So viel Stoff Lotti Lehner hinter der Verkaufstheke ihres Ladens. … · 2019. 3. 11. · Die...
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Lottis Corsethaus
Oberflächliches hat sie nie interessiert. Seit über 70 Jahren näht und verkauft LOTTI LEHNER Unterwäsche
in ihrem Laden in Aaraus Altstadt. Die 90-Jährige ist die Problem löserin für Damen mit Problemzonen.
So viel Stoff Lotti Lehner hinter der Verkaufstheke ihres Ladens. Der Büstenhalter stammt aus den 1950er-Jahren.
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Dessous-Details Lottis Ersatz-teillager für Wäsche und Korsetts gleicht der Köderkiste eines Fliegen-fischers.
Traumstoff Malerische Schneiderarbeit in Rosa: ein Schwanger-schaftsgürtel aus den 1960er-Jahren.
Mobil Ihr Auto war letzthin beim Garagisten, sie selber beim Arzt – «beide sind wir fahrtüchtig».
Ihr Geheimnis Lotti in ihrer Küche in Teu fenthal AG. Sie trinkt täglich warme Milch, «das hält jung und fit».
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Die Kundin ist hier noch
Königin.Lottis Wissen und Service
sind einzigartigWäschewandel Früher bedienten fünf Verkäufe rinnen. Heute kommen im Schnitt noch sieben Kundinnen – am Tag.
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Marktstudie Auf ihrem Arbeitsweg schaut sich Lotti die Schaufenster der Aarauer Konkurrenz an.Oben rechts: Hand-Arbeit Die gelernte Korsett-schneiderin und Weiss näherin beherrscht noch immer jeden Handgriff.Rechts: Unzerstörbar Die Adler- Nähmaschine ist über 60-jäh-rig, aber noch immer das zuverlässigste Arbeitsgerät.
Ihr Büro Korrespondenz und Bestellun-gen tippt Lotti seit ewigen Zeiten auf der Hermes-Schreib-maschine.
Dessous-Depot In Hunderten Schubladen lagert Wäsche aus sieben Jahr-zehnten. «Ich kann halt nichts fortwerfen.»
Nachfolgerin Doris Roth, 48, ist Lotti Lehners einzige Ange-stellte. Sie soll das Geschäft einmal weiter-führen.
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TEXT MARCEL HUWYLER FOTOS REMO NÄGELI
Auf Äusserlichkeiten hat sie nie viel gegeben. Wichtig sei im Leben, sagt Lotti Lehner, was ein
Mensch im Herzen trage. Und welche Sorte Unterwäsche.
Jeden Arbeitstag beginnt sie mit einer Marktstudie. Und etwas Spionage. Wenn Lotti Lehner am Morgen durch Aaraus Altstadt marschiert, Metzgergasse, Mühlegasse, Färbergässli, Pelzgasse, bleibt sie vor allen Geschäften für Damenunterwäsche stehen, mustert die Dessous im Schaufens ter, taxiert Stil, beurteilt Qualität, staunt ob der Preise und sagt: «Die Junge hüt wänd halt settigs.» In solchen Momenten zeigt sie diesen wehmütigen Blick, den ältere Menschen bekommen, wenn ihre eigene Welt sich immer weiter von der Konsumwelt entfernt. Wobei. Jetzt wechselt ihr Lächeln ins Schelmische: Die eine Verkäuferin im DessousLaden sei Kundin bei ihr. «Die Unterwäsche für ihre alte Mutter findet sie nämlich nur in meinem Geschäft.»
In Aaraus Altstadt, am Graben Nr. 24, hat Lotti ihren Laden. Ein mehrstöckiges Haus mit tiefem Keller und milchkaffeebraunen Fensterläden. «Corsets, Schürzen, Wäsche» prangt am Schaufenster. Jeden Tag steht Lotti in ihrem Geschäft, verkauft, schneidert, flickt und ändert Unterwäsche nach Mass, Wunsch und Not der Kundinnen ab. Und das «seit dem ersten Jahr nach dem Krieg». Für uns: seit 1946. «Ich wollte nie etwas anderes tun.» Unterwäsche ist Lottis Welt.
Die wahre UnterNehmerin.Ende Januar ist Lotti Lehner
90 Jahre alt geworden.
Von damals Bei ihrer Gotte Emmy Wull-schleger ging Lotti 1946 in die Lehre. 1968 übernahm sie deren Laden.
Heute ist einer dieser Tage, an denen sie «viel Zeit für anderes» hat. Weil Kundschaft fehlt. Dann sitzt Lotti im rückwärti gen Teil ihres Ladens an den zwei alten Nähmaschinen, Adler und Pfaff, 60jährig, und fertigt Küchenschürzen und Abwaschlümpen. Früher, erzählt sie, bedienten an struben Samstagen fünf Verkäuferinnen im Laden. Wer Unterwäsche brauchte, kam in Lottis Corsethaus. Dann begannen die Warenhäuser Lingerie anzubieten – «und mein Umsatz brach um die Hälfte ein». Noch später – und zum ersten und letzten Mal an die sem Tag muderet Lotti ein wenig – kam diese «Chinaware», massenhaft, billig und lüdelig. Wo wird das enden? «Grad gestern sagten sie in den Nachrichten, sogar in China hätten sie jetzt weniger Umsatz. Sogar dort!» Lotti schweigt bedeutungsvoll, die Entwicklung im Unterwäschemarkt geht ihr unter die Haut.
Am kältesten Tag des Jahres 1929, am 31. Januar, kommt Liselotte, «s Gottliebe Lotti», in Gränichen AG zur Welt. Dem Vater wird die Geburt der Tochter ein Leben lang in Erinnerung bleiben, weil in seinem Kuhstall die Gülle gefriert. Es ist minus 32 Grad.
Mit 17 macht Lotti eine Lehre bei ihrer Gotte Emmy Wullschleger, die in Aarau ein Corsetgeschäft
führt. Weissnäherin heisst der Beruf, Lotti fertigt BHs, Höschen, Leibchen, Schürzen, Arbeits kittel, Tischtücher und Kissenbezüge. Später bildet sie sich zur Korsettschneiderin weiter, lernt, wie man Unterwäsche versteift, indem man Stützen einbaut, Stäbchen und Stängeli, stabil, aber bieg sam, Stahlspiralen und Federstahl bänder. «Korsetts hatten damals nichts mit Reizwäsche zu tun», betont Lotti, «es ging darum, den Frauen mit Rückenproblemen etwas Halt zu geben. Man konnte seinerzeit nämlich nicht jedes Bobo sofort operieren.»
1968 übernimmt sie den Laden ihrer Gotte. Wird erfolgreiche Geschäftsfrau – aber keine Ehefrau. Es hätte sie schon der eine oder andere Mann umworben, aber alle verlangten von ihrer Zukünftigen, Beruf und Laden aufzugeben. «Da gab ich lieber den Verehrer auf.» Mit 47 Jahren heiratet sie Max Lehner, Witwer und Vater dreier Buben («er liess mich das Geschäft weiterführen») und zieht nach Teufenthal AG. Wo sie noch heute lebt. Ihr Mann starb vor zwei Jahren. «Seither ist es sehr still bei mir zu Hause.»
Kommt Lotti Lehner nach Feier abend heim, stellt sie darum sofort den Fernseher an. Was läuft, sei egal, «nur kein Krimi, die Welt ist schon genug Krimi, einfach irgendeine TVSendung, Hauptsache, jemand schwätzt.» Sie fühle sich dann weniger allein.
Wer Lottis Corsethaus betritt, macht eine Zeitreise. Die wandfüllenden Schubladenschränke stam men aus einer Zeit, als noch für die Ewigkeit geschreinert wurde. Massivholz, die Einzelteile kunstfertig mit SchwalbenschwanzZinken verbunden; wohl eine Million Mal ist jede Schublade aufgezogen und zu
Ihre Liebe zu Korsetts und
Unterwäsche hält sie jung
Ausgestellt Lotti dekoriert ihr Schau-fenster. Jedes Detail muss genau stimmen. «Sorgfalt ist meine Devise.»
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gestossen worden – und noch heute klemmt keine.
Da lagert Wäsche aus sieben Jahrzehnten. Praktisches, Prächtiges, Züchtiges, wenig Neckisches, umso mehr Wunderliches: etwa das Miederhemd von 1945, der Stoff so schmeichelweich und weiss wie der Hals eines Schwans. Oder der rosa Schwangerschaftsgürtel aus den 1960ern mit verstellbaren Riemli und Bändeli, um sich der wachsenden Fülle der werdenden Mama anzupassen.
Dann die Büstenhalter: Zartes mit Spitze, Sperriges mit Stäbli und ein bis zur Taille reichender MordsBH von 1950 mit der Tuchfläche einer Segeljolle. Wer kauft denn heute noch so etwas? Niemand, sagt Lotti Lehner. «Aber ich kann halt nichts fortwerfen.»
Also lagern da weiter: Morgenmäntel, Nachthemden, Stoffnastücher, Ärztekittel, Küchenschürzen, Unterröcke, Halbunterröcke, Chemisetten, Achselhemden, Unterziehblusen, Stoffgürtel, Korseletts. Und Bettsocken.
«Und dann natürlich all das Moderne», sagt Lotti und meint mit «modern» die Wäsche ab 1960. Jede Schublade hat sie mit einem Täfeli beschriftet, Marke, Typ, Farbe, Cup. Aberhunderte Täfeli an aberhundert Holzfächern – als betreibe Lotti eine antiquarische Fachbibliothek für Dessous. Die Sachen mit poetischen Farb namen (Puder, Champagner, Perle, Cappuccino) tragen exotische Damennamen (Susa, Doreen, Cosima, RosaFaia), bedienen Idealvorstellungen (Ladyform Soft, Prima Donna, Light Elegance) oder erzählen, wozu sie dienen (TriActionFitness, Comfort Minimizer, Taillenslip Inkontinenz).
Lottis typische Kundin heutzutage ist «die mittelalterliche Frau, die für ihre alte Mutter etwas
braucht». Keine Jungen? «Nur solche, die von den synthetischen BHs Ekzeme kriegen.» Lotti verstand sich stets als Pro blemlöserin für Frauen mit Problemzonen, Druck und Juckstellen. Noch heute passt sie Unterwäsche in dividuell an. Ihr letztes Korsett, von A bis Z selber hergestellt, schneiderte sie vor 30 Jahren. Auf der Liste des Staatssekretariats für Bildung wird ihr Beruf längst nicht mehr aufgeführt.
Dabei hat sich Lotti stets bemüht, Neues auszuprobieren, Entwicklungen gewinnbringend umzusetzen. Wie Mitte der 1950erJahre, als viele italienische Familien in die Schweiz kamen. Ein neues Kundensegment, sagte sich Lotti – und lernte in der Abendschule Italienisch.
Die Corseterie hat sonntags und montags geschlossen. An diesen Tagen geht Lotti auf Tour. Setzt sich in ihren 21jährigen VW und besucht ihre Bekannten in Altersheimen. «Sieben Altersheime in zwei Tagen», sagt sie so stolz, wie ein HobbyRennvelofahrer seine erstrampelten Alpenpässe aufzählt. Ihr Auto war letzthin beim Garagisten, sie selber beim Arzt – «beide sind wir fahrtauglich». Etwas grüner Star hat sie, beim Einfädeln von schwarzem Faden bereitet das et
welche Mühe, aber sonst … Fit und vital ist Lotti. «Wäge de Milch», erklärt sie. Sei ein Wundermittel, habe Tante Marie selig ihr vor einem halben Jahrhundert ver raten: vier Liter Pastmilch pro Woche, warm getrunken. «Gell, unbedingt warm! Ja nicht kalt, Kaltes ist Gift!»
In ihrem Haushalt hängen Stoffkalender (auch die verkauft sie im Laden), die längst abgelaufen sind. Der Trick sei, so Lotti, dass alte Kalender irgendwann wieder stimmen, Tag und Datum, und man sie wiederverwenden kann. Letztes Jahr etwa funktionierte der Wandkalender von 1962 erneut. Heuer stimmt vollständig mit 1974 überein. Oder aber («in Ihrem Alter lohnt sich das ja noch!», sagt sie zum Besucher) man kaufe jetzt einen für 2019 – und verwende ihn 2030 aufs Neue.
Werden Sie denn nie müde, zu arbeiten, Frau Lehner? «Wenn ich krank werde, höre ich auf.» Eine Nachfolgerin ist bestimmt, Doris Roth, 48, arbeitet seit Jahren im Laden mit. «Sie wird mein Corsethaus einmal übernehmen.» Das hätten sie vor einiger Zeit so besprochen. Lotti Lehner überlegt, rechnet still nach, lächelt dann und sagt: «Die Geschäftsübergabe habe ich mit ihr vor 28 Jahren geregelt.»
Schönschrift Ihre Buch-haltung führt Lotti noch immer von Hand. «Ein Computer? Kommt mir nicht ins Haus.»
Im Schuss Die Unterneh-merin steigt aus ihrem Laden-keller hoch. Für eine 90-Jährige ist sie noch unglaublich fit.
Beste Ware Qualität bedeu-tet Lotti alles. Diese Wasch-lappen kauft sie ein – und näht die Naht aber neu und besser.
Edles Mobiliar Die Schub-ladenschränke aus Holz sind wahre Bijous – und gefüllt mit Unterwäsche aller Art.
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