztof Urbań-ski mit der Sinfonia Varsovia zum Anlass des 80. Geburtstags seines Landsmanns Krzy-sztof Penderecki und teilte dabei das Podi-um mit Charles Dutoit und Valery Gergiev.

Seine Debüts bei den Berliner Philharmoni-kern und beim Chicago Symphony Orches-tra folgten in der Saison 2013/14. Mit Beginn der aktuellen Spielzeit trat Krzysztof Ur-

bański die fünfte Saison seines von der Kri-tik hoch gelobten Amtes als Musikdirektor des Indianapolis Symphony Orchestra an. Außerdem setzt er seine Tätigkeit als Chef-dirigent und künstlerischer Leiter des Trondheim Symfoniorkester fort und ist da-rüber hinaus Erster Gastdirigent des Tokyo Symphony Orchestra. Ebenfalls als Erster Gastdirigent vertieft er seit dieser Saison seine Zusammenarbeit mit dem NDR Sinfonieorchester Hamburg und wird in die-ser Funktion auch an den Eröffnungskon-zerten der Hamburger Elbphilharmonie mit-wirken.

Im Sommer 2015 erhielt Krzysztof Urbański den Leonard-Bernstein-Award des Schleswig- Holstein Musik Festival, der erstmals an einen Dirigenten vergeben wurde. Zu zu-künftigen Projekten zählen Auftritte mit dem London  Symphony  Orchestra, dem Philharmonia Orchestra, dem Orchestre Philharmonique de Radio France und dem  Tonhalle-Orchester Zürich. In Nord-amerika wird er am Pult des Pittsburgh Symphony Orchestra, des San Francisco Symphony, des New York Philharmonic, des National Symphony Orchestra und des To-ronto Symphony Orchestra stehen.

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Slawische Musik in München

Die Philharmoniker als Botschafter

tschechischer und polnischer Musik

GABRIELE E. MEYER

Am 14. Oktober 1893 begann die philharmo-nische Orchestergeschichte in München mit der Wiedergabe von Smetanas Ouvertüre zu »Die verkaufte Braut«. Dieses Stück sowie die Tondichtungen »Die Moldau« und »Vyšehrad« aus »Má Vlast« gehörten über viele Jahre ebenso zum Standardrepertoire wie Antonín Dvořáks Cellokonzert op. 104. Gerne wurden auch die beiden Klavierkon-zerte von Frédéric Chopin aufs Programm gesetzt, ergänzt durch das Konzert-Allegro A-Dur in einer Bearbeitung von Jean Louis Nicodé für Klavier und Orchester. Andere polnische und tschechische Komponisten wurden meist nur einmal vorgestellt. Zu ihnen zählten Mieczysław Karłowicz, Emil Młynarski, Ignacy Paderewski, Karol Szy-manowski und Henri Wieniawski sowie Josef Suk und Jaromír Weinberger. Eine Ausnahme bildete Leoš Janáček, von dem innerhalb kurzer Zeit gleich drei Werke zu hören waren. Sehr viel später setzte man aus politisch- ideologischen Gründen fast ausschließlich auf kroatische Komponisten wie Krešimir Baranović, Jakov Gotovac, Boris Papando-pulo und Josip Slavenski.

Wie unterschiedlich heute zum klassischen Kanon zählende Werke erstmals aufgenom-men wurden, zeigen zwei Beispiele. Kaum zu glauben: Am 16. April 1904 wurde Ignacy Paderewskis in München noch unbekanntes Klavierkonzert op. 17 mit wesentlich größe-rem Beifall bedacht als Schumanns »selten gehörtes« Konzert op. 54; andererseits aber stieß Dvořáks Symphonie »Aus der Neuen Welt« bei ihrer ersten Aufführung am 5. Ja-nuar 1898 zunächst auf indignierte Ableh-nung. So ließ die »Münchner Post« verlauten, dass man anstelle der »neuen amerikani-schen, bei den Yankees patentirten Unter-haltungs- und Plantagen-Symphonie des vielstrebenden Herrn Dvorak« lieber einen zeitgenössischen deutschen Tondichter wie Richard Strauss gehört hätte. Die »Münchner Neuesten Nachrichten« bekrittelten die »dummpfiffige Lustigkeit« des zweiten, na-tional gefärbten Themas (Kopfsatz), die mo-tivische Kleinteiligkeit »und alle möglichen, mit äußerster Finesse in Szene gesetzten Instrumentaleffekte des langsamen Satzes, der durch seine Länge allerdings doch sehr ermüdend wirkt«. Das verhältnismäßig origi-

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Die Philharmoniker als Botschafter

tschechischer und polnischer Musik

GABRIELE E. MEYER

Slawische Musik in München

Konzertankündigung für den 6. März 1930 mit der Münchner Erstaufführung der »Glagolitischen Messe« von Leoš Janáček durch die Münchner Philharmoniker

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nelle Scherzo lehnte sich ihrer Meinung nach zu sehr an den gleichartigen Satz aus der »Harold«-Symphonie von Berlioz an. Und auch dem effektvoll aufgebauten Finale sprach der Kritiker keine besondere Origina-lität zu. Als Bereicherung der symphoni-schen Literatur, so sein Fazit, könne man das Werk jedenfalls nicht bezeichnen.

Janáčeks 1926 entstandene »Sinfonietta« erklang in München zum ersten Male am 1. März 1929. Nur ein knappes Jahr später folgte unter der Leitung von Adolf Mennerich die Orchester-Rhapsodie »Taras Bulba«, schließlich, am 6. März 1930, im Rahmen der »Woche Neuer Musik«, die »Glagolitische Messe«. Vier Tage vor der Aufführung ver-öffentlichten die »Münchner Neuesten Nachrichten« eine ausführliche Einführung, erstaunlich in ihrer detaillierten Beschrei-bung der einzelnen Teile, gepaart mit viel Einfühlungsvermögen in die stilistischen Besonderheiten des Werks. Gleichwohl rea-gierten Konzertbesucher und Pressevertreter ob der Auslegung des Messetextes teilweise irritiert, ungeachtet der Tatsache, dass sie das satztechnisch geniale Können, die phä-nomenal temperamentvolle Schaffenskraft, die den 72-jährigen Komponisten diese groß-artige Schöpfung vollbringen ließ, durchaus anerkannten. Der stürmische Beifall in der ausverkauften Tonhalle galt zuvörderst der ausgezeichneten Leistung aller Ausführen-den, dem Chor, »der die enormen Schwierig-keiten schon hinsichtlich Treff sicherheit und Intonation hervorragend bewältigte«, den Philharmonikern, »die alles gaben, was der Dirigent an Klang und Ausdruck von ihnen forderte« und dem ausgezeichneten Orga-nisten. Einhelliges Lob gab es auch für die Solisten, vor allem für Julius Patzak.

Auch für das Konzert am 5. Januar 1938, das im Rahmen des deutsch-polnischen Kultur-austausches stattfand, gab es einen Vorbe-richt, der Bezug nimmt auf ein vorausge-gangenes, äußerst erfolgreiches Konzert in Polen. Der Dirigent Adolf Mennerich war Anfang Dezember 1937 in Begleitung des philharmonischen Solocellisten Hermann von Beckerath nach Posen gereist und hat-te mit dem dortigen Symphonieorchester musiziert. »Die Hauptstadt der Bewegung«, so hieß es, »hält es nun für eine Ehren-pflicht, auch den polnischen Gästen einen würdigen Empfang zu ihrem Konzert zu be-reiten und dabei ihrem Dank für die außer-ordentliche herzliche Aufnahme der deut-schen Künstler in Polen Ausdruck zu geben«. Neben Wagners »Holländer«-Ouvertüre und Dvořáks »Neunter« stellte Zygmunt Latos-zewski zwei in München noch unbekannte Komponisten vor: Von Mieczysław Karło-wicz erklang die romantische Legende »Stanislaw und Anna Oswiecimowie«, von Karol Szymanowski dessen Violinkonzert Nr. 1 op. 35, gespielt von Zdzislaw Jahnke. Dirigent und Solist wurden nicht nur »hin-sichtlich der glänzenden Wiedergabe der von ihnen gebrachten Stücke« bejubelt, sondern auch dafür, dass sie zwei neue Werke ihrer Landsleute mitgebracht hatten. – Der deutsche Überfall auf Polen am 1. Sep-tember 1939 beendete die »friedliche Ver-ständigung zwischen den beiden Nationen« abrupt. In der Folge wurde der Anteil an ausländischer Musik je nach Kriegsverlauf auf ein Mindestmaß reduziert. Von den sla-wischen Komponisten blieben am Ende nur noch die kroatischen übrig.

Slawische Musik in München

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Montag 22_02_2016 20 Uhr e4 Dienstag23_02_2016 19 Uhr 2. JugendkonzertMontag22_02_2016 10 UhrÖffentliche Generalprobe

FRANCISCO COLL»Hidd’n Blue« für OrchesterROBERT SCHUMANNKonzert für Violoncello und Orchester a-Moll op. 129LUDWIG VAN BEETHOVENSymphonie Nr. 6 F-Dur op. 68 »Pastorale«

GUSTAVO GIMENODirigentJULIAN STECKELVioloncello

Dienstag01_03_2016 20 Uhr f Mittwoch 02_03_2016 20 Uhr h4 Donnerstag 03_03_2016 20 Uhr b

ANTON BRUCKNER»Ave Maria« für 7-stimmigen Chor a cappellaKAROL SZYMANOWSKI»Stabat Mater« für Sopran, Alt, Bariton, Chor und OrchesterANTON BRUCKNERSymphonie Nr. 2 c-Moll(Fassung 1877)

THOMAS DAUSGAARDDirigentTATIANA MONOGAROVASopranOLESYA PETROVAMezzosopranADAM PALKABaritonPHILHARMONISCHER CHOR MÜNCHENEinstudierung: Andreas Herrmann

Vorschau

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Das Orchester

1. VIOLINENSreten Krstič, KonzertmeisterLorenz Nasturica-Herschcowici, KonzertmeisterJulian Shevlin, KonzertmeisterOdette Couch, stv. KonzertmeisterinLucja Madziar, stv. KonzertmeisterinClaudia SutilPhilip MiddlemanNenad DaleorePeter BecherRegina MatthesWolfram LohschützMartin ManzCéline VaudéYusi ChenIason KeramidisFlorentine Lenz

2. VIOLINENSimon Fordham, StimmführerAlexander Möck, StimmführerIIona Cudek, stv. StimmführerinMatthias Löhlein, VorspielerKatharina ReichstallerNils SchadClara Bergius-BühlEsther MerzKatharina TriendlAna Vladanovic-LebedinskiBernhard MetzNamiko FuseQi Zhou

Die MünchnerPhilharmoniker

Clément CourtinTraudel Reich

BRATSCHENJano Lisboa, SoloBurkhard Sigl, stv. SoloJulia Rebekka Adler, stv. SoloMax SpengerHerbert StoiberWolfgang StinglGunter PretzelWolfgang BergBeate SpringorumKonstantin SellheimJulio LópezValentin EichlerYushan Li

VIOLONCELLIMichael Hell, KonzertmeisterFloris Mijnders, SoloStephan Haack, stv. SoloThomas Ruge, stv. SoloHerbert HeimVeit Wenk-WolffSissy SchmidhuberElke Funk-HoeverManuel von der NahmerIsolde HayerSven FaulianDavid HausdorfJoachim Wohlgemuth

Das Orchester

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Das Orchester Das Orchester

KONTRABÄSSESławomir Grenda, SoloFora Baltacigil, SoloAlexander Preuß, stv. SoloHolger HerrmannStepan KratochvilShengni GuoEmilio Yepes Martinez Ulrich ZellerThomas Hille

FLÖTENMichael Martin Kofler, SoloHerman van Kogelenberg, SoloBurkhard Jäckle, stv. SoloMartin BeličGabriele Krötz, Piccoloflöte

OBOENUlrich Becker, SoloMarie-Luise Modersohn, SoloLisa OutredBernhard BerwangerKai Rapsch, Englischhorn

KLARINETTENAlexandra Gruber, SoloLászló Kuti, SoloAnnette Maucher, stv. SoloMatthias AmbrosiusAlbert Osterhammer, Bassklarinette

FAGOTTELyndon Watts, SoloJürgen PoppJohannes HofbauerJörg Urbach, Kontrafagott

HÖRNERJörg Brückner, SoloMatias Pin~eira, SoloUlrich Haider, stv. SoloMaria Teiwes, stv. SoloRobert Ross

Alois SchlemerHubert PilstlMia Aselmeyer

TROMPETENGuido Segers, SoloBernhard Peschl, stv. SoloFranz UnterrainerMarkus RainerFlorian Klingler

POSAUNENDany Bonvin, SoloDavid Rejano Cantero, SoloMatthias Fischer, stv. SoloQuirin Willert Benjamin Appel, Bassposaune

PAUKENStefan Gagelmann, SoloGuido Rückel, SoloWalter Schwarz, stv. Solo

SCHLAGZEUGSebastian Förschl, 1. SchlagzeugerJörg Hannabach

HARFETeresa Zimmermann

CHEFDIRIGENT Valery Gergiev

EHRENDIRIGENTZubin Mehta

INTENDANTPaul Müller

ORCHESTERVORSTANDStephan HaackMatthias AmbrosiusKonstantin Sellheim

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Impressum

IMPRESSUM

Herausgeber:Direktion der MünchnerPhilharmonikerPaul Müller, IntendantKellerstraße 481667 MünchenLektorat: Christine MöllerCorporate Design:HEYE GmbH, MünchenGraphik: dm druckmedien gmbhMünchenDruck: Gebr. Geiselberger GmbHMartin-Moser-Straße 23 84503 Altötting

TEXTNACHWEISE

Martin Demmler, Susanne Stähr, Peter Andraschke, Wolfgang Stähr und Gabri-ele E. Meyer schrieben ihre Texte als Originalbeträge für die Programmhefte der Münchner Philharmoniker. Stephan Kohler verfasste die lexikalischen Werkan-gaben und Kurzkommen-tare zu den aufgeführten Werken. Künstlerbiogra-phie: nach Agenturvorlage. Alle Rechte bei den Auto-rinnen und Autoren; jeder Nachdruck ist seitens der Urheber genehmigungs- und kostenpflichtig.

BILDNACHWEISE

Abbildungen zu Wojciech Kilar: Leszek Polony, Kilar – Żywioł i modlitwa, Kra-kau 2005. Abbildung zu Witold Lutosławski: Jadwi-ga Paja-Stach, Witold Lu-tosławski, Krakau 1996. Abbildung zu Bedřich Smetana: Ratibor Budiš, Bedřich Smetana, Prag 1996. Münchner Stadtbib-liothek / Musikbibliothek.Künstlerphotographie: Agen turmaterial (Urbański)

TITELGESTALTUNG

»Das Fließende im Pinsel-duktus, Innen und Außen, Distanz und Nähe, der Blick aus einem Fenster in eine ersehnte Landschaft sind Themen meiner Arbei-ten. In dem Motiv um-schlingt die blaue Schlaufe den in der Ferne angedeu-teten ›paesaggio‹, wie die Windung eines Flusses. Smetanas ›Moldau‹ birgt in sich Mythen, Landschaft und Geschichte seines Heimatlandes, die hier durch Gegensätze – hell und dunkel, nah und fern, abstrakt und gegenständ-lich – malerisch interpre-tiert sind.« (Mojé Assefjah, 2015)

DER KÜNSTLER

Mojé Assefjah, 1970 gebo-ren in Teheran, siedelte 1986 nach München um. Studium der Malerei an der Akademie der Bildenden Künste München. 1999 er-hielt sie einen Förderpreis für Malerei sowie ein Jah-resstipendium des DAAD in Rom. 2013 arbeitete sie im Rahmen des ISCP in New York. Ihre Werke befinden sich unter anderem in den Sammlungen des Len-bachhauses, der Pinako-thek der Moderne und der Graphischen Sammlung. In München/Beirut vertritt sie Galerie Tanit.

Gedruckt auf holzfreiem und FSC-Mix zertifiziertem Papier der Sorte LuxoArt Samt

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DAS ORCHESTER DER STADT

’15’16