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Zwingliana Beiträge zur Geschichte des Protestantismus in der Schweiz und seiner Ausstrahlung Band 40 2013 Jahrbuch des Zwinglivereins Sonderdruck Theologischer Verlag Zürich

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Zwingliana

Beiträge zur Geschichte des Protestantismusin der Schweiz und seiner Ausstrahlung

Band 402013

Jahrbuch des Zwinglivereins

Sonderdruck

Theologischer Verlag Zürich

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Zwingliana erscheint unter Mitwirkung des Instituts für SchweizerischeReformationsgeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich

Gedruckt mit Unterstützung der Schweizerischen Akademie der Geistes- undSozialwissenschaften

Herausgeber

Christian Moser, Universität ZürichPeter Opitz, Universität Zürich

Wissenschaftlicher Beirat

Hans Ulrich Bächtold, Universität ZürichReinhard Bodenmann, Universität ZürichAmy Nelson Burnett, University of Nebraska-LincolnEmidio Campi, Universität ZürichRudolf Dellsperger, Universität BernBruce Gordon, Yale UniversityRandolph C. Head, University of California RiversideAndre Holenstein, Universität BernThomas K. Kuhn, Ernst-Moritz-Arndt-Universität GreifswaldUrs B. Leu, Zentralbibliothek ZürichElsie Anne McKee, Princeton Theological SeminaryMartin Sallmann, Universität Bern

Frühere Jahrgänge der Zwingliana, weitere Informationen zum Jahrbuchsowie Richtlinien für Autorinnen und Autoren sind elektronisch abrufbar unterwww.zwingliana.ch

Satz: Christian MoserDruck und Bindung: Freiburger Graphische Betriebe

ISSN 0254–4407ISBN 978–3–290–17724–9

© 2013 Theologischer Verlag Zürich

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotografischenund audiovisuellen Wiedergabe sowie der Übersetzung bleiben vorbehalten

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Inhalt

Biblical and Theological Themes in Heinrich Bullinger’s»De Testamento« (1534) 1Joe Mock

Briefe an Heinrich Bullinger im Blick auf Entstehung,Abfassung und Rezeption der »Confessio Raetica«(1552/53) 37Jan-Andrea Bernhard

Guy de Bres’s »Le baston de la foy chrestienne«: FromPersonal Notebook to Patristic Anthology (1555–1565) 73Erik A. de Boer

Calvin’s Interpretation of »Thy Kingdom Come« 101John H. Mazaheri

Faculty Recruitment and Retention in the Early ModernEra: The Zurich Lectorium, c. 1560–1610 113Carrie Euler

Teufelsspuk und Feuerflammen: Pfarrer Josua Finsler(1525–1602) über Unglaubliches aus Biel und Umgebung 127Hans Rudolf Lavater-Briner

Die Katechismen in der Schaffhauser Kirche 143Erich Bryner

Lavaters Rezeption von Spaldings »Ueber die Nutzbarkeitdes Predigtamtes« und Herders »An Prediger« in seinerPredigtreihe zur Apokalypse 165Daniela Kohler

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VI Inhalt

Neue Literatur zur zwinglischen Reformation 189Hans Ulrich Bächtold

Buchbesprechungen 199Maximilian von Habsburg, Catholic and Protestant Translations of the Imi-

tatio Christi, 2011 – Christian ScheideggerKarine Crousaz, L’Academie de Lausanne entre humanisme et Reforme (ca.

1537–1560), 2012 – Reinhard BodenmannRegistres du Consistoire de Geneve au temps de Calvin, Tomes IV–VI

(1548–1552), 2007–2012 – Judith SteinigerJon Balserak, Establishing the Remnant Church in France, 2011 – Jim WestEpistolae Petri Vireti, ed. Michael W. Bruening, 2012 – Kees de WildtErik de Boer, The Genevan School of the Prophets, 2012 – Luca BascheraMatthias Freudenberg, Aleida Siller (Hg.), Was ist dein einiger Trost? Der

Heidelberger Katechismus in der Urfassung, 2012 – Matthias Freudenberg(Hg.), Heidelberger Katechismus-Brevier, 2012 – Paolo Ricca, La fede cris-tiana evangelica: Un commento al Catechismo di Heidelberg, 2012 – KarlaApperloo-Boersma, Herman Selderhuis (Hg.), Macht des Glaubens, 2012 –Martin Heimbucher, Christoph Schneider-Harpprecht, Aleida Siller (Hg.),Zugänge zum Heidelberger Katechismus, 2012 – Georg Plasger, Glaubenheute mit dem Heidelberger Katechismus, 2012 – Christoph Strohm, Jo-hannes Ehmann, Albert de Lange (Hg.), Heidelberg und die Kurpfalz, 2013– Evangelische Theologie 72/6 (2012) – Emidio Campi

Randolph C. Head, Jenatschs Axt: Soziale Grenzen, Identität und Mythos inder Epoche des Dreissigjährigen Krieges, 2012 – Jan-Andrea Bernhard

Alfred Ehrensperger, Der Gottesdienst in Stadt und Landschaft Bern im 16.und 17. Jahrhundert, 2011 – Michael Baumann

Ulrich Pfister, Konfessionskirchen, Glaubenspraxis und Konflikt in Graubün-den, 2012 – Randolph C. Head

Norbert Furrer, Des Burgers Buch: Stadtberner Privatbibliotheken im 18. Jahr-hundert, 2012 – Urs B. Leu

Calvin and His Influence, ed. Irena Backus and Philip Benedict, 2011 – Re-becca Giselbrecht

Uwe Wolff, »Das Geheimnis ist mein«: Walter Nigg, 2009 – Michael Baumann

Jahresbericht des Zwinglivereins 249

Personenregister 253

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ISSN 0254–4407 – Zwingliana 40 (2013), 127–141

Teufelsspuk und Feuerflammen

Pfarrer Josua Finsler (1525–1602) überUnglaubliches aus Biel und Umgebung

Hans Rudolf Lavater-Briner

1. Anzeichen des Jüngsten Tages in Biel

»1572. Von einem unerhörtem, doch warhafftem wunder und zei-chen, welches an ettlichen fürnemmen personen zuo Biel gesähen,wie fhürflammen und gneist [Funken] von innen ussgangen, unddoch das fhür sy nütt gebrent, und kein sonderen schmerzen dar-durch empfangen.« Diesen exklamatorischen Titel setzt der Zür-cher Archidiakon und Chorherr Johann Jakob Wick1 über eineNachricht, die er, wie Tausende zuvor, im 21. Band seiner 1559begonnenen illustrierten Sammlung zum Zeitgeschehen ablegt.2

In Zürich, notiert er, sei die unglaubliche Nachricht aus dem850-Seelen-Städtchen am Jurafuß mit großer Skepsis aufgenom-men worden, was ihn veranlasst, der Sache auf den Grund zu ge-hen. Nach der Befragung von mehreren Augenzeugen in den letz-ten Märzwochen kommt Wick zum Schluss, »dass leyder nun [nur]zvil« an dieser Geschichte sei. Ein Händler aus Biel hat ihm erzählt,

1 Johann Jakob Wick (1522–1588), von 1552 bis 155 Pfarrer an der Predigerkir-che, dann Chorherr und zweiter Archidiakon am Großmünster. Biographisch-Biblio-graphisches Kirchenlexikon, Bd. 17, Herzberg 2000, Sp. 1536–1540.

2 Zürich Zentralbibliothek, Ms. F 21, 154r–156r. Franz Mauelshagen, Wunder-kammer auf Papier: Die »Wickiana« zwischen Reformation und Volksglaube, Epfendorf2011 (Frühneuzeit-Forschungen 15) (Lit.).

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erst seien zwei Knaben, dann der Großweibel3 und weitere Perso-nen von »fhürflamenn und gneist« befallen worden, »wie einblauw schwäbel [Schwefel] fhür, hinden zum naken uss und zummul und nasen uss«, und dies alles ohne Schaden zu nehmen. Ver-einzelt sei es zu Ohnmachtsanfällen gekommen, »als ob sy ver-scheiden [sterben] wöllend, kömmend aber hernach widerum zer-ächt«. Von Solothurn her kommend, hat Hauptmann Lucius An-gelberger von Maienfeld Kenntnis, »das[s] nun mehr in die 30mans personen werind, an denen man dise fhürflammen heytersähe und gspüre«. Diese Aussagen ergänzt Hans Schwarz, Burgerund Krämer zu Biel, dahingehend, »das[s] mertheils die fürnemps-ten personen, insonders des rhads, auch dess meyers4 sun (den wirden burgermeyster nennend) ankommen sye«.

Wie so häufig angesichts solcher und ähnlicher Phänomene lau-tet Wicks Erklärungsversuch:

»Was der Allmechtig Gott darmit anzeigen und bedüten wölle, ist im alleynzewüssen, aber mines erachtens, so hab ichs für ein gwüssen vorbott dessallgemeinen iüngsten und letsten tags, uff welchen Gott durch sinen sun,unseren Herren Jesum Christum, mit fhür kommen, 2. Pet. 3 [2Petr 3,7],und den ganzen erdbodem richten wird. Der trüw lieb Gott gebe uns allengnad, das wir in warem glauben und sinem willen erfunden werdint.«5

Eine ganzseitige farbige Federzeichnung, vielleicht von eigenerHand, versucht die Glaubwürdigkeit des Geschehens zu erhöhen(Abb. 1).

2. Johann Jakob Wick (1522–1588)

Ein schillerndes Porträt Johann Jakob Wicks zeichnete RicardaHuch 1895 in ihrer Studie »Die Wicksche Sammlung von Flug-blättern und Zeitungsnachrichten«,6 der ersten ernsthaften Dar-

3 Gerichts- und oberster Ratsdiener.4 Der bischöfliche Meier amtete als Stellvertreter des Bischofs. Er führte in Rat und

Gericht den Vorsitz. Paul Bloesch, Die Rechtsquellen der Stadt Biel, Basel 2003 (DieRechtsquellen des Kantons Bern 13/1), XXIV.

5 Zürich Zentralbibliothek, Ms. F 21, 155v.6 Ricarda Huch, Die Wicksche Sammlung von Flugblättern und Zeitungsnachrich-

ten aus dem 16. Jahrhundert in der Stadtbibliothek Zürich, Zürich 1895.

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129Teufelsspuk und Feuerflammen

Abb. 1: Von Panik ergriffen, fl üchten sechs lichterloh brennende Bieler aus dem Städt-chen ins offene Feld, Lavierte Federzeichnung von Johann Jakob Wick (?), Zürich Zen-tralbibliothek, Ms. F 21, 155r.

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stellung dieses wohl bedeutendsten und mit 13000 Seiten umfäng-lichsten Epochenarchivs des 16. Jahrhunderts, das der ZürcherPfarrer in den Jahren 1559 bis 1588 zusammengestellt hatte, umkünftige Leser »sich grösslich verwunnderen« zu lassen »ab dertrue bseligen zyth«,7 so der Generaltitel über alle 24 Foliobände. Alsein »Kind seiner Zeit«, einer »abergläubischen und wilden, [...]durch ihre Phantasie gepeinigten Zeit«,8 kommt ihr Wick vor, der,nicht anders als das wundersüchtige Volk, ein spontanes EingreifenGottes ins Weltgeschehen für jederzeit möglich gehalten habe.Zwar fällt ihr auf, wie bei dem Theologen mitunter »eine natürli-chere, vernünftigere Art zu denken aufkommt und um sich greifenmöchte«, doch findet sie den nur allzu raschen Rückfall in vor-wissenschaftliche Denkmuster gleichermaßen »unterhaltend undbelehrend«. Bei einer Kometenerscheinung etwa sei Wick durchausin der Lage, die »naturales rationes [vernünftigen Erklärungen]«der »physici [Naturkundigen]« zu würdigen, doch bezeuge seineErfahrung vielmehr, »dass die Kometen kommen, um Blutvergie-ßen anzuzeigen.«9

Gegenwärtige Untersuchungen, die sich mit dem umfangreichenfrühneuzeitlichen Sammelschrifttum beschäftigen, lesen die »Wi-ckiana« vor dem Hintergrund der seit Mitte des 16. Jahrhundertszur Hochblüte entfalteten Mirabilien-, Prodigien- und Ostentali-teratur, als deren Exponent die 1557 erschienene Weltchronik derProdigien, das mit zahllosen Holzschnitten ausgestattete Prodigi-orum ac ostentorum chronicon des Conrad Lycosthenes geltenkann.10 Seine Kompilation von abnormen Himmelserscheinungenund Geburten, von katastrophalen Naturereignissen und von He-xen- und Teufelswerk versteht der Diakon zu St. Leonhard in Baselals ein Kontinuum von endzeitlichen Mahnungen Gottes zur Um-kehr.11 Dieses auch der Flugschriftenliteratur eigene moralisierende

7 Zürich Zentralbibliothek, Ms. F 12, 1r (Titelblatt).8 Huch, Sammlung, 3.9 Huch, Sammlung, 7.

10 Conrad Lycosthenes, Prodigiorum ac ostentorum chronicon, Basel: Heinrich Pe-tri, 1557 (Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI.Jahrhunderts, Stuttgart 1983–2000 [VD16], Nr. W 4314); deutsch: Wunderwerck, oderGottes unergründtliches vorbilden, Basel: Heinrich Petri, 1557 (VD16 W 4315). ZuLycosthenes (Wolfhart) vgl. Heinrich Bullinger Briefwechsel, Bd. 14, Zürich 2011,243f.

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Deutungsmuster führt die einschlägige Forschung auf ein geschärf-tes Krisenbewusstsein in einer Zeit konfessioneller und politischerVerunsicherung zurück.12

Anders jedoch als das Chronicon des Lycosthenes war und bliebdie Wickiana eine private Unternehmung. Wenn sich auch beideTheologen von jener eschatologischen Unruhe erfasst zeigen, diezur Signatur der Zeit gehört, so erscheint der Zürcher mehr als seinBasler Kollege darum bemüht, die Zeichen und Hinweise Gottesgeschichtstheologisch zu reflektieren. Die gesuchte »Schau auf dievom Funken des Jenseits getroffene Zeit«,13 beziehungsweise aufden providentiellen Weltenlauf, konnte Wick im »prophetischen«Geschichtsbild finden, wie es in Zürich seit Zwinglis Zeiten com-munis opinio war: Gott offenbart sich in der Geschichte, die Ge-genwart ist somit von der Vergangenheit wie auch vom Ende herzu bedenken. Insofern konnte es sinnvoll sein, »Zeitzeichen« zu-sammen zu tragen, wenn man auch deren revelatorischen Wertgegenüber der Schrift deutlich geringer einstufte. Zürichs promi-nenteste Prodigiensammler neben Wick waren Ludwig Lavater mitseinem Kometenkatalog, namentlich aber Antistes Heinrich Bullin-ger,14 dessen beeindruckendes historiographisches Schaffen demNachweis von Gottes Wirken in der Geschichte dienen will.15 Nir-gends gib er diese seine Absicht klarer bekannt als im Vorwort zuseiner 1567 abgeschlossenen Reformationsgeschichte, wo er er-klärt, nichts anderes als die »wunderwerche Gottes«, »die herrli-

11 »Prodigium« ist »eine staunenswerte, ungewöhnliche und von Gott absichtlichbewirkte Naturerscheinung, die auf kommendes Unheil hinweist und zur Einkehrmahnt«, Rudolf Schenda, Die deutschen Prodigiensammlungen des 16. und 17. Jahr-hunderts, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 4 (1963), Sp. 637–710, hier Sp.646.

12 Barbara Bauer, Die Krise der Reformation: Johann Jakob Wicks Chronik außer-gewöhnlicher Natur- und Himmelserscheinungen, in: Wahrnehmungsgeschichte undWissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450–1700), hg. vonWolfgang Harms und Alfred Messerli, Basel 2002, 193–236.

13 Gottfried W. Locher, Das Geschichtsbild Huldrych Zwinglis, in: id., HuldrychZwingli in neuer Sicht, Zürich/Stuttgart 1969, 75–104, hier 91f.

14 Franz Mauelshagen, Die »portenta et ostenta mines lieben Herren vnsers säligen...«: Nachlassdokumente Bullingers im 13. Buch der Wickiana, in: Zwingliana 28(2001), 73–117.

15 Christian Moser, Die Dignität des Ereignisses: Studien zu Heinrich Bullingers Re-formationsgeschichtsschreibung, 2 Bde., Leiden/Boston 2012 (Studies in the History ofChristian Traditions 163), vor allem 292–301.

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che werke Gottes, guo te leeren und fürträffenliche exempel« dar-stellen zu wollen: »Hierinn wirt der Läser so wunderbare dingfinden, das er gwüßlich und offt daran erstunen und schwärlichsömliche wunder glouben wird.«16 Nicht anders würde Wick dievon ihm gesammelten »wunderzeichen« und »vorzeichen« als gnä-dige Willenskundgaben Gottes verstehen, nur dazu angezeigt, umdie Menschen rechtzeitig zu Umkehr und Besserung des Lebens zubewegen.

3. Aus der Bieler Gerüchteküche

Als Chorherr war Wick an das erstaunlich dichte Nachrichtennetzder Zürcher Kirchenleitung17 angeschlossen. Seine wichtigsten re-gelmäßigen Informationsvermittler waren die Chorherren,18 allenvoran Heinrich Bullinger, der mit ganz Europa von Schottland bisWeißrussland in Korrespondenz stand, wovon noch heute 12000Briefe zeugen, dann dessen Nachfolger Burkhard Leemann19 sowieder Universalgelehrte Konrad Gessner.20 Daneben verfügte Wicküber eine Vielzahl von Korrespondenten, die ihn mit Gelegenheits-nachrichten belieferten.

Die »nüwen zyttungen« aus Biel und Umgebung verdankte Wickdem aus Zürich stammenden Bieler Pfarrer Josua Finsler,21 dessenInformationen jedoch mehrheitlich zuerst an Burkhard Leemanngingen. Dass Finsler mit der Weitergabe seiner Nachrichten anWick rechnete, geht aus einem Brief vom 24. Juni 1567 an Lee-mann hervor. Nach fünf Zeilen mit den üblichen lateinischen Höf-lichkeiten und einem untertreibenden »Nil apud nos novi« wech-selt der Bieler unvermittelt in den gemeinverständlichen Schreib-dialekt:

16 Heinrich Bullingers Reformationsgeschichte. Nach dem Autographon hg. vonJ[ohann] J[akob] Hottinger und H[ans] H[einrich] Vögeli, 3 Bde., Frauenfeld 1838–1840, Bd. 1, 1f.

17 Leo Weisz, Die Bullinger Zeitungen [...], Zürich 1933.18 Mauelshagen, Portenta, 74; Mauelshagen, Wunderkammer, 168–177.19 Historisches Lexikon der Schweiz [HLS], Bd. 7, Basel 2008, 733.20 HLS, Bd. 5, Basel 2006, 352 f.21 Werner Bourquin und Marcus Bourquin, Biel: Stadtgeschichtliches Lexikon, Biel

22008, 141.

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133Teufelsspuk und Feuerflammen

»Inn Bärn biet, nit wyt von Thun, hat J[unker] Gladi Mey ein herschafft.22

Da hand ettlich puren einem andern puren verwyßen, er könne nit bätten.Der ander hat sich verschworen, er könne bätten, und wo das nit sye, solleder tüfel kommen und in hin fue ren. Von Stund an kumpt der tüfel inn einerwindbrutt, erwüscht und erhept den puren und schleickt inn dahin überettlich matten und väld. Die ander louffend nach, letstlich findend sy inn ineinem zun dermaßen mit thörnen verwicklet, daß sy [ihn] heruß handmue ßen houwen, und also mit dem läben darvon bracht. Biennæ raptim. 24.Iunij Anno 67.«23

Diese Nachricht Finslers schrieb Wick wortgetreu und unter An-gabe der Quelle ab: »Am 27, Junij schrybt herr Iosue Vinsler, pfar-rer zuo Biel, an m[eister] Burkart Lemann, dieneren der kilchen Zü-rich also: […]«. Darüber setzte er die Schlagzeile »Ein erschroken-liche historia, die sich dieser tagen in Berner piett zuo getragen.«24

Abb. 2: Der Teufel holt einen Bauern, der nicht beten kann. Lavierte Federzeichnung von Johann Jakob Wick (?), Zürich Zentralbibliothek, Ms. F 17, 255v.

Ähnlich wird man sich den Informationsfluss und die redaktionel-len Vorgänge bei den nachfolgenden Mitteilungen Finslers denken:

22 Glado (Claudius) May, Sohn des gleichnamigen Freundes Zwinglis, war »Herr zuSträttligen und Twingherr zu Toffen«, Bern Staatsarchiv, F. Stift (13.03.1555).

23 Zürich Staatsarchiv, E II 344, 11r.24 Zürich Zentralbibliothek, Ms. F 17, 255r.

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1572 In Biel gehen von mehr als 30 Personen Feuerflammenaus.25

1576 Auf dem Weg von Biel nach Büren springt am 27. Aprileine als Hexe verurteilte Frau vom Henkerskarren undertrinkt in der Aare. Ihr Denunziant, der dem Teufel er-gebener Freiämtler Michael Jaussi endet am 1. Mai aufdem Scheiterhaufen.26

1577 In Murten erhängt sich ein Mann aus Kummer über denPesttod von Frau und Tochter; in Biel wird dem HansLamprandt ein missgestaltetes Kind tot geboren; auchüber Biel zeigt sich der blutrote Komet.27

1579 Im katholischen Le Landeron erschlägt ein Sohn seineMutter mit der Hacke und versucht den Leichnam zu ver-brennen. Er wird gerädert und verbrannt (29. Dezember1579).28

4. Josua Finsler

An Josua Finsler erinnert in Biel nur noch der gleichnamige Weg imKreis 4. Rasch aufgezählt sind die biografischen Eckdaten des Na-mensgebers: 1538 als Pfarrersohn in Stäfa am Zürichsee geboren,seit 1555 Pfarrer in Witikon und Weiach, 1556 als Vikar seinesVaters in Otelfingen, seit 1562 in Meilen,29 vom 20. Februar 1566bis zu seinem Tod am 19. Januar 1602 als Nachfolger von JakobFuncklin30 Erster Stadtpfarrer und Dekan des Pfarrkapitels Biel

25 Zürich Zentralbibliothek, Ms. F 21, 154r–156r (Finsler an Leemann, 25. Juni1567).

26 Zürich Zentralbibliothek, Ms. F 25, 80r-v.27 Zürich Zentralbibliothek, Ms. F 25, 225r-v (Finsler an Leemann, 16. November

1577). Der auch von Tycho Brahe beschriebene sogenannte »Große Komet C/1577 V1«war tagsüber hell am Himmel zu erkennen und wurde in verschiedenen Flugblätternabgebildet. Clarisse Doris Hellman, The Comet of 1577: Its Place in the History ofAstronomy, New York 1944.

28 Zürich Zentralbibliothek, Ms. F 28, 211r.29 Georg Finsler, Genealogie der Familie Finsler, Basel 1891, 7 f.30 Hans Rudolf Lavater, Lignea Aetas: Der Bieler Dekan Jakob Funcklin und die

Anfänge der »Holzsparkunst« (1555–1576), in: Schweizer Kirchengeschichte – neu re-flektiert: Festschrift für Rudolf Dellsperger, hg. von Ulrich Gäbler et al., Basel 2011(Basler und Berner Studien zur historischen und systematischen Theologie 73), 63–145.

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135Teufelsspuk und Feuerflammen

und Erguel. Als solcher bewohnte der am 18. Dezember 1594 Ein-geburgerte bis 1597 mit seiner Familie das Haus Obergasse 20.31

»War ein guter Poet«, urteilte Johann Jakob Hess 1829,32 dochFinslers schriftlicher Nachlass ist heute weitgehend terra incogni-ta.33 Zwei handschriftliche Folianten mit lateinischen Gedichtenaus den Jahren 1572–1589, Josua Vinsleri Tigurini Ecclesiæ Bien-nensis Pastoris poemata bieten Gottlieb E. von Haller 1765 zufolge»sehr viel Schweizerische, besonders aber Bernerische und BielischeSachen.«34 Während eine den Bernern gewidmete Expositio Chris-tiana des Berner Katechismus bisher gänzlich unbeachtet blieb,35

hat Hans Bloesch sein Porträt des Burgermeisters Hans Hugi36

ganz auf Finslers Darstellung der Unruow der Burgeren zuo Biel ab-gestützt.37 Diese trotz ihrer 472 Quartseiten nur unvollständig er-haltene Geschichte des sogenannten Bieler Tauschhandels1598–1600 beschreibt »niemant zuo lieb, ouch niemant z’leyd, al-lein der Warheit zuo bescheyd« den hinterhältigen Versuch Berns,Biel zu seinem Untertanengebiet zu machen.

Von Finslers lebenslänglicher Verbundenheit mit der Heimat-stadt zeugt eine noch kaum bearbeitete umfangreiche Korrespon-denz, die der Heimwehzürcher regelmäßig mit dem Kürzel »I·V·T«für Iosua Vinslerus Tigurinus unterzeichnete. HauptsächlicheAdressaten sind Heinrich Bullinger (42 Briefe 1566–1575)38 undBurkhard Leemann (mindestens 40 Briefe 1567–1601).39 Bullingerehrte er 1575 mit einer Trauerode,40 Leemann 1592 mit einem

31 Bourquin, Biel, 141.32 Johann Jakob Hess, Lebensgeschichte M. Heinrich Bullingers, 2 Bde., Zürich

1828–1829, Bd. 2, 508.33 Biel Stadtarchiv; Bern Burgerbibliothek; Zürich Staatsarchiv, Zürich Zentralbi-

bliothek.34 Gottlieb Emanuel von Haller, Bibliothek der Schweitzer-Geschichte und aller

Theile, so dahin Bezug haben, 7 Bde., Bern 1785–1787, Bd. 4, 521.35 Bern Burgerbibliothek, Cod. A 34.136 Hans Bloesch, Hans Hugi, der Burgermeister von Biel, nach der Chronik Josua

Vinslers, in: Blätter für Bernische Geschichte, Kunst und Altertumskunde 21 (1925),145–157.

37 Bern Burgerbibliothek, Mss.h.h.XV.160A (1). Haller, Bibliothek, Bd. 5, 675.38 Gemäß Kartei der Heinrich Bullinger-Briefwechseledition am Institut für Schwei-

zerische Reformationsgeschichte Zürich.39 Zürich Staatsarchiv, E II 344 (Originaltitel Literae Finsleri past. Biennens. civ.

Tig, aliorumve).40 Carmina syncharistica, in honorem religione doctrina, aetate et meritis praestan-

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136 Hans Rudolf Lavater-Briner

Festgedicht.41 Weitere wichtige Briefempfänger sind Rudolf Gwal-ther in Zürich und Theodor Beza in Genf.

5. Josua Finslers Darstellung der BielerFeuererscheinungen von 1572

Angesichts der noch zu leistenden Quellenarbeit ist eine angemes-sene Würdigung Josua Finslers derzeit kaum möglich. Der Glücks-fall indessen, dass Johann Jakob Wick seinem Bericht über dieBieler Feuererscheinungen vom Frühjahr 1572 einen diesbezügli-chen Brief Finslers beifügte (Abb. 3), kann dazu beitragen, dieKonturen des Bieler Dekans etwas zu schärfen.

Aus der Briefanrede geht hervor, dass Finslers Adressat wieder-um Burkhard Leemann war. Leider ist die Abschrift, die Wick inseine Chronik einklebte, am rechten Rand teilweise stark beschä-digt, auch bricht sie gegen das Ende hin unvermittelt ab. Umsomehr verdient sie es, so gut wie möglich ergänzt, an dieser Stellemitgeteilt zu werden:

»Eerwirdiger, wolgeleerter, insunders günstiger lieber herr und pr[aeceptor].Ich han diser tagen ein schryben von minem l[ieben] bruoder Helia emp[fan-gen], inn wellichem er mich under anderem berichtet, wie üch ettwas st[...]nüwer zyttungen sye fürckommen, dz hie by uns zuo Byell [...] personen einböße plag anckommen, dz inen ire höupter brün[nen], derhalben ir begä-rind, deße von mir ein eigentlichen bericht [zuo] empfahen. Diewyl ich dannüch und anderen m[inen] g[nädigen] h[erren] zed[ienen] geneigt billichenbin, so han ich mich nit wellen beschweren [nit ?] üch zuozeschryben, damitir und villicht andere meer dem w[hon an ?] ein end kommind (wiewol dzgschrey gar unglych und vil g[rößer] ist, dann die sach an iro selber). Es hatsich hie zuo Byell [zuo]tragen vor ettlichen monaten bißhar, und insunders inverschyner kelte, dz ettliche junge knaben gredt, wenn sy sich zuo nachtabz[iehind], so fhürind inen ire höupter und hembder. Dz hat man ein [wylund?] anfangs für narrenwärch und ein whon gehalten, iedoch, die[wyl] syimmerdar dz beharret, hat man es für gwüß also syn erfa[ren].

tissmi viri Dn. M. Burckhardi Leemanni, Zürich: Johannes Wolf, 1592 (VD16 C 1185),4v–5r.

41 Carmina doctorum virorum in obitum D. Henrici Bullingeri, ecclesiae Tigurinaepastoris fidelissimi, scripta, in: Josias Simler, Narratio de ortu, vita et obitu reverendiviri D. Henrici Bullingeri, Tigurinae Ecclesiae pastoris, Zürich: Christoph Froschauerd.J., 1575 (VD16 S 6507), 72v.

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137Teufelsspuk und Feuerflammen

Abb. 3: Brief Josua Finslers an Burkhard Leemann über die Bieler Feuererscheinungen vom Frühjahr 1572 (Abschrift von unbekannter Hand), Zürich Zentralbibliothek, Ms. F 21, 156r.

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138 Hans Rudolf Lavater-Briner

Ich han es ouch selbst meer dan ein mal gsehen, sunst he[tt ich] es inenkum geloupt. Und ist dem selben also: Wenn sy ze [abend] ire hembderüber die köpff abziehend oder sunst ire hue tt […] uff dem haar rybend undschnell abziehend, so sicht man inn [iren] hembderen und pareten ein flämliund ein glast, fyn heytter, [wel]cher doch bald widerumb vergaht. Und sosy die selbigen 2, 3 [oder] meermaalen wider anleggend und abzühend, sofhürend [sy wi]derumb wie vorhin. Nach dem man sy gwaret42 hat, so ist[das ? vi]len personen, mannen, ouch des rhatts, knaben und töchteren, gargemeyn [und] nit meer seltzam worden. Anfengcklich vermeintend ettli[che](wie dann die superstition groß ist), es werind solliche pe[rsonen] von denunholden angriffen, darumb ettliche solche‹n?› knaben [die hue t] und diehembder ins fhür gworffen und verbrent hand, ou[ch] in geheym darummerfraget, wz ich darvon hielte. Denen ich [geant]wort, es möge wol syn, dzes ettwz bedütte, aber doch sye [es nüt] bößes und nüt anders dann das, sodie physici (wie ir woh[l wüsst]) ignem fatuum et lambentem nemmend,und ouch ire natürlichen [gründ] darumb anzeygend wie von anderen igni-tis meteoris, darvo[n] ouch die poeten und historici meldung thuond. Sunsti[n] denen personen kein plag noch kranckheit, noch, gott behüte, [der Todfestgestellt wurde ?].«43

6. Ältere Deutungen

Nirgends deutlicher als im letzten Briefabschnitt tritt bei JosuaFinsler eben jene »natürlichere, vernünftigere Art zu denken« zu-tage, die Ricarda Huch bei Johann Jakob Wick insgesamt vermissthatte. Den Versuch, die Bieler Phänomene mit dem Wirken desTeufels in Verbindung zu bringen, bezeichnet Finsler als abergläu-bisch, doch ebenso strikt vermeidet er es, Gott ins Spiel zu bringen.Wick kann sich nicht helfen: »Was der allmächtige Gott damit an-zeigen und ›bedeuten‹ will, weiß Er allein«. Finsler dagegen: »Eskönne sein, dass es etwas bedeute, doch sei es nichts Böses undnichts Anderes als das, was die Naturkundigen, wie Ihnen sicherbekannt ist, ein ›Irrlicht‹ und ein ›züngelndes Feuer‹ nennen, wofürsie ebenso eine vernünftige Erklärung haben wie für andere ›feu-rige Lufterscheinungen‹.«

Damit steht Finslers Deutung auf der Höhe der Naturwissen-schaften seiner Zeit – einer Wissenschaft allerdings, die die Schwel-

42 Zürich Zentralbibliothek, Ms. A 26 (Hallersche Chronik), 60r: »gwarntt«.43 Zürich Zentralbibliothek, Ms. F 21, 156r.

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le zur Moderne noch nicht überschritten hat. Ihre Beobachtungendienen weniger der physikalischen Theoriebildung als vielmehrdem übergeordneten Ziel, Gottes Gegenwart in der Natur zu be-weisen, doch ist ihre Argumentation nicht mehr supranatural, son-dern bereits »natürlich«. Auffällig übrigens auch Finslers selbst-verständlicher Gebrauch der wissenschaftlichen Terminologie, dievermutlich von seiner Auseinandersetzung mit früheren Kometen-erscheinungen (1531, 1558, 1572) herrührt. Das einschlägigeWerk des Simon Grynaeus, Commentarii duo, de ignitis meteorisunus, alter de cometarum causis atque significationibus erschienfreilich erst 1579.44 Die von Finsler verwendeten Begriffe findensich alle wieder in der berühmten Physicæ Synopsis von 1633 desJan Amos Comenius:

»Feurige Lufterscheinungen (meteora ignita) entstehen aus fetten Rauchen,die sich in der Luft entzünden. Davon gibt es namentlich sieben Arten:Fallender Stern, Fliegender Drache, Blitz, Fliegende Funken, Irrlicht (ignisfatuus), Fackel und Leckendes Feuer (ignis lambens).«45

Weitere Beobachtungen, in die sich auch die Bieler »Feuererschei-nungen« einreihen ließen, lieferte ein gewisser Johannes Müller inseiner Wittenberger Dissertation 1676:

»Das züngelnde Feuer gehört zu den meteorischen Feuern. Es haftet denHaaren und Kleidern des Menschen, den Mähnen der Pferde, den Mast-baumspitzen der Schiffe und anderen Dingen an, ohne Schaden anzurich-ten.«46

In der Beschreibung der Natur-Geschichten des Schweizerlandsspricht der Zürcher Arzt und Naturtheologe Johann Jakob

44 Simon Grynaeus, Commentarii duo, de ignitis meteoris unus, alter de cometarumcausis atque significationibus, Basel: Leonhard Ostein, 1579 (VD16 E3671).

45 »Meteora ignita sunt, quæ oriuntur e fumis pinguibus in aere accensis, quorumpræcipuæ species septem sunt: stella cadens, draco volans, fulmen, scintillae volantes,ignis fatuus, fax et ignis lambens«, zitiert nach Jan Amos Comenius, Physicæ Ad LumenDivinum Reformatæ Synopsis, Amsterdam: Jan Jansson, 1663, 108.

46 Johannes Müller, De meteoris ignitis et aqueis, Wittenberg: Matthäus Henckel,1676 (Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhun-derts [elektronische Ressource], Nr. 3:018289B), A4r: »Ignis lambens est MeteorumIgnitum, hominum capillis ac vestimentis, jubis equorum, navium malis, atque aliis sinenoxa adhærens. Lambens dicitur, locutione Poetis familiari, quia leviter tangit res, qui-bus adhæret, non urit.«

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140 Hans Rudolf Lavater-Briner

Scheuchzer 1707 nicht ohne frühaufklärerischen Spott die BielerFeuererscheinungen von 1572 an:

»Von der Lechzenden Flamm. Es lasset sich diese Feuer-Geschicht sehenetwann an den Kleideren und Haaren under Menschen und Thieren zunicht geringem Schrecken der Zuseheren. Die alte Heidenschaft hielte der-gleichen Ignes Lambentes oder Lechzende Flammen vor sonderliche Wun-derzeichen und von den Götteren herrührende bezeugung künftiger Dingen.[...] Ich were ohne grosse Mühe zu bereden, daß in denen mittleren Jahrhunderten mancher bey Anlaß einer um sein Haupt erschienenen Flamm indie Zahl der Heiligen aufgenommen worden. Wenigstens hat man auß disenlechzenden Flammen allerhand Geheimnussen gemachet, wie dann nebstanderen An. 1572 gesehenen Wunderzeichen Haller Chron. MSC. Lib 38.cap 16. auch setzet dergleichen lechzende Feure, so an verschiedenen Kin-deren in der Statt Biel an ihren Hembderen, Haaren und Hüten gesehenworden.«47

Das von Scheuchzer zitierte Manuskript ist die vom Zürcher Bä-cker und Militärtechniker Johannes Haller als Fortsetzung vonHeinrich Bullingers Reformationsgeschichte gedachte und 1620abgeschlossene »Chronik«,48 die bei der angegebenen Stelle eineins Wörtliche gehende Kurzfassung des Finslerbriefs bringt.49

7. Heutige Deutung

Ein befreundeter Physiker, Dr. Alfred Roulier in Neuenegg, der dasInteresse und die Freundlichkeit hatte, Wicks und Finslers Berichtedurch die Brille des heutigen Naturwissenschaftlers zu lesen, steu-ert folgenden Kommentar bei:

»Wick beschreibt sogenannte Spitzenentladungen. Bei Gewitterlagen kanndie Feldstärke der ionisierten Luft grösser als 100 Kilovolt pro Meter wer-den. Die Feldlinien laufen an Spitzen (Masten, Eispickel, Gipfelkreuze aberauch Finger, Haare) zusammen. Die Funkenentladung ist bläulich; es istdies die Spektralfarbe der Sauerstoff- und Stickstoff-Ionen. Die Funkenlän-

47 Johann Jakob Scheuchzer, Beschreibung der Natur-Geschichten des Schweizer-lands, 3 Bde., Zürich: Christoph Hardmeyer und Michael Schaufelberger, 1706–1708,Bd. 2, 82f. – Zu Scheuchzer vgl. HLS, Bd. 11, Basel 2012, 52f.

48 Moser, Dignität, 387–390.49 Zürich Zentralbibliothek, Ms. A 26, 59v–60r, unter dem Titel »Was sich dieser

zytt zuo Biel an ettlichen jungen knaben zuogetragen, deßglychen hie zuo Zürich am Bal-grist ouch mit einem.«

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ge liegt im Bereich 10 bis 50 cm, und die Erscheinung kann Minuten dau-ern. Die Stromstärken sind klein, die Erscheinung daher ungefährlich. Aberes drohen Blitzentladungen mit tödlichen Folgen. Es seien auch vornehmePersonen betroffen gewesen: Seide und Pelz begünstigen die elektrostatischeAufladung. Fragwürdig sind die Entladungsstellen. Mund und Ohren sindkeine ›Spitzen‹. Die Funken entstehen vielmehr an Fingern und Haaren. InFinslers Bericht steht dagegen die Reibungselektrizität im Fokus, die beimAusziehen der Hemden bzw. beim Reiben von faserigem, wollenen Mate-rial gegenüber den Haaren entsteht. Wie bei den Spitzenentladungen mussdie Luft trocken und stark ionisiert sein. Die Personen müssen gegenüberdem Boden isoliert stehen (auf dem Bett?).«

Dieser überzeugenden Analyse ist höchstens noch beizufügen, dassFinsler ausdrücklich feststellt, die Phänomene hätten sich »insun-ders in verschyner kelte« ereignet, d.h. in einem Milieu trockenerLuft, die bekanntlich das Auftreten von luftelektrischer Erschei-nungen begünstigt. Einen genaueren zeitlichen Anhalt geben wederWick noch Finsler. Wick sagt nur, dass die Nachricht 1572 »indisem Merzen« nach Zürich gelangt sei. Unter der Voraussetzungvergleichbarer Wetter- und Temperaturverhältnisse in Biel und Zü-rich, lässt sich diese Zeitangabe unter Zuhilfenahme der vom Zür-cher Pfarrer Wolfgang Haller von 1543 bis 1576 minutiös nach-führten Witterungstagebücher50 noch etwas einengen: Den Eintra-gungen in den Kalender uff das M.D. und LXXII. Jar zufolge wiesder Februar insgesamt 22 Eistage auf mit Spitzenwerten zwischendem 19. und dem 26., die Haller »gar grimm kalt« und »gar gru-sam kalt« vorgekommen waren.51

Hans Rudolf Lavater, Dr. theol. h.c., Gymnasiallehrer i.R. in Erlach

Abstract: The chorherr (canon), Johann Jakob Wick of Zurich drew the material for hisvoluminous collection of news (Wickiana) from a dense network of intelligence. Theinformation from Bern and Biel was provided here and there by the lesser known citizenof Zurich, deacon Josua Finsler, who lived in Biel. The article spotlights the »Miracu-lous Sign« of February 1572 in Biel and the diverse interpretations of the event by thesetwo contemporaries. The »Reformed« eschatological understanding of Wick is com-pared to Finsler’s more rationalist worldview coloured by science.

Schlagworte: Johann Jakob Wick, Josua Finsler, Biel, Zürich, Prodigien, Geschichtsbild,Naturwissenschaft

50 Zürich Zentralbibliothek, Ms. D 269, 270, 271.51 Zürich Zentralbibliothek, Ms. D 271, 4.